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Ein Mord erschüttert die Inselidylle. Juist in der Nachsaison: Die Insel erholt sich vom Urlaubstrubel des Sommers, und das exklusive «Dünenschloss» bereitet die festlichen «Sanddorntage» vor. Doch da wird die frisch gekürte Sanddornkönigin tot in der Nähe des Strands aufgefunden. Die impulsive Kriminalkommissarin Wencke Tydmers und ihr penibler Kollege Sanders nehmen sich des Falls an. Schon bald wissen sie: Hinter der schneeweißen Fassade des Hotels lauert ein Geheimnis.
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Seitenzahl: 270
Sandra Lüpkes
Ostfrieslandkrimi
Ein Mord erschüttert die Inselidylle.
Juist in der Nachsaison: Die Insel erholt sich vom Urlaubstrubel des Sommers und das exklusive «Dünenschloss» bereitet die festlichen «Sanddorntage» vor. Doch da wird die frisch gekürte Sanddornkönigin tot in der Nähe des Strands aufgefunden. Die impulsive Kriminalkommissarin Wencke Tydmers und ihr penibler Kollege Sanders nehmen sich des Falls an. Schon bald wissen sie: Hinter der schneeweißen Fassade des Hotels lauert ein Geheimnis.
Sandra Lüpkes wurde 1971 in Göttingen geboren und lebte viele Jahre auf der Nordseeinsel Juist. Sie ist Autorin zahlreicher Romane, Sachbücher, Erzählungen und Drehbücher. Heute wohnt sie gemeinsam mit ihrem Mann Jürgen Kehrer in Berlin.
Mehr zur Autorin und zu ihrer Arbeit unter: www.sandraluepkes.de
Weitere Veröffentlichungen:
Fischer, wie tief ist das Wasser
Halbmast
(In der Serie um die Kommissarin Wencke Tydmers:)
Der Brombeerpirat
Das Hagebutten-Mädchen
Das Sonnentau-Kind
Die Wacholderteufel
Die Blütenfrau
sowie ihr historischer Roman
Die Inselvogtin
und die Novelle
Inselweihnachten. Eine Geschichte von der Liebe
Die Originalausgabe erschien 2001 im Leda-Verlag, Leer.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023
Copyright © 2001 by Leda-Verlag, Leer
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ISBN 978-3-644-01923-2
www.rowohlt.de
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Ich hätte nicht gedacht, dass ein lebloser Körper so schwer sein könnte. Dass sie so steif und kalt war, machte es nicht gerade einfacher. Zum Glück war sie vor dem Sterben nicht mehr wach geworden, sie war in genau der Stellung erstarrt, in der ich sie zum Schlafen hingelegt hatte. So ließ sie sich gut handhaben. Wie eine große Puppe. Es fehlte nur noch, dass sie am Daumen nuckelte. Die blauen Lippen machten mich irgendwie verrückt. Halb geöffnet und spröde wie die Schale einer Auster. Ich konnte nicht widerstehen und legte meinen warmen Mund darauf, doch statt des warmen, milden Fleisches schlürfte ich gefrorenen Speichel, der in kleinen Kristallen auf ihren Zähnen lag.
Bis zur Hintertür nutzte ich den Flaschenwagen zum Transport, danach musste ich sie tragen. Weit würde ich es nicht schaffen, das merkte ich schnell. Bislang war alles so einfach gewesen; ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren, hatte ich ihr das Leben genommen. Nun stand mir das härteste Stück Arbeit bevor. Ich bin kein Mensch für körperliche Anstrengung, mir fehlte die Luft, der Puls klopfte an meinen Schläfen, die Füße schienen am Boden zu haften. Dazu kam der Schmerz an den Händen. Trotz der Handschuhe fraß sich die Kälte ihres Körpers bis an meine Haut, und ich hatte das Gefühl, meine Finger seien aus sprödem Glas und zersplitterten Stück für Stück unter der Last.
Natürlich hatte ich mir meine Gedanken gemacht, wo ich sie niederlegen würde. Sie war zu schön, um dem Zufall zu überlassen, wann sie gefunden werden würde. Ich wollte nicht, dass im Frühjahr spielende Kinder den Anblick einer von Möwen und anderem Getier zerfressenen Frauenleiche ertragen müssen. An dieser Stelle, wo ich sie nun am Ende meiner Kräfte in den Sand fallen ließ, würde ihr Körper wahrscheinlich entdeckt werden, bevor er aufgetaut war.
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, lange zu bleiben. Ich wollte sie abladen und gehen, wie jemand, der den Müll nach unten bringt. Doch meine Verfassung zwang mich, innezuhalten. Ein paar Schritte entfernt von der kalten Schönheit blieb ich stehen und betrachtete sie. Die frühe Sonne, mit deren Licht ich meinen Weg durch die Dünen gefunden hatte, war nun hell genug, um wie eine Ahnung die Farbe ihres Haares erkennen zu lassen. Es hatte sich theatralisch in den schwarzen Dornen des Sanddornstrauches verfangen und war orangerot wie dessen Früchte.
Es sah so schön aus, wie sie da lag. Man hätte fast denken können, ich hätte einen Ritualmord begangen. Ritualmord klingt irgendwie künstlerisch. Schade, dass es keiner war. Es war lediglich ein ganz normales Kapitalverbrechen. Hätte sie mir nicht einen Strich durch die Rechnung machen wollen, so wäre sie jetzt noch am Leben.
Und so wird es mein einziger Mord bleiben, denn es ist nicht mein Ding, jemanden, der so voller Leben ist, umzubringen. Es gehört eine Menge Organisationstalent dazu, wenn man es plant, zudem braucht man Glück, dass im entscheidenden Moment niemand zur Tür hereinkommt, und eine Leiche frühmorgens durch die Dünen zu tragen ist ein wahrer Kraftakt. Wenn ich nicht einen verdammt guten Grund gehabt hätte, dies alles zu tun, dann wäre Ronja Polwinski noch warm, und ich läge zufrieden und unschuldig in meinem Bett.
Letztlich war die Telefonzentrale schuld daran, dass Wencke ausgerechnet auf eine Insel verschlagen wurde, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Wäre der unselige Anruf am frühen Mittwochmorgen ins benachbarte Zimmer durchgestellt worden, dann säße jetzt der neunmalkluge Kollege Sanders auf einer Juister Düne. Doch sie hatte sich gemeldet.
«Mordkommission Aurich, Kommissarin Wencke Tydmers am Apparat.» Und zehn Minuten später war sie zu Hause, um die Koffer zu packen, die mahnenden Worte ihres Vorgesetzten noch im Ohr.
«Das ist Ihre Chance, Frau Tydmers. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt, und streichen Sie die Außendienstpauschale für den Inselaufenthalt auch noch mit ein. Und nicht vergessen: Mein Stuhl wird bald frei, und die Frauenquote will Sie als Hauptkommissarin sehen. Wenn Sie es aber vermasseln, dann haben wir einen Grund, Sanders zu befördern. Die Bevorzugung der weiblichen Bewerber zieht nur bei gleicher Qualifikation, wie Sie wissen. Und im Moment steht es eins zu null für Ihren lieben Kollegen.»
Sie könnte sich selbst ohrfeigen, dass sie den letzten Fall versaut hatte. Mord im Prostituiertenmilieu: Nette, viel zu junge Mädchen, die über versteckte Wege aus dem grauen Osten in den bunten Westen geschleust worden und schließlich in ostfriesischen Bordellen gelandet waren. Fiese, geldgeile Herren, die ihren Spaß und ihren Verdienst an den Mädchen hatten. Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Gier und Unschuld – und sie, Wencke, hatte es der blassen, stillen Violetta einfach nicht zugetraut, dass sie ihren Geliebten und Zuhälter erbarmungslos über den Haufen schießt. Und das noch nicht einmal aus Rache, sondern nur, um sich an seiner Tageseinnahme zu bereichern. Erst als die Kleine, die auch noch gelispelt hatte, mit dem Geld im Koffer über alle Berge verschwunden war, da war Wenckes Argumentation von dem Streit des Opfers mit dem organisierten Verbrechen der Mädchenschleuser nicht mehr zu halten gewesen. Und da hatte sie ganz schön dumm dagestanden mit ihrer weiblichen Intuition. Doch sie hatte ihre Lektion gelernt. Sie hatte sich am Abend ihrer Niederlage betrunken, allein und zu Hause mit zwei Flaschen Wein. Und nur ihr Kater war Zeuge, als sie sich lallend vor dem Spiegelbild schwor, sich niemals und wirklich niemals wieder von ihrem Gefühl im Bauch beeinflussen zu lassen. Niemals außer manchmal.
«Die Sanddornkönigin», sagte Meint, ihr Assistent. Er hatte gerade mit dem seemannsgesichtigen Zeugen gesprochen, der die Leiche heute Morgen beim Kontrollieren seiner Kaninchenfallen gefunden hatte.
«Sanddornkönigin? Ist das von dir?»
«Nein, ist nicht aus meiner Feder, der Alte da hat sie so genannt. Außerdem ist es doch eher dein Metier, den Mordfällen dramatische Überschriften zu geben, liebe Chefin. Ich erinnere dich nur an den ‹Mühlenschlachter› oder das ‹Wattenputtel›.»
Wencke fühlte sich ertappt. «Sanddornkönigin» hätte wirklich von ihr stammen können.
«Dies hier ist eine andere Kategorie Mord», sagte sie schließlich.
Sie saßen im Sand am Hang einer sanften Düne, es war nicht besonders kalt, nur der Wind, der ab und zu eine Böe über den Strandhafer blies, ließ sie ein wenig frösteln. In der Senke standen die Kollegen von der Spurensuche und steckten kleine nummerierte Täfelchen in den Sand. Viele Spuren gab es nicht, die es zu fotografieren gelohnt hätte. Der Wind war ein Meister im Vernichten von Beweismitteln. Eine zerdrückte, rostige Coladose, die mit Sicherheit nicht der Täter dort liegen gelassen hatte, war bereits vom Flugsand halb verdeckt worden, im Dornenbusch, fast direkt neben der Leiche, hing eine zerfledderte Plastiktüte im Geäst. Ansonsten lag hier nur eine tote Frau.
«Sanddornkönigin im Sinne von Weinkönigin oder so», fuhr Meint fort. «Am kommenden Wochenende steigt hier eine große Fete, in erster Linie wird wohl viel gegessen und getrunken, es sollen deswegen einige wichtige Personen auf die Insel kommen.»
«Freiwillig?»
Meint lachte. «Scheint so.» Er zog aus seiner Mappe ein Faltblatt heraus. Meint war einer von denen, die alles Wichtige und Unwichtige, was sie in einem Fall in die Hände bekommen, in einer eigens dafür angelegten Mappe sammeln. Wenn er einen Fall bearbeitete, so bewahrte er nahezu alles auf, er legte sich eine wahre Enzyklopädie über den Ort, über den Beruf und über die ganzen anderen scheinbaren Nebensächlichkeiten im Leben des Mordopfers an. Manchmal nutzte ihm dieser Wissensumfang tatsächlich zur Aufklärung, doch meistens speicherte er diese Details nur für sich, um sie dann und wann ungefragt zum Besten zu geben. Das hatte ihm im Kollegenkreis den Spitznamen «Lexikon» eingebracht, er schien sich nicht daran zu stoßen. Wencke hatte keine solche Mappe, und ihr Gedächtnis war so zuverlässig wie das Wetter im April, doch sie hatte andere Qualitäten.
Sie nahm das Faltblatt in die Hand. Es fühlte sich teuer an, festes und raues Papier, bedruckt mit goldfarbenen Lettern und geschmückt mit orangen Ornamenten, die wohl Sanddornbüsche darstellen sollten. Sie überflog den Text.
Wir laden Sie herzlich ein, liebe Feinschmecker! Lernen Sie unsere schlanke, schöne Insel kennen und auch unseren heimlichen Schatz: die Sanddornbeere. Diese farbenfrohe Vitaminbombe … blablabla … im bezaubernden Hotel «Dünenschloss» … blablabla … Galamenü, gezaubert von unserem Künstler am Herd, Fokke Cromminga … blablabla … am 17. Oktober, ab 12 Uhr mittags ein ganzer Tag nur für Sie und Ihren verwöhnten Gaumen … blablabla … es freut sich auf Sie, Ihre Juister Sanddornkönigin.
Darunter ein weichgezeichnetes Bild: eine lächelnde Rothaarige in friesischer Tracht vor einem festlich gedeckten Tisch. Nun lag sie nackt im Dünental, und die Fotos von ihr würden mit Sicherheit nicht mit Weichzeichner aufgenommen werden.
«Sie heißt mit bürgerlichem Namen Ronja Polwinski, studiert normalerweise in Hannover Psychologie und Touristik.»
«Was man nicht alles so studieren kann …», sinnierte Wencke.
Siemen Ellers, der Juister Inselpolizist, war zu ihnen gekommen. Er war ein freundlicher Mann kurz vor der Pensionierung, der sich diesen überaus ernsten Blick und das scharfe Einsaugen der Luft von seinem liebsten Sonntagabendkrimi ausgeliehen hatte. «Sie war nicht von der Insel. Aber sie war hier wahrscheinlich ein bekanntes Gesicht.»
Und ein verdammt hübsches, dachte Wencke, sagte aber nichts dergleichen. Sie stand auf und ging zu den Kollegen von der Spurensicherung, die ihre Beweisaufnahme abgeschlossen hatten und nun in einem Halbkreis um die Tote herum standen wie auf einem Begräbnis.
«Sie ist sozusagen taufrisch», sagte Gerichtsmediziner Riemer, als hielte er nun die Grabrede. «Keinerlei Zerhackstückelung, weder kleine Kratzer noch große Beulen, Flecken oder Dellen. Wenn ich sie so daliegen sehe, dann könnte ich schwören, sie steht gleich auf, zieht sich an und geht ihrer Wege. Ich habe noch nie eine so … lebendige Leiche gesehen.»
Als wäre dies das Amen gewesen, breiteten zwei seiner Männer den großen schwarzen Plastiksack aus und machten sich daran, die Tote halbwegs ordentlich hineinzulegen.
Wencke schaute in den Himmel. Sie würde gleich einen kurzen Spaziergang brauchen. Denn so flapsig sie mit den Mordopfern teilweise umging, wenn sie ihnen am Tatort direkt in die toten Gesichter schaute und die Details der grausigen Verletzungen studierte, so nahe ging es ihr, wenn die leblosen Körper dann im schmucklosen Zinksarg abtransportiert wurden.
Dies war nicht die erste Leiche gewesen und auch bestimmt nicht die letzte. Sie hatte sich den Posten bei der Mordkommission bewusst ausgesucht, sie kam damit auch gut zurecht und konnte nachts ruhig schlafen. Dennoch hinterließ dieses «Einpacken und weg damit» bei ihr den schalen Geschmack von Endgültigkeit. Ein paar Schritte ohne Worte vom Tatort weg holten sie jedoch immer wieder zurück in die nüchterne Kriminalbeamtensichtweise.
Meint kannte sie und ließ sie in Ruhe, als sie sich langsam vom Tatort entfernte. Sie fand den geschlungenen Trampelpfad durch die Dünen, der schließlich auf die rot gepflasterte Strandpromenade führte. Ab und zu gaben die wild bewachsenen Sandberge zu ihrer Linken den Blick auf einen riesigen, menschenleeren Strand frei, an dessen Ende sich das Meer die Ehre gab, in Erscheinung zu treten. Ein kleiner Weg führte zum Inseldorf hinunter, auf der Ecke lag eines dieser Strandcafés mit Aussicht, «Sturmklause – genießen Sie Kaffee und Kuchen, Eisspezialitäten und die große Auswahl auf unserer Speisekarte. Herzlich willkommen!». Neben der Tafel war die Tür mit großen Sperrholzplatten vernagelt, alles schien bereits in eine Art Winterschlaf gefallen zu sein, der Sand hatte sich in den Fensterbänken gesammelt und gab dem Ganzen einen verlassenen Ausdruck, so als wäre seit Jahren kein Mensch mehr hier gewesen.
«Herzlich willkommen!?» Wencke musste lachen. Die Zigarette, die sie sich eben angesteckt hatte, schmeckte nicht, sie ließ sie fallen, zertrat die Kippe auf dem brüchigen Backstein und sah die Glut mit dem Wind davonwehen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wartete darauf, dass es salzig schmeckte, so wie sie es unzählige Male in maritimen Büchern gelesen hatte. Es schmeckte nach nichts. Dafür hörte sie das Rauschen, es klang wie das Geräusch im Gehäuse einer Wellhornschnecke, die man sich direkt ans Ohr hielt. Ansonsten war es weniger beeindruckend als von sämtlichen Inselfanatikern beschworen. Wencke fand es unbehaglich. Sie konnte und wollte dem Gedanken, sich auf einer Insel zu befinden, sich vom Meer umzingelt zu wissen, nichts Gutes abgewinnen. Ihr einziger Gewinn war eine große Portion Ehrgeiz, diesen Fall so schnell wie möglich zu klären, natürlich erfolgreich, um dieser Sandbank, die Juist hieß, bald zu entfliehen.
«Kommission Sanddornkönigin, hmm?» Meint war ihr gefolgt. Nun ging er direkt neben ihr.
«Wenn wir ein paar Schritte weitergehen, stehen wir direkt vor ihrem Schloss.»
Die Promenade wurde breiter und endete auf einem großen Platz mit verwaisten Parkbänken und den Rudimenten eines abgebauten Spielplatzes. Sie standen vor einem weißen Hotel, es war teils reetgedeckt, teils hatte es rote Dachziegel, und obwohl es groß war, wirkte es doch filigran. Zwei kleine Türmchen säumten den Eingang und gaben in ihrer Mitte eine große Treppe frei, auf der ein roter Teppich nach oben führte, der noch nicht einmal protzig wirkte, der dort einfach liegen musste.
«Okay, es beeindruckt mich», sagte Wencke missmutig.
«Das ‹Dünenschloss› ist dazu da, zu beeindrucken, nimm es nicht persönlich. Um die Jahrhundertwende haben hier Fürsten und Barone residiert, damals führte eine breite Treppe direkt an den Strand. Die liegt jetzt hier irgendwo unter uns, vom Sand verweht. Doch wie ich den Besitzer des ‹Dünenschlosses› einschätze, wird er eines Tages versuchen, die Stufen eigenhändig wieder freizuschaufeln.»
Wencke nahm die Broschüre wieder hervor, sie hatte die ganze Zeit in der Tasche ihrer Jeansjacke gesteckt, und so sah das Papier nicht mehr ganz so jungfräulich aus, wie es das in der sicheren Obhut von Meints Sammelmappe getan hätte.
Auf der Rückseite fand sie, was sie gesucht hatte.
«Thore Felten heißt der Mann, den wir besuchen müssen. Er scheint sozusagen der Sanddornkönig zu sein.»
Dann stiegen sie gemeinsam die Treppe hinauf.
Bratkartoffeln. Nicht, dass er sie nicht mochte, sie langweilten ihn nur. Speck und Zwiebeln waren nur Taschenspielertricks in der Zauberkiste seiner Kochkünste.
Eine Frau war heute auf der Insel angekommen. Sie ging Fokke nicht aus dem Kopf.
Zwischen all den dunkel gekleideten Männern auf dem weißen Schiff war sie ihm sofort aufgefallen. Sie hatte sich nicht umgeschaut, als sie von Bord der «Frisia IX» kam und auf der Gangway die Menschenmassen passierte, die aus irgendwelchen Traditionsgründen ständig «Oh, wie blass» riefen und ihre Wollmützen in der Luft herumschwenkten. Es passierte nicht oft, dass im Oktober eine Frau hierher kam, die ihn interessierte. Das letzte Mal war es bei Ronja so gewesen. Auch diese Frau war rothaarig und hatte diese selbstsichere Art, die ihm an Frauen so gefiel. Doch darauf beschränkten sich die Gemeinsamkeiten auch schon. Die Frau von heute war klein und vielleicht ein bisschen frech, sie trug eine Jeansjacke und nicht etwa einen Kaschmirmantel, ihre Haare waren kurz und gefärbt und keine wilde Lockenpracht. Sie war auf angenehme Art attraktiv gewesen, auch wenn sie einem Mann vielleicht keine feuchten Träume bescherte.
Fokke war am Fähranleger damit beschäftigt gewesen, Kartons mit frischem Fisch auf einen Handkarren zu laden. Irgendein Idiot hatte seine Reisetasche im Gepäckcontainer auf die Kühlbox gestellt und nun war der Deckel zerbrochen. Selbst schuld, wenn die Klamotten nun nach Fisch rochen. Die kostbare Weinlieferung musste er ebenfalls im Auge behalten, und darüber hatte er die Frau leider aus den selbigen verloren. Das Letzte, was er sehen konnte, war, dass sie ihre Sonnenbrille abnahm, um Siemen Ellers zu begrüßen. Ihre Augen waren beeindruckend.
Der deftige Geruch aus der Pfanne stieg ihm in die Nase. Unter diesen Umständen würde es schwierig werden, die Weine durchzugehen. Gunnar hantierte mit dem Kellnerbesteck und öffnete eine Flasche nach der anderen.
«Gib dein Bestes am Wochenende, Fokke, diese Tröpfchen werden das Ihre tun.» Sein Freund schenkte hellblonden Wein ein, nur zwei Fingerbreit, das dünnwandige Glas beschlug leicht. «Chardonnay. Limitierte Ausgabe sozusagen, ‹Reserva Legado de Familia›, nette Rarität für Kenner. Das Bouquet ist nicht von schlechten Eltern.»
Fokke nippte daran. Er schloss die Augen und dachte an die Frau am Hafen. «Betörend!»
Gunnar setzte sich zu ihm an den Tisch, probierte schweigend und nickte schließlich. «Es könnte wieder so sein wie in vergangenen Zeiten. Wenn es am Samstag so läuft wie geplant, dann sind die Tage vergessen, wo wir Bratkartoffeln für die Angestellten servieren müssen.»
«Es wird so laufen wie geplant», stellte Fokke fest. Für ihn stand das außer Frage, er wusste, es ging ums Ganze. Er hatte zwar schon manchen verwöhnten Gaumen gekitzelt, damals in der «Auster» hatten alle naselang prominente Feinschmecker an seinem Tisch gesessen und geschlemmt, doch diesmal war es anders. Diesmal würden sie alle kommen, sie würden nebeneinander sitzen, wenn er seine große Vorstellung gab, sie würden miteinander schmatzen und rülpsen und nicht zuletzt über seine Kunst schwadronieren. Dies war mutig, außerordentlich mutig von ihm, denn wenn dem einen Gourmet eine Prise zu viel Safran unangenehm aufstößt, so versucht sein Tischnachbar mit Sicherheit, ihn übertrumpfend, das nächste Haar in der Suppe zu finden, und die Dame einen Tisch weiter wird schließlich das ganze Menü als ungenießbar empfinden. Fokke wusste, er kochte für einen Haufen übersättigter Klugscheißer, aber er wusste auch, wenn alles perfekt wäre, wenn sein Menü einfach jenseits jeglicher Kritik eine makellose Ode an die Sinnenlust war, dann hatte er gewonnen. Dann würde er nie wieder einen Gedanken an den Tag verschwenden, an dem er dem Gerichtsvollzieher den Schlüssel für die «Auster» übergeben musste.
«Entweder diesen oder den Moenchenberger Pinot Gris, was meinst du?» Gunnar hielt eine weitere Flasche gegen das Licht, wiegte den Kopf hin und her und schien in ein tiefes Grübeln zu verfallen. «Sag doch was, Fokke, komm, den Weißwein wollen wir heute noch festmachen. Der Rote soll noch ein paar Tage ruhen.»
In Gunnar hatte er seinen Meister gefunden, zumindest was die Weine und den vollendeten Service betraf. Als Fokke damals die «Auster» von seinem Vater übernommen hatte, da war ihm der Kopf so voller Ideen und Phantasien gewesen, und es war ihm wie ein Zugeständnis des Schicksals erschienen, als er dort einen absolut kompetenten und fast gleich gesinnten Restaurantleiter übernehmen konnte. Zuvor war er mehr als nur einmal belächelt worden, wenn er die Weinflaschen trug wie Neugeborene, wenn er sie verhätschelte und zig Male sortierte. Und dann war ihm Gunnar mit dem Weinwagen begegnet, er hatte ihn selbst gebaut, um die kostbaren Tröpfchen in verschieden temperierten Schubladen sicher zu transportieren, und von diesem Moment an waren sie ein Team. Beide wussten, ein guter Wein setzte dem Essen die Krone auf, vorausgesetzt, man legte überhaupt Wert auf königliche Gaumenfreude.
Zu einer Dose Ravioli konnte Fokke auch einen lauwarmen Weißwein aus der Flasche trinken, und es gab Tage, da tat er das auch, sogar mit Genuss. Doch wenn er kochte, wirklich kochte, wenn er Wassermengen millimetergenau abmaß, wenn er zarte Filets mit dem Sekundenzeiger im Visier auf den Punkt briet, dann musste auch der Wein als solcher zelebriert werden. Es musste alles passen, es musste stimmig sein, dann – und nur dann – war es perfekt.
«Lass uns bei diesem hier bleiben», antwortete er schließlich. «Es ist der richtige.»
«Du bist der Einzige, der das sagen kann. Du bist schließlich auch der Einzige, der weiß, was es zu essen gibt.»
«Verlass dich auf mich.» Fokke stand auf und band die Schürze los. Er wollte keine Sekunde zu lang hier bleiben. Dies würde sein letzter freier Abend für eine ganze Weile sein. Er freute sich auf eine warme Dusche, vielleicht einen Gang in die Sauna, auf jeden Fall eine Tüte Gummibärchen und später noch ein Frischgezapftes in der «Spelunke».
«Schönen Feierabend. Vergiss nicht, du wolltest noch bei deiner Mutter vorbeischauen.»
Er hatte Gunnar gebeten, ihn daran zu erinnern, aber im Stillen gehofft, dass er es vielleicht vergessen würde. Seine Klamotten rochen nach Bratkartoffeln, er war verschwitzt und mit den Gedanken eigentlich ganz woanders, aber er hatte sich heute Morgen vorgenommen, sie zu besuchen. Es war nicht der Weg, den er scheute, ihr kleines Atelier war im selben Kellergeschoss wie die Küche, eigentlich nur ein paar Schritte weiter rechts am Ende des Ganges. Es war die Begegnung, die er zu vermeiden suchte.
Er wusste, seine Mutter war seit einiger Zeit in Behandlung, und er wusste auch, dass er ihr noch längere Zeit aus dem Weg gehen würde. Sie war so leer, so blass, so weit weg von allem, was ihm wichtig war. Ihr langes, volles, nahezu schwarzes Haar war früher einmal ihr Stolz gewesen, eine Augenweide, doch vor zehn Monaten hatte sie es sich abgeschnitten. Sie hatte den dicken Zopf mit einer Küchenschere abgetrennt und in den Mülleimer geworfen. Er war dabei gewesen. Sie hatte vorher geweint und geflucht, und er hatte sie nicht daran gehindert, es zu tun. Und seit diesem Moment war sie anders. Und jedes Mal, wenn er sich mit ihr auseinander setzen musste, dann drehte sich sein Innerstes nach außen. Dann wurden all die schmerzlichen Erinnerungen wieder wach, und das längst verdrängte Gefühl des Versagthabens legte sich um ihn und machte ihn für einen kurzen Moment so lahm, als flösse Wachs in seinen Adern.
Und je mehr er sich nun auf dem Weg nach oben befand, desto weiter schien sie ihn herunterziehen zu können. Sie war eine Gefahr für ihn. Er hatte Angst, ihr zu begegnen. Er schloss die Küchentür hinter sich und ging ein paar Schritte weiter rechts bis zum Ende des Ganges, weil er sie so liebte.
Die Tür zu dem kleinen Raum war angelehnt, wie meistens. Seine Mutter litt ein wenig unter Platzangst, was allerdings angesichts der bescheidenen Ausmaße ihres Arbeitszimmers nur verständlich war. Er lauschte. Keine Nähmaschine brummte, keine Dampfpresse zischte, es war ruhig. Fokke spähte hinein, ob seine Mutter überhaupt da war.
Sie telefonierte. Vornübergeneigt hatte sie den Hörer fest an ihr Ohr gepresst, die Hände wirkten verkrampft. Er konnte sie zwar nur von hinten sehen, aber er erkannte schon an ihrer Haltung, dass sie heute keinen guten Tag hatte. Mal wieder.
«Bitte, Doktor Gronewoldt, Sie müssen es irgendwie möglich machen, auf die Insel zu kommen», hörte er sie flehen, der panische Unterton, der sich bereits in ihre Stimme eingeschlichen hatte, versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft. «Es geht einfach nicht mehr, hören Sie? … Ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Es ist etwas Schreckliches passiert, o mein Gott, wenn Sie wüssten, wie schrecklich … Von mir aus mit dem Flieger, selbstverständlich, mein Mann zahlt das. Hauptsache, Sie lassen mich hier nicht einfach vor die Hunde gehen … Ja, morgen, okay, danke, vielen, vielen Dank, Doktor Gronewoldt. Sie müssen mir einfach helfen, ich kann nicht mehr.»
Kaum hatte sie den Telefonhörer aufgelegt, da sah Fokke, wie ihre Schultern zuckten, und er wusste, dass sie wieder einmal weinte. Es versetzte ihm einen Stich, diese Art, wie sie ihren Therapeuten angefleht hatte, tat weh. Dr. Gronewoldt war der einzige Mensch, mit dem sie überhaupt noch sprach. Er hatte sich wahrscheinlich schon eine goldene Nase an seiner Mutter verdient.
Man hatte ihm im Hotel bereits ein eigenes Zimmer eingerichtet, da er oft über Nacht bleiben musste, wenn sie wieder eine besonders schlimme Phase hatte. Depressionen, Phobien, Neurosen, was es auch war. Fokke war froh, dass es diesen Seelendoktor gab, auch wenn er eigentlich nicht besonders viel auf diese Zunft gab. Sein Stiefvater zahlte einen Haufen Geld für Flüge, Schiffsfahrten, Honorare und Unterkunft. Mit Sicherheit fiel es dem alten Geizkragen nicht leicht, dies zu tun, doch alles war besser, als sich von Hilke Felten-Cromminga in das tiefe Loch ziehen zu lassen, in dem sie saß. Und obwohl Fokke den Mann seiner Mutter nicht mochte, er konnte ihn gut verstehen. Auch er würde sicher einen großen Teil seines jämmerlichen Kochgehaltes darin investieren, dass sie ihn in Ruhe ließ. Dass solche Sätze wie «Ich hab doch mein Möglichstes getan, um dir unter die Arme zu greifen, und du hast alles vermasselt» weiterhin ungesagt blieben.
Er beobachtete sie noch eine Weile, wie sie heulend am Nähtisch saß. Mit einem Mal sprang sie auf und fuhr herum, ihre Augen waren nicht leer. Nicht so, wie er es in den letzten Jahren von ihr kannte. Ihre Augen waren funkelnd, lebendig, schimmernd von Tränen zwar, aber voller Energie. Sie ergriff einen wuchtigen Stoffballen und schleuderte ihn über den Tisch; das zarte Schnittpapier zerriss unter dem schweren Wurfgeschoss, eine Schale mit silbernen Nadeln fiel vom Tisch, und die spitzen Metallstifte verteilten sich über den ganzen Boden. Fokke hatte sich rechtzeitig hinter den Türrahmen zurückziehen können, sie hatte ihn nicht gesehen. Aber er hatte sie gesehen, diese Kraft, diese verzweifelte Wut, die er seiner Mutter nie zugetraut hätte.
«Ihr Schweine», brüllte sie, es schien irgendwie aus ihr herauszubrechen. Im selben Moment sank sie wieder in sich zusammen, wurde klein, grau und still, wie die Hilke, zu der sie in den letzten Jahren geworden war. Fokke wurde kalt, als er sie sah, und es wurde ihm bewusst, wie wenig er sie kannte. Er drehte sich um und ging zurück. Er wollte sich von ihr nicht den freien Nachmittag versauen lassen.
Im Lastenaufzug, der ihn zum Personaltrakt unterm Dach bringen sollte, lehnte er sich gegen die graue Wand und holte tief Luft. «Lasst mich doch alle in Ruhe», zischte er.
Im Erdgeschoss öffnete sich die Schiebetür und Mareike, das Mädchen von der Rezeption, schob sich hinein, sank sofort mit dem Rücken an der Wand in die Knie und verbarg ihren Kopf in den Armen.
«Ronja ist tot», heulte sie. Fokke hielt den Atem an. Er wollte nachfragen, aber Mareike war in Tränen aufgelöst, schluchzte und jammerte, er kam nicht zu Wort. Er strich ihr über den Kopf und beschloss, sich so zu geben, als habe er es schon gewusst.
«Scheiße, hätte das Arschloch, das sie umgelegt hat, nicht noch eine Woche warten können?» Wieder schüttelte sie sich vor Weinkrämpfen. «Jetzt soll ich den ganzen Mist übernehmen, verstehst du? Die denkt sich diesen Schwachsinn aus mit diesen verdammten ‹Sanddorntagen›, und dann macht sie sich einfach so davon, und ich kann ihren Job gleich mitmachen. Das schaffe ich nie!»
Der Fahrstuhl hielt an, er half ihr auf und gab ihr sein Taschentuch. Sie schnäuzte sich und verzog dann das Gesicht. «Das stinkt nach Bratkartoffeln», sagte sie, drückte ihm den Stofflappen wütend in die Hand und schob sich durch die Tür, kaum dass sie geöffnet war. Fokke schaute der verheulten, schlaksigen Mareike hinterher, wie sie auf ihren Stöckelschuhen und in dem ziemlich knappen Rock in ihr Zimmer stolperte.
Dann ging er langsam in seine Bude, verriegelte die Tür hinter sich und atmete tief durch.
Ronja war ermordet worden.
Dies war schrecklich genug. Doch das wahre Grauen, welches ihm leise die Klauen auf die Schulter legte, bereitete ihm der Gedanken an seine Mutter.
«Ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Es ist etwas Schreckliches passiert, o mein Gott, wenn Sie wüssten, wie schrecklich», hatte sie am Telefon gesagt. Und er ahnte, dass seine schlimmsten Befürchtungen, seine grauenhaftesten Vorahnungen vielleicht schon eingetroffen waren.
«Wir halten alle die Luft an in Erwartung auf das kommende Wochenende. Wenn die wirklich wichtigen Leute der deutschen Spitzengastronomie erst einmal Wind davon bekommen, wie vielseitig die Sanddornbeere unsere Küche bereichern kann, dann wird unser kleines Hotel hier auf Juist bundesweit einen unvergesslichen Namen in den höchsten Kreisen erlangen.»
Wortgewandt und weltvergessen dozierte der schlanke Herr im hochwertigen Sport-Outfit nun schon, seit Wencke und Meint das Hotel betreten hatten und in sein Direktorenzimmer geführt worden waren. Er hätte eigentlich gerade vorgehabt, auf dem Platz hinterm Haus Tennis zu spielen, doch diese Dinge könnten auch warten, und er wäre gern bereit, ihnen das Hotel zu zeigen und so weiter. Sie hatten sich ihm vorgestellt und auch, dass sie von der Mordkommission waren, hatten sie ihm gesagt. Irgendwie schien er es nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Er erinnerte Wencke an den Fasan, den sie in den Dünen vor dem Hotel beobachtet hatte: stolz und eitel durch seine Welt schreitend, aber lächerliche Laute von sich gebend.
Leider konnte Wencke nichts dagegen tun: Sie mochte diesen Thore Felten nicht. Mit Sicherheit wurde er als attraktiver Mann in den besten Jahren gehandelt, doch sie kam nicht darüber hinweg, dass er irgendwie nach Kopfschmerzen aussah. Er war zwar sportlich gebräunt, und in seinen Augen blitzte ab und zu etwas Jungenhaftes, doch die tiefen Falten um seinen Mund herum bezeugten, dass er nicht allzu oft lachte.
«Nachdem wir nun die Standardzimmer und die Juniorsuite gesehen haben, freue ich mich, Ihnen unsere Hochzeitsräume zeigen zu können.» Felten öffnete mit großer Geste eine Doppelflügeltür, und sie betraten ein riesiges, lichtdurchflutetes Zimmer, in dessen Mitte ein pompöses Himmelbett stand. Auf dem Baldachin war eine goldfarbene Kompassrose gestickt, und die gegenüberliegende Wand war eigentlich eher ein einziges Fenster, das ein großformatiges Panorama auf den Strand freigab. «Schauen Sie, Sie genießen hier den auf der Insel einzigartigen Seeblick zu beiden Seiten, denn wenn wir die Galerie nach oben gehen, können wir von dort das Wattenmeer überblicken. Nur meine Frau und ich haben eine vergleichbare Aussicht in unserer Wohnung. Ist es nicht phantastisch?»
«Was kostet es?», fragte Meint.
«Nun, es ist nur noch bis Samstag frei, dann wird hier der niedersächsische Landesvater mit seiner Frau residieren. Ich habe heute Morgen das erfreuliche Fax mit seiner Zusage bekommen, dass er uns an den Sanddorntagen beehren wird.»
«Wir werden nicht hier wohnen, ich frage nur, weil ich mir absolut nicht vorstellen kann, was so etwas kostet.»
Felten lächelte ein wenig pikiert. «Hundertachtzig.»
Meint nickte.
«Pro Person, versteht sich.»
Meint nickte wieder.
Für einen kurzen Moment herrschte betretenes Schweigen. Es war das erste Mal, dass der Hoteldirektor seine Klappe hielt. Nun räusperte er sich. «Was kann ich denn nun für Sie tun? Bitte, setzen wir uns doch.»
Meint und Wencke setzten sich auf eine wohl antike, ziemlich aufwendig geblümte Chaiselongue, die sich am Fußende des riesigen Bettes ausbreitete. Thore Felten nahm ihnen gegenüber auf einer Art Frisierhocker Platz, seitlich von ihm war ein monumentaler Spiegel mit beweglichen Seitenflügeln. Hier mochte sich die glückliche Braut vor und nach Vollzug der Ehe das Haar richten. Nun spiegelte sich der Hoteldirektor darin, Wencke sah Felten von hinten, Felten von links und von rechts und dank des oberen Spiegelflügels auch aus der Vogelperspektive. Dies war ein ziemlich merkwürdiger Raum für ein Ermittlungsgespräch. Normalerweise saß man in einem Büro, einer Küche oder in der guten Stube. In einer Flitterwochensuite hatte sie noch nie eine Todesnachricht überbringen müssen.
«Nun, wie bereits gesagt, dies ist mein Kollege Meint Britzke, mein Name ist Wencke Tydmers, wir kommen von der Polizeidienststelle Aurich, genau genommen von der Mordkommission.»
Tatsächlich zeigte Felten endlich mal eine Regung: Er zog die Augenbrauen hoch.
«Heute Morgen ist in den Dünen unweit Ihres Hotels eine junge Frau tot aufgefunden worden. Unter den gegebenen Umständen gehen wir davon aus, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben ist.»
Felten verschränkte die Arme und legte die Beine übereinander.
«Was wollen Sie damit sagen: unweit meines Hotels? Ich bin mir sicher, in diesem Haus hat niemand etwas damit zu tun. Ich kenne alle meine Angestellten und würde für jeden meine Hand ins Feuer legen.»