Die Saat der Erde - Michael Cobley - E-Book

Die Saat der Erde E-Book

Michael Cobley

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Beschreibung

Der Aufbruch ins All wird zur atemlosen Flucht

Der Griff nach den Sternen verlangt der Menschheit das größte Opfer der Geschichte ab – die Erde wird von rücksichtslosen Außerirdischen vernichtet, und die Menschen fliehen ins All. Auf ihrem neuen Heimatplaneten müssen sie sich mit den einheimischen Uvovo arrangieren. Was zunächst nach einer friedlichen Koexistenz aussieht, entwickelt sich jedoch bald zu einem gefährlichen Konflikt ...

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Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Widmung
Prolog
TEIL EINS
1 Greg
2 Theo
Copyright
DAS BUCH
Der erste Kontakt mit einer außerirdischen Intelligenz endet für die Menschheit in einer Katastrophe: Die Erde wird vernichtet und den wenigen Überlebenden bleibt nichts anderes übrig, als ins All zu fliehen. Auf dem Planeten Darien finden sie zunächst eine neue Heimat. Zwischen Menschen und den einheimischen Uvovo entwickelt sich eine friedliche Koexistenz, und das Fortbestehen der Menschheit scheint gesichert zu sein. Doch der vermeintlich so paradiesische Planet verbirgt ein Geheimnis - ein Geheimnis dessen Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen und das den Untergang der galaktischen Zivilisation bedeuten könnte …
DER AUTOR
Michael Cobley, geboren in Leicester, studierte Ingenieurswissenschaften an der Universität von Strathclyde. Als Herausgeber verschiedener Magazine und durch seine Kurzgeschichten machte er sich schnell einen Namen in der Fantasy-Literatur. »Schattenkönige«, sein erster Roman, war in Großbritannien auf Anhieb ein riesiger Erfolg. Cobley lebt und arbeitet in Glasgow.
Für Susan, meinen Sonnenschein
Prolog
Darien-Institut: Datenwiederherstellungsprojekt Hyperion
Clusterposition - Nebenfestspeichersubstrat (Laufwerk 9) Tranche - 298 Entschlüsselungsstatus - 9. Durchgang, 26 Video-Files wiederhergestellt
File 15 - Die Schlacht um den Mars (Schwarmkrieg) Wahrheitsgehalt - virtuelle Nachinszenierung Ursprüngliche Datierung - 16:09:24, 23. November 2126
Einblendung:
Titel:
Mars Kraterebene: Mons Olympus 19. März 2126
Der Sergeant befand sich auf dem Kommandodeck des Trägerschiffs und überprüfte ein ums andere Mal die Einstellungen der Steuerkonsole, als Stimmen aus dem Helmlautsprecher tönten.
»Versprengte Marines treffen jeden Moment ein, werden aber von gegnerischen Einheiten verfolgt …«
»… acht, neun Schwärmer, vielleicht auch zehn …«
Fluchend schnappte sich der Sergeant seinen schweren Karabiner und verließ das Kommandodeck so schnell, wie sein Kampfanzug es ihm erlaubte. Das Stiefelgepolter hallte von den Wänden des oberen Korridors wider, während er mit barscher Stimme eine Reihe von Befehlen erteilte. Als er die beschädigten Tore des hinteren Frachtraums erreichte, waren die Versprengten eingetroffen. Fünf Verwundete, alle bewusstlos, alle Angehörige eines indonesischen Regiments, den Leuchtabzeichen an den Helmen nach zu schließen. Als der Letzte die Rampe hochgetragen wurde, tauchten über dem achtzig Meter entfernten Felsgrat die ersten Schwärmer auf.
Auf den ersten Blick waren sie ein alptraumhaftes Durcheinander von Klauen, Stacheln und schwarz funkelnden Augenclustern. Die Biologie der Schwärmer wies zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Reptilien auf, doch wenn man sie sah, hielt man sie unwillkürlich für Insekten. Sie hatten sechs, acht, zehn oder mehr Gliedmaßen, ihre Größe variierte je nach Spezialisierung zwischen der eines Ponys und der eines Wals. In diesem Fall hatten sie es mit stiergroßen Plänklern zu tun, mit elf schwarz-grünen Monstern, die sich, sprossenförmige Waffen schwingend, auf das havarierte Trägerschiff stürzten.
»Feuer erwidern!«, sagte der Sergeant und blickte zu den sechs Marines hinüber, die hinter der improvisierten Barrikade aus Munitionskisten und Panzerplatten hockten. Mehr war ihm nicht geblieben, nachdem der Colonel und der Rest der Besatzung vor ein paar Stunden mit den Hovermags zum Krater und dem Bau des Schwarms aufgebrochen waren. Der eine Mann zog ein wenig die Schulter hoch, legte den Kopf schief und blickte durchs Zielfernrohr seines Karabiners …
»Ich habe gesagt, ihr sollt warten«, sagte der Sergeant und schätzte den sich rasch verringernden Abstand. »Heckgefechtstürme bereitmachen … Ziele erfassen … und Feuer!«
Ein wahrer Hagel schwerkalibriger Granaten wurde auf die vorderen Schwärmer abgefeuert und warf sie von den Spinnenbeinen. Als sie sich wieder aufrichteten, geschützt durch den Biopanzer, der das irdische Militär seit Beginn der Invasion vor zwei Jahren in Erstaunen versetzte, fluchte der Sergeant.
»Pulsfeuer!«, brüllte er. »Los!«
Gleißend helle Strahlen trafen die Schwärmer, verdichtete Knoten energetisch angeregter Materie, die den Panzer erhitzen und gleichzeitig verschmoren sollten. Der Gegner erwiderte das Feuer mit bogenförmigen, dünnen schwarzen Salven, doch als die Turmjockeys sich einschossen, löste sich die Formation der Schwärmer auf, und sie verteilten sich. Der Sergeant befahl daraufhin seinen Männern, das Feuer zu eröffnen, und schloss sich ihnen mit seinem eigenen Karabiner an. Das vernichtende Kreuzfeuer traf auf einen geschwächten, verwirrten Gegner. Nach einer knappen Minute gab es auf dem steinigen Hang nichts mehr, was lebendig oder unversehrt gewesen wäre.
Die Marines lachten und grinsten, klatschten sich mit den handschuhverhüllten Handflächen ab. Der Sergeant hatte kaum Zeit, Atem zu holen und den Karabiner nachzuladen, als der Mann von der Steuerkonsole mit erregter Stimme meldete:
»Sergeant! - Flugobjekt geortet, Entfernung drei Kilometer, rasch näher kommend!«
Der Sergeant schwenkte herum, wandte sich zum Steuerbordniedergang und schulterte im Gehen seinen Karabiner. »Wie sieht das Profil aus, Soldat?«
»Schwer zu sagen - der Sensor ist so gut wie hinüber …«
»Ich will eine Antwort, und zwar schnell!«
Dann befahl er allen vier Geschütztürmen, das sich nähernde Flugobjekt ins Visier zu nehmen, und kletterte in dem Moment aus der oberen Luke des Trägerschiffs, als der Mann an der Steuerung sich wieder meldete.
»Die Freund-Feind-Kennung hat ergeben, dass es sich um ein freundliches Flugobjekt handelt, Sergeant - ein Schwenkflügler, und der Pilot fragt nach Ihnen.«
»Stellen Sie ihn durch.«
Auf einem der kleinen Helmmonitore wurde das Gesicht des Piloten abgebildet. Der Beschriftung des hinter ihm befindlichen Schotts nach zu schließen war er ein Deutscher.
»Sergeant, ich habe nicht viel Zeit«, sagte der Pilot mit leichtem Akzent auf Englisch. »Ich soll Sie und Ihre Männer evakuieren und in den Orbit bringen …«
»Tut mir leid, Lieutenant, aber … mein befehlshabender Offizier hält sich noch im Krater auf und ist in Kampfhandlungen verwickelt! Hören Sie, bis zum Rand des Kraters sind es knapp fünfhundert Meter - Sie könnten mich und meine Leute rüberbringen und dann …«
»Vorschlag abgelehnt. Ich habe genaue Anweisungen. Außerdem wurden alle Einheiten, die es bis dorthin geschafft hatten, überwältigt und vernichtet, ganze Regimenter und Brigaden, Sergeant. Es tut mir leid …« Der Pilot langte nach oben und betätigte einen Schalter. »Voraussichtliche Ankunftszeit in weniger als fünf Minuten, Sergeant. Bitte halten Sie sich bereit.«
Der Monitor wurde dunkel. Der Sergeant stützte sich auf das Geländer und blickte verbittert zu dem kilometerlangen Graben hinüber, den das Trägerschiff in die Flanke des Mons Olympus gepflügt hatte. Dann gab er Befehl, das Schiff zu verlassen.
Am dunstverschleierten Marshimmel schwoll der Vortexflügler von einem kleinen Punkt zu einem ausladenden Flugobjekt an, das sich, getragen von vier kardanisch befestigten Spinjets, langsam absenkte. Die Landestützen fanden auf dem Rumpf des Trägerschiffs Halt, und untermalt vom Geheul der Triebwerke wurden die gehfähigen Verwundeten und die Tragen mit den Schwerverletzten in den Frachtraum gehoben. Die Turmjockeys, der Konsolenmann und das halbe Dutzend Marines schlossen sich ihnen an, als sich auf einmal über Funk der deutsche Pilot meldete.
»Eine große Anzahl Schwärmer ist im Anflug, Sergeant. Bitte beeilen Sie sich.«
Als der letzte seiner Männer in den Vortexflügler kletterte, drehte sich der Sergeant um und blickte zum Mons Olympus hinüber, der vom aufgewirbelten Staub und den Rauchfahnen der Schlacht in einen Dunstschleier gehüllt wurde. Nur wenige Kilometer entfernt stieg eine dichte Wolke dunkler Motten auf. Als er sah, wie schnell sie sich näherten, fasste er einen Entschluss.
»Sie sollten besser die Luke dicht machen und starten, Lieutenant«, sagte er, sprang wieder in das havarierte Trägerschiff und schloss hinter sich die Luke. »Ich werde die Schwärmer mit unseren Geschütztürmen ablenken, damit Sie unbehelligt in den Orbit kommen.«
»Nein! Sergeant, ich befehle Ihnen …«
»Verzeihung, Sir, aber Sie würden es sonst nicht schaffen, deshalb ist klar, was ich zu tun habe.«
Er unterbrach die Verbindung, rannte zum Kommandodeck und warf im Laufen die Luken zu. Der Technikoffizier des Colonels hatte alle vier Gefechtstürme auf die Steuerkonsole geschaltet, doch das war nicht die einzige Modifikation, die er vorgenommen hatte …
Das Dröhnen der Spinjets schwoll zu einem Kreischen an, die Landestützen lösten sich vom Rumpf, und der Transporter hob ab. Im nächsten Moment jagten ihn die vier schwenkbaren Triebwerke steil in den Himmel. Einige Vorreiter des Schwarms versuchten, die Maschine abzufangen, doch dann nahm das Trägerschiff sie unter Feuer. Trotzdem hätten sie der Beute wohl weiter nachgesetzt, hätte sich das Trägerschiff nicht auf einmal bewegt wie ein großes, verwundetes Tier. Langsam stieg es über den langen Graben auf, den es in den Boden gepflügt hatte. Staubschleier und Steine sowie Teile der Rumpfpanzerung und der Außensensoren lösten sich von der Unterseite, und als das Trägerschiff den eingedrückten Bug zur Mitte des Kraters wandte, änderte der Schwarm den Kurs.
Auf dem Kommandodeck bemühte sich der Sergeant schwitzend und fluchend, auch noch das letzte Quäntchen Schub aus den protestierenden Triebwerken hervorzukitzeln. Die beim atmosphärischen Landeanflug aufgetretenen Schäden hatten eine sichere Landung auf dem Kraterboden unmöglich gemacht, weshalb der Colonel entschieden hatte, mit den Hovermags weiterzufliegen. Eine sichere Landung hatte der Sergeant allerdings nicht im Sinn.
Als das Raumschiff sich dem Krater näherte, gewann es stetig Höhe. Durch den Boden drang das Ächzen des überlasteten Unterbaus. Immer mehr rote Warnlämpchen flackerten, einer der Backbordsuspensoren arbeitete im Grenzbereich. Der Sergeant achtete vor allem auf den Schwarm, der sich auf das Raumfahrzeug von der Erde stürzte.
Plötzlich war das Trägerschiff in eine wirbelnde Wolke von Schwärmern gehüllt. Einige landeten auf dem Rumpf, suchten nach einem Halt, nach einem Zugang ins Schiff. Im nächsten Moment fielen zwei Suspensoren aus, und das Schiff neigte sich nach Backbord. Der Sergeant leitete mehr Energie in die Backbordbrenner, ohne auf den gellenden Alarm und das von mittschiffs kommende Krachen und Hämmern zu achten. Als er den Zenit seiner Flugbahn erreichte, richtete sich der Transporter auf, ein gewaltiges Raketengeschoss, mit dem der Sergeant auf den Bau des Schwarms zielte.
Nach zehn Sekunden Sturzflug rückte das dröhnende Hämmern näher, bis es nur noch ein oder zwei Schotts vom Kommandodeck entfernt war.
Als nach zwanzig Sekunden die zernarbten, graubraunen Türme des Baus die Sichtluke ausfüllten, brannte der heckseitige Steuerbordbrenner durch. Der Sergeant unterbrach die Energiezufuhr und belastete den Steuerbord-Bugbrenner bis in den roten Bereich.
Nach dreißig Sekunden, untermalt vom ohrenbetäubenden Hämmern und dem Tosen der Triebwerke, platzte die Luke des Kommandodecks auf. Ein groteskes Wesen, halb Wespe, halb Alligator, zwängte sich durch die Öffnung. Als es den dem Schiff entgegenstürzenden Bau sah, erstarrte es für einen Moment, dann zog es sich hektisch wieder zurück. Der Sergeant schleuderte ihm eine Thermitgranate hinterher und drehte sich lachend und mit ausgebreiteten Armen zur Sichtluke um …
Schnitt
Der Mons Olympus, aus dem Orbit betrachtet
In der Wolke der Schwärmer erkennt man den Brigade-Träger, der, eine Fahne aus entweichenden Gasen und Flüssigkeiten hinter sich herziehend, dem Schwarmbau entgegenstürzt. Plötzlich weitet sich der Blickwinkel, und man sieht einen Großteil des mit Trümmern übersäten und von Einschlägen zernarbten Kraters, als der Transporter aufprallt. Einen Moment lang werden nur Trümmer hochgeschleudert, dann lassen drei blendend helle Explosionen in rascher Folge die Umrisse des Baus verschwimmen …
Kommentar:
In der ersten Phase der Schlacht um den Mars wurden mit speziell angefertigten Antriebsaggregaten zahlreiche Asteroiden gegen die Schwarmarmada gelenkt, wodurch eine große Anzahl von Schiffen aus dem Marsorbit fortgelockt wurde. Bei der Entscheidungsschlacht und der Bodenoffensive verlor die Erde über vierhunderttausend Mann sowie neunundsiebzig größere Kriegsschiffe und zahlreiche Begleitschiffe. Trotz der großen Opfer gelang es nicht, alle Masterminds des Schwarms zu vernichten oder sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Allerdings wurden große Mengen von Biowaffen zerstört, darunter auch die Raketen, die Städte in China, Europa und Amerika verwüstet haben, sowie mehrere Brutkammern, wodurch die Produktion neuer Schwarmkrieger zum Erliegen kam und der erwartete Angriff auf die Erde hinausgezögert wurde.
Die Schlacht brachte der Menschheit Kummer und Schmerz, verschaffte uns aber auch eine Atempause, fünf entscheidende Monate, in denen drei interstellare Kolonieraumschiffe fertiggestellt wurden, drei von geplanten fünfzehn. Das letzte Kolonieschiff, die Tenebrosa, startete vor vier Tagen vom Poseidon-Dock im hohen Orbit und folgte damit ihren Schwesterschiffen, der Hyperion und der Forrestral, auf einer Flugbahn, die von der Hauptstreitmacht des Gegners fortweist. Alle drei Raumschiffe sind mit dem revolutionären, neuartigen Überlichtantrieb ausgestattet, der es ihnen erlaubt, durch den subrealen Hyperraum gewaltige Entfernungen zurückzulegen. Als Erste unternahm die Hyperion den Überlichtsprung, dann folgte zwei Tage später die Forrestral. Die Tenebrosa wird den Abschluss bilden. Ihr Flug wird von übergeordneten AIs bestimmt, die darauf programmiert sind, mittels willkürlicher Kursänderungen jede Verfolgung unmöglich zu machen und anschließend nach besiedelbaren erdähnlichen Planeten zu suchen.
Nun sind sie fort, die drei Archen, auf denen die Überlebenshoffnung der Menschheit ruht, drei Samenkörner der Erde, die in die unermessliche Sternennacht hinausfliegen. Nun müssen wir unsere Aufmerksamkeit und all unsere Kraft auf den bevorstehenden Großangriff richten. In zwölf Tagen werden die Vorausformationen des Schwarms auf dem Mond landen und unsere zivilen und militärischen Vorposten angreifen. Wir wissen, was uns erwartet. Der Schwarm verfolgt seit je die Strategie, alles niederzumetzeln und zu zerstören, was ihm in die Quere kommt, deshalb dürfen wir nicht mit Gnade oder Nachsicht rechnen, wenn er irgendwann den Luftraum der Erde erreicht.
Wenngleich die Schwarmsoldaten nichts weiter als straff organisierte Drohnen sind, müssen wir davon ausgehen, dass die Masterminds intelligent und lernfähig sind, sonst hätten sie nicht die Technik der Raumfahrt entwickelt. Wenn die Masterminds also lernfähig sind, wollen wir ihre Lehrmeister sein und sie lehren, was es heißt, die Wiege der Menschheit anzugreifen …
Ende des Datenfiles …
TEIL EINS
1Greg
Die Dämmerung senkte sich von Osten her auf das Meer herab, als Greg Cameron Chel zur Zepstation geleitete. Zur Rechten des Weges ragte die gewaltige Schulter des Riesen auf, der Schatten gesprenkelt von blau leuchtenden Ineka-Käfern, zur Linken lag der Zaun, hinter dem es steil in die Tiefe ging. Der Himmel war wolkenlos, so dass der Sternennebel zu sehen war, der auf ewig durch die obere Atmosphäre von Darien wirbelte. Heute war er rötlich gefärbt, mit rosafarbenen Fäden - ein beruhigender, sich langsam verändernder Geisterhimmel.
Greg aber wusste, dass sein Begleiter alles andere als ruhig war. Im Schein der Wegbeleuchtung stapfte der Uvovo mit gesenktem Kopf einher und hatte die knochigen, vierfingrigen Hände um die Brustriemen seines Rucksacks gelegt. Die Uvovo waren schlank und kleinwüchsig, aus dem zart bepelzten Gesicht leuchteten große, bernsteinfarbene Augen hervor. Als Greg ihn ansah, lächelte er.
»Chel, hab keine Angst - es passiert dir schon nichts.«
Der Uvovo schaute auf und überlegte einen Moment, dann lächelte er breit.
»Freund Gregori«, sagte er mit hohler, flötender Stimme. »Jedes Mal, wenn ich in einem Luftschiff mitfliege oder mit dem Shuttle zu unserer heiligen Segrana reise, staune ich am Ende, dass ich noch am Leben bin!«
Lachend schritten sie an der Schulter des Riesen entlang. Es war nasskalt, und Greg, der ein dünnes Arbeitshemd trug, bedauerte, nicht etwas Wärmeres angezogen zu haben.
»Und du hast noch immer keine Ahnung, wo in Ibsenskog das Zinsilu stattfindet?«, fragte Greg. Bei den Uvovo diente das Zinsilu einerseits der Bewertung ihres bisherigen Lebens, andererseits der Meditation. »Ich meine, wenn die Lauscher mit den Säern und Gelehrten in Kontakt treten möchten, könnten sie doch das Comnetz der Regierung nutzen …« Ihm kam ein Gedanke. »Die werden dich doch nicht etwa versetzen, oder? Chel, die Grabung und die Berichte über den Tochterwald kann ich nicht allein bewältigen! - Ich bin auf deine Hilfe angewiesen.«
»Keine Sorge, Freund Gregori«, sagte der Uvovo. »Lauscher Weynl hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass mein Einsatz als sehr wichtig gilt. Ich bin sicher, dass ich nach dem Zinsilu gleich wieder zurückkomme.«
Hoffen wir, dass du Recht behalten wirst, dachte Greg. Das Institut zeigt wenig Nachsicht, wenn es um Fehler und unerreichte Ziele geht.
»Schließlich«, fuhr Chel fort, »feiert ihr in ein paar Tagen den Gründersieg, und die Zeremonien und Rituale möchte ich mir nicht entgehen lassen.«
Greg grinste schief. »Ja, sicher … aber bei einigen unserer ›Rituale‹ geht es ganz schön ausgelassen zu …«
Der Kiesweg wurde eben, als sie sich der Zepstation näherten. Greg vernahm das leise Fiepen der Umisk-Eidechsen, deren Höhlen an der Steilwand der Schulter des Riesen verteilt waren. Bei der Station handelte es sich um eine von Strebepfeilern gestützte Plattform mit zwei Aufbauten und einer fünf Meter langen überdachten Gangway. Ein Regierungsluftschiff hatte daran festgemacht, ein sacht schwankendes Fünfzehn-Meter-Schiff, das aus zwei mit Gurten aneinandergekoppelten zylindrischen Gassäcken bestand, unter denen eine luftdicht abgeschlossene Gondel hing. Die aufblasbaren Teile bestanden aus einem festen Mischgewebe, doch aufgrund des Einflusses der Witterung und nach mehrmaligem Flicken wirkten sie verschlissen, was sie mit den meisten Alltagszeppelinen in Regierungsbetrieb gemeinsam hatten. Im Cockpit der bootsförmigen Gondel leuchtete ein Lämpchen, und am Heck drehte sich ein dreiblättriger Propeller träge im stetig wehenden Meereswind.
Fredriksen, der Stationsleiter, winkte ihnen von der Tür des Warteraums aus zu, während gleichzeitig ein Mann in einem grüngrauen Overall von der Gangway trat und sich ihnen näherte.
»Guten Tag, guten Tag!«, sagte er und fasste erst Greg und dann den Uvovo in den Blick. »Ich bin Yakow, der Pilot. Wenn einer von Ihnen beiden der Gelehrte Cheluvahar ist, bin ich startbereit.«
»Ich bin der Gelehrte Cheluvahar«, sagte Chel.
»Ausgezeichnet. Dann lasse ich den Motor an.« Er nickte Greg zu und trat wieder auf die Gangway, wobei er den Kopf einziehen musste.
»Denk dran, mir eine Nachricht zu schicken, wenn du in Ibsenskog angekommen bist«, sagte Greg. »Und mach dir wegen des Flugs keine Sorgen - eh du dich versiehst, bist du schon da.«
»Ach, Freund Gregori - ich bin ein Krieger-Uvovo. Solche Prüfungen sind für mich so selbstverständlich wie das Atmen!«
Lächelnd wandte er sich ab und eilte dem Piloten nach. Das Winseln eines Elektromotors wurde lauter, während der Propeller sich immer schneller zu drehen begann. Die Holzkonstruktion knarrte, als der Stationsleiter die Gangway einholte und dann die Befestigungsleinen löste. Das Luftschiff trieb schwankend davon, wurde schneller und entfernte sich vom steilen Hang der Schulter des Riesen. Der Flug zum Gagarin-Raumhafen dauerte nur eine halbe Stunde, dann würde Chel auf einen kommerziellen Lifter umsteigen, der ihn zur Oststadt und dem Tochterwald Ibsenskog bringen würde. Greg konnte seinen Freund in den lichtundurchlässigen Luken nicht sehen, trotzdem winkte er etwa eine Minute lang, dann schaute er einfach nur noch zu, wie der Zeppelin in der Dunkelheit verschwand. Da es kühl geworden war, schloss er ein paar Hemdknöpfe und genoss weiterhin die Ruhe. Die Zepstation lag etwa fünfzehn Meter unterhalb der Hauptgrabungsstelle, aber trotzdem noch einhundert Meter über dem Meeresspiegel. Die Schulter des Riesen war eine imposante Erhebung, die aus einem gewaltigen Massiv, den Kentigernbergen, nach Osten vorsprang. Diese unberührte Wildnis wurde nur selten von Fallenstellern und Jägern aufgesucht, wenngleich die Uvovo behaupteten, sie weitgehend erkundet zu haben.
Als die Positionslampen des Zeppelins nicht mehr zu sehen waren, ließ Greg das Panorama auf sich wirken, die Küstenebene, die sich kilometerweit nach Osten erstreckte bis zum dunklen Korzybski-See und den Lichtern der Stadt, die an dessen Westufer verteilt waren. Weit im Süden funkelten die Lichter von Hammergard, das auf einer Landbrücke lag, die Loch Morwen vom Meer trennte; jenseits der Stadt, verborgen im Abenddunst, lag die von zahlreichen Buchten und Fjorden zerschnittene Küste mit der Oststadt. Südlich davon erstreckten sich Hügel und ein Hochtal, die der Tochterwald Ibsenskog bedeckte. Ein wenig südlich davon waren die wie Diamanten funkelnden Lichter des Gagarin-Raumhafens zu erkennen, ein paar Kilometer im Nordwesten lagen Hoch-Lochiel und Landfall, wo der ausgeschlachtete Rumpf des alten Kolonieschiffes Hyperion in der traurigen Stille des Erinnerungstals ruhte. Noch weiter im Norden lagen Neu-Kelso, Engerhold, Laika, dann waren da noch die Baumfällersiedlungen und Bauernhöfe im Norden und Westen und am nordöstlichen Horizont die Stadt Trond.
Seine Stimmung verdüsterte sich. Erst vor zwei Monaten hatte er Trond verlassen und war aus der Falle der Lebensgemeinschaft mit Inga geflohen, ein verhängnisvoller Fehler, dessen Wunden noch immer schmerzten. Ehe seine Gedanken jedoch anfingen, um den Schmerz zu kreisen, straffte er sich und atmete die kühle Nachtluft ein, entschlossen, sich nicht der Bitterkeit und der Trauer zu ergeben. Stattdessen wandte er den Blick nach Süden und beobachtete den Mondaufgang.
Eine blaugrüne Sichel stieg hinter den zerklüfteten Gipfeln des Hrothgar-Gebirges hervor, das den Horizont säumte: Niwjesta, der üppig bewaldete Mond von Darien, auf dem es von Leben und Geheimnissen wimmelte, Heimat der Uvovo, den Hütern des weitläufigen Waldes, den sie Segrana nannten. Vor Jahrtausenden hatte der größte Teil ihrer Waldzivilisation Darien bewohnt, das sie Umara nannten, doch eine nicht näher bestimmbare Katastrophe hatte die Planetenbevölkerung ausgelöscht, und zurückgeblieben waren nur die Bewohner des Mondes.
In einer solch klaren Nacht hüllte der Sternennebel in Dariens oberer Atmosphäre Niwjesta in ein gazeartiges Halo aus verschwimmenden Farben, das einem märchenhaften Auge glich, welches auf die kleine Nische herunterblickte, die sich die Menschen auf dieser fremden Welt geschaffen hatten. Dieser Anblick verfehlte es nie, ihn aufzumuntern. Doch es wurde immer kühler, deshalb knöpfte er das Hemd bis zum Hals zu und machte sich auf den Rückweg. Auf halber Strecke klingelte sein Comm. Er nahm es aus der Hemdtasche, und als er sah, dass sein älterer Bruder dran war, nahm er den Anruf entgegen.
»Hallo, Ian - wie schaut’s aus?«, sagte er im Gehen.
»Gar nicht so schlecht. Bin gerade vom Manöver zurückgekommen und freu mich auf den Gründertag. Ich mach mir Hoffnung auf Heimaturlaub. Und bei dir?«
Greg lächelte. Ian war Teilzeitsoldat beim Freiwilligenkorps, und wenn er nicht zu Hause bei seiner Frau und seiner Tochter war, tat er nichts lieber, als kilometerweit durch den Sumpf zu stapfen oder in den Basaltklippen des Hrothgar-Gebirges herumzukraxeln.
»Ich habe mich ganz gut eingelebt«, antwortete er. »Ich bekomme meine Aufgaben allmählich in den Griff und passe auf, dass die Teams ihre Berichte regelmäßig schreiben, so in der Art.«
»Aber willst du wirklich bei der Tempelausgrabung bleiben, Greg? Wie du weißt, haben wir hier genug Platz, und vor der Episode mit Inga hast du dich in Hammergard doch immer wohlgefühlt …«
Greg grinste.
»Ehrlich, Ian, mir geht’s hier gut. Ich mag meinen Job, die Umgebung ist so friedlich und die Aussicht phantastisch! Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich bin an dem Ort, wo ich sein möchte.«
»Schon okay, Kleiner, wollte nur mal nachfragen. Übrigens, hast du schon was von Ned gehört?«
»Hat mir nur kurz geschrieben, aber das ist okay. Als Arzt hat er im Moment alle Hände voll zu tun …«
Ned, der dritte und jüngste Bruder, hielt zu Ians Ärger nur sporadisch Kontakt, weshalb Greg sich häufig bemüßigt fühlte, ihn in Schutz zu nehmen.
»Aye, beschäftigt, verstehe. Und wann werden wir dich voraussichtlich wiedersehen? Kannst du nicht zum Fest herkommen?«
»Tut mir leid, Ian, ich werde hier gebraucht. Aber in vierzehn Tagen nehme ich im Uminsky-Institut an einer Konferenz teil - sollen wir uns dort treffen?«
»Klingt gut. Sag mir rechtzeitig Bescheid, dann komme ich rüber.«
Sie verabschiedeten sich und unterbrachen die Verbindung. Greg schlenderte weiter, erwartungsvoll lächelnd, das Comm in der Hand. Er dachte an die Ausgrabungsstätte auf der Schulter des Riesen, an die vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, behutsam die verzierten Stelen oder Bodenfliesen bloßzulegen, ganz zu schweigen von den vielen Tagen, die das Katalogisieren, Datieren und Analysieren von Proben und deren Zuordnung erforderten. Hin und wieder - eigentlich ziemlich oft - war das frustrierend, denn es fehlte ihnen ein Leitfaden, der es ihnen ermöglicht hätte, die Bedeutung der Anlage und ihre Funktion zu verstehen. Selbst die Uvovo-Gelehrten waren überfordert und erklärten, die Kunst der Steinbearbeitung sei in der Zeit des Krieges der Langen Nacht, einer der dunkleren Epochen in der Geschichte der Uvovo, verlorengegangen.
Als er zehn Minuten später die höchste Stelle erreicht hatte, klingelte sein Comm erneut, und ohne den Anrufernamen vom Display abzulesen, sagte er:
»Hallo, Mom.«
»Gregory, mein Sohn, wie geht es dir?«
»Mir geht’s gut, ich bin gesund und munter, wirklich …«
»Ja, jetzt, wo du endlich ihren Fängen entkommen bist! Aber fühlst du dich nicht einsam zwischen all den kalten Steinen, mit den kleinen Uvovo als einzigen Gesprächspartnern?«
Greg unterdrückte einen Seufzer. In gewisser Weise hatte sie Recht - der Ort lag sehr einsam, und er lebte allein für sich in einer der Hütten. An der Ausgrabung waren drei Forscher von der Universität beteiligt, doch das waren Russen, die weitgehend für sich blieben, und das galt auch für die Uvovo-Teams, die hin und wieder von weiter entfernten Stationen hierherkamen. Manche Uvovo-Gelehrte kannte er nur dem Namen nach, und nur mit Chel hatte er sich angefreundet.
»Ein bisschen Einsamkeit ist im Moment genau das Richtige für mich, Mom. Außerdem bekommen wir ständig Besuch.«
»Hm, ja. Als dein Vater noch Ratsmitglied war, bekamen wir auch ständig Besuch zu Hause, aber die meisten Leute waren mir egal, wie du dich erinnern wirst.«
»Ja, daran erinnere ich mich noch gut.«
Greg wusste auch noch, wer zu ihm gehalten hatte, als sein Vater an dem Tumor erkrankte, an dem er schließlich gestorben war.
»Übrigens habe ich mit Onkel Theodor über dich und Vater gesprochen, als er mich heute Nachmittag besucht hat.«
Greg hob die Brauen. Theodor Karlsson war der älteste Bruder seiner Mutter und hatte nach dem Scheitern des Winterputsches vor zwanzig Jahren den Spitznamen »Schwarzer Theo« abbekommen. Zur Strafe hatte er zwölf Jahre lang in Neu-Kelso unter Hausarrest gestanden. Anschließend hatte er Militärgeschichte studiert und Bücher geschrieben, obwohl ihm die Regierung von Hammergard unter Androhung einer Gefängnisstrafe das Publizieren sowohl von fiktionalen Schriften als auch von Sachbüchern verboten hatte. In den vergangenen acht Jahren hatte er verschiedene Berufe ausprobiert und sporadischen Kontakt mit seiner Schwester gehalten. Greg erinnerte sich, dass er irgendwie mit dem Hyperion-Datenprojekt zu tun hatte …
»Und was hat Onkel Theo gesagt?«
»Also, er hat Neuigkeiten, die dich überraschen werden - ich kann’s selbst kaum glauben. Das wird unser aller Leben verändern.«
»Erzähl mir nicht, er will wieder einmal die Regierung stürzen.«
»Bitte, Gregori, das ist überhaupt nicht komisch …«
»Tut mir leid, Mom, wirklich. Also, was hat er gesagt?«
Er stand am Ende des Weges und konnte die Ausgrabungsstätte überblicken. Das quadratische Hauptgebäude wirkte bleich und grau in der künstlichen Beleuchtung. Während seine Mutter weitersprach, wechselte Gregs Gesichtsausdruck von Verwunderung zu Verblüffung, und er sah lauthals lachend zu den Sternen auf. Dann bat er seine Mutter, alles zu wiederholen.
»Mom, das kann doch unmöglich dein Ernst sein!«
2 Theo
Theodor Karlsson näherte sich auf einem Privatweg mit federnden Schritten der Präsidentenvilla. Hohe, dichte Büsche schirmten die Villa vor neugierigen Blicken ab, und hüfthohe Laternenpfosten warfen gedämpfte Lichtinseln auf den Weg. Den langen, schweren Mantel hatte er zu drei Vierteln zugeknöpft, und seine Maßschuhe machten auf den Steinplatten kaum ein Geräusch. Das Gelände lag dunkel und still in der Abendkühle, doch Karlsson meinte das engmaschige Netz der Sicherheitsvorkehrungen beinahe riechen zu können. An der Außenmauer und am Tor waren Kameras angebracht, und es patrouillierten Wachen. An dem vor ihm liegenden Nebeneingang waren ebenfalls zwei Wachleute postiert, doch Theo wusste, dass die besten Sicherheitsmaßnahmen meist nicht ins Auge sprangen. Die Frage war nur, wen der ganze Aufwand fernhalten sollte.
Die Wachposten, die beide dunkle Elektronikbrillen trugen, flüsterten etwas in ihre Kehlkopfmikrofone, als er sich ihnen näherte.
»Guten Abend, Major«, sagte der eine. »Wenn Sie bitte mit dem rechten Auge in den Scanner blicken würden.«
Er trat vor die schlichte Holztür, befolgte die Anweisungen und vernahm kurz darauf ein gedämpftes Rumms. Die Tür schwang auf. Er wurde von einer gelassenen Frau mittleren Alters in Empfang genommen, die ihm den Mantel abnahm und ihn über einen schmalen, fensterlosen Gang geleitete, vorbei an mehreren faden Landschaftsgemälden und dann eine schlecht beleuchtete geschwungene Treppe hinauf zu einem Absatz mit zwei Türen. Ohne anzuklopfen trat sie durch die linke Tür, und Karlsson fand sich in einem warmen, mit Teppich ausgestatteten Arbeitszimmer wieder.
»Bitte machen Sie es sich bequem, Major Karlsson. Der Präsident wird gleich da sein.«
»Es ist sehr freundlich, dass …«, setzte Theo an, doch die Frau entfernte sich bereits und schloss hinter sich die Tür. Er schaute sich um in dem mittelgroßen Raum mit den gut bestückten Bücherregalen. Im Kamin brannte ein Feuer, und über dem großen Schreibtisch hing eine kunstvoll verzierte verstellbare Lampe. Ein deckenhohes Regal verdeckte teilweise eine zweite Tür mit Hand-Auge-Sicherheitschloss in der Ecke.
Im Bauch des Ungeheuers, dachte er. Oder jedenfalls in der Löwengrube.
Bei jeder Begegnung mit Sundstrom hatte er dieses Gefühl, ganz gleich, wo sie sich trafen. Deshalb hatte er sich angewöhnt, kurz vorher seine Schwester Solvjeg zu besuchen und ihr gegenüber anzudeuten, wo und mit wem er die nächsten Stunden zu verbringen gedachte. Heute jedoch hatte sie vor allem wissen wollen, ob das Gerücht zutraf, dass ein Signal von der Erde aufgefangen worden war.
Theo grinste. Der Funkspruch war offenbar heute Morgen empfangen worden, und er hatte am Nachmittag aus sechster Hand von einem alten Freund vom Korps davon erfahren, deshalb wunderte es ihn nicht, dass Solvjeg über das Netzwerk der Ehemaligen informiert worden war. Jetzt war es Abend, und das Gerücht hatte sich in der ganzen Kolonie verbreitet. Selbst Kirkland, der Oppositionsführer, hatte eine Erklärung abgegeben, doch bislang lag weder vom Rat noch vom Präsidentenbüro eine Bestätigung vor.
Ein Raumschiff von der Erde!, dachte er. Jetzt wissen wir also, dass die Menschheit den Schwarmkrieg überlebt hat. Aber haben wir sie geschlagen, oder sind nur weitere Überlebende von der Erde geflüchtet? Und wie ist es den anderen beiden Kolonieschiffen ergangen, der Forrestal und der Tenebrosa ?
Ihm schwirrte der Kopf von Fragen, Folge von anderthalb Jahren unbezahlter Arbeit am Hyperion-Datenprojekt. Aufgrund seiner militärischen Erfahrung hatte er einem der Kontrolleure bei der Abschrift einer militärischen Abhandlung geholfen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine schwedische Übersetzung des Buches Vom Kriege, verfasst von einem Preußen namens Clausewitz, das Theo nur von Zitaten kannte. Bei der langwierigen Beschäftigung mit dem Rohtext, wobei er die Kapitelanfänge erraten musste, hatte er begonnen, sich für die Hyperion und deren Schwesterschiffe zu interessieren, auch für die, die niemals gestartet waren …
Die Tür in der Ecke wurde geöffnet, und der Präsident rollte herein. Sein Rollstuhl wurde von einem jungen Mann in einem braungrauen Einteiler geschoben.
»Guten Abend, Theodor«, sagte Sundstrom, entließ seinen Helfer und manövrierte den Rollstuhl hinter den Schreibtisch.
»Guten Abend, Holger«, erwiderte Theo. »Sie haben da ein hübsches Arbeitszimmer, mit interessanten Büchern.« Er deutete auf eine Vitrine. »Ist das die Serow-Ausgabe von 1984?«
»In der Tat«, antwortete Sundstrom. »Collins’ Mondstein ist natürlich seltener, dafür schreibt Orwell wesentlich politischer.«
Theo lachte leise auf. Wasili Serow war Systemtechniker an Bord des Kolonieschiffes Hyperion gewesen und hatte eine bedeutende Rolle beim tödlichen Kampf gegen die Kommando-AI gespielt. In den darauf folgenden Schweren Jahren hatte Serow eine Druckerpresse zusammengebastelt und darauf sorgfältig die wenigen Bücher gesetzt, die in denjenigen Datenspeichern gespeichert waren, die nicht in das Bordnetz eingebunden gewesen waren. Auf die riesigen Speicherbänke der Hyperion, deren Daten von der Bord-AI mehrfach verschlüsselt worden waren, hatten sie jahrzehntelang keinen Zugriff gehabt, weshalb Serows Arbeit für das Überleben der Kolonisten einen unschätzbaren Wert gehabt hatte.
Einen Moment lang schwiegen beide Männer nachdenklich, dann sagte Sundstrom:
»Ich nehme an, Sie haben davon gehört.«
»Etwa zwei Stunden, bevor ich Ihre Einladung erhalten habe«, sagte Theo, ihn aufmerksam musternd. »Dann stimmt es also - die Erde hat ein Schiff losgeschickt, das nach uns sucht. Heißt das, der Schwarm wurde geschlagen und alle unsere Sorgen haben ein Ende?«
Sundstrom lächelte schwach.
»Wenn das so einfach wäre. Theo, der Schwarmkrieg hat zweieinhalb Jahre gedauert, erst dann hat die Hegemonie uns geholfen, die letzten Schwärmer zu vertreiben, und das war vor hundertfünfzig Jahren, eine lange Zeit in der Geschichte einer Zivilisation oder einer Gesellschaft. Vergegenwärtigen Sie sich nur mal all den Zwist und die Umbrüche, die unsere kleine Enklave durchgemacht hat - erst der Kampf gegen die AI der Hyperion, dann die Ersten Familien gegen die Neue Generation, dann die Konsolidierer gegen die Expansionisten, schließlich der Abfall der Neustadt -, denken Sie sich das alles mal in planetarischem Maßstab.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, unser Leben wird eher komplizierter werden, um nicht zu sagen ungemütlich.«
Theo lehnte sich stirnrunzelnd zurück und ließ im Geiste die etwa ein Dutzend Treffen mit Sundstrom aus den vergangenen zwei Jahren Revue passieren.
»Sie machen den Eindruck, als wüssten Sie mehr als ich …« Er beugte sich vor. »Als Sie mich gebeten haben, mich Ihrem kleinen Zirkel anzuschließen, haben Sie gemeint, wir müssten uns auf die schlimmste Möglichkeit vorbereiten, nämlich eine Okkupation durch eine feindlich gesinnte Spezies. Jetzt wird ein Erdraumschiff erwartet - wann genau wird es eintreffen?«
»In vierzehn Stunden.«
»Na schön, also in weniger als einem Tag«, sagte Theo. »Trotzdem machen Sie nicht gerade den Eindruck freudiger Erwartung.« Plötzlich lachte er auf und schnippte mit den Fingern. »Oder dienen die ganzen Maßnahmen etwa der Vorbereitung auf den Kontakt mit der Erde?«
Sundstrom lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück, seine knochigen Hände ruhten auf den Armlehnen. »Sie sind ein Mann von rascher Auffassungsgabe, Theo«, sagte er. »Hätten Sie anstelle von Viktor Ingram den Winterputsch angeführt …«
»Wenn ich damals richtig geschaltet hätte, hätte ich den Mistkerl erschossen, anstatt ihm zu vertrauen«, erwiderte Theo gereizt. »Aber Sie weichen meiner Frage aus, Holger.«
»Ich würde gern warten, bis die anderen eingetroffen sind - ah, ich glaube, jetzt sind sie da.« Er beugte sich vor und hantierte an dem kippbaren Display, das auf dem Schreibtisch stand.
Die anderen, dachte Theo. Sundstrom hatte hin und wieder andeutungsweise von den anderen Mitgliedern des Zirkels gesprochen, doch Theo hatte in den vergangenen zwei Jahren nur einen kennengelernt, einen breitschultrigen, muskulösen Schotten, der ihm als Boris vorgestellt worden war. Er gehörte allerdings nicht zu den drei Personen, die ins Arbeitszimmer traten. Zwei von ihnen - einen Mann und eine Frau - hatte er noch nie gesehen. Der dritte war Witali Pjatkow, der stellvertretende Direktor des Büros für Orientierung, einer Geheimdienstorganisation, die nach dem Winterputsch gegründet worden war. Theo registrierte mit Belustigung das erschreckte Erstaunen, das sich in dessen Miene abzeichnete, als er sah, wer da dem Präsidenten Gesellschaft leistete. Im nächsten Moment wurde sein Gesichtsausdruck wieder undurchdringlich.
»Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte Sundstrom. »Sie haben sich alle meinem kleinen Beraterkreis angeschlossen, doch einstweilen möchte ich die persönlichen Informationen auf ein Minimum beschränken.« Er stellte den Mann als Donny vor, die Frau als Tanja. Als alle Platz genommen hatten, fuhr er fort:
»Ihnen allen dürfte inzwischen klar sein, dass die Gerüchte zutreffen. Einer unserer Kommunikationssatelliten hat einen Funkspruch aufgefangen, der angeblich vom Erdsphäre-Raumschiff Herakles stammt. Man entbietet uns freundliche Grüße und informiert uns darüber, dass das Raumschiff morgen gegen zehn Uhr den Orbit von Darien erreichen wird. Simurg 2, unser Satellit, der Niwjesta umkreist, hat ein Objekt geortet, dessen Kurs sich mit der Umlaufbahn Dariens schneidet; weitere Funksprüche haben ergeben, dass sie tatsächlich von diesem Objekt stammen.«
»Weitere Funksprüche, Sir?«, sagte Tanja. »Hat ein Dialog stattgefunden? Gibt es Hinweise darauf, was wir zu erwarten haben?«
»An Bord ist ein Sonderbotschafter namens Robert Horst, doch bislang haben wir wenig mehr als diplomatische Floskeln ausgetauscht.« Sundstroms Miene wurde ernst. »Allerdings gibt es gewisse Tatsachen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.«
Er nahm eine Fernbedienung in die Hand und drückte eine Taste. Hinter ihm schaltete sich der Bildschirm ein. Man sah eine blaue Welt aus dem Orbit, daneben einen kleinen grünen Mond - Darien und Niwjesta. Dann veränderte sich der Blickwinkel, und die Neue Sonne gelangte in Sicht. Blendreflexe traten auf und wanderten aus dem Bild, bis Planet und Mond vor einem nebelhaften Hintergrund standen, in dem ein paar helle Sterne leuchteten, Diamantsplitter inmitten von Nebelschleiern.
»Der stellare Staub und die uns umgebenden Trümmer«, fuhr er fort, »nehmen mehr Raum ein, als die meisten Beobachter geglaubt haben. An der breitesten Stelle beträgt die Ausdehnung eintausend Lichtjahre, und unser Sternsystem liegt in einem der dichteren Wirbel. Dieser Bereich wird als Huvuun-Tiefenzone bezeichnet und ist einer von mehreren in diesem Teil der Galaxis. Offenbar herrscht dort zwischen zwei Regionalzivilisationen, den Imisil und den Brolturanern, ein heftiger Grenzstreit.«
Darien und dessen Sternsystem schrumpften auf dem Bildschirm und verschwanden in den interstellaren Staubwolken, während eigentümlich konturierte Wände auftauchten, die sich über Lichtjahre erstreckten - die dreidimensionalen Grenzen zwischen der Tiefenzone und den angrenzenden Territorien.
»Der Brolturan-Pakt ist mit einem großen interstellaren Imperium verbündet, der Sendruka-Hegemonie, die zufällig auch ein Verbündeter der Erdsphäre ist. Bedauerlicherweise ist das Solsystem fast 15 000 Lichtjahre entfernt, so dass wir deutlich außerhalb des Einflussbereichs der Erdregion liegen. Der Imisil-Bund hat in der Vergangenheit mit der Hegemonie Krieg geführt, was auch heute noch gewisse Spannungen zur Folge hat.«
Sundstrom hielt inne, und es folgte ein verblüfftes Schweigen. Die Anwesenden wechselten fragende Blicke, und Theo schwirrte der Kopf.
Kompliziert und ungemütlich?, dachte er. Das ist wohl stark untertrieben.
Der Geheimdienstoffizier Pjatkow ergriff das Wort.
»Sir, bei allem Respekt - ich kann mir denken, dass Sie diese Informationen nicht vom Sonderbotschafter haben, deshalb muss ich Sie nach der Quelle fragen.«
»Ich bedaure, Witali, aber im Moment kann ich die nicht preisgeben.«
»Seit wann wissen Sie das alles?«, fragte Theo.
»Seit etwa zweieinhalb Jahren«, antwortete der Präsident. »Sie werden in Kürze erfahren, woher die Informationen stammen, doch im Moment wollen die Informanten sich aus Angst vor den unvermeidlichen politischen Verwerfungen noch bedeckt halten.«
Das müssen die Getunten sein, dachte Theo. Sie sind an allen technischen Großprojekten beteiligt, und ich wette, der gute alte Holger hat ein paar in petto, welche die Signale übersetzen, die aus dem Großen Jenseits aufgefangen werden.
»Also, wen haben wir am meisten zu fürchten?«
Sundstrom lächelte trübselig. »Da die Realpolitik nun mal so ist, wie sie ist, fürchte ich, dass wir niemandem vollständig vertrauen können, doch das Bündnis der Erde mit der Sendruka-Hegemonie ist beunruhigend …«
Sundstrom machte seinen Zuhörern eine erstaunliche Enthüllung und skizzierte die Topografie interstellarer Mächte, der Rivalität und der Konflikte, von deren Existenz sie nicht das Geringste geahnt hatten. Die Sendruka-Hegemonie war ein autoritäres, militaristisches Imperium, das diesen Teil der Galaxis beherrschte; es wendete gewissenlos die verschiedensten Taktiken an, um seinen Willen durchzusetzen, wobei es vorgab, aus rein altruistischen Motiven heraus zu handeln, und sich selbst als großes Beispiel hinstellte, dem andere Zivilisationen nacheifern sollten. Bedauerlicherweise stand die Erdsphäre der Hegemonie gegenüber in der Pflicht und unterhielt mit ihr enge Handelsbeziehungen, da Letztere einen entscheidenden Beitrag zur Vernichtung der Invasionsflotte des Schwarms geleistet hatte, welche die Erde und ein Dutzend weitere Zivilisationen vor hundertfünfzig Jahren beinahe unterworfen hätte. Die Hyperion und die anderen beiden Kolonieschiffe waren vom Solsystem aufgebrochen, bevor die Hegemonie eingegriffen hatte.
Während Sundstrom sprach, musterte Theo die anderen Zuhörer. Tanja lauschte fasziniert, den Blick auf den Präsidenten gerichtet. Pjatkow machte einen reservierteren Eindruck und schien den Vortrag eher mit Skepsis aufzunehmen. Donny, der andere Mann, wirkte entspannt und gleichzeitig hellwach.
Der gehört eindeutig den Spezialeinsatzkräften an, dachte Theo. Dazu noch ein Geheimdienstoffizier und eine Networkerin - vielleicht arbeitet sie bei einer Regierungsbehörde oder bei einem Nachrichtendienst - und ein in Ungnade gefallener Exmajor. Aber es muss noch andere geben.
»Wir leben in einer Kolonie fernab der Heimat«, sagte Pjatkow. »Wir sind mitten in einem umkämpften Gebiet aufgetaucht, und mit den Verbündeten der Erde ist nicht zu spaßen. Was ist mit den Brolturanern? Sind sie den Imisil vorzuziehen?«
»Die Brolturaner sind ein fanatischer Ableger der Sendruka-Zivilisation«, sagte Sundstrom. »Im Mittelpunkt ihrer Kultur steht ein Glaube, Volasti genannt, der sie in den Status von Paladinen Gottes erhebt. Der Imisil-Bund hingegen …« Er hob die Schultern. »Das ist eine Konföderation überwiegend humanoider Völker, nicht-expansionistisch, aber trotzdem an diesem Gebiet, der Huvuun-Tiefenzone, interessiert, da sie einen Puffer zwischen sich und den Brolturanern haben wollen.«
Donny straffte sich lächelnd. »Und wie sehen sie aus, diese Sendrukaner?«
»Ganz ähnlich wie wir«, antwortete Sundstrom. »Sie sind menschenähnlich, abgesehen davon, dass sie über drei Meter groß sind.«
Theo stellte sich vor, wie diese großen Humanoiden Schulter an Schulter mit den Menschen gekämpft hatten, um die Erde vor dem insektoiden Schwarm zu retten. O ja, so etwas erzeugt Dankbarkeit. Tanja und Pjatkow zeigten sich von dieser Information überrascht, doch Donny nickte nur und lächelte.
»Scheinen ernstzunehmende Gegner zu sein«, meinte Theo. »Sonst noch was?«
Der Präsident zwinkerte und lächelte verschmitzt. »Ehrlich gesagt, gibt es noch eine Menge, aber eine bestimmte Information dürfte Sie wohl alle interessieren.« Er blickte die Anwesenden an. »Seit dem Schwarmkrieg und zumal seit die Erde mit der Hegemonie verbündet ist, hat sich die künstliche Intelligenz schubweise und sprunghaft weiterentwickelt. Die AIs haben sich auf allen Feldern der Erdkultur verbreitet und durchdringen das soziale Gewebe inzwischen so weit, dass manche Leute personalisierte AIs mit sich führen, bisweilen auch in Form von Implantaten. Sie werden als ›Gefährten‹ bezeichnet, niemals als AIs. In der Hegemonie sind sie noch weiter verbreitet, und die meisten genießen durch Gesetz verbürgte Rechte. Einige der ältesten und komplexesten AIs nehmen sogar wichtige Regierungsposten ein.«
Es entstand ein schockiertes Schweigen. Alle wirkten alarmiert und bemühten sich, das Gehörte zu verarbeiten. Vor einhundertachtundvierzig Jahren, kurz nachdem die Welt geortet worden war, die ihr neues Zuhause werden sollte, hatten die Besatzung und die Kolonisten an Bord der Hyperion einen heftigen und verzweifelten Kampf gegen die Kommando-AI des Schiffes geführt. Von dem Moment des Austritts aus dem Hyperraum an hatten die Steuersysteme Fehlfunktionen gezeigt, die immer gefährlicher wurden, je näher die Landung rückte. Als sie schließlich landeten, kämpften sie buchstäblich gegen das Schiff, dessen AI keine Anweisungen mehr befolgte. Sie übernahm die Kontrolle über die Maschinen, die Bots und die zahlreichen Reparaturdrohnen, mit denen sie die Bemühungen der Besatzung, Vorräte aus den verschlossenen Lagern zu entladen, sabotierte oder die Besatzung direkt angriff. Schließlich begann sie, die Kolonisten aus dem Kälteschlaf aufzuwecken, implantierte ihnen Neurogeräte und zwang sie, ihre Anweisungen auszuführen. 11 Mann der ursprünglich 46 Personen zählenden Besatzung sowie 29 Personen der 1200 Schläfer waren bereits tot, als die Überlebenden endlich zu dem AI-Kern vordrangen und die Stromzufuhr abstellten. Über die Gründe, weshalb sie sich gegen die Kolonisten gewendet hat, konnten die verschreckten Sieger nur spekulieren. Sie nahmen an, der unbekannte Stress des Hyperraums habe die Daten oder das kognitive Substrat beschädigt. Die Schrecken des Kampfes wirkten noch jahrzehntelang nach, wurden zu einem mächtigen Symbol und dienten als allgemein akzeptierte Rechtfertigung dafür, die AI-Forschung zu verbieten. Bei den Feierlichkeiten des Gründersieges wurde alljährlich der Toten gedacht.
»In wenigen Stunden werde ich eine Ansprache an die Kolonie halten und eine Erklärung in der parlamentarischen Versammlung abgeben«, sagte der Präsident. »Natürlich wird nichts von dem, was ich Ihnen hier mitgeteilt habe, darin Erwähnung finden, nur die nichtssagenden Floskeln aus den Funksprüchen des Botschafters. Aber ich wollte Sie persönlich in Kenntnis setzen, denn es ist nicht auszuschließen, dass selbst unsere sichersten Kommunikationskanäle schon in wenigen Tagen Makulatur sein werden.«
»Ist es denkbar, dass der Botschafter von der Erde von einer AI begleitet wird?«, fragte Pjatkow.
»Davon sollte man vorsichtshalber ausgehen«, meinte Sundstrom. »Das könnte einen Schatten auf den Feiertag werfen, aber wir werden uns bemühen, die Differenzen zu übertünchen.« Er breitete die Hände aus. »Das wäre im Moment alles, meine Freunde. Fahren Sie mit den Vorbereitungen fort. Morgen Abend werden Sie eine Liste mit den Namen Ihrer Kollegen sowie neue Codewörter erhalten.«
Als Theo sich mit den anderen erhob, winkte Sundstrom ihn zurück. »Theodor, wenn Sie noch einen Moment Zeit haben …«
Als die anderen sich verabschiedet hatten und gegangen waren - Pjatkow mit grimmiger Miene -, manövrierte der Präsident seinen Rollstuhl hinter dem Schreibtisch hervor und rollte zu einem gemütlich wirkenden Barschrank. Ohne Theo etwas anzubieten, schenkte er sich einen kleinen dunkelroten Drink ein, kippte ihn hinunter und seufzte wohlig.
»Ich bin sehr froh, dass Sie sich meinem kleinen Verschwörerkreis angeschlossen haben, Theodor«, sagte er. »Auch wenn Sie nach wie vor Umgang mit verschiedenen Gaunern und gesellschaftlichen Außenseitern pflegen. Ich spreche von Ihren Veteranen.«
»Ach, das sind Freunde aus meiner Armeezeit, Familienfreunde …« Lächelnd hob er die Schultern. »Gleichgesinnte.«
Sundstrom lächelte vielsagend. »Jedenfalls schätze ich Ihre Erfahrung und Ihren militärischen Scharfblick noch immer sehr, übrigens auch Ihre abweichende Meinung. Doch Sie bringen noch etwas anderes in unsere heimliche Verschwörung ein, etwas, das sich noch als ausgesprochen nützlich erweisen könnte.«
Theo lachte. »Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Sie damit meinen Charme und mein jungenhaftes Aussehen meinen.«
Sundstrom musterte ihn von der Seite.
»Ich glaube, Sie und Ihre alten Kameraden vom Korps sprechen in dem Zusammenhang von ›Aktivposten‹.«
Theo, der noch immer stand, erstarrte kurz, dann fasste er sich wieder. »Welche Aktivposten meinen Sie?«
»Eine erkleckliche Anzahl von Waffen und Munition, die nach dem Winterputsch zusammen mit Sprengstoff, technischem Gerät und ein paar Fahrzeugen verschwunden sind. Angenommen, das Material wurde an verschiedenen Orten in der Nähe der Siedlungen versteckt, wäre es durchaus möglich, dass ein Informationen sammelnder Zweig der Regierung Kenntnis davon erhalten hat. In diesem Fall würden die Informationen in Datenspeichern verwahrt, deren Sicherheit, wie ich bereits erwähnt habe, in Kürze möglicherweise nicht mehr gewährleistet sein wird. Wenn die Lager leer wären, könnte man die Daten natürlich unverzüglich löschen.« Er lächelte. »Ich weiß nicht, weshalb Sie diese Sachen aufbewahrt haben - vielleicht aus langfristigem Ehrgeiz oder auch nur deshalb, damit sie niemand anderem in die Hände fallen. Wie auch immer, ich bin froh, dass Sie es getan haben.«
Theo lächelte höflich. »Holger, ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Aber ich werde mir alles durch den Kopf gehen lassen.«
»Mehr verlange ich auch gar nicht.«
»Sie könnten mir einen kleinen Gefallen tun«, sagte er.
»Der wäre?«
Theo lächelte. »Haben Sie bei der Unterhaltung mit dem Erdschiff etwas über die Forrestal und die Tenebrosa in Erfahrung gebracht?«
»Das war eine meiner ersten Fragen«, sagte Sundstrom. »Es scheint jedoch so, als wären sie nicht gefunden worden - die Ehre des Erstkontakts können wir somit für uns allein beanspruchen.«
»Anschließend wird man uns vermutlich genau unter die Lupe nehmen.«
»Wieso das?«
»Um herauszufinden, wie unser Experiment mit einer kulturell gemischten Zusammensetzung sich entwickelt hat«, sagte Theo. »Das Planungsteam von der Erde hat damals im Computermodell eine Vielzahl unterschiedlicher Kombinationen von nationaler Zugehörigkeit und kulturellem Hintergrund durchgespielt, um herauszufinden, welche Kombination sich am besten für das Überleben auf fremden Welten eignet. Und welcher es am besten gelingt, eine lebensfähige Gesellschaft aufzubauen.«
Sundstrom grinste mitleidig. »Skandinavier, Russen und Schotten - was die sich wohl dabei gedacht haben?«
Kurz darauf trat eine Assistentin mit Theos Mantel ein. Er zog ihn an, schüttelte dem Präsidenten die Hand und stand im nächsten Moment wieder draußen vor der Villa. Es war dunkler und kälter geworden, und die Luft war schneidend, als er durch das von Bäumen überschattete Tor trat, das den Eindruck erweckte, als gehörte es zu einem angrenzenden Grundstück. Das Schwebetaxi, das er bestellt hatte, wartete bereits auf der Straße und fuhr mit ihm hügelabwärts in Richtung Stadt. Hammergard lag an einer schmalen Landenge, die Loch Morwen vom Korzybski-See und dem dahinter liegenden Meer trennte; beide Gewässer spiegelten funkelnd die Farbtöne des Sternenhimmels wider. Theo aber machte sich Gedanken über Sundstroms Bemerkung über seine alten Kameraden und die »Aktivposten«, für ihn eine unangenehme Überraschung. Gleichwohl hatte der Präsident ihm mitgeteilt, dass die Aktivposten gefährdet waren, eine Enthüllung, für die es nur eine sehr begrenzte Anzahl von Erklärungen gab, die allesamt Unheil ahnen ließen.
Er ließ sich zu der im Nordtal-Distrikt der Stadt gelegenen Uferstraße von Loch Morwen bringen. Als er ausgestiegen war und sich das Brummen des Schwebetaxis entfernte, holte Theo das Comm aus der Tasche und ging über die Nebenstraße nach Hause. Das Gerät war ein älteres, recht großes Modell, das Sangholzgehäuse war zerschrammt und vom häufigen Gebrauch eingedunkelt, doch der äußere Eindruck täuschte, denn es verfügte über ganz spezielle Komponenten. Nach mehrmaligem Daumendruck wurde auf dem ovalen blauen Display »Willkommen in der Krypta« angezeigt, und als er das Gerät ans Ohr hielt, vernahm er einen Moment lang flotte Dudelsackmusik, dann meldete sich eine Stimme.
»Aye, was is denn jetzt schon wieder?«
Titel der Originalausgabe SEEDS OF EARTH Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe
Deutsche Erstausgabe 08/2010
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 2009 by Michael Cobley
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-04809-9
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