Die Salzbaronin - Petra Durst-Benning - E-Book

Die Salzbaronin E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

Württemberg im Jahr 1804: Georg von Graauw möchte die Saline der Familie zu einem Heilbad umbauen. Doch seine tatkräftige Schwester Dorothea hat einen anderen Traum: den bergmännischen Abbau von Salz. Als ihr Bruder zu einer längeren Reise aufbricht, übernimmt sie kurzerhand die Leitung der Saline und veranlasst eine Grabung nach dem weißen Gold. Georg tobt, als er davon erfährt. Doch die ungewöhnliche Dorothea hält noch eine andere Überraschung für ihn bereit…

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Schöne Lesestundenwünscht herzlichst

Petra Durst-Benning

Das Buch

Württemberg im Jahr 1804: Die Graauws sind eine der angesehensten Familien der ganzen Gegend. In ihrer sich seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Saline verdienen zahlreiche Menschen ihr Brot. Selbstverständlich bekommt der einzige Sohn Georg die Leitung des Salzabbaus übertragen, obwohl seine kluge, tatkräftige Schwester Dorothea sich weit mehr für das Geschäft interessiert. Ein Studienfreund begeistert Georg von der Idee, die Saline zu einem Heilbad umzubauen. Dorothea jedoch wehrt sich mit aller Macht dagegen. Als der Vater während einer längeren Reise des Bruders stirbt, reißt sie die Leitung des Familienunternehmens an sich. Denn ihr Traum ist der bergmännische Abbau von Salz. Aber dann geschieht ein schreckliches Unglück, das alles verändert … Die Salzbaronin ist eine eindrucksvolle Familiensaga um das »weiße Gold« und ein fesselnder Bericht aus einer Zeit, in der durch den Mut und Erfindungsreichtum einzelner die Grundlagen für unsere heutige Welt gelegt wurden.

Petra Durst-Benning hat extra für diese Ausgabe das Märchen vom Salz neu erzählt.

Die Autorin

Petra Durst-Benning, 1965 in Baden-Württemberg geboren, lebt als freie Autorin südlich von Stuttgart auf dem Land. Mit ihren historischen Romanen Die Zuckerbäckerin, Die Glasbläserin und Die Amerikanerin ist sie in die erste Reihe deutscher Bestsellerautorinnen aufgestiegen. Die Gesamtauflage ihrer Bücher liegt inzwischen bei zwei Millionen.

Von Petra Durst-Benning sind in unserem Hause außerdem erschienen:

Die Glasbläserin

Die Amerikanerin

Das gläserne Paradies

Antonias Wille

Die Liebe des Kartographen

Die Samenhändlerin

Die Silberdistel

Die Zuckerbäckerin

Das Blumenorakel

Die Zarentochter

Die russische Herzogin (HC-Ausgabe)

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2010

2. Auflage 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

© 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

Titelabbildung: © Portrait of Catherine Lucy/Sir Godfrey Kneller/

Private Collection/Photo © Christie’s Images/

The Bridgeman Art Library

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-8437-0411-3

Liebe Leserinnen und Leser,

Natürlich stehen im Mittelpunkt meiner Geschichten vor allem spannende Menschen, das ist auch in diesem Buch nicht anders! Die Salzbaronin ist eine unglaublich starke Frau, die ihrer Zeit einen großen Schritt voraus ist, die ihren Weg geht, unbeirrt, die strauchelt, sich wieder aufrappelt und weiterläuft, koste es, was es wolle.

Darüber hinaus erzählt das Buch von schwäbischem Erfindergeist, von Leidenschaften und Visionen und davon, dass es immer nur wenige sind, die das Rad der Geschichte weiterdrehen.

Es geht aber auch um … Salz.

Als ich mit meinen Recherchen begann, erlag ich sehr rasch der Faszination von Salz. Ich wollte immer mehr erfahren über das machtvolle Salz, um das sich so viele Mythen und Märchen ranken.

Heute ist Salz für ein paar Cent in jedem Supermarkt zu haben – früher nannte man es jedoch ehrfuchtsvoll »das weiße Gold«.

Salz … In vergangenen Zeiten wurden ganze Wälder abgeholzt, um damit in den Salinen die Öfen zu befeuern, es wurden Kriege geführt, das weiße Gold brachte Reichtum und Städte zum Erblühen. Seit jeher hatten die Menschen eine starke, fast ehrfürchtige Beziehung zum Salz: Es ist lebensnotwendig und somit wertvoller als das teuerste Edelmetall oder das seltenste exotische Gewürz.

»Das Salz in der Suppe«, »Jemandem die Suppe versalzen«, – ums Salz ranken sich viele Sprichwörter, Mythen und so mancher Aberglaube. Bei einem umgestoßenen Salzfass zählte die Hausfrau früherer Zeiten angstvoll die verschütteten Körner: So viele Tränen würde sie weinen müssen. So viele Prügel würde die Magd beziehen. So viele magere Jahre würden der Familie ins Haus stehen.

»Ihr seid das Salz der Erde« steht in der Bibel, wenn jemand ein neues Heim bezieht, schenken die Gäste ihm Brot und Salz – ein schöner Brauch.

Schön finde ich auch das Märchen vom Salz! Dieses Märchen lässt sich bis ins Jahr 1135 zu Sir Geoffrey von Monmouth zurückverfolgen. Auch die Brüder Grimm haben eine Variante davon erzählt, Shakespeare hat das Motiv in seinem berühmten »König Lear« verwendet, darüber hinaus wird es in unzähligen Ländern in unterschiedlichsten Versionen weitergegeben.

Und hier folgt nun meine Version …

Das Märchen vom Salz

Es war einmal ein König, der drei Töchter hatte. Die erste war sehr hübsch und furchtbar eitel. Von früh bis spät drehte sich bei ihr alles nur um schöne Kleider, prunkvollen Schmuck und aufwendige Frisuren.

Mit all dem konnte ihre Schwester nicht viel anfangen, denn sie war ziemlich dick und nicht gerade besonders attraktiv. Sie war jedoch eine große Genießerin, ihre Leidenschaft waren Sahnetörtchen, Konfekt und edelste Liköre – davon konnte sie nicht genug bekommen!

Die jüngste der drei Schwestern war ein eher unscheinbares Wesen, das man nicht oft zu sehen bekam. Sie hielt sich meist in der Küche auf, um der Köchin oder dem Gesinde bei der Arbeit zu helfen. Natürlich wurde sie für diese Verrücktheit, die sich so gar nicht ziemte, von ihren Schwestern verspottet!

Eines Tages rief der König alle drei Töchter zu sich. Er war im Alter ein wenig sentimental geworden, von daher stellte er den drei jungen Frauen die Frage, wie lieb sie ihn hatten.

Die älteste Tochter schaute verdutzt drein, dann lachte sie auf.

»Vater, ich habe Sie so lieb wie die prachtvollsten Perlenketten, die herrlichsten Opalringe und Diamantcolliers obendrein!«

Der König, der um die Schmuckverliebtheit seiner Tochter wusste, nickte zufrieden.

Die zweitälteste Tochter hatte sich in der Zwischenzeit von einem bereitstehenden Teller ein Stück Konfekt gegriffen. Dieses schaute sie begierig an, dann sagte sie: »Liebster Vater, ich habe Sie mindestens so lieb wie die feinsten Schokoladen-Eclairs, die zartesten Trüffelpralinen und die süßesten Vanillekringel!«

Schon schob sie sich das Konfekt in den Mund.

»Und du?«, wandte sich der Vater an sein jüngstes Kind. »Wie lieb hast du mich?«

Das Mädchen schaute verlegen drein, anscheinend wollte ihr kein passender Vergleich einfallen. Die älteren Schwestern kicherten und der Vater schnaubte ungeduldig, als sie schließlieh anhob: »Allerliebster Vater – ich habe Sie so lieb wie das Salz!«

Das Entsetzen war groß: Die älteste Tochter verlor vor Aufregung ihre vornehme Blässe und lief im ganzen Gesicht rot an. Die mittlere Tochter verschluckte sich an ihrem Keks. Der Vater schüttelte fassungslos den Kopf.

»Wie kannst du undankbares Kind es wagen, mich mit etwas so wertlosem wie Salz zu vergleichen?«, brüllte er seine jüngste Tochter an, dann warf er sie in hohem Bogen aus dem Schloss. Den beiden andern schenkte er aber Schmuck und Schleckereien.

Das Gesinde war entsetzt, denn unter den Bediensteten war die jüngste Königstochter sehr beliebt. Die Köchin bot dem Mädchen ihre Küche als Unterschlupf an. Im Stillen nahm sie sich außerdem vor, ihrem Herrn eine Lektion zu erteilen, die er so schnell nicht mehr vergessen würde.

Schon am darauffolgenden Wochenende bot sich der Köchin eine Gelegenheit: Der König hatte zu einem großen Festbankett geladen, Herzöge, Barone und Adelsdamen folgten seiner Einladung und fanden sich erwartungsvoll an der Festtafel ein. Alle Gäste wussten, dass die Köchin des Königs eine Meisterin ihres Fachs war, von daher konnten sie es kaum erwarten, sich auf all die Köstlichkeiten zu stürzen.

Doch dann geschah etwas Unglaubliches: Die Gäste hatten die ersten Bissen gerade zu sich genommen, als sie angewiderte Grimassen zogen. Hier begann einer zu prusten, da spuckte ein anderer seine Speisen sogar wieder aus. Wie konnte es sein, dass herrlich aussehende Speisen so schrecklich schmeckten?

Bevor der König wusste, wie ihm geschah, verabschiedeten sich die ersten Gäste, nach kurzer Zeit saß er allein an seiner endlos langen Tafel.

Wutentbrannt stapfte er in die Küche, um seine Köchin zur Rede zu stellen.

»Ich habe nichts anderes getan, Hoheit«, antwortete die Frau, ohne ihren Blick zu senken. »als in allen Speisen das Salz wegzulassen, das Sie für wertlos halten.«

Und der König verstand: Ohne Salz war alles nichts wert. Kein König, kein Edelmann konnte ohne Salz sein.

Salz war heilig.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, meinen Lesern, Fans und Freunden, stets die richtige Prise Salz im Leben!

Ihre Petra Durst-Benning

Dieses Buch ist allen Frauen in meinem Leben gewidmet: meiner Mutter, Bettina und Inge, außerdem meinen Freundinnen und den Frauen, die mir tagtäglich mit soviel Sympathie und Begeisterung begegnen.

Vieles hat sich seit Dorothea von Graauws Zeit geändert – manches wird wohl immer beim alten bleiben. Wir gehen trotzdem unseren eigenen Weg!

1

»Wer wie ein Tölpel dem Leben hinterherrennt, kann nicht erwarten, daß das Leben in ihm selbst stattfindet.« Völlig unvermittelt fielen Rosa die Worte ihrer Mutter ein. Sie stand im Rahmen der Tür ihrer kleinen Hütte am Waldrand, und das erste, was sie an diesem Morgen hörte, waren die Stimmen der Salinenkinder, die jenseits der dichtgewachsenen Hecke spielten – ihr Schreien und Kreischen, wenn das Spiel, das sie gerade beschäftigte, zu wild zu werden drohte, vereinzelt ein Heulen, wenn einer sich im Eifer verletzte. Von den Eltern schaute niemand nach ihnen, die Erwachsenen hatten dafür keine Zeit. Zwischendurch sangen und tanzten die Kinder auch. Einfache Weisen, deren Texte jedoch von fröhlichem Inhalt sein mußten, denn immer wieder unterbrach glucksendes Lachen den Gesang.

Genauso unvermittelt wie die Worte ihrer Mutter war auf einmal auch die alte Sehnsucht wieder da. Dabeisein. Dazugehören. Nichts anderes hatte sie sich von Kindesbeinen an gewünscht. Wie in einem Spiegel sah sie das kleine Mädchen von früher vor sich, das so gern zu den anderen hinübergegangen wäre, sich in den Kreis eingereiht und mitgespielt hätte, was immer gerade gefragt war! Es hätte ihr nichts ausgemacht, die schönsten Kiesel, die knorrigsten Wurzeltierchen – die, welche am unheimlichsten aussahen, hatte sie am liebsten gehabt – herzugeben; auch hätte sie sich bereitwillig immer ans Ende einer Spielrunde eingereiht. Hauptsache, sie wäre dabeigewesen. Doch Harriet hatte nicht gewollt, daß sie – die Tochter einer Heilerin – mehr als das Nötigste mit den Kindern aus der Rehbacher Siedlung zu tun hatte. »Eine Heilerin braucht Ruhe«, hatte sie immer wieder gemurmelt. »Hätte ich Lärm gewollt, wäre ich nicht von Schwäbisch Hall hierher gezogen.« Und Rosa hatte sich mehr als einmal gefragt, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wäre sie tatsächlich in der dreißig Meilen entfernten Stadt aufgewachsen und nicht hier, am Rand der kleinen Salinensiedlung, die man nicht einmal als Dorf bezeichnen konnte.

Harriet war nun schon fünf Jahre tot – doch noch immer, wenn Rosa an ihre Mutter dachte, brodelte die alte Einsamkeit in ihr hoch wie eine aufgewärmte Suppe. Damals waren sie wenigstens zu zweit gewesen. Heute war sie die Kräuterfrau, zu der die Dorfbewohner kamen, wenn sie ein Zipperlein plagte. Heute mußte sie sich nicht mehr auf Zehenspitzen auf eine hölzerne Kiste stellen, um einen Blick über die Hecke zu erhaschen. Doch genau wie damals wehte ihr der Duft der erblühten Rosenhecke in die Nase – süß, verführerisch. Sehnsüchtig sog sie das Aroma der Blüten ein.

»Was hast du heute nur für seltsame Laune!« schalt sie sich. Daß Rosa mit sich selbst redete, war nichts Ungewöhnliches, zumindest nicht für sie. Manchmal jedoch, wenn sie es in Gegenwart anderer tat, merkte sie an deren hochgezogenen Brauen, daß die es wohl komisch fanden. Nun, das war ja wohl nicht das einzige, was die Rehbacher an ihr komisch fanden. Oft verbrachte sie halbe Tage im Wald, andere Male saß sie stundenlang in der Hecke, um dort mit den Vögeln zu sprechen, mit Käfern oder dem Fuchs, der – das hatte ihre Mutter sie gelehrt – wie die anderen Tiere ein Geistwesen war, welches ihr Geheimnisse zuraunte und Wissen verlieh. Sie wußte, daß die Salinenarbeiter sie Hagezusse, also Heckenweib nannten und sie deswegen verspotteten. Dennoch kamen sie zu ihr und vertrauten ihrem Kräuterwissen bei allen Leiden, die sie plagten. Aber darauf beschränkte sich auch der einzige Kontakt, der zwischen ihr und den Dorfbewohnern stattfand. Natürlich redeten sie mit ihr, doch sie waren zu verschieden, als daß sie mehr als ein paar unverbindliche Worte über das Wetter und die Arbeit in der Saline gewechselt hätten.

Mit Mühe zwang Rosa ihren Blick weg vom Dorf, wo sich nun Türen öffneten und Männer und Frauen aus den Hütten traten und in Richtung der fünf Sudhäuser gingen. Ohne daß Rosa hinschauen mußte, wußte sie, daß kurze Zeit später andere Rehbacher denselben Weg zurückkommen und ihre Türen erschöpft hinter sich schließen würden.

Schichtwechsel in der Saline. Die einen kamen, die anderen gingen, damit die fünf Öfen, auf denen Sole so lange gesiedet wurde, bis sich die Salzkristalle vom Wasser trennten, nur ja nicht stillstanden.

Mit einer Resolutheit, die sie an diesem Morgen beinahe selbst überraschte, drehte sich Rosa um und trat an ihre eigene Feuerstelle. Bald hatte sie ein kleines Feuer entfacht und begann, grobflockiges Fett zu schmelzen, indem sie es fortwährend glattrührte. Wie bei allem, was sie tat, waren ihre Bewegungen von konzentrierter Bestimmtheit erfüllt. Sie warf drei Handvoll gelbe Blüten in das Fett und sah zu, wie dieses sich augenblicklich orange färbte. Ihre Arme brannten, und sie mußte sich zwingen weiterzurühren. Normalerweise lenkte sie nichts, nicht die geringste Kleinigkeit, ab von dem, was sie gerade tat, doch heute flog ihr Blick immer wieder in Richtung Dorf. Gerade bog Götz Rauber, einer der fünf Sudhausvorsteher, zusammen mit seinen Leuten um eine Ecke. Während die andern nach acht Stunden Holzschleppen, Feuermachen, Solewassernachkippen und Salzabstreichen krumm und bucklig daherkamen, war Rauber die Müdigkeit zumindest nicht anzusehen. Fast leichtfüßig lief er, mit breiteren Schultern als jeder andere, und Beinen, so kräftig wie kleine Baumstämme. Er war ein guter Vorsteher, behandelte die Leute ordentlich. Kein Menschenschinder. Trotzdem wurde unter seiner Aufsicht mehr Salz gesiedet als in den anderen vier Sudhäusern. Es war nicht verwunderlich, daß die Leute, deren Lohn sich nach dem Salzertrag richtete, ihn wohl zu schätzen wußten.

Und dann sah Rosa sie den staubigen Weg zwischen den Hütten entlangkommen. Dorothea von Graauw, die Tochter des Landgrafen. Sie war auf den Tag genau so alt wie Rosa, doch ihr Leben hätte nicht verschiedener sein können. Als Rosa sah, wie selbstverständlich die Salinenleute stehenblieben, um ein paar Worte mit Dorothea zu wechseln, spürte sie plötzlich einen Kloß in ihrer Kehle. Manche Dinge änderten sich wirklich nie: Sie auf der einen, Dorothea auf der anderen Seite der Hecke. Einer mußte wohl einen Scherz gemacht haben, den Dorothea von Graauw so erheiternd fand, daß sie aus voller Kehle lachte. Die anderen stimmten ein. So fröhlich war von den Rehbachern mit ihr noch keiner gewesen, schoß es Rosa bitter durch den Kopf. Doch als sie beobachtete, wie Götz Rauber sich von der jungen Gräfin abwandte und, ohne das Gesicht zu verziehen, in Richtung seiner Hütte ging, fühlte sie sich augenblicklich besser. Wenigstens einen gab es, der vor lauter Ehrfurcht und Begeisterung für die Junge nicht in Ohnmacht fiel!

Was hatte Harriet über das Mädchen aus dem Herrenhaus zu sagen gehabt? »Gleich und gleich gesellt sich gern – die Regel darf nicht durchbrochen werden.« Und: »’s ist nicht gut, daß die Junge sich in der Saline aalt wie eine Forelle im Bach.«

Rosa klang noch heute ihre Sehnsucht von damals in ihren Ohren, als sie ihrer Mutter mit kleiner Stimme geantwortet hatte: »Wahrscheinlich hat die junge Gräfin zu Hause niemanden, der mit ihr spielt.«

»Dorothea ist nicht zum Spielen da!« Harriets Gesicht, verächtlich und abweisend, tauchte jetzt aus der Vergangenheit vor ihren Augen auf. »Das Kind ist besessen vom Salz«, hatte sie in einem Ton gesagt, den sie ansonsten nur benutzte, wenn sie von einem Todgeweihten redete. »Milena wird diesen Winter noch sterben« oder »Der alte Sepp wird die heutige Nacht nicht überleben« – den gleichen Ton, den Harriet für solche Nachrichten benutzte, kühl, ohne innere Regung, aber mit Bestimmtheit, den hatte sie damals verwendet. Obwohl Harriet ihre Tochter immer wieder mit ihren präzisen Vorhersagen verblüfft hatte – sei es nun das Wetter betreffend, oder Dinge, die die Leute aus der Siedlung betrafen –, hatte Rosa ihr gerade in diesem Fall nicht glauben wollen. »Mutter hat die Tochter des Grafen von Graauw vom Tag ihrer Geburt an nicht leiden können!« Rosa schüttelte den Kopf. Sie merkte gar nicht, daß sie laut sprach, so tief war sie in der Erinnerung an die alten Zeiten versunken.

Mehr als einmal hatte Harriet ihr die unselige Geschichte erzählt: Zur gleichen Zeit, am selben Tag, an dem Lili von Graauw versucht hatte, einen weiteren Sohn für den Grafen aus ihrem Körper hinauszupressen, hatte auch Rosas Mutter in den Wehen gelegen und deshalb der Gräfin nicht beistehen können. Doch während in der Hütte am Waldrand Rosa wie ein junges Kätzchen herausschlüpfte, war das große Herrenhaus von Todesschreien erfüllt gewesen: Noch während der Kopf des Säuglings sichtbar wurde, hatte Lili den letzten Atemzug getan. Nachdem die hilflose Köchin und das Kammermädchen das Kind vollends herausgezogen hatten und sahen, daß es ein Mädchen war, war es totenstill geworden: Wie sollten sie dem Grafen, der vor der Tür wartete, das und den Tod der Gräfin erklären?

Jeder hatte damals angenommen, daß der Graf seine Tochter ablehnen würde, ja, daß sie ihm nicht einmal unter die Augen kommen dürfte. Daß er den Rest seines Lebens vor Trauer und Gram vergehen würde. Doch alle hatten sich getäuscht: Frederick von Graauw verkürzte das Trauerjahr auf sechs Monate und heiratete Viola, die ältere Schwester seiner verstorbenen Gattin, die eiligst aus Stuttgart angereist war, um sich ihres verwitweten Schwagers und der beiden Waisen anzunehmen. Mit viel gutem Willen versuchte Viola von Graauw, den Kindern die Mutter zu ersetzen, doch bei Dorothea reichte guter Wille einfach nicht aus: Statt sich Feinstickereien und anderen weiblichen Fertigkeiten zu widmen, wie dies in Violas Sinne gewesen wäre, verbrachte Dorothea die meiste Zeit ihrer Kindheit in der Saline, die ihrer Familie gehörte. Und wenn der Graf zu seinem täglichen Rundgang durch die fünf Sudhäuser aufbrach, dann war nicht Georg, sein erstgeborener Sohn, sondern stets Dorothea an seiner Hand dabei. Seltsamerweise dachten sich die Leute nie etwas dabei, sie waren es einfach nicht anders gewöhnt. Trat Frederick von Graauw nach einem kurzen Kontrollgang den Heimweg an, um sich seiner geliebten Jagd oder anderen Dingen zu widmen, blieb seine Tochter oftmals allein zurück, um mit den Salzkindern zu spielen oder im warmen Solewasser zu planschen. Meist hielt sie sich jedoch in einem der Sudhäuser auf, wo ihre Anwesenheit von den Arbeitern nicht nur toleriert, sondern fast schon gern gesehen wurde. Aus der Art, in der die Leute von Dorothea sprachen, hatte Rosa schon als Kind herausgehört, wie stolz sie auf die Tatsache waren, daß die kleine Grafentochter sich nicht zu fein war, sich mit Solenachfüllern, Abziehern und Zwieseldirnen abzugeben. Als irgend jemand anfing, Dorothea scherzhaft »Die Salzbaronin« zu nennen, ahmten andere dies bald nach, und so hieß es »Schaut, hier kommt unsere Salzbaronin!« oder »Wie geht es unserem Fräulein Salzbaronin heute?«. Und die Leute winkten Dorothea von Graauw dabei zu.

Rosa kniff die Augen zusammen, um gegen das gleißende Sommerlicht etwas sehen zu können. Auch das hatte sich bis heute nicht geändert. Noch immer war es Dorothea, die tagtäglich in der Saline auftauchte – ihren Bruder dagegen hatte man seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Aber es hieß, daß Georg von Graauw nun mit seinem Studium fertig sei und daß seine Hochzeit mit einer feinen Dame bevorstünde. Georg von Graauw – Rosa konnte sich nicht mehr richtig an ihn erinnern, er war …

Ein ranziger Geruch stieg aus dem Kessel hoch und in Rosas Nase. Sie schaute nach unten und sah, wie sich auf dem Boden des Kessels ein dunkelbrauner Kreis bildete. Hastig rührte sie das siedende Fett um, doch vergeblich. Die Salbe war angebrannt, ihre Heilkräfte mit den grauen Schwaden, die aus dem Topf aufstiegen, verpufft. Verdammt! Rosa biß sich auf die Lippen. Nun konnte sie das gute Fett gerade noch dazu benutzen, rissig gewordene Hände einzusalben – für mehr taugte es nicht mehr. Das hatte sie nun davon, Dingen nachzusinnen, die sie nichts angingen!

2

Als Dorothea durch das Portal ins kühle Innere des Hauses trat, spürte sie, wie im selben Moment drei kleine Schweißtropfen hintereinander zwischen ihren Brüsten hinabrannen und unangenehm kitzelten. Zu gern hätte sie sich die juckende Haut gerieben, doch das hätte nur einen dunklen Fleck auf ihrem grünen Kleid hinterlassen. So winkelte sie wenigstens die Arme etwas ab und genoß den kühlen Luftzug, der jedesmal, wenn sie an einer weit geöffneten Zimmertür vorbeiging, ihren Leib umspielte. Einen heißeren Tag zum Heiraten hätte sich Georg nicht aussuchen können!

Das Kaminzimmer lag am Ende des Ganges auf der linken Seite. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum ihr Vater sie unter den Hunderten von Gästen hatte suchen lassen. Heute war Georgs Tag– der von Elisabeth natürlich auch–, und das war auch gut so. Was also wollte er da von ihr? Um die Saline würde es gerade heute doch sicher nicht gehen, oder?

Mit feuchter Hand fuhr sie sich über ihre hochgesteckten Haare, deren Nervenenden schmerzten, als würde Dorothea mit tausend Nadeln gepikst, und tastete ab, ob noch jede Locke an ihrem Platz war. Sie hätte auch vor einen der vielen Spiegel treten können, die abwechselnd mit den Portraits verblichener Grafen von Graauw den Gang zierten, doch dazu war Dorothea zu uneitel.

Ihr Vater war nicht allein.

»Da bist du ja endlich!« Mit weit ausgestreckten Armen kam er ihr entgegen, und sein Grinsen zog sich von einem Ohr zum andern.

Es mußte wohl um Rehbach gehen, beschloß Dorothea, als sie Fredericks Gegenüber erkannte. Alexander, der Baron von Hohenweihe, war nicht nur ihr Nachbar, sondern lieferte auch das Holz für die Rehbacher Siedehäuser. Sie nickte ihm kurz zu, wandte sich dann aber an ihren Vater. »Du hast mich rufen lassen?« Im gleichen Atemzug ärgerte sie sich über die fehlende Festigkeit in ihrer Stimme. Sie hörte sich ja fast an wie Georgs Angetraute, als diese ihr »Ja« dahingehaucht hatte. Wütend räusperte sie sich.

»Komm näher, liebes Kind! Alexander und ich freuen uns über deine Gesellschaft.« Frederick von Graauw winkte sie zu sich hin. »Ich hoffe, ich habe dich nicht beim Verspeisen eines Stückes der Hochzeitstorte gestört? Oder gehört meine Tochter neuerdings auch zu den Damen, deren Taillen so schlank sein sollen wie Hungerhaken?« Seine Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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