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Die Salafisten predigen mit langen Bärten und Gewändern einen Islam der "Altvorderen" (salaf) und missionieren zugleich im Internet in jugendlicher Sprache. Rüdiger Lohlker erklärt, wo die Ursprünge dieser irritierenden Protestkultur liegen, welche unterschiedlichen Strömungen es gibt und wie mit saudischer Hilfe der Salafismus weltweit verbreitet wird. Sein wichtiges Buch öffnet die Augen für eine unterschätzte Gefahr.
Der Salafismus gilt als Inbegriff eines gewaltbereiten politischen Islam. Die Vordenker des "Islamischen Staats" sind ebenso Salafisten wie die Kämpfer von al-Qaida oder die Wahhabiten in Saudi Arabien. Doch es wäre ein Fehler, den Salafismus nur unter "politische Ideologie" und "Terror" zu verbuchen. Rüdiger Lohlker zeigt, dass die Ursprünge der sunnitischen Frömmigkeitsbewegung in einem Islam liegen, der sich - ähnlich wie Luther und die Reformatoren - auf die Quellen des Glaubens besinnt. Er beschreibt, wie sich hiervon eine militante Strömung abgezweigt hat, die den gewaltsamen Dschihad predigt, weltweit aggressiv missioniert, andere islamische Traditionen bekämpft und ein islamisches Gemeinwesen wie in den Zeiten der ersten Kalifen schaffen will - dies alles mit tatkräftiger und finanzieller Unterstützung aus Saudi-Arabien.
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Rüdiger Lohlker
Die Salafisten
Der Aufstand der Frommen, Saudi-Arabien und der Islam
C.H.Beck
Die Salafisten predigen mit langen Bärten und Gewändern einen Islam der «Altvorderen» und missionieren zugleich im Internet in jugendlicher Sprache. Der Islamwissenschaftler und Salafismus-Experte Rüdiger Lohlker erklärt, wo die Ursprünge dieser irritierenden Protestkultur liegen, welche unterschiedlichen Strömungen es gibt und wie mit saudischer Hilfe der Salafismus weltweit verbreitet wird. Sein wichtiges Buch öffnet die Augen für eine unterschätzte Gefahr.
Der Salafismus gilt als Inbegriff eines gewaltbereiten politischen Islam. Die Vordenker des «Islamischen Staats» sind ebenso Salafisten wie die Kämpfer von al-Qaida oder die Wahhabiten in Saudi Arabien. Doch es wäre ein Fehler, den Salafismus nur unter «politische Ideologie» und «Terror» zu verbuchen. Rüdiger Lohlker zeigt, dass die Ursprünge der sunnitischen Frömmigkeitsbewegung in einem Islam liegen, der sich – ähnlich wie Luther und die Reformatoren – auf die Quellen des Glaubens besinnt. Er beschreibt, wie sich hiervon eine militante Strömung abgezweigt hat, die den gewaltsamen Dschihad predigt, weltweit aggressiv missioniert, andere islamische Traditionen bekämpft und ein islamisches Gemeinwesen wie in den Zeiten der ersten Kalifen schaffen will.
Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Wien, beobachtet seit vielen Jahren die salafistische und dschihadistische Szene und forscht zur Theologie der Gewalt des «Islamischen Staats». Durch zahlreiche Artikel, Radio- und Fernsehauftritte sowie seine Blogs zu aktuellen Islam-Themen ist er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Begriffe, Irritationen, Ordnungsversuche
1. Ursprung und Geschichte des Salafismus
Reformbewegungen gegen den Mainstream-Islam
Ibn Taimīya und Ibn Qayyim al-Dschauzīya
Der salafistische Modernismus im 19. und 20. Jahrhundert
2. Salafismus, Wahhabismus und Saudi-Arabien
«Leute des Islam»
Der Urvater Muhammad ibn ʿAbdalwahhāb
Elemente des Wahhabitentums
Westafrikanische und südasiatische Einflüsse
Das dritte saudische Königreich
Institutionen und Fatwas
Kritik am Wahhabismus
Islamisches Erwachen
Wahhabiten und Salafisten
3. Bewegungen und Netzwerke in der islamischen Welt
Parteien und Fernsehprediger in Ägypten
Aktionismus und Dschihadismus in Jordanien
Transnationale Netzwerke im Sudan
Mauretanien: Prediger im Internet
Salafisten im politischen System Kuwaits
Kampf gegen den falschen Islam in der Türkei
Salafistische Imam-Ausbildung im Senegal
Salafistische Stiftungen in Kambodscha
Die Konkurrenz salafistischer Organisationen in Indonesien
Drei salafistische Gelehrte
4. Salafismus in Europa
Im Inneren des Feindes
Auswanderung: Die salafistische hidschra
Großbritannien: Enge Verbindungen nach Medina
Frankreich: Ausgehandelte Identitäten
Norwegen: Aktionistisch-politische Orientierung
5. Salafismus in Deutschland
Entwicklungsphasen
Propaganda
Salafistische Lektüren
Schlüsselfiguren
Ausreisende
6. Die salafistische Internationale
Fernsehen, Videos, Internet
Einkommensquellen und Finanzen
Salafistische Schulen
Die Islamische Weltliga
Saudische Botschaften weltweit
Wohltätige Stiftungen
Durchlauferhitzer: Die Islamische Universität von Medina
7. Theologie des Salafismus
Die Methode
Neuerungen
Einheit
Assoziation und Dissoziation
Glaube und Unglaube
Fremde
Hölle
8. Abgrenzungen
Gegen die spekulative Theologie
Gegen die Schiiten
Gegen Zauberei
Gegen den Sufismus
Gegen den Westen
Salafistische Marker
9. Vom Wahhabismus zum Dschihadismus
Schlüsselereignis: Mekka 1979
ʿAzzām, al-Maqdisī und bin Lādin
Saudi-Arabien und der IS
Kampfgruppen, einsame Wölfe und Auswege
10. Perspektiven des Salafismus
Wandlungen und neue Wege
Islamische Gegenstimmen
Wege durch das Labyrinth
Anmerkungen
Begriffe, Irritationen, Ordnungsversuche
1. Ursprung und Geschichte des Salafismus
2. Salafismus, Wahhabismus und Saudi-Arabien
3. Bewegungen und Netzwerke in der islamischen Welt
4. Salafismus in Europa
5. Salafismus in Deutschland
6. Die salafistische Internationale
7. Theologie des Salafismus
8. Abgrenzungen
9. Vom Wahhabismus zum Dschihadismus
10. Perspektiven des Salafismus
Wege durch das Labyrinth
Quellen und Literatur
Glossar
Personenregister
Auf den ersten Blick scheint der Salafismus ein Phänomen zu sein, das sich durch die gesamte Geschichte des Islams zieht, denn auch nicht-salafistische Muslime berufen sich auf die as-salaf as-sālih, die «frommen Altvorderen», das heißt die ersten drei Generationen der islamischen Gemeinschaft. Der Damaszener Gelehrte ʿAbdalghanī an-Nābulusī (gest. 1731)[1] schreibt über Vertreter einer dem Salafismus recht ähnlich anmutenden puristischen Strömung seiner Zeit:
Sie nennen sich selber Asketen und Mahner und sehen andere weder als Muslime noch als tugendhaft. […] Sie forschen Tag und Nacht nach Fehlern der Menschen. […] Sie nennen Leute aus nichtigen Gründen Ungläubige. Sie erlegen den Menschen ohne ausreichenden Beweis Beschränkungen auf.[2]
Man könnte meinen, der Autor spreche über moderne Strömungen.
Wenden wir uns nach den historischen Erscheinungen den zeitgenössischen Vorgängen zu. Die Terroranschläge in Paris, Brüssel, Berlin, Orlando, aber auch in Beirut, Istanbul und Sousse, im Irak, in Jakarta und an vielen anderen Orten lassen nach der Gedankenwelt der Täter fragen, und in den Antworten kommt immer wieder der Salafismus zur Sprache. Wenn Netzwerke von potentiellen Attentätern entdeckt, «Gefährder» observiert und verhaftet, fromme Vereine verboten und Moscheen geschlossen werden, wird auf den Salafismus verwiesen. Der Islamische Staat gilt ebenso wie das Terrornetzwerk al-Qaida als salafistisch. Aber was genau ist der Salafismus? Auf welche Ideen stützt er sich? Woran erkennt man Salafisten? Politische Hilflosigkeit führt zu gesetzgeberischen Notlösungen wie dem Verbot, einen Gesichtsschleier zu tragen. Aber wie kann man einer Bedrohung durch Salafisten wirkungsvoll begegnen? Antworten auf diese Fragen sind nicht leicht, es gibt kein Patentrezept, denn der Salafismus ist zunächst ein irritierendes Phänomen.
Im Dezember 2016 wurden in einem südostasiatischen Land die Teilnehmer einer internationalen Konferenz eingeladen, eine islamische Schule zu besuchen, die als Musterbeispiel für interreligiöse Toleranz gilt. Nach Abschluss der Vorträge und Darbietungen von Schülerinnen, Lehrerinnen und Lehrern der Schule machten sich alle zum Aufbruch bereit. Der Botschafter Saudi-Arabiens meldete sich aber noch zu Wort und verkündete, Saudi-Arabien wolle die Schule mit einer Schenkung in beträchtlicher Höhe bedenken.[3] Handelte es sich um die persönliche Begeisterung des Botschafters für diese Schule, die finanziell nicht auf Rosen gebettet ist? War es ein symbolischer diplomatischer Akt, der Saudi-Arabien als den Unterstützer des Islams weltweit ins rechte Licht setzen sollte? Oder handelte es sich um eine gezielte Einflussnahme, die die saudische Version des (wahhabitischen) Islams fördern sollte, da die Schulleitung einem großzügigen Spender schlecht etwas abschlagen kann? Es ist schwer, eine solche Geste ohne Weiteres richtig zu verstehen.
Die gleiche Schwierigkeit zeigt sich bei einem anderen Beispiel. Im November 2016 lehnte eine – offenkundig mit Teilnehmern aus dem salafistisch-wahhabitischen Spektrum besetzte – internationale Konferenz in Kuwait zu dem Thema «Das richtige Verständnis [des Glaubens] für die Anhänger der Sunna und der [wahren] Gemeinschaft» (ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa)[4] in der Abschlusserklärung den «Extremismus» (ghulūw, tatarruf) zwar ab, erhob aber zugleich einen Absolutheitsanspruch: «Die Methode der ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa ist eine einzige; es gibt in ihr keinen Pluralismus.» Diejenigen, die den ersten Generationen der Muslime (salaf) folgten, seien nicht irgendein Teil der sunnitischen Gemeinschaft, sondern sie seien die ahl as-sunna waʾl-dschamāʿa selbst und daher nicht verschiedenen Strömungen zuzuordnen – auch nicht einer salafistisch-dschihadistischen.
Folgende alternative Bezeichnungen für ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa werden genannt: «die Gefolgsleute der Überlieferung des Propheten» (ahl al-hadīth), «die Anhänger der Überlieferung» (ahl al-athār), «die gerettete Gruppe» (al-firqa an-nadschīya), «die siegreiche Gruppe» (at-tāʾifa al-mansūra),[5] «die Gemeinschaft der Mitte» (al-umma al-wasat) oder eben «Salafisten».[6]
Signalisiert die Schlusserklärung dieser Konferenz eine klare Grenzziehung zwischen Salafisten und gewalttätigem Dschihadismus? Steht der Exklusivismus der Erklärung nicht andererseits der dschihadistischen Verwerfung aller anderen Glaubensüberzeugungen nahe? Zeigen die terminologischen Überschneidungen der Erklärungen mit dschihadistischen Diskursen eine gedankliche Nähe an?
Eine gedankliche und praktische Nähe zwischen Salafismus und Dschihadismus bildet auch den Hintergrund der salafistischen Gruppe «Die wahre Religion», die in Deutschland durch die Koranverteilungskampagne «Lies!» bekannt geworden ist. Ihr wird vorgeworfen, antidemokratische Ideen zu verbreiten, Ausreisen nach Syrien und in den Irak zu organisieren und dadurch Gewalt zu unterstützen. Das Problem ist jedoch, solche Verbindungen auch zu beweisen.[7]
Bestehen aber gedankliche Verbindungen zwischen salafistischem und dschihadistischem (und wahhabitischem) Denken, die einen solchen Vorwurf rechtfertigen können? Ist der Salafismus eine Art «Durchlauferhitzer» für den Dschihadismus?
Die Dschabhat al-Nusra, die sich inzwischen aus taktischen Gründen umbenannt hat, war die wichtigste Organisation des al-Qaida-nahen dschihadistischen Spektrums in Syrien. In einem häufig angeklickten Video preist einer ihrer maßgeblichen Prediger die Paradiesjungfrauen, die den getöteten Kämpfer erwarten. ʿAbdallāh ibn Muhammad ibn Sulaimān al-Muhaisinī, so der Name des Prediger-Stars, ist ein erfolgreicher Fundraiser und Rekrutierer; er ist auch Oberrichter der Dschabha Fath al-Schām, der jüngsten Verpuppung der Dschabhat al-Nusra. Er stammt aus Saudi-Arabien und hat dort auch seine Ausbildung erhalten. An der saudischen Umm al-Qurā-Universität schrieb er an einer Dissertation zur Stellung der Kriegsflüchtlinge im islamischen Recht. Diese Arbeit brach er jedoch ab, um nach Syrien in den Krieg zu ziehen.[8]
Gibt es nun einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung von al-Muhaisinī in Saudi-Arabien und seiner Hinwendung zum militärischen Dschihad? Besteht also eine Affinität zwischen wahhabitischem und dschihadistischem Denken jenseits personeller Überschneidungen?
Solche Fragen stellen sich auch im Hinblick auf den Islamischen Staat (IS). Einer der lange Zeit führenden Gelehrten des IS, Turkī Binʿalī[9] – inzwischen wird angenommen, dass er in internen Kämpfen unterlegen ist[10] –, hat ebenfalls seine Ausbildung bei wahhabitischen Gelehrten erhalten und empfiehlt wahhabitische Schriften zur Lektüre. Ist die Ideologie des IS also vom wahhabitischen Islam beeinflusst? Entspricht sie ihm gar?
All diesen Fragen wird im vorliegenden Buch nachzugehen sein. Die Hypothese, von der wir ausgehen, ist, dass es ein gedankliches Milieu gibt, in dem sich Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus mischen und berühren. Zu widersprechen ist dabei der auch von Islam-Kritikern gerne vorgetragenen Annahme, Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus drückten irgendeine Form des authentischen Islams aus. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem Salafismus, wie von dessen Vertretern behauptet, tatsächlich ein «Angriff auf den Islam». Notwendige muslimische Kritik am Salafismus wäre dann unmöglich. Die Islam-Kritiker hätten Recht, die kritische Muslime als Heuchler denunzieren, welche den Islam verharmlosen wollen. Recht hätten dann auch diejenigen, die liberale Muslime als die Verbündeten der Feinde des Islams bekämpfen.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus ist nur dann möglich, wenn man die ganze Breite der islamischen Tradition in den Blick nimmt und sie nicht nur am koranischen Text und den Hadithen, den Überlieferungen vom Propheten, misst. Im Islam wird auf vielfältige Weise – in der Theologie, Philosophie, Mystik sowie in den Künsten – nach dem rechten Verständnis des Offenbarungstextes gesucht.[11] Der Salafismus, um den es in diesem Buch geht, ist ein möglicher Weg unter vielen.
Was wird hier aber unter den drei Begriffen Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus verstanden? Es gibt eine ausführliche wissenschaftliche Diskussion dieser Begriffe, die hier nicht nachgezeichnet werden kann, zumal sie für das Verständnis der Phänomene nicht sehr hilfreich ist. Ich verwende hier stattdessen eine pragmatische Unterscheidung:
Wahhabismus bezeichnet die dominante religiöse Strömung, die sich in Saudi-Arabien entwickelt hat, aber seit längerer Zeit weltweit ausgreift.
Salafismus bezeichnet eine breite religiöse Strömung mit unterschiedlichen Formen, die sich zum Teil vom saudischen Wahhabismus abgrenzen, zum großen Teil aber innig mit Saudi-Arabien verbunden sind – und sei es nur finanziell.
Dschihadismus in seiner transnationalen Form[12] – das heißt ohne Bezug auf ein bestimmtes Territorium, für das gekämpft werden soll – ist eine vielgestaltige Subkultur in etlichen Ländern, die vor allem durch die Ausübung von Gewalt bestimmt ist.
Zumeist distanziert sich der Salafismus von Gewalt nicht mit klaren theologischen Gründen, zum Teil lehnt er sie nur aus taktischer Opportunität ab. Inzwischen gibt es Belege dafür, dass der Salafismus auch als eine Art Durchlauferhitzer zum Dschihadismus dienen kann.[13] Im Wahhabismus wird Gewalt zur Verteidigung muslimischer Gebiete dagegen anerkannt. Beispiele dafür sind die Kriege in Afghanistan, im Irak und jetzt in Syrien. Aus diesen Strömungen entsteht ein Milieu mit einer Grauzone, in der Menschen zur Gewaltanwendung hin ausgerichtet werden.
Als salafistisch werden hier die historisch miteinander zusammenhängenden religiösen Bewegungen bezeichnet, die an die Frühzeit der islamischen Gemeinschaft anknüpfen und diese zu neuem Leben zuerst im persönlichen Bereich und dann in der Gesellschaft erwecken wollen. Bezugspunkt sind die idealisierten drei ersten Generationen der frühen Muslime, eben die as-salaf as-sālih, was häufig mit «fromme Altvordere» übersetzt wird.[14] Die Salafisten der jüngeren Zeit beanspruchen für sich, ein Monopol auf das Wissen über diese ersten muslimischen Generationen zu haben. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu anderen Muslimen und Musliminnen, die die ersten Generationen verehren, aber keinen alleinigen Anspruch auf sie erheben. Dieser Exklusivitätsanspruch ist das gemeinsame Merkmal der im Folgenden behandelten salafistischen Strömungen.
«Salafismus» ist in diesem Buch sowohl ein Oberbegriff für die drei Strömungen des Wahhabismus, Salafismus (im engeren Sinne) und Dschihadismus als auch die Bezeichnung für den Salafismus im engeren Sinne, um den es hier vor allem gehen soll. Daraus ergibt sich folgendes Schema:
Die in den Medien gerne verwendeten Charakterisierungen des Salafismus als «islamistisch», «radikalislamistisch» oder «extremistisch» tragen nicht zum Verständnis bei und sollen hier vermieden werden.
Salafisten erzeugen nicht nur in Europa und in der Wissenschaft Irritationen. Das zunehmende öffentliche Auftreten der Salafisten in Ägypten beschreibt die Journalistin Julia Gerlach so:
Viele Ägypter schauen sich in den ersten Wochen nach der Absetzung Mubāraks verstört um: Was sind das für Gestalten mit langen Bärten und Hochwasserhosen oder Gewändern, die nur bis zur halben Wade reichen, die mit einem Mal überall im Land für Probleme sorgen? Woher kommen sie so plötzlich?
Die Salafisten, ihre Ideen, ihre Bewegung waren auch zuvor schon in Ägypten weit verbreitet, jedoch machten sie nur selten von sich reden. Das liegt vor allen daran, dass sie – anders als die Muslimbrüder – keine einheitliche Organisation bilden. Es handelt sich vielmehr um eine Bewegung mit zahlreichen Führern und Richtungen. […] Viele tragen […] Gewänder, die den Knöchel frei lassen, und dazu ungestutzte Bärte ohne Schnurrbart. Viele Salafistinnen verschleiern sich vollständig und tragen Gesichtsschleier und Handschuhe. Salafisten lehnen Anpassungen des Islamverständnisses oder der Glaubenspraxis an die Anforderungen des modernen Lebens ab. In der Regel haben Salafisten eine klare Einteilung in gut und böse, in gläubig und ungläubig.[15]
Die ägyptischen Salafisten haben sich anders als die Muslimbrüder bis 2011 nicht an der Politik beteiligt, was dazu führte, dass sie sich durch Propaganda und Wohlfahrtsarbeit eine breite Verankerung in der Bevölkerung verschaffen konnten, ohne von der Regierung gestört zu werden. Vielmehr sah diese in ihnen ein unpolitisches Gegengewicht zu den politisch aktiven Muslimbrüdern. Erst nach dem Sturz des Präsidenten Mubārak 2011 – ohne wesentliche Beteiligung der salafistischen Strömung – kam es in Ägypten (und auch in Tunesien) zur Gründung salafistischer Parteien, die zum Teil 2013 die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mursī, der aus den Reihen der Muslimbrüder kam, befürworteten. Auch schon vor 2011 wurden die ägyptischen Salafisten von den arabischen Golfstaaten und insbesondere von Saudi-Arabien unterstützt.
Da sie politisch und religiös nicht einfach einzuordnen sind, hat es verschiedene Versuche gegeben, das unübersichtliche Feld zu kartographieren. In einer der genauesten Studien zum Salafismus in Jordanien werden verschiedene Strömungen voneinander unterschieden. Demnach gibt es zunächst
die Linie eines konservativen beziehungsweise akademischen Salafismus, der sich der Missionierung und der Lehre verschrieben hat und politische Mitwirkung ablehnt. Diese Strömung möchte lediglich dogmatische und lehrbezogene Aspekte «berichtigen» und gegen «Verirrungen» vorgehen. [16]
Diese Salafisten richten sich überwiegend gegen andere muslimische Konfessionen, etwa gegen die Schiiten oder gegen frühe theologische Strömungen wie die Muʿtaziliten, die sich auf die menschliche Vernunft beziehen, und die Charidschiten, die bereits im ersten Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung existierten und erstmals andere Muslime zu Ungläubigen erklärten. In der eigenen sunnitischen Konfession predigen sie außerdem gegen den Sufismus, eine Form der islamischen Mystik, sowie gegen die wichtigen sunnitischen Theologien der Aschʿariten und Maturiditen.
Daneben gibt es eine zweite salafistische Hauptströmung. Sie lehnt
Parteien, auch islamische, noch entschiedener ab. Ihre politische Haltung besteht darin, sich mit bestehender Herrschaft abzufinden und keinerlei Opposition in Wort oder Tat zu betreiben. Diese salafistische Strömung stellt sich daher klar auf die Seite der Regierung, auch wenn diese gegen andere islamische Bewegungen oder jede sonstige Opposition vorgeht. Man kann fast sagen, dass diese Salafisten es sich zur Aufgabe gemacht haben, gegen andere Islamisten zu agieren, und zwar insbesondere gegen solche Salafisten, die sich für den Weg der politischen Opposition entschieden haben.[17]
Neben diesen unpolitischen Salafisten gibt es drittens die «dschihadistischen Salafisten. Sie erklären die säkularen arabischen Regime für gottlos und treten, zumindest zeitweise, für radikale Veränderung durch bewaffneten Kampf ein.[18]
Schließlich gibt es eine vierte Strömung. Sie
vereint das religiös-dogmatische Gedankengut des Salafismus mit aktionsbetonter, organisierter und zuweilen politischer Arbeit. Sie setzt auf Reformen und friedliche politische Veränderungen […]. Alle sind jedoch politisch aktiv und halten eine oppositionelle Betätigung für zulässig, solange Konflikte nicht mit Waffen ausgetragen werden.[19]
Dieser auf Jordanien bezogene, aber auch darüber hinaus gültige Überblick erlaubt es uns, das oben gegebene Schema noch zu verfeinern.
Wollen wir den Salafismus angemessen verstehen, müssen wir ihn zuerst als eine historisch entstandene religiöse Bewegung ansehen, die sich typologisch mit anderen modernen religiösen Bewegungen vergleichen lässt.[1] Eine erste Vergleichsebene lässt sich im christlichen Pietismus finden. Die Betonung der Gemeinschaft ist ein wichtiges gemeinsames Element. Von großer Bedeutung ist darüber hinaus die Schaffung eines neuen «moralischen Subjekts» in dieser Gemeinschaft.[2] Dieses neue Subjekt wird durch eine innere Umkehr hin zur als ursprünglich vorgestellten Gemeinschaft der Gläubigen hervorgebracht. Die Predigt, die diese Umkehr unterstützen soll, wird als «einfältig»[3] beschrieben, um sie von anderen, ausdifferenzierten religiösen Gedanken abzugrenzen und einen direkten, unverstellten Zugang zum religiösen Subjekt zu behaupten.
Alle diese Elemente finden wir in den im weitesten Sinne reformerischen islamischen Strömungen seit dem 16. Jahrhundert. Gerade die «einfältige»[4] Weise der Lehre ist eines der Erfolgsrezepte der heutigen salafistischen Strömung.
Mit der Stabilisierung einer islamischen Sphäre von Westafrika bis Südostasien und vom Balkan bis in den Süden Afrikas entwickelten sich islamische Großreiche wie das der Osmanen, das sich von Nordafrika über den syrisch-irakischen Raum und Teile der Arabischen Halbinsel bis nach Anatolien und auf den Balkan erstreckte, das Reich der Safawiden im Iran und das Moghulreich in Südasien. In diesem Großraum gefestigter muslimischer Herrschaften dominierten religiöse Vorstellungen, die von Gelehrtenkreisen und sufischen Gemeinschaften getragen wurden. Ihre Basis war eine Volkskultur mit einer vielgestaltigen Heiligen- und Prophetenverehrung.
In dieser religiösen Landschaft bildete sich in vielen Teilen der islamischen Welt[5] ein Netzwerk von Gelehrten und Studenten, die sich gegen den etablierten Islam der Gelehrten, die organisierte islamische Mystik, also den Sufismus, gegen die Heiligenverehrung und zum Beispiel das Feiern des Prophetengeburtstages wandten – zum Teil auch gewaltsam. Ihr Ziel war eine Erneuerung des Islams aus seinen Quellen heraus. Für sunnitische Muslime sind dies der Koran und die Überlieferungen vom Propheten, die Hadithe. Damit sollte ein neues moralisches Subjekt in einer neuen religiösen Gemeinschaft geschaffen werden, das die direkte, «einfältige» Verbindung zu Gott suchen konnte, die nicht mehr von den komplexen Gedanken der Theologen oder mystischen Lehrer gestört werden sollte.
Zu diesen frühen islamischen Reformbewegungen gehörten etwa die Qadizadeli[6] im Osmanischen Reich.[7] Ihr «Urvater», Mehmed Birgevi (gest. 1573),[8] sprach davon, dass eine «Untersuchung des Herzens» eine seelische Umkehr einleiten sollte. Das lief auf die Schaffung eines neuen moralischen Subjekts hinaus, das seinen Ausdruck in einer genau regulierten persönlichen Frömmigkeit findet, die sich in einer omnipotenten Kollektivität[9] erfüllt. Man kann diese Art von Frömmigkeitsbewegung pietistisch nennen, wenn man den Begriff typologisch versteht.[10]
In der ganzen islamischen Welt gab es Reformbewegungen,[11] die sich seit dem 17. Jahrhundert gegen den etablierten Islam wandten. Ein Kreuzungspunkt dieser Bewegungen waren die Städte Mekka und Medina, wo sich bedingt durch die Pilgerfahrt für mehr oder weniger lange Zeit islamische Gelehrte aufhielten. Obwohl die Konfigurationen sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld gemäß unterscheiden, können wir gewisse gemeinsame Elemente erkennen: eine kritische Haltung insbesondere gegenüber den Rechtsgelehrten und Kritik an den Praktiken der Sufis, islamischer Mystiker, sowie die Rückkehr zu einer als ursprünglich verstandenen Glaubenspraxis.
Zu diesen pietistischen Reformbewegungen, zu denen auch die von Muhammad ibn ʿAbdalwahhāb begründete zählt, kamen im 19. Jahrhundert Veränderungs- und Modernisierungsbestrebungen hinzu, die sich im 20. Jahrhundert mit dem saudischen Wahhabismus verbanden und in den heutigen Salafismus mündeten.
Dass heute häufig Gewalt mit Salafismus in Verbindung gebracht wird, hat ebenfalls historische Vorbilder. Das wird an der Padri-Bewegung[12] im heute indonesischen Sumatra deutlich. Sie entstand nach der Rückkehr dreier Pilger aus Mekka, die infolge der Eroberung der Stadt durch die Wahhabiten im Jahr 1803 dazu angeregt wurden, ihre Vorstellungen ebenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die Einfälle der Padris in das Land der Batak waren desaströs für Wirtschaft und Kultur des Landes.[13] Die Padri-Bewegung wandte sich gegen das Spielen, Hahnenkämpfe, verschiedene Aspekte der lokalen, matriarchalen Rechtsgewohnheit (besonders in Bezug auf das Erbrecht), den Gebrauch von Opium, starkes Trinken sowie den Gebrauch von Tabak und Betelnuss. Insbesondere trat sie gegen die von ihr als lax verstandene Pflege der rituellen islamischen Pflichten auf. Von den Wahhabiten unterschieden sich ihre Anhänger dadurch, dass sie die Verehrung von Heiligen und Heiligtümern nicht ablehnten. Die niederländische Kolonialmacht bereitete der Padri-Bewegung 1838 eine endgültige Niederlage.
Die beschriebenen Bewegungen imaginieren die Rückkehr zu einer Glaubenspraxis, von der sie annehmen, sie sei in den Grundschriften begründet. Sie halten sie darum für die einzig wahre Quelle der religiösen Wahrheit. Andere Vorstellungen und Wahrheitsansprüche werden zurückgewiesen. Jeder Kompromiss würde das Wahrheitsmonopol einschränken, jeder konkurrierende Anspruch auf die alleinige Wahrheit wird als «Missbrauch» der wahren Religion bekämpft. Auf diese Weise werden die salafistischen Bewegungen immun gegen Kritik. Wie dieser Kreis durchbrochen werden kann, soll Thema des letzten Kapitels zur islamischen Kritik am Salafismus sein.
Salafistische Strömungen sollten nicht als «extremistisch» marginalisiert werden, da sie innerlich mit dem Mainstream verbunden bleiben. Sie beziehen sich auf die Vergangenheit, wählen gezielt bestimmte Traditionsbestände aus und grenzen sich von anderen Wegen der eigenen religiösen Tradition ab. Die beiden mittelalterlichen Theologen Ibn Taimīya und Ibn Qayyim al-Dschauzīya spielen dabei eine exemplarische Rolle. Immer wieder beziehen sich Salafisten auf sie und grenzen sich damit von anderen islamischen Traditionen ab.
Ibn Taimīya (gest. 1328) gilt seit vielen Jahren als Urvater des islamischen Fundamentalismus, ja als «Vater der islamischen Revolution».[14] Selbst wenn sich seine Popularität in salafistischen und wahhabitischen Kreisen auch irrigen (wenn nicht schlampigen) Lesarten verdankt,[15] sind er und sein Schüler Ibn Qayyim al-Dschauzīya (gest. 1350) mit ihren Werken feste Bestandteile der salafistischen und wahhabitischen Bibliotheken. Damit lohnt sich ein genauerer Blick auf diese beiden Autoren.
Warum sind beide für die hier behandelten Strömungen so interessant? Ibn Taimīya lebte zur Zeit der mongolischen Expansion und der blutigen Eroberung Bagdads durch die Mongolen. In dieser Situation formulierte er eine Theologie der Abgrenzung gegen islamische Minderheiten und besonders gegen Schiiten, denen er eine Kollaboration mit dem mongolischen Feind unterstellte. Eine besondere Feindschaft pflegte er gegen bestimmte sufische Richtungen. Zugleich bemühte er sich darum, nachzuweisen, dass die Vernunft das überlieferte Wissen von Koran und Sunna bestätige. Damit machte er seine Position unangreifbar, die er durch eine wortwörtliche Lesart des Korans und der Hadithe begründete.[16] Ibn Qayyim gehörte zur kleinen Gefolgschaft Ibn Taimīyas, er verbreitete diese Lehren und arbeitete sie teilweise weiter aus.
Auch wenn immer wieder behauptet wird, Ibn Taimīya und Ibn Qayyim al-Dschauzīya seien bedeutende Gelehrte gewesen, ist der Befund aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert ernüchternd. In wichtigen biographischen und anderen Nachschlagewerken des 16. bis 18. Jahrhunderts lässt sich kein Eintrag zu ihnen finden. Gelegentlich wird Ibn Taimīya als Gegenstand der Kritik erwähnt. In geringem Maße wird im 17. und 18. Jahrhundert auch Zustimmung geäußert. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde dieser «wenig gelesene Gelehrte mit problematischen und kontroversen Ansichten»[17] wieder bekannter, und man begann, ihn zu studieren. Insbesondere im Irak entwickelten im 19. Jahrhundert Gelehrte ein stärkeres Interesse an Ibn Taimīya, die später einen Einfluss auf prominente Salafisten wie Dschamāladdīn al-Qāsimī in Syrien oder Raschīd Ridā in Ägypten hatten. Im Irak wurde im frühen 19. Jahrhundert auch von einer Bewegung gesprochen, deren Mitglieder sich als salaf bezeichneten und Sympathien für die wahhabitische Bewegung im Nadschd, dem Gebiet um Mekka und Medina auf der Arabischen Halbinsel, zeigten.[18] Diese Linie lässt sich bis ans Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen. Der Sohn eines der früheren Vertreter dieser Ideen, Nuʿmān Chairaddīn Ibn al-Ālūsī, nahm die Beschäftigung mit Ibn Taimīya in Bagdad wieder auf[19] und verteidigte ihn in einem wichtigen Werk gegen seine Kritiker. Unter anderem versuchte er, anhand der Kette der Schüler und Nachfolger Ibn Taimīyas – unter ihnen auch Ibn Qayyim – seinen hohen Rang zu belegen. Die Linie führt bis zu dem jemenitischen Reformer asch-Schaukānī (gest. 1839). Gleichzeitig werden die Kritiker Ibn Taimīyas mit negativ bewerteten islamischen Strömungen in Verbindung gebracht. So grenzt al-Ālūsī «richtige» islamische Traditionen von «falschen» ab. In seinem Werk heißt es etwa über den bedeutenden Hadith-Gelehrten Ibn Hadschar alʿAsqalānī (gest. 1449), er behaupte,
dass die menschlichen Seelen mit dem himmlischen Geist […], sei es wach oder im Schlaf in Verbindung stehen […] Dies erwähnten die Alten unter den Philosophen nicht. Es erwähnten aber Ibn Sīnā und die, die [es] von ihm übernahmen; dies wird auch aus einigen Worten Abū Hāmid al-Ghazālīs (gest. 1111) abgeleitet, auch aus den Worten von Ibn ʿArabī (gest. 1240),[20] Ibn Sabʿīn (gest. 1271)[21] und anderen, die über den Sufismus und die Wahrheit auf der Basis [der Systeme] der Philosophen sprechen und nicht basierend auf den Prinzipien [des Glaubens] der Muslime. Dadurch aber bewegen sie sich [aus dem islamischen Rahmen] heraus hin zur Ketzerei (ilhād) wie die Ketzerei der [Zwölfer-]Schiiten, der Ismaʿiliten[22] oder der esoterischen Qarmaten[23] gegen die Verehrungspraxis der Leute der Sunna und des Hadith.[24]
Wir sehen deutlich eine Selektion der akzeptablen religiösen Überzeugungen, die wesentliche Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der koranischen Offenbarung verwirft. Ein besonderer Gegensatz wird zu allem Denken konstruiert, das als philosophisch beeinflusst gilt und sich nicht an den «Leuten der Sunna und des Hadith» orientiert. Das verweist auf die bedeutende Rolle des Hadith im salafistischen Denken. Die gleiche Aversion wie der Philosophie gilt der Theologie (kalām) und insbesondere allen sufischen Richtungen. Im Gegensatz dazu preist Ibn al-Ālūsī Ibn Taimīya als jemanden, der sich nicht scheute, selbst führende Prophetengefährten zu kritisieren.[25] Damit wird er zum Vorbild für alle, die selbst angesehene Autoritäten im Namen der vermeintlichen Wahrheit kritisieren.