Waisen des Alls - Michael Cobley - E-Book

Waisen des Alls E-Book

Michael Cobley

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Beschreibung

Der neuen Heimat droht Gefahr

Die Menschheit hat das All besiedelt – und dabei den Kontakt zur Erde verloren. Als auf ihrer neuen Heimat Darien ein mysteriöser Tempelkomplex entdeckt wird, müssen sich die Menschen mit den einheimischen Uvovo zusammentun. Doch die Uvovo verbergen ein Geheimnis: eine uralte, bösartige Intelligenz, die sie seit Jahrtausenden in dem Tempel gefangen halten. Und die finstere Rache geschworen hat…

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DAS BUCH

Die Erde und die Kolonien der Menschen im Sonnensystem wurden überraschend von einer außerirdischen Invasionsmacht angegriffen. Kurz vor der endgültigen Niederlage konnten sich jedoch drei Kolonieschiffe auf den Weg machen. Ihr Ziel: neue, bewohnbare Planeten für die Menschheit zu finden. Eine dieser Siedlergruppen landete auf Darien, einem scheinbar friedlichen Planeten. Doch das Geheimnis der dort lebenden Uvovo stellt sich als tödliche Gefahr heraus ‒ denn uralte kosmische Mächte greifen erneut nach der Herrschaft und überrollen die Sternsysteme mit Krieg. Für den menschlichen Botschafter von Darien geht es erneut ums Überleben ‒ aber diesmal stehen alle Zivilisationen der Galaxis auf dem Spiel. Aus Verbündeten werden Feinde, und neue Freunde treten aus den Schatten der Zeit hervor …

Packend und voll überraschender Wendungen ‒ Michael Cobley hat die Space Opera des 21. Jahrhunderts geschrieben.

Erster Roman: Die Saat der ErdeZweiter Roman: Die Waisen des AllsDritter Roman: Die Ahnen der Sterne

DER AUTOR

Michael Cobley, geboren in Leicester, studierte Ingenieurswissenschaften an der Universität von Strathclyde. Als Herausgeber verschiedener Magazine und durch seine Kurzgeschichten machte er sich schnell einen Namen in der Fantasy-Literatur. »Schattenkönige«, sein erster Roman, war in Großbritannien auf Anhieb ein riesiger Erfolg. Cobley lebt und arbeitet in Glasgow.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORWidmungHauptpersonenWichtige intelligente SpeziesPrologTEIL EINS
1 Greg2 Legion3 Robert4 Cheluvahar5 Kuros6 Catriona7 Robert8 Legion9 Kao Chih10 Robert11 Catriona
TEIL ZWEI
12 Legion13 Julia14 Theo15 Robert16 Kao Chih17 Greg18 Kuros19 Legion20 Robert21 Theo22 Catriona23 Kao Chih24 Julia25 Greg
TEIL DREI
26 Kao Chih27 Legion28 Catriona29 Theo30 Kao Chih31 Theo32 Robert33 Chel34 Greg35 Kuros36 Greg37 Legion
EpilogDas KonstruktDankCopyright

Und dies nun für David Wingrove, verlässlicher Freund und klasse Autor

Hauptpersonen

Greg Cameron ‒ Archäologe, zuständig für den Fundort »Die Schulter des Riesen«. Als die Hegemonie Darien besetzt, wird Greg zu einer Führungspersönlichkeit des Widerstands.

Catriona Macreadie ‒ eine ehemalige Getunte, von der Biomassenintelligenz Segrana als Hüterin auserwählt, hat zentrale Bedeutung für deren Pläne.

Theo Karlsson ‒ Gregs Onkel und Major der Freiwilligenstreitkräfte von Darien im Ruhestand, hat Theo dabei geholfen, eine wichtige Gruppe von Getunten aus den Fängen der Hegemonie zu retten.

Kao Chih ‒ wird von der Menschensippe, einer Splittergruppe der Menschenkolonie auf Scheiterhaufen, nach Darien entsandt; unterwegs hilft er ungewollt einem Agenten der Legion der Avatare, nach Darien zu gelangen.

Julia Bryce ‒ Sprecherin einer Gruppe getunter Wissenschaftler, die entdeckt haben, wie sich die dunkle Antimaterie nutzen lässt.

Cheluvahar, auch Chel genannt ‒ Seher der Uvovo und guter Freund Greg Camerons.

Utavess Kuros ‒ der Botschafter der sendrukanischen Hegemonie auf Darien, soll den in der Schulter des Riesen verborgenen Warpbrunnen der Vorläufer übernehmen.

Robert Horst ‒ Botschafter der Erdsphäre auf Darien, fälschlicherweise des Terrorismus beschuldigt und vom Wächter des Warpbrunnens in den Hyperraum versetzt.

Das Konstrukt ‒ eine Maschinenintelligenz, erschaffen von den Vorläufern vor über hunderttausend Jahren als Mitstreiter im Kampf gegen die Legion der Avatare. Es wacht über die Tiefen des Hyperraums, wohin Robert Horst versetzt wurde.

Ritter der Legion der Avatare ‒ ein gepanzerter Cyborg, Überlebender des Krieges gegen die Vorläufer. Einer seiner mechanischen Abkömmlinge hätte beinahe den Warpbrunnen auf Darien in seine Gewalt gebracht, doch nun muss er sich Alternativen überlegen.

Wichtige intelligente Spezies

Menschen ‒ zweibeinige Säuger, zweiäugig, mit Restbehaarung, audiovisuelle Sinnesorgane mit eingeschränkter Reichweite, durchschnittliche Körpergröße 1,7 Meter.

Sendrukaner ‒ zweibeinige Humanoide, zweiäugig, minimale Körperbehaarung, durchschnittliche Körpergröße 2,8 Meter.

Bargalil ‒ sechsbeinig, 20 Prozent Körperbehaarung, durchschnittliche Körpergröße 2 Meter.

Henkayaner ‒ Zweibeiner mit vier Armen, muskulöser Oberkörper, durchschnittliche Körpergröße 2,1 Meter.

Kiskashin ‒ zweibeinige, geschwänzte Vogelreptilien, raue, höckrige Haut, durchschnittliche Körpergröße 1,8 Meter.

Makhori ‒ amphibische Achtbeiner, mehrere Tentakel, große Augen, durchschnittliche Körpergröße 1,5 Meter.

Achorga ‒ insektenartige Schwarmwesen, aggressiv territorial, nur Königinnen und spezialisierte Drohnen zeigen Intelligenz, durchschnittliche Körpergröße 1,2 Meter.

Uvovo ‒ kleine zweibeinige Humanoide, 70 Prozent Körperbehaarung, zweiäugig, ausgezeichnetes Gehör, durchschnittliche Körpergröße 1,3 Meter.

Gomedraner ‒ aufrecht gehende Zweibeiner mit Körperfell, entfernt wolfsähnlich, durchschnittliche Körpergröße 1,4 Meter.

Vusark ‒ zehnbeinige Pseudoinsekten, Mehrfachaugen, durchschnittliche Körpergröße 1 Meter, wenn sie auf mehreren Beinen gehen, 2,1 Meter, wenn sie sich auf die Hinterbeine aufrichten.

Voth ‒ zweibeinige Säuger, lange Unterarme, 75 Prozent Körperbehaarung, häufig mit Cyborgimplantaten ausgestattet, legen Wert auf verhüllende Kleidung, durchschnittliche Körpergröße 1,4 Meter.

Piraseri ‒ dreibeinige Sophonten aquatischer Abstammung, Körper spitz zulaufend, der schräg nach hinten verlaufende Kopf ist von kleinen Tentakeln gesäumt, durchschnittliche Körpergröße 1,6 Meter.

Roug ‒ schlanke Zweibeiner mit dünnen Gliedmaßen, möglicherweise unbehaart, für gewöhnlich von Kopf bis Fuß mit einem undurchsichtigen Material bandagiert, durchschnittliche Körpergröße 1,9 Meter.

Naszbur ‒ schwer gepanzerte zweibeinige Reptilien, der Chitinpanzer et eine Haube über dem Kopf. Aggressive Händler, durchschnittliche Körpergröße 0,8 Meter.

Hodralog ‒ vogelartige Sophonten, die auf verschiedenen Ebenen des Hyperraums leben, körperlich fragil, durchschnittliche Körpergröße 0,8 Meter.

Keklir ‒ kleine, muskulöse Zweibeiner, die in den meisten oberen Schichten des Hyperraums anzutreffen sind, mit breiten, spitz zulaufenden Mundpartien, die zwei mundartige Öffnungen aufweisen. Durchschnittliche Körpergröße 1 Meter.

Pozu ‒ eine gedrungene, braunhäutige Spezies, die von einer Hochgravitationswelt stammt. Düster veranlagt, erfahrene Pflanzentechnologen, durchschnittliche Körpergröße 0,7 Meter.

Die Geläuterten ‒ ehemalige Sendrukaner, deren persönliche AIs volle Kontrolle über ihren Körper erlangt und die ursprüngliche Persönlichkeit ausgelöscht haben, für gewöhnlich nach einer Verurteilung, ausnahmsweise auch aus eigenem Entschluss.

Prolog

Darien-Institut: Datenwiederherstellungsprojekt Hyperion

Clusterposition ‒ Nebenfestspeichersubstrat (Tertiäres Backup) Tranche 31 Entschlüsselungsstatus ‒ 24. Durchgang, 3 Video-Files wiederhergestellt

File 3 ‒ Implantatvariante 6 (stumm), kampftauglich [Person identifiziert als Andrej Wyschkow] Wahrheitsgehalt ‒ unmodifizierte Liveaufzeichnung Ursprüngliche Datierung ‒ 18:23, 30. Oktober 2127 Einführung ‒ Dr. Yelena Dobrunow Nachwort ‒ Dr. James Kelvin

Kommentar I: Die Ereignisse nach der Notlandung der Hyperion vor 150 Jahren hatten starke Auswirkungen auf die weitere Entwicklung unserer Kolonie. Die drastischen technologischen Defizite, die das Leben der Gründer in den folgenden Jahrzehnten prägten, hatten zur Folge, dass nur schriftliche Dokumente und einige wenige gedruckte Fotos von diesem harten Lebenskampf zeugen. Auch die mündlichen Überlieferungen der Ersten Familien trugen dazu bei, die Namen von Captain Olsson, Keri Mc-Alister und Andrej Wyschkow über Generationen hinweg lebendig zu erhalten. Jeder kennt die Geschichte von Wyschkows Karte.

Neue Weiterentwicklungen der Datenentschlüsselungstechnik ermöglichten es den Forschern des Instituts jedoch, aus den Speicherknoten der Hyperion endlich kohärente Aufzeichnungen zu extrahieren. Dazu gehören auch drei von der Bord-Al angelegte Video-Files, die auf zunehmend effektive Methoden verweisen, ihre Gefangenen zum Gehorsam zu zwingen. Den Kolonisten, die sie aus dem Kryoschlaf aufweckte, wurden Neurogeräte implantiert, die Schmerzempfindungen auslösen konnten und die betroffenen Personen zwangen, gegen die Schiffsbesatzung vorzugehen, die in einigen Kilometern Entfernung ein Lager errichtet hatte.

Die Bezeichnung des ersten Video-Files lautet »Toleranztest Bioeinheit« und zeigt einen der reaktivierten Kolonisten, der auf einer Liege festgeschnallt ist und immer stärkeren Schmerzen ausgesetzt wird, bis er stirbt. Der zweite File mit der Bezeichnung »Implantatvariante 3, Feldversuch« zeigt eine weibliche Kolonistin, die fremdgesteuert außerhalb der Hyperion ein bewusstloses Besatzungsmitglied birgt, das bei dem Versuch, sich Zugang zum Schiff zu verschaffen, verletzt wurde. Der Schmerz oder vielmehr die Erinnerung an den Schmerz reicht aus, um die Kolonistin gefügig zu machen, auch dann noch, als das Besatzungsmitglied zu Bewusstsein kommt und erfolglos zu fliehen versucht. Diese beiden Aufzeichnungen enthalten entsetzliche, verstörende Szenen der Folter und des Zwangs, weshalb die Institutsverwaltung beschlossen hat, den Zugang zu den Files zu beschränken.

Der dritte Video-File betrifft jedoch Andrej Wyschkow, dessen tragischheroische Geschichte jedermann kennt, und zeigt den Ablauf realer Ereignisse. Die Institutsverwaltung glaubt, dass die historische Bedeutung des Files schwerer wiegt als der Respekt vor Wyschkows Leiden, und hat ihn daher mit Einwilligung von Wyschkows Familie für volljährige Betrachter freigegeben.

Wir hoffen, in nächster Zeit den Kern des Betriebssystems der Maschinenintelligenz, den am stärksten verschlüsselten Speicherbereich, knacken und offenlegen zu können, welche Erfordernisse oder Befehle sie dazu veranlassten, sich gegen die Menschen zu wenden, die sie eigentlich schützen sollte. Bis dahin sollten Studenten und andere Betrachter aufmerksam die folgende Aufzeichnung studieren und sich vergegenwärtigen, welche Art von Sklaverei uns allen zugedacht war – Y. D.

Dunkle Schatten, die sich bei Nacht durchs Laubwerk bewegen. Das Plattern des Regens, das Muster der ins Unterholz fallenden Tropfen, das Rauschen des Winds in der Höhe und Atemgeräusch. Dem schwankenden Bild nach zu schließen, ist die Kamera am Oberkörper einer Person befestigt. Dann wechselt die Perspektive, und man sieht von einem erhöhten Standpunkt aus Bäume und Gebüsch, die aufgrund der Restlichtverstärkung bläulich-grau dargestellt werden, während ein Mann, der sich durch den Wald bewegt, aufgrund seiner Körperwärme als heller Schemen angezeigt wird. Die Luftkamera folgt ihm einen Moment, dann weicht sie zurück und schwenkt über die Baumkronen hinweg zu einer felsigen Erhebung, die aus dem bleichen Dickicht aufragt, ein dunkelblauer, von geisterhaftem Gebüsch umstandener Hügel. Die Kamera zoomt auf die beiden Bewacher der Erhebung, rastlose helle Silhouetten.

»Gehe zu Position A und bringe die erste Sprengladung an«, sagt die Al. »Bestätigung.«

Nun sieht man das Gesicht des Mannes von dessen rechter Schulter aus. Es ist Andrej Wyschkow, der eine Nachtsichtbrille trägt. Er öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen, doch man hört nichts. Stattdessen verzieht er das Gesicht, tiefer Frust zeichnet sich darin ab. Das Bild wechselt, diesmal sieht man den Mann von der linken Seite. Er nickt und geht weiter zwischen den Bäumen hindurch. Die Regentropfen, die durchs Bild huschen, gleichen kleinen schwarzen Perlen. Minuten später erreicht Wyschkow die bewachte Erhebung und wendet sich nach links, wobei er auf seine Deckung achtet. Die Flugkamera zeigt ihn dabei, wie er sich unbemerkt einer steil aufragenden Felswand nähert und einen faustgroßen Gegenstand daran befestigt. Dann zieht er sich lautlos ins Gebüsch zurück.

»Gehe zu Position B und bringe die zweite Sprengladung an.«

Ein Kopfnicken.

Die zweite Sprengladung wird an der linken Seite der Felserhebung angebracht, unterhalb eines großen Überhangs. Die dritte wird dort angebracht, wo sich der Trampelpfad, den die Wachposten angelegt haben, zu einer Reihe von natürlichen Felsstufen hin absenkt. Der Weg führt an einem unregelmäßig geformten Grat entlang zu einem buschbestandenen Hang, wo drei bewaffnete Männer den Eingang einer Höhle bewachen. Die vierte und letzte Sprengladung soll am Hang oberhalb der Höhle angebracht werden, was sich als besonders schwierig erweist, obwohl durch den Regen leisere Geräusche überdeckt werden. Als sie dennoch im Erdreich vergraben ist, zieht Wyschkow sich zurück und schleicht durch die Dunkelheit.

»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagt die Al. »Du bekommst eine Belohnung.«

Ohne erkennbare Reaktion zieht Wyschkow sich ins tropfende Laub zurück und begibt sich zu einer unterhalb der Höhle gelegenen dichten Ansammlung von Bäumen.

»Ich habe die Zeitzünder aktiviert«, sagt die Al, als er sich hinter einen ausladenden Busch hockt und den Hügel hinaufschaut. »In dreißig Sekunden wird die erste Sprengladung detonieren, die zweite drei Sekunden später. Nach weiteren fünf Sekunden werden die drei Wachposten den Ausguck erreicht haben, während weitere Personen aus der Höhle getreten sein werden. Dann werden die dritte und die vierte Sprengladung detonieren, und wenn die feindlichen Elemente kampfunfähig oder ausgeschaltet sind, wirst du die Höhle sichern …«

In der Nähe ertönt ein lauter Knall. Wyschkow blickt nach links, gefilmt von seiner rechten Schulter aus. Ein düsteres Lächeln spielt um seine Lippen, und als er sich aufrichtet, explodiert die zweite Sprengladung.

»Geh wieder in Deckung. So können dich die feindlichen Elemente sehen.«

Wyschkow nimmt die Brille ab und sieht in die Schulterkamera. Sein Blick ist dunkel und stechend. Er schüttelt den Kopf und hebt die Linke mit einer halbkreisförmigen Sprengladung. Eine rasche Armbewegung, und sie fliegt in hohem Bogen in den dunklen, regennassen Wald.

»Du hast den Einsatzplan sabotiert. Du wirst bestraft werden. Kehre zum Schiff zurück …«

Eine weitere Explosion. Es blitzt am Felsenhang und gleichzeitig im Wald. Brennendes Laub wird hochgeschleudert. An der Höhlenmündung, aus der Gestalten mit Fackeln herausgerannt kommen, geschieht nichts. Wyschkow sieht sie und klettert den Hügel hoch. Er kommt drei Schritte weit, dann krümmt er sich vor Schmerzen, geht in die Knie, fällt auf die Seite. Die Schulterkamera zeigt sein schmerzverzerrtes Gesicht und den zum Schrei geöffneten Mund, doch kein Laut kommt heraus, nur ein Keuchen.

»Gehorche! Geh zum Schiff zurück, oder du wirst ausgeschaltet!«

Lautlos die Zähne fletschend, schüttelt Wyschkow den Kopf und kriecht den grasbestandenen Hang hoch. Die Perspektive wechselt zur Flugkamera, die über dem Waldrand schwebt und die leuchtende Gestalt am Hang zeigt. Am rand wabert hellblau die Explosionswärme, und man hört Rufe und einen Hilfeschrei. Als die Flugkamera auf Wyschkow zoomt, wird das Bild von einer Zielerfassung überlagert, einem roten Dreieck, das über dem Hinterkopf des Mannes zur Ruhe kommt. Im nächsten Moment ruckt die Kamera zur Seite. Als das Bild sich wieder stabilisiert, rührt Wyschkow sich nicht mehr.

Ende des Video-Files.

Kommentar II: Wir wissen anhand der schriftlichen Aufzeichnungen von Olsson und anderen, dass die Bord-Al kurz nach der Notlandung des Schiffes mehrere Decks mit Betäubungsgas geflutet hat. In den Wochen vor der Landung begannen bestimmte untergeordnete Bordsysteme unregelmäßig zu arbeiten oder fielen ganz aus. Wie der Video-File zeigt, hat die Al in der Folge neuronale Implantate eingesetzt, um aus dem Kryoschlaf aufgeweckte Kolonisten im Kampf gegen diejenigen Menschen einzusetzen, die in den Wald geflohen waren.

Alles in allem macht das auf mich nicht den Eindruck eines raffinierten Masterplans einer Maschinenintelligenz, die es darauf angelegt hat, alle Menschen an Bord der Hyperion zu versklaven. Weshalb hätte sie sich in den vorangehenden Wochen verraten sollen? Weshalb hat sie das Gas nur in bestimmten Bereichen des Schiffes eingesetzt und nicht auf allen Decks? Ja, weshalb hat sie nicht alle an Bord vergast, bevor der Orbit von Darien erreicht wurde? Und weshalb hat sie ein Programm der erzwungenen Cyborgisierung durchgeführt, anstatt mit Hilfe der Fertigungsanlagen der Hyperion zahllose Luft- und Bodendrohnen herzustellen? Weshalb waren die Sicherheitsvorkehrungen an Bord so lückenhaft, dass Wyschkow einen Sprengstoffdummy auf seinen Einsatz mitnehmen konnte? Vor allem aber stellt sich die Frage, wie Wyschkow sich mit Tinte eine Skizze der Schwachpunkte des Schiffes auf die Brust zeichnen konnte.

Dieses Verhalten deutet eher auf eine Reihe zusammenhangloser Entscheidungen voller blinder Flecken hin, hervorgerufen von einer fehlerhaften Programmierung, als auf den bösartigen Plan einer unbekannten Macht. Die Als, welche die Hyperion und deren Schwesterschiffe steuerten, entsprachen dem damaligen Stand der Technik. In den dunklen Zeiten des Schwarmkriegs waren die Ressourcen knapp, das Vorgehen war übereilt, und die Verfahren wurden abgekürzt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dabei Fehler in der Obhuts- und Schutzheuristik übersehen wurden, was die schrecklichen Folgen zeitigte, die dazu führten, dass die Kolonie in den ersten Jahrzehnten unter Mangelernährung, Krankheiten und Hoffnungslosigkeit zu leiden hatte.

Außerdem wurde unsere wissenschaftliche Entwicklung davon beeinträchtigt. Die kollektive Erinnerung an den Kampf gegen die Bord-Al und deren Sklaven war so stark, dass sie eine Vermenschlichung und Dämonisierung künstlicher Intelligenz und das Verbot der Al-Forschung zur Folge hatte. Daher lautet meine Empfehlung an die Betrachter dieser Aufzeichnung, sie nicht als Beispiel für die zielgerichtete Strategie einer dämonischen Wesenheit aufzufassen, sondern als Verdeutlichung der Folgen einer fehlerhaften Programmierung und nichts weiter. ‒ J. K.

TEIL EINS

1 Greg

Das Lohig, das unermüdlich ihren Karren zog, war ein fremdartiges insektenartiges Wesen von über zwei Metern Länge, dessen kupferfarbener Panzer mit blauen Diamanten und Sternen gemustert war. Zunächst hatten er und Kao Chih Sorge gehabt, das Tier könnte unter ihrer unsachgemäßen Behandlung leiden, doch die Erklärungen des Halters hatten sich als ausgesprochen wertvoll erwiesen, so dass das Tier keinen Hunger und auch sonst keinen Mangel litt. Kao Chih hatte das Tier sogar in sein Herz geschlossen, fütterte es mit belaubten Zweigen und redete leise auf Mandarinchinesisch darauf ein. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, T’ien Kou, was Himmelshund bedeutete. Greg war versucht, das Lohig »Rover« zu nennen, hielt sich aber zurück.

Seit drei Tagen waren sie unterwegs nach Belskirnir, einer Trappersiedlung im Arawn-Wald, einem ausgedehnten, dichten Dschungel, der sich nördlich und östlich der Kentigernberge ausbreitete und eine Fläche von über zweieinhalbtausend Quadratkilometern des Hinterlands bedeckte. In den letzten anderthalb Tagen waren sie unter dem dicht verwobenen Blätterdach über üppige Lichtungen und durch feuchte Täler marschiert, Heimat der zahllosen fliegenden, springenden und kriechenden Lebewesen Dariens. Nun aber dämmerte der Abend, und sie führten das Lohig durch eine Senke mit bemoosten Findlingen und machten sich allmählich Gedanken über das Nachtlager.

»Ich glaube, bis nach Belskirnir ist es nicht mehr weit«, sagte Greg, »aber vor Einbruch der Dunkelheit werden wir es nicht mehr erreichen.« Er zeigte auf einen mächtigen Baum, dessen Stamm sich um einen großen Felsen krümmte und dessen Geäst ihnen Unterschlupf bieten würde. »Das wäre ein guter Lagerplatz. Was meinst du?«

Kao Chih musterte die Stelle. »Bequem sieht es aus, Gregory, aber es ist noch immer recht hell ‒ sollten wir nicht noch ein Stück weitergehen, damit wir es morgen nicht mehr so weit haben?«

Greg zuckte die Achseln und wollte gerade etwas erwidern, als im dichten Wald auf einmal Schüsse ertönten. Maschinengewehre ratterten, Kugeln schlugen in den Wagen ein, Holzsplitter flogen umher, Blätter und Zweige wurden von Büschen abgerissen. Greg hechtete in Panik ins Unterholz und suchte Deckung hinter einem großen umgekippten Felsen. Er zog seine Waffe, eine Pistole Kaliber 35, in deren Handhabung Rory ihn gründlich unterwiesen hatte, und erwiderte das Feuer mit ein paar ungezielten Schüssen. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wo Kao Chih sich befand, ob er im Gebüsch an der anderen Seite des Weges verschwunden oder nach vorn gerannt war. Greg wollte gerade seinen Namen flüstern, als von links und rechts Rufe ertönten und sich Schritte näherten.

Die Jäger wurden langsamer, und eine unheimliche Stille legte sich über die Lichtung. Die Sekunden verstrichen, und von Kao Chih war nichts zu hören und zu sehen. Stattdessen erhaschte Greg einen Blick auf einen seiner Verfolger, einen stämmigen, bärtigen Waldbewohner mit harten, stechenden Augen, die von einem zerschlissenen, breitkrempigen Hut beschattet waren. Da Greg annahm, dass die Männer, die er nicht sehen konnte, noch näher waren, sagte er sich, es sei höchste Zeit, von hier zu verschwinden.

Hinter dem großen, gekippten Felsen verbarg dichtes Unterholz einen Hang, der zu einem Grat mit einer dahinter liegenden Senke hochführte, an der sie zuvor vorbeigekommen waren. Er kroch nach oben. Hinter dem Grat lag ein steiler Hang mit vereinzeltem Gebüsch und daraus hervorragenden Felsen, der sich zu einem breiten, dicht bewaldeten Tal absenkte, das in südlicher Richtung den Weg zurückführte, den er und Kao Chih zwei Tage zuvor zurückgelegt hatten. Greg hockte sich hinter einen Felsvorsprung und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er blickte über die Baumkronen hinweg, hinter denen allmählich die Sonne unterging. Dann ertönte von rechts ein lauter Ruf ‒ einer der Angreifer stand etwa hundert Meter entfernt auf dem Grat und zielte mit einem Gewehr auf ihn.

Voller Angst warf Greg sich nach vorn und rollte ein Stück weit den Hang hinunter, dann sprang er auf die Beine und stürmte weiter. Als er den schattigen Waldrand erreichte, glitt er in einer Schlammpfütze aus. Ihm rutschten die Beine weg. Vor ihm war ein Durcheinander von Steinen, doch er fuchtelte mit den Armen und bekam zum Glück einen kräftigen Busch zu fassen, der seinen Sturz verlangsamte. Sein Rücken und seine Seite waren nass und verdreckt, doch da er immer noch verfolgt wurde, achtete er nicht darauf, sondern drang tiefer in den Wald ein.

Die folgenden zehn Stunden über war Greg damit beschäftigt, auszuweichen und sich zu verstecken, zu kriechen und zu klettern, zu schleichen und zu lauern. Es war eine seltsame, launische Jagd, die bis tief in die Nacht andauerte. Im Wald von Darien wurde es niemals vollständig dunkel ‒ Ulbywurzeln, ein verbreitetes parasitäres Knollengewächs, spendeten bleiches, gelbgrünes Licht, während die Panzer der Inekakäfer ein schwaches bläuliches Licht aussandten. Die Leuchtpflanzen verliehen den Lichtungen ein geisterhaftes Aussehen, eine Art friedlicher Stille, als hielte der ganze Wald den Atem an. Heute jedoch hatten sich die hellen Stellen mit Gregs Gemütszustand verschworen und wirkten auf ihn eher bedrohlich und unheilkündend.

Die Morgendämmerung war kalt und neblig, die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich wie ein leuchtendes Rinnsal durchs Unterholz. Greg richtete sich aus dem Einschnitt auf, in dem er sich ausgeruht hatte, und spähte durch einen Schwarzlaubvorhang. Im Tal hatte er sich durch ausgetrocknete Wasserrinnen und alle Spuren verwischende Bäche zu dem Weg zurückgearbeitet, dem er und Kao Chih gefolgt waren. Durch den Einschnitt überblickte er einen dicht bewaldeten Hang, der zum Weg hin abfiel. Links war Süden, und etwa zwei Kilometer hinter ihm befand sich die Stelle, wo man sie angegriffen hatte. Im Norden lichtete sich der Wald ein wenig, und der steinige Weg führte in Serpentinen einen Hang hoch, hinter dem er schließlich verschwand. Irgendwo hinter den flachen Waldhügeln lag Belskirnir, wo Greg sich mit einem Mittelsmann Alexandr Washutkins treffen wollte. Washutkin war der letzte Überlebende von Sundstroms Kabinett und hielt immer noch in Trond aus …

Allmählich wurde es heller, und aus den Baumwipfeln tönten Tierlaute, ein Piepsen, laute Pfiffe und krächzendes Geschrei, als ob die Tiere den sprichwörtlichen Perlmuttglanz des Himmels begrüßten, den der helle Sonnenschein schob bald fortbrennen würde. Greg spähte ins Laub, sah in die Ferne, hielt im Unterholz Ausschau nach einer Bewegung. Es war ein paar Stunden her, dass er seinen Verfolger, einen schlanken, bärtigen Mann mit einem Gewehr, der nördlich von ihm aus einem Dickicht getreten, parallel zum Weg marschiert und südlich von ihm verschwunden war, zuletzt gesehen hatte.

Greg nickte und sagte sich, es sei an der Zeit, nach Kao Chih zu suchen.

Er kletterte aus dem Einschnitt hervor, hockte sich hinter eine Ansammlung von Perlbeerbüschen und entwarf im Kopf eine Route über den bewaldeten Hang. Dann kroch er weiter in Richtung des nächsten Baums und war noch vier Schritte davon entfernt, als er von hinten gepackt und zu Boden geworfen wurde. Keuchend wehrte er sich gegen das Gewicht auf seinem Rücken und tastete durch verschiedene Kleidungsschichten hindurch nach der Pistole, die er in eine Innentasche gesteckt hatte. Dabei wäre ihm fast entgangen, dass der Angreifer immer wieder seinen Namen flüsterte.

»Greg … Greg! Ich bin’s, Alexej!«

Plötzlich erkannte er die Stimme wieder und stellte die Gegenwehr ein. Die Last verschwand von seinem Rücken. Schwer atmend setzte er sich auf und erblickte neben sich im Gras den grinsenden Alexej Firmanow. Er war ein schlaksiger, dunkelhaariger Russe mit markanten Wangenknochen und schmalem Kinn und trug eine dunkelgrüne Jacke über dunkelgrauer Jagdkleidung.

»Was … zum Teufel … tun Sie hier?«, fragte Greg.

»Die haben entlang des Wegs nach Belskirnir Beobachtungsposten aufgestellt, mein Freund«, sagte Alexej. »Die hätten Sie mühelos geschnappt.«

»Ich verstehe«, sagte Greg und blickte sich auf dem buschbestandenen Hang um. »Haben Sie eine Ahnung, wer die sind?«

»Halunken und Nattjegers aus den Städten im Osten, glauben wir. Kurz nachdem wir von Taloway aufgebrochen waren, traf ein Dornschnabel von Hochlochiel ein und überbrachte die Nachricht, ein ortsansässiger brolturanischer Lakai habe für einen Ausflug in die Wildnis harte Kerle angeheuert. Im Laufe des Tages entdeckte einer von Chels Spähern ein Luftschiff, das vom Kristallfluss kam und zu diesen Hügeln flog. Eine halbe Stunde später startete es wieder und flog zur Küste zurück. Rory und Chel gingen vom Schlimmsten aus …«

»Und jetzt ist es eingetroffen.«

»Nikolai ist auch hier«, sagte Alexej. »Er ist denen gefolgt, die Kao Chih verschleppt haben. Übrigens befindet er sich in Sicherheit.«

Greg stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gott sei Dank.«

»Oder dem, der da oben die Strippen zieht, da? Also, es gibt nur zwei Gefangene ‒ für Nikolai ist das kein Problem. Hier aber warten viele Probleme auf uns, deshalb müssen wir die landschaftlich schöne Route nehmen, ja?«

»Was heißt das?«, fragte Greg. »Sollen wir die Hügel umgehen?«

»Wir überqueren sie.« Alexej grinste. »Das ist gar nicht so schwer, außerdem kommen wir auf diese Weise schneller voran.«

Greg runzelte die Stirn. Die Erhebungen im Süden waren nicht besonders hoch, dafür aber steil und zerklüftet. Die Überquerung würde anstrengend und gefährlich werden.

»Also gut«, sagte er. »Aber wir müssen ein Auge auf die Scherenschwänze haben ‒ ein Biss von einem dieser Viecher, und Sie spielen nie mehr Balalaika.«

Nachdem sie vorsichtig hangaufwärts durch den Wald geschlichen waren, brauchten sie über eine Stunde, um die felsige Hügelkuppe zu erreichen. Inzwischen war die Sonne höher geklettert, und sie schwitzten, als sie auf einem nordwärts gewandten Felsvorsprung eine Rast einlegten. Alexej holte ein kleines, lädiertes Holzteleskop hervor und suchte den Wald ab, den sie hinter sich gelassen hatten. Greg saß in der Sonnenwärme da und dachte an seine Mutter und seine Brüder, die sich in einem Berglager südlich der Oststädte aufhielten. Seine Mutter hatte sich darüber erbost, dass man sie aus der Gefahrenzone schaffte, obwohl sie genau wusste, dass es vernünftig war. Seine Brüder Ian und Ned hatte sich ebenfalls nur unwillig in ihr Schicksal gefügt ‒ Ian hatte vor, eine Kompanie ehemaliger Freiwilliger der Streitkräfte zusammenzustellen, und Ned wusste, dass er als Arzt gebraucht wurde.

Ich wünschte, ihr wärt alle bei mir, dachte er, zu dem dunklen, dichten Arawn-Wald hinunterblickend. Aber wir wissen ja, was passiert, wenn man alle Eier in einen Korb legt …

Alexej reichte ihm das Teleskop. Er schaute hindurch und musterte die Landschaft. Das Laubdach war ein wogendes grünes Meer, das sich in die Ferne erstreckte und dem Schwung der Landschaft folgte, bis es an die Utgardbarriere stieß, eine über dreihundert Kilometer lange Abfolge schroffer Felswände, die hinter der dunkelgrauen Horizontlinie verborgen war. Dahinter ragten die Gipfel eines gewaltigen Gebirgszuges in den purpurfarbenen Dunst.

Als er so den Wald betrachtete, wurde ihm auf einmal bewusst, dass sich unter dessen Laubdach ganze Bataillone, Regimenter, Legionen, Horden verstecken konnten, deren Bewegungen dem Auge ebenso verborgen blieben wie ihre Taktik und Strategie.

Jetzt brauchen wir nur noch eine Armee.

Alexej deutete zu einem Orientierungspunkt in der Nähe, einem flachen Hügel, der ein paar Kilometer weiter nördlich aus dem Wald aufragte und von weiteren Erhebungen umgeben war.

»Das ist Osips Hut ‒ an dessen Fuß liegt Belskirnir. Nikolai hat gemeint, wir sollten uns am Wasserfall nahe dem Osthang mit ihm treffen.« Er sah Greg an. »Sind Sie bereit?«

»Also, ich habe wenig geschlafen und nichts gegessen, aber mir bleibt wohl keine Wahl … aye, brechen wir auf.«

Alexej lachte und knuffte ihm kameradschaftlich die Schulter. »Es wird schon gehen – Rory hat gesagt, Sie wären zäh, und das glaube ich ihm aufs Wort.«

»Wenn wir uns wiedersehen, muss ich wohl mal ein Wörtchen mit ihm reden«, sagte Greg und kletterte hinter seinem Gefährten an der anderen Seite des schroffen Hügels hinunter. Als sie sich dem Waldrand näherten, senkte sich ein neugieriger Schwarm Fauwecks herab, landete schwer auf hohen, dünnen Zweigen und kletterte auf allen vieren weiter. Die Fauwecks ähnelten den Flughörnchen der Erde, doch ihre Vordergliedmaßen taugten eher zum Fliegen als zum Gleiten, und ihre Köpfe, Ohren und Schnauzen erinnerten an Katzen. Alexej nahm etwas Zwieback aus der Hüfttasche und hielt den Tieren ein paar Brocken hin. Eines kam gemächlich den Ast herunter, fixierte die Beute mit seinen Knopfäuglein, packte sie mit den Zähnen und zog sich gleich wieder in den Baumschatten zurück.

Greg lachte. »Wenn sie sich von dem Zeug ernähren können, dann entwickeln sie sich vermutlich schneller als wir!«

Nicht alle Waldbewohner waren harmlos. Bei ihrem zweistündigen Marsch durch den immer morastiger werdenden Wald sahen sie ein Nest von Pfefferwespen, um das sie einen Bogen machten, und kamen mehr als einmal an gelben Giftschleudern vorbei, glubschäugigen Eidechsen, die tödliches Gift verspritzten. Als sie einen Bach querten und auf trockenes, ansteigendes Terrain gelangten, fühlte Greg sich nervös und unruhig und sehnte sich nach den Hochtälern der Kentigernberge zurück.

»Ich hoffe nur, das bringt was«, brummte er, während er hinter Alexej über einen umgestürzten Baum kletterte. »Wenn wir ankommen, sollte Washutkins Mann schon ein Fläschchen Plapperstaub für Kuros haben oder wenigstens einen Plan für die Anlage, die sie in Port Gagarin hochziehen … irgendwas.«

Alexej stutzte. »Sie wissen nicht, worum es bei dem Treffen geht?«

»Ich hab keinen Schimmer. Ich weiß nur, dass Washutkin gemeint hat, es wäre so wichtig, dass ich persönlich daran teilnehmen müsste.«

»Ah! – Jetzt weiß ich’s, es geht um eine Überraschungsparty! «

Greg schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich hab erst in vier Monaten Geburtstag, aber ein netter Versuch.«

Auf dem Hügelkamm angelangt, wurde das Rauschen des Windes in den Bäumen auf einmal von einem Brausen übertönt. Vor ihnen stieg der Boden in Form großer Felsentreppen an, bemooste Stufen für Riesen. Über ihnen erstreckte sich das dichte Laubdach des Arawn-Waldes in alle Richtungen. Alexej bog um einen schroffen Felsen und zeigte auf die von oben herabhängenden Schlitzreben. Sie zwängten sich durch den Pflanzenvorhang. Dahinter lag das steinige Ufer eines Baches, der in ein paar Dutzend Metern Entfernung über eine Felskante stürzte, ein Wasserfall, der in der Tiefe des Waldes verschwand. Dann traten zwei Männer aus dem Gebüsch am anderen Ufer hervor, und gleich darauf schüttelte Greg dem grinsenden Kao Chih die Hand, während Nikolai Firmanow berichtete.

»Was für zwei Daruki«, sagte er. »Ein paar von denen kennen sich im Wald aus, aber die beiden müssen von der Küste gewesen sein. Und dieser Kao Chih – der hat es faustdick hinter den Ohren.«

»Ich hatte … Glück«, sagte Kao Chih. »Ich schalte den einen mit einem Kopfstoß aus« – er ruckte mit dem Kopf zurück –, »komme frei, nehme seine Waffe und schlage den anderen nieder, dann denke ich, ich sollte dich retten, nehm mir die MPs und Messer und fessele die Kwais, und dann … taucht Nikolai auf, und wir gehen auf Erkundung. «

Nikolai, der ältere, aber kleinere der Firmanow-Brüder, klopfte Kao Chih lächelnd auf die Schulter. »Hat Nerven wie Drahtseile. Ist bereit, in den Krieg zu ziehen. Hab ihm gesagt, mein Bruder würde Sie suchen und wir würden uns später am Wasserfall treffen, aber unterwegs sind wir in die Nähe des Haupttors von Belskirnir gelangt, bei Nacht.« Er schüttelte den Kopf. »Sah gar nicht gut aus, Greg – die bewachen das Tor rund um die Uhr. Da kommt man nur noch durch einen Privateingang von Van Krieger rein.«

Peter Van Kriegers Vater war einer der Gründer von Belskirnir gewesen, und sein Sohn hatte diese Position noch ausgebaut, indem er die Nachkommen der anderen beiden Gründer abgefunden hatte. Rory hatte Greg erzählt, Van Krieger sei ein älterer Piratentyp, der das Lager von Leutnants leiten lasse und keine eigenen Nachkommen habe.

»Ist das ein Problem?«, fragte Greg.

Nikolai zuckte belustigt die Achseln. »In der Vergangenheit hatten die Veteranen mehrfach mit ihm zu tun – das sollte in Ordnung gehen.«

»Sollte?«, wiederholte Greg.

»Es wird«, erwiderte Nikolai. »Van Krieger legt Wert auf seine Unparteilichkeit und hat ein Auge drauf, dass seine Leute es ebenso halten.«

Greg blieb skeptisch, doch als sie nach zweistündigem Marsch den Gipfel von Osips Hügel erreichten, schien die freundliche Begrüßung durch die drei Wachposten Nikolais Aussage zu bestätigen. Alle drei trugen gleichartige Tarnanzüge aus Leder und Juteleinen und hatten alte Hinterlader dabei, welche die eine oder andere Modifikation aufwiesen. Der Älteste, ein kahlköpfiger Mann mit tätowiertem Schädel, begrüßte die Firmanows mit ironischer Vertraulichkeit, dann öffnete er das Tor, das in den Berg hineinführte, und forderte sie mit einer Handbewegung auf, hindurchzutreten.

Der Weg führte durch ein Labyrinth von Tunneln mit Zwischenetagen und Seitengängen. Greg war noch nie in Belskirnir gewesen und versuchte anfänglich, sich den Weg einzuprägen, doch als ihm klarwurde, dass ihre Führer sie mit Umwegen zu verwirren suchten, gab er es auf. Streckenweise wurden die kalten Gänge von Talglampen erhellt, und irgendwann vernahm Greg Gesang. Bald darauf gelangten sie auf einen behauenen Felsvorsprung, der Ausblick bot in eine große Höhle, die widerhallte vom Lärmen mehrerer Hundert Männer und Frauen, die um Tische herum auf Hockern saßen. Das Ganze war im Wesentlichen eine einzige große Taverne. Als Nächstes fiel ihm die miefige Mischung aus Körpergeruch, Qualm, schalem Bier und Speiseduft auf. Ihm knurrte der Magen. Dann entdeckte er die Marktbuden an den Höhlenwänden; an einigen wurden einfache Gerichte gebraten oder gekocht.

»Ich muss was essen«, sagte er zu Alexej. »Ich bin kurz davor, meine eigenen Zehennägel zu verspeisen!«

Alexej nickte. »Ja, gut – wo sollen wir den Typ treffen?«

»Im Rettungsboot.«

»Verstehe – das liegt da drüben.«

Er zeigte auf eine langgestreckte Galerie an der gegenüberliegenden Wand, wo sich die Feiernden drängten, die anscheinend mehrere verschiedene Lieder gleichzeitig sangen. Nikolai nickte und informierte ihren Führer, der ihnen Glück wünschte und sich verabschiedete.

Die Höhlenwände wiesen zahlreiche Hohlräume auf. In einigen waren kleine Läden oder Schlafplätze untergebracht, aus anderen ragten eigentümlich schiefe Hütten hervor. Als sie sich dem Rettungsboot näherten, stimmten dessen Gäste ein neues Lied an, »Regin der Schmied«. Onkel Theo hatte es Greg früher oft vorgesungen, wenn er mit seinen Eltern in dessen Haus in Neu-Kelso auf Besuch war. An diese Besuche erinnerte er sich, als ein Vorsänger die einzelnen Strophen vortrug, während die anderen den Refrain grölten. Das Lied erzählte die Geschichte von Regin, dem Schmied und Schwertmacher, der dem Helden Siegfried geholfen hatte, den Drachen Fanir zu erschlagen, später aber seinerseits Siegfried nach dem Leben trachtete; der Held aber kam dahinter und machte mit dem Schmied kurzen Prozess.

Auf der Galerie drängten sich so viele Menschen, dass es nur noch Stehplätze gab. Während sich die Firmanows zur Bar wandten, hielten Greg und Kao Chih sich im Hintergrund. Kao Chih hatte sich ein kariertes Halstuch vors Gesicht gebunden und die Kappe tief in die Stirn gezogen. Greg ließ das Gewühl auf sich wirken, musterte verstohlen die Gesichter und Köpfe und hielt Ausschau nach Washutkins Mittelsmann. »Regin der Schmied« war fast zu Ende, und zahlreiche Dariener, Männer wie Frauen, sangen lautstark den Refrain, angeführt von einem breitschultrigen, schwarzhaarigen Mann mit kurzärmligem Lederwams, der den Takt mit einem leeren Humpen vorgab. Alexej tauchte mit zwei Schüsseln eines schmackhaften Fleisch- und Gemüsegerichts auf, die Greg und Kao Chih dankbar entgegennahmen und hinunterschlangen.

»Und wie sieht der Bote aus?«

Greg zuckte die Achseln. »In der Nachricht hieß es, der Mittelsmann und dessen Leibwächter würden heute und morgen zwischen Sonnenaufgang und Mitternacht hier sein.« Er hielt inne, um zu kauen. »Dann warten wir also … auf zwei Personen. Mehr weiß ich nicht.«

Nikolai runzelte kurz die Stirn, dann lächelte er. »Ich hab’s – wir warten einfach ab, wer bis zum Schluss dableibt, und sagen ihnen dann Hallo.«

»Ich glaube, das geht einfacher«, meinte Greg und sah an ihm vorbei. Am großen Tisch war der Gesang verstummt, und der kräftige, schwarzhaarige Mann unterhielt sich mit einer grauhaarigen Frau in Jagdkleidung. Dabei schaute die Frau immer wieder zu Greg herüber, und auch der große Mann, offenbar Washutkins Mittelsmann, blickte sich um und zeigte dabei sein Gesicht.

Es war Washutkin persönlich.

»Ist das …?«, fragte Alexej.

»Aye.«

»Hmm. Ohne Schnurrbart nur schwer zu erkennen.«

Nun tauchte Nikolai neben Washutkin und dessen Begleiterin auf und wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann sah er zu Greg und Alexej hinüber und deutete zum Ausgang. Sie nickten und wandten sich zur Tür, während Greg eilig den Rest seiner Mahlzeit hinunterschlang. Dann kam auch schon Washutkin heraus und bedeutete ihnen mit einem schmallippigen Lächeln, ihm zu folgen. Bald darauf stiegen sie eine geschwungene Treppe mit grob behauenen Felsstufen hinunter und gelangten in einen langgestreckten, niedrigen Lagerraum voller Fässer und Kisten, der von Öllampen spärlich erhellt wurde. Ein Mann in einem Mantel erhob sich von einer aufgebockten Holzplatte und flüsterte Washutkin etwas ins Ohr, dann schüttelte er ihm die Hand und ging hinaus.

»Das war Trask«, erklärte Alexej mit leiser Stimme. »Van Kriegers Stellvertreter und ein harter Knochen. Sieht so aus, als würde er uns helfen. Aber ich frag mich, wie viel er dafür bekommt.«

Der ehemalige Minister nahm am Tisch Platz, und die grauhaarige Jägerin stellte sich hinter ihn und musterte wachsam seine Gesprächspartner. Ein schlanker Mann mit Kapuze trat hinter einem Kistenstapel hervor und setzte sich im Hintergrund auf einen Stuhl. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Greg runzelte die Stirn und wollte sich gerade bei Alexej nach dem Neuankömmling erkundigen, als Washutkin das Wort ergriff.

»Mr. Cameron«, sagte er, erhob sich und reichte ihm die Hand. »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, wenngleich ich wünschte, die Umstände wären andere.«

»Auch mir ist es eine Ehre, Mr. Washutkin«, sagte Greg, schüttelte dem Mann die Hand und nahm ihm gegenüber Platz. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Radioansprachen. Sie sind ausgesprochen … äh … temperamentvoll.«

Washutkin lachte leise. »Nach den ersten Sendungen hat mich der Stadtrat von Trond gebeten, sie einzustellen, weil ich jemandes Ehefrau beleidigt hätte. Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen haben.«

»Damit stehe ich nicht allein – ich weiß aus sicherer Quelle, dass sich in den Städten gewisse aufmüpfige Jugendliche heimlich versammeln, nicht nur um zu rauchen und zu trinken, sondern um die Mitschriften Ihrer Reden vorzutragen. Man hat mir gesagt, die Passagen, in denen Sie Präsident Kirkland mit bestimmten Schlammwurmarten vergleichen, seien besonders beliebt.«

Nach dem Tod von Präsident Sandstrom und dessen Kabinett hatte das Parlament Kirkland, den Vorsitzenden der Konsolidierungspartei, zum Präsidenten einer Einheitsregierung gewählt. Seitdem zeigte Kirkland zunehmendes Entgegenkommen gegenüber den Sicherheitsplänen der Brolturaner.

»Gut, gut! Das beweist, wie verhasst diese Schlange ist, und ich bin sicher, das weiß er auch.« Washutkin schüttelte den Kopf. »Kirkland war früher gar nicht so übel, besitzt aber nicht das nötige Stehvermögen, um sich der Korruption zu widersetzen, deshalb wurde er davon verschlungen. « Er warf einen Blick über die Schulter. »Sind wir sicher?«

Die Frau beugte sich ein wenig vor und antwortete mit Nordakzent: »Er sagt, an der Decke sei ein einzelnes Mikrofon angebracht, aber das ist jetzt ausgeschaltet.«

Der russlandstämmige Politiker entspannte sich ein wenig, dann sah er Greg an und lächelte mit unverhohlener Neugier.

»Meine Begleiter sind ein wenig … ungewöhnlich, da? Mehr dazu später – jetzt wollen wir erst mal über den Widerstand sprechen.«

Greg öffnete seine schwere Jacke, auf einmal war ihm warm.

»Also, wir haben uns auf die Aufklärung konzentriert«, sagte er. »Außerdem sichern wir die Fluchtrouten und konspirativen Wohnungen und bemühen uns, den Kreis der Eingeweihten auf kleine Widerstandszellen zu beschränken. Bislang haben wir Leute aus den meisten Städten des Landesinneren und aus einigen vorgelagerten Distrikten Hammergards in Sicherheit gebracht, aber wir hoffen, dass wir demnächst vielleicht eines ihrer Internierungslager angreifen können.«

»Ich kann Ihr Vorgehen sehr gut nachvollziehen, mein Freund, ja wirklich. Aber die harte Wahrheit lautet, dass Sie diese Aktivitäten werden zurückfahren müssen, anstatt sie zu intensivieren.«

Greg lehnte sich bestürzt zurück. »Warum das?«

»Aus zwei Gründen. Erstens würde sich die Zahl derer, die den Besatzern das Leben schwermachen, verringern, wenn sich die Dissidenten in die Berge und Wälder zurückziehen. Zweitens bringen einige Flüchtlinge ihre Familien und Verwandten mit, was wiederum den Brolturanern entgegenkommt, denn die Versorgung der Zivilbevölkerung belastet ihre Ressourcen, verringert ihre militärische Schlagkraft und macht sie unflexibel.«

»Wir können Menschen, die unter den Brolturanern zu leiden hatten, die Hilfe nicht verweigern«, erwiderte Greg ruhig. »Wenn jemand für eine Sonderbehandlung vorgesehen ist, dann tue ich alles, um den Betreffenden in Sicherheit zu bringen. Daran wird sich nichts ändern.«

»Das verstehe ich, Mr. Cameron, und ich würde ebenso handeln, allerdings bin ich mir der Realitäten, der brutalen Realitäten des Konflikts bewusst, während Sie mit Ihren Methoden den verschissenen Außenweltern die Besatzung erleichtern. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, muss sich etwas ändern.«

Greg starrte ihn fassungslos an, seine Bestürzung machte Irritation und Widerwillen Platz. Im Geiste formulierte er eine mögliche Erwiderung: Aye, Mr. Washutkin, jetzt ist mir klar, was Sie mit harten Realitäten meinen – anstatt den Leuten zu helfen, geben wir ihnen Gewehre und Sprengstoff zusammen mit einer Liste von möglichen Zielen, Halbwüchsige und Alte eingeschlossen. Und für diejenigen, die sich in auswegloser Lage befinden, bleiben immer noch die Sprengstoffgürtel übrig, damit sie die Besatzer mit einem Selbstmordanschlag verunsichern können. Wie finden Sie das?

Doch mit Sarkasmus kam er hier nicht weiter. Die Lage war so ernst, dass er sich zumindest den Anschein von Verbindlichkeit geben musste. Er atmete tief durch, beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch.

»Könnten Sie mir näher erläutern, was genau Sie unter ›Zusammenarbeit‹ verstehen?«

Washutkin breitete die Arme aus. »Bedauerlicherweise habe ich die Geduld meiner Gastgeber in Trond erschöpft – die Stadtbewohner, die ortgebundenen Plantagenbesitzer und die Viehzüchter üben eine Menge Druck auf den Stadtrat aus, weil Kirklands Marionettenregierung ein Embargo verhängt hat. In den nächsten Tagen wird der Rat Hammargard gegenüber einlenken und mich und meine Unterstützer auffordern, aus ihrer Stadt zu verschwinden, aber ich möchte mich schon vorher absetzen. Zum Glück haben Sie bereits eine Einsatzbasis, nämlich Tayowal. Wie wär’s, wenn wir uns mit Ihren Streitkräften zusammenschließen, unsere Fähigkeiten vereinen und ernsthaft planen würden?«

Washutkins Grinsen war breit und enthusiastisch, und Greg hätte ihm am liebsten ins Gesicht gelacht, doch stattdessen lächelte er nur.

»Mr. Washutkin …«

»Bitte nennen Sie mich Alexander.«

»Alexander, Ihnen sollte eigentlich klar sein, dass Tayowal keine Menschensiedlung ist, sondern ein Ort, den die Uvovo für besondere Zeremonien nutzen. Sie haben uns dort Zuflucht geboten, und wir haben einzelnen Uvovo geholfen, den brolturanischen Streifen aus dem Weg zu gehen, indem wir sie in Verstecke im Süden geschickt und anschließend nach Tayowal geholt haben. Ich habe keine Befehlsgewalt über die Menschengemeinde und möchte auch nicht damit anfangen, sie herumzukommandieren …« Wenngleich ich es bin, der den Proviant für die Köche organisiert, die Wachposten einteilt, Streitfälle schlichtet. O ja, ich habe kaum was zu tun! »Wenn mein Onkel, Theo Karlsson, hier wäre, würde er sicherlich das Kommando führen, aber seine Veteranen haben mich zu seinem Stellvertreter oder zu ihrem Maskottchen bestimmt, wenn Sie so wollen – was genau zutrifft, habe ich noch nicht herausbekommen. «

Nikolai Firmanow, der etwas abseits an der Wand lehnte und die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte, lächelte und schwieg.

»Sie scheinen darin ein Problem zu sehen, aber könnte es nicht sein, dass sich das in Anbetracht der Umstände in Luft auflöst, wenn ich Ihnen eine eindeutige Führungsrolle anbieten würde?«, sagte Washutkin stirnrunzelnd. »Informelle Vereinbarungen stehen exakten Planungen entgegen, aber das alles sollten wir an einem großen Tisch besprechen, wenn alle zugegen sind.«

»Es tut mir leid, Alexander, aber ohne ausdrückliche Einladung seitens der Uvovo-Lauscher sollten Sie nicht nach Tayowal kommen. Ich werde sie fragen, ob Sie und Ihre Leute uns besuchen dürfen, aber ich glaube nicht, dass sie damit einverstanden sind. Und sollten Sie trotzdem kommen und ein Lager errichten, werden die Uvovo ihre Sachen einpacken und im Wald verschwinden. Dann säßen wir ernsthaft in der Patsche, denn wir beziehen fast achtzig Prozent unseres Proviants von ihnen, außerdem helfen sie uns auch sonst in vielfältiger Weise.« Greg verschwieg, dass die Lauscher ihn als Gelehrten ehrenhalber und als Sprecher der Menschen betrachteten.

Washutkin musterte ihn abschätzend. »Wie ich sehe, haben Sie sich von ihnen abhängig gemacht.«

»Das ist ihre Welt«, sagte Greg. »Die sie bereitwillig mit uns teilen.«

»Ich verstehe. Ich möchte mich entschuldigen, falls ich … voreilig gewesen sein sollte.«

»Schon gut, Alexander. Schauen Sie, die alten Uvovo haben in dieser Gegend eine Reihe von Habitaten gebaut, entweder in Erdhöhlen oder in Hügeln und Bergen, in denen sie Tunnel angelegt haben. Eine solche Siedlung befindet sich in den Höhlen der Utgardbarriere nördlich des Waldes, nicht weit von Belskirnir, und sie ist ziemlich weitläufig. Ich bin sicher, die Lauscher hätten nichts dagegen, wenn Sie dort einziehen würden.«

Washutkin schien besänftigt. »Ich danke Ihnen, Gregory, für Ihren Rat und Ihre Offenheit – ich werde mich über diese Höhlen informieren. Trotzdem möchte ich Sie dringend bitten, Ihr Arrangement zu überdenken. Die Lage wird sich verschlechtern, und wir müssen bereit sein.«

»Bereit, wofür?«, sagte Greg. »Fliegen die Brolturaner weitere Truppen ein? Oder die Hegemonie?«

»Sozusagen, Mr. Cameron«, meldete sich ein anderer Sprecher zu Wort.

Greg schaute hoch. Der Kapuzenmann hatte gesprochen. Washutkin lachte und winkte, ohne sich umzusehen.

»Gregory, ich möchte Ihnen meinen guten Freund Baltazar Silveira vorstellen, der den weiten Weg von der Erde nicht gescheut hat, um heute mit uns zu sprechen.«

Erstaunt und verdutzt erhob sich Greg und schüttelte dem Mann die Hand. Silveira war schlank gebaut und hatte ein schmales Gesicht, kurzgeschorenes schwarzes Haar und dunkle, ein wenig traurige Augen. Sein Lächeln war schwach, sein Griff jedoch fest. Greg fragte sich, ob er von der Herakles kam, dem Schiff der Erdsphäre.

»Mr. Cameron, ich freue mich sehr, Sie und Ihre Begleiter kennenzulernen«, sagte er mit einem noranglischen Akzent, den Greg nicht recht einordnen konnte. »Zunächst einmal sollten Sie wissen, dass meine Anwesenheit auf Ihrer Welt geheim bleiben muss, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich ein verdeckter Agent des Geheimdienstes der Erde bin. Sollten das brolturanische Militär oder die Hegemonie davon erfahren, wäre dies ausgesprochen peinlich für meine Vorgesetzten, die dann gezwungen wären, mich auf Darien zurückzulassen. Und sollten andere Mächte wie zum Beispiel der Imisil-Bund davon Wind bekommen, wären die Implikationen alles andere als hilfreich.«

»Sie haben unser Wort, Mr. Silveira«, sagte Greg, dessen Gelassenheit rein äußerlich war. »Das bleibt alles unter uns.« Er blickte die Firmanows und Kao Chih, an. Letzterer trug noch immer Kappe und Halstuch, doch alle drei bekundeten mit einem Kopfnicken ihr Einverständnis. »Dann bekommen die Brolturaner also Verstärkung, sagen Sie. Nun, nachdem Russen, Skandinavier und Schotten sich einen Monat lang beklagt und widersetzt haben, ist das eigentlich nicht überraschend. Womit bekommen wir’s zu tun – mit einem Regiment ausgemusterter Unterhalter? Mit einem Bataillon von Spitzenköchen, die genug brolturanische Leckereien anrühren, um unser ungehobeltes Wesen zu besänftigen? Oder einfach nur mit noch mehr Soldaten?«

Washutkin hielt seine Belustigung im Zaum. Silveiras Lächeln war eisig.

»Die brolturanische Zivilisation mag ein Ableger der sendrukanischen Hegemonie sein«, sagte er, »aber in militärischer Hinsicht sollte man sie als Erfüllungsgehilfen der Hegemonialmacht betrachten. Deshalb haben sie Zugang zu einer erstaunlichen Vielfalt von Kriegshardware, denn ihre Schirmherren haben nur einige wenige Waffensysteme für sich selbst reserviert, darunter die Namul-Ashaph. Wörtlich aus dem Sendrukala übersetzt, bedeutet das ›Geist-der-erschafft‹; man könnte sie als automatisierte AI-Fabriken beschreiben, als mobile, nanobasierte Produktionseinheiten, die je nach Konfiguration imstande sind, täglich vier bis acht Kriegsmechas auszustoßen. Unser Geheimdienstkürzel dafür lautet Tektor …«

»Kurzer Name, große Probleme«, sagte Washutkin zu Greg. »Deshalb müssen wir bereit sein.«

»So ist es«, sagte Silveira. »Unter anderem soll ich Sie auf das Kommende vorbereiten und Ihnen raten, wie man den Mechas der Hegemonie mit Befestigungen und Fallen begegnen kann.«

Während er lauschte, vertieften sich Gregs Bestürzung und Beklommenheit. Tayowal umfasste mehrere Schutzräume, die man in den Hang einer schüsselartigen Senke des nördlichen Vorgebirges der Kentigernberge gehauen hatte; sie ließen sich nur schwer gegen einen Angriff verteidigen und boten kaum Schutz vor einer Bombardierung. Dann fiel ihm ein, dass Chel der Seher, sein Uvovo-Freund, mit dem Voth-Piloten Yash und Gorol 9, dem Konstruktdroiden, in den Bergen unterwegs war und die verschiedenen Uvovo-Ruinen auf ihre Eignung als Unterschlüpfe untersuchte. Er erwähnte dies Silveira gegenüber, der daraufhin nickte.

»Am besten nutzt man natürliche Gegebenheiten«, sagte er. »Tunnelsysteme können sich nachteilig auswirken.«

»Wann ist mit dem Eintreffen dieser Todesfabrik zu rechnen?«

»Sie dürfte in den nächsten Tagen mit einem Frachter der Hegemonie angeliefert werden«, antwortete Silveira. »Ein genaues Datum kann ich Ihnen nicht nennen.«

Greg lächelte verkniffen. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich ein bisschen angesäuert und verärgert wirke, aber wäre es in Anbetracht der AI, die es auf unsere Vernichtung abgesehen hat, nicht angemessen gewesen, wenn Ihre Vorgesetzten uns außer Ihrer geschätzten Person ein, zwei Kisten mit Hightech-Waffen geschickt hätten, um das Kräfteverhältnis ein wenig auszugleichen?«

»Die meisten Partikelwaffen erzeugen charakteristische Energiesignaturen«, erwiderte Silveira. »Sollten die Brolturaner dergleichen auf Darien vorfinden, wäre ihnen sofort klar, dass die Erdsphäre einheimische Aufständische unterstützt, und wenn die Hegemonie davon erführe, würde uns das teuer zu stehen kommen. Panzerbrechende Waffen, die außerhalb der Erdsphäre hergestellt wurden, sind unterwegs, aber wenn sie eintreffen, könnte der Konflikt bereits voll entbrannt sein.«

»Dann wollen Sie damit sagen, wir müssen es mit ein paar Jagdgewehren und kleinen Handfeuerwaffen schaffen. «

»Ihre Lage könnte schlimmer sein«, sagte Silveira. »Der Tektor, mit dem Sie es zu tun bekommen werden, ist zweite Wahl; die A-Klasse ist doppelt so groß und produziert täglich mindestens zwölf Mechas. Im Randbereich des Hegemoniegebiets gibt es eine Welt namens Karagal. Nach einem Jahrhundert des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft hat sich dort das Volk erhoben, da es glaubte, damit seine Autonomie-Reife unter Beweis zu stellen. Die Hegemonie hat daraufhin vierzig Tektoren der Klasse A dorthin geschickt, und einen Monat später war niemand mehr am Leben. Eine Bevölkerung von anderthalb Milliarden wurde einfach ausgelöscht. Denn die Klasse-A-Tektoren bauen nicht nur Mechas, sondern auch Klasse-B-Tektoren. «

Greg wechselte einen Blick mit Washutkin, der ironisch eine Augenbraue wölbte.

»Irgendwie klingt das nicht sonderlich beruhigend«, sagte Greg.

»Diese Gefahr droht Ihnen hier auf Darien nicht«, fuhr der Agent fort. »Die Brolturaner geben sich beträchtliche Mühe, sich als freundliche Aufseher darzustellen, die sich um Sicherheitsangelegenheiten kümmern, während die Kolonisten, dankbar für den Schutz, ihr gewohntes Leben fortführen. Seit Sundstroms Ermordung wird diese Propaganda ständig über die Nachrichtenkanäle des Subraums verbreitet, und die Wahrheit über die Besatzung herauszufinden, gehört ebenfalls zu meinem Auftrag.«

»Informationsbeschaffung«, meinte Greg und dachte an Kao Chih.

»Genau. Es gibt mehrere offene Fragen, die ich angehen soll – Mr. Washutkin war so freundlich, mir Hintergrundinformationen zu Captain Barbour zu liefern, dem Piloten, der mit einem Erdsphäre-Shuttle zwei brolturanische Abfangjäger abgeschossen hat.«

»Sie wissen davon?«, fragte Greg.

Silveira nickte. »Ja – Barbour genießt auf der Erde den Status eines Untergrundhelden und wird auf einer der Vox-Humana-Welten öffentlich gefeiert. Haben Sie ihn gekannt? «

»Nein, aber einer meiner Onkel war an Bord seines Shuttles.«

Washutkin beugte sich angeregt vor. »Der Schwarze Theo, nicht wahr? Major Karlsson, Viktor Ingrams rechte Hand!« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Kam er ebenfalls ums Leben?«

»Das wissen wir nicht genau«, sagte Greg, das flaue Gefühl in seiner Brust ignorierend. »Die Pilipoint-Station hat gemeldet, das Shuttle habe eine Rettungskapsel ausgestoßen, bevor es abgefangen wurde. Vielleicht war er an Bord, ich weiß es nicht.«

»Was ist mit dem Mond Niwjesta?«, fragte Silveira. »Was, glauben Sie, ist dort passiert?«

Dort oben. In den vergangenen Wochen hatte Greg den düsteren Gedanken an das Schicksal der ihm besonders nahestehenden Personen kaum ausweichen können. Catriona und Onkel Theo waren vermisst, mehr nicht, und er wollte nicht an ihren Tod glauben.

»Die Brolturaner haben alle Kommunikationskanäle nach Niwjesta gekappt, deshalb haben wir keinen direkten Kontakt mehr«, sagte er. »Natürlich gibt es zahlreiche Gerüchte – Alexander hat Ihnen vermutlich davon berichtet -, aber ohne Bestätigung bleiben das halt Gerüchte.«

Silveira nickte. »Und was ist mit dem Erdsphäre-Botschafter Robert Horst? Unsere Politiker stellen endlose Spekulationen an, da er angeblich genau an dem Tag verschwunden ist, als die Hegemonie ihn beschuldigt hat, an der Ermordung von Reskothyr, dem ersten broturanischen Botschafter, beteiligt gewesen zu sein. Mr. Washutkin meint, ihn würde das nicht wundern – was denken Sie?«

Greg fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und massierte sich den schmerzenden Nacken. Wieder etwas, worüber ich besser nicht reden sollte? Ach, eine Halbwahrheit ist immer noch besser als eine Unwahrheit!

»Horst hatte nichts mit dem Attentat zu tun«, sagte er. »Ich habe eine Videoaufzeichnung gesehen, die beweist, dass die Ezgara-Soldaten dahintersteckten, und die erhalten ihre Befehle von Utavess Kuros, dem Gesandten der Hegemonie. Aber was Horsts Aufenthaltsort betrifft, da tappe ich nun wirklich im Dunkeln.« Er seufzte. »Was ich Ihnen sagen möchte, mag weit hergeholt klingen, aber hören Sie mich bitte an. Theo Karlsson, mein Onkel, wusste, dass brolturanische Lufttruppen Botschafter Horst bei den Gangradur-Wasserfällen festnehmen wollten. Er hat den Botschafter mit einem Zeppelin zur Schulter des Riesen gebracht, wo ich gearbeitet habe …« Er berichtete, wie sie sich in einer Kammer im Felsvorsprung versteckt hatten, während die brolturanischen Truppen das Gebiet durchkämmten. Über den Warpbrunnen und dessen wahre Funktion verlor er kein Wort. Stattdessen erzählte er, sie hätten durch ihre Anwesenheit einen uralten automatischen Materietransporter ausgelöst, der den Botschafter … nun ja, habe verschwinden lassen.

Silveira runzelte die Stirn, während Washutkin erst leise auflachte und sich dann zurücklehnte und Greg aufmerksam musterte.

»Von derlei Entdeckungen an der Schulter des Riesen weiß ich nichts«, sagte Washutkin.

»Die wurden erst kurz vor Ausbruch der Krise gemacht«, sagte Greg. »Mir ist klar, dass Sie sich allein auf mein Wort verlassen müssen … na ja, und auf das meiner Begleiter.« Er deutete auf die beiden Firmanow-Brüder.

Washutkin straffte sich und starrte Nikolai an. »Stimmt das? Können Sie das bestätigen?«

Nikolai ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Jawohl, Sir. Es war genau so, wie Mr. Cameron es berichtet hat.«

»Exakt«, setzte Alexej hinzu.

Greg lächelte. »Die alte Anlage ist vermutlich der Grund, weshalb die Hegemonie sich so stark für Darien interessiert – weshalb hätte man sonst einen großen Zugangstunnel in die Schulter des Riesen gegraben?«

Silveira wirkte verunsichert, fast schon überzeugt. »Die Technologie des Materietransports hat noch nie zufriedenstellend funktioniert, aber Sie behaupten, dieses Gerät sei dazu in der Lage.«

»Wir wissen nicht, ob Botschafter Horst die Prozedur überlebt hat«, sagte Greg.

Silveira blickte stirnrunzelnd über Gregs Schulter hinweg. »Was ist mit Ihrem anderen Begleiter, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hat?«

Greg lächelte – auf diese Frage hatte er gewartet. »Er hat eine ganze Menge zu sagen, Mr. Silveira, aber könnten Sie zunächst etwas klarstellen? Wäre es denkbar, dass Ihre Vorgesetzten uns je nachdem, wie Ihr Bericht ausfällt, direkte Unterstützung zukommen lassen werden?«

»Das ist nicht ganz auszuschließen«, erwiderte Silveira vorsichtig.

»Zum Beispiel dann, wenn Sie eine Entdeckung von unerhörter Bedeutung machen würden?«

»Das würde sicherlich nicht ohne Folgen bleiben.«

Greg wandte den Oberkörper und winkte Kao Chih näher. »Enthülle dein Gesicht, mein Freund, und sag diesen Herrschaften, wer du bist.«

Überraschung spiegelte sich in den Gesichtern der anderen wider, als Kao Chih Kappe und Halstuch abnahm und sich höflich vor Washutkin und Silveira verneigte.

»Guten Tag, meine Herren. Mein Namen ist Kao Chih, Sohn des Kao Hsien. Ich bin von einem Sternsystem an der äußersten Grenze der Hegemonie zu dieser wunderschönen Welt gereist. Zuvor lebte meine Familie auf einer Welt namens Scheiterhaufen. Mein Urururgroßvater wurde dort geboren, doch seine Eltern stammten aus China, von der Erde, und kamen an Bord eines Schiffes mit Namen Tenebrosa dorthin …«

Als Kao Chih die tragische Geschichte von Scheiterhaufen erzählte, reagierte Washutkin sichtlich erschüttert, während Silveira wie vom Donner gerührt war.

Wenn wir ihn nur auf unsere Seite ziehen könnten, dachte Greg. Vielleicht reicht die Geschichte von Scheiterhaufen ja schon aus, falls sie sich mit seinen eigenen Absichten deckt. Wir könnten gemeinsam gegen die Brolturaner und diese Mechafabrik kämpfen, aber ohne Hilfe von außen stehen wir auf verlorenem Posten. Und wenn wir den Kampf verlieren, werden die Dariener als Sklaven der Sendrukaner enden, als weiteres Zahnrädchen in der mächtigen Maschinerie der Hegemonie. Das dürfen wir nicht zulassen.

Er dachte an seine kurze, aber entsetzliche Versklavung durch den Nanostaub der Hegemonie und schauderte.

Das darf sich nicht wiederholen.

2 Legion

Er war ein Sklave der Schmerzen. Am Außenrand des Backwatersystems treibend, war er ein Gefangener der erschöpften Komponenten seiner Cyborggestalt, vermochte sich seiner Pflicht aber gleichwohl nicht zu entziehen. Seine Loyalität war ein unerbittlicher Zwang, der von den ersten Momenten seines Maschinenlebens herrührte und auf den Prinzipien und dem hohen Ziel der Konvergenz gründete. In den beschädigten Nervenenden seiner vielfach verästelten Physis tönte ein Lied der Qual, welches das Reparatursystem nach Tagen und Wochen gedämpft hatte, ohne indes seinen Zorn auf die Gegner der Vergangenheit und Gegenwart und die versagenden Teile seines eigenen Körpers besänftigen zu können.

Alldem wohnte eine böse Ironie inne. <Metalle und Legierungen korrodieren, Energieknoten werden geschwächt, doch der Kern meiner Loyalität bleibt erhalten, ein unwiderlegbarer Beweise seines Wertes>

Der Aufbruch aus dem tiefen Wassergrab von Yndyesi Tetro war ein Triumph gewesen. Die durch seinen Fusionsantrieb freigesetzte Energie hatte ein ekstatisches Gebrüll in seinen Sinnen ausgelöst, als er das Meer zum Kochen brachte und auf einer Plasmasäule gen Himmel stieg. Die verstärkten Substrukturen waren heil geblieben, die instand gesetzten Panzerplatten hatten gehalten, und auch die provisorischen Sensorfortsätze hatten funktioniert. Auch der Übergang in den Hyperraum war erfolgreich verlaufen, die rasend schnelle Sequenz von Resonanzfeldern hatte sich durch den Subraum in den Hyperraum gebohrt und den Legionsritter mitgezogen. Das Makroleitsubsystem folgte den von seinen Sprösslingen bereitgestellten Koordinaten, und alles war auch gut gelaufen, bis die Systeme zehn Stunden später Warnmeldungen der Hyperraumantriebskraftkupplung anzeigten. Ehe er die Notabschaltung aktivieren konnte, wurden die Rezeptoren seines Neuronengeflechts vom Ausfall mehrerer Subsysteme erschüttert, und kurz darauf stürzte er in den Normalraum zurück und trieb antriebslos dahin, von Schmerzen geschüttelt.

Die wenigen verbliebenen Reparatureinheiten eilten zu den beschädigten Bereichen und nahmen sich als Erstes die schlimmsten Defekte vor. Und da – abgesehen von einer kleinen aktiven Linse am Außenpanzer – auch seine wenigen externen Sensoren ausgefallen waren, war er praktisch blind und taub. Sein eingesperrtes Bewusstsein wandte sich daraufhin nach innen und erkundete vergessene Seitenpfade der Erinnerung, die gewaltigen novazündenden Feldzüge gegen die Vorläufer, die verheerenden Kampffronten, die sich über Dutzende von Lichtjahren erstreckten und qualmende Welten zurückließen. Dann waren da noch die kühnen Vernichtungsaktionen, welche die Legion in den ausgedehnten Schichten des Hyperraums gegen die Verbündeten der Vorläufer unternommen hatte.

In ihrer langen, glorreichen Geschichte hatte die Legion der Avatare gegen zahlreiche Gegner gekämpft und sie ehrenhaft oder mit Tücke besiegt. Der achtbarste Gegner war der Letzte in dem sterbenden Universum gewesen, aus dem sie vor langer Zeit geflohen waren. Die Izalla waren eine Spezies, die das organische Leben so umfassend beherrschte, dass sie keinerlei anorganischer Mechanismen mehr bedurfte. Nach Äonen der Expansion von Galaxis zu Galaxis trafen die Izalla auf die Legion der Avatare, deren Imperium die Prinzipien der Konvergenz verkörperte, die Verschmelzung von Körper und Metall, von Maschine und Geist.

Die Legion hatte es noch nie mit einem Gegner wie den Izalla zu tun gehabt, während die Izalla kurz zuvor auf eine Maschinenrasse gestoßen waren und sie vernichtend geschlagen hatten. Diese Erfahrungen schienen sich beim Kampf gegen die Legion als nützlich zu erweisen. Die Legion aber hielt an ihren ehernen Prinzipien fest: Sie verfügte über die intuitive Anpassungsfähigkeit des organischen Denkens und die Macht der Maschinen, und bald darauf neigte sich das Schlachtenglück zu ihren Gunsten. Nach jahrhundertelangem erbittertem, grausamem Krieg drohte den Izalla die vollständige, unvermeidliche Auslöschung. Da sie keine Überlebenschance mehr sahen, lösten ihre Anführer eine Reihe von schwarzen Kontinuumsrissen aus, die sich durch ihr Universum fraßen und ganze Galaxien verschlangen.

Das Gedächtnis der Legionsritter datierte aus jener Zeit, als Tausende konvergierte Zivilisationen bereits ausgestorben waren und die Legion der Avatare zur Vorbereitung der Flucht in ein anderes Universum eine Armada von Raumflotten sammelte. Wie alle hoch wichtigen Daten waren auch diese Erinnerungen in den sichersten, am besten abgeschirmten biokristallinen Bereichen gespeichert, und als er die Bezeichnungen inspizierte, fiel ihm ein Anhang der ältesten Erinnerungen auf, Sequenzmarker, die eine Verbindung zu Datenclustern herstellten … beheimatet in seinem organischen Kortex. Verunsichert hielt er inne – im alten, blutgenährten Kortex mochte zwar sein Bewusstsein lokalisiert sein, doch die biokristalline Erweiterung unterstützte den transzendenten Aspekt des Bewusstseinskerns, des Schmelztiegels der Gedanken und Handlungen, weitaus schneller, als die natürlichen Beschränkungen unterworfenen neuronalen Synapsen. Auf diese Weise hatte er schon vor langer Zeit alle wichtigen Daten in einen biokristallinen Speicher kopiert und nutzte das organische Gedächtnis lediglich als Backup für unersetzliche Antizipatoren …

Eine dieser alten Erinnerungen zeigte er seiner Cyborggestalt nach der Konvergenz, deshalb folgte er dem Sequenzmarker bis zu einem besonders stark komprimierten Multicluster des Kortexspeichers. Nach kurzem Zögern ließ er dessen Inhalt in sein Bewusstsein einfließen …

Bewegung … er war in Bewegung, jedoch ohne Einschaltung des Antriebs oder der Lagekontrolltriebwerke … er besaß lange, steife Gliedmaßen … vier? Sechs? … mit fleischigen Greiffortsätzen … er bewegte sich, ging umher, schritt durch eine Reihe hoher, dunstiger Räume … Pflanzen wuchsen an den Wänden, dazwischen bewegten sich kleine Lichter … ein anderes langgliedriges Wesen wie er trat aus einem angrenzenden Raum hervor und kam auf ihn zu … schlanke Tentakel mit empfindlichen Fühlern an den Enden berührten und streichelten seine Haut … Bleib, sagte sie, wir lieben dich, wir brauchen dich, schließ dich nicht der Kälte an … andere Wesen traten in den Raum und stimmten das gleiche Lied an, er aber schüttelte die aufdringlichen Berührungen ab … was wussten sie schon von der Konvergenz, von den Wundern, die seiner harrten? … eilig strebte er zum Ausgang, während die anderen klagend seinen Namen riefen …

Unvermittelt erwachte er aus dem Erinnerungsstrom, erfüllt von Panik und kreatürlicher Angst. Weshalb war diese Erinnerung intakt geblieben? Es gab noch andere Erinnerungen im Kortikalspeicher, Aufzeichnungen, die Querverweise zu den frühen Erinnerungen des Biokristalls aufwiesen