Inselfrühling - Sandra Lüpkes - E-Book

Inselfrühling E-Book

Sandra Lüpkes

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Beschreibung

Frühlingsgefühle bei Windstärke zwölf In Jannikes charmantem Inselhotel beginnt die Saison: Im Frühling soll für die ersten Gäste alles blitzen und strahlen und besonders einladend sein. Denn etwas ist anders in diesem Jahr: Jannike ist hochschwanger. Sie und Mattheusz erwarten Zwillinge! Die Freude ist riesig. Doch Zeit und Muße, die letzten Wochen Zweisamkeit zu genießen, haben die beiden nicht. Denn als es wegen heftiger Frühlingsstürme zu dramatischen Dünenabbrüchen am Leuchtturm kommt, gerät Jannikes geliebtes Zuhause in Gefahr. Manch einer fühlt sich sogar an den alten Fluch erinnert, der vor fast zweihundert Jahren das Ende der Insel prophezeit hat. Ob Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog oder Wangerooge – an dieser von Sandra Lüpkes so liebevoll beschriebenen Insel kommen Urlauber nicht mehr vorbei. Band 4 der erfolgreichen Inselreihe bietet wieder perfekte Strandlektüre.

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Seitenzahl: 387

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Sandra Lüpkes

Inselfrühling

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Frühlingsgefühle bei Windstärke zwölf

 

In Jannikes charmantem Inselhotel beginnt die Saison: Im Frühling soll für die ersten Gäste alles blitzen und strahlen und besonders einladend sein. Denn etwas ist anders in diesem Jahr: Jannike ist hochschwanger. Sie und Mattheusz erwarten Zwillinge! Die Freude ist riesig. Doch Zeit und Muße, die letzten Wochen Zweisamkeit zu genießen, haben die beiden nicht. Denn als es wegen heftiger Frühlingsstürme zu dramatischen Dünenabbrüchen am Leuchtturm kommt, gerät Jannikes geliebtes Zuhause in Gefahr. Manch einer fühlt sich sogar an den alten Fluch erinnert, der vor fast zweihundert Jahren das Ende der Insel prophezeit hat.

 

Über Sandra Lüpkes

Sandra Lüpkes kennt sich an der Nordsee und auf den Inseln bestens aus: Die Autorin ist auf Juist aufgewachsen und war viele Jahre selbst Gastgeberin für Nordseeurlauber. Mit ihren zwei Töchtern und dem Schriftsteller und Drehbuchautor Jürgen Kehrer wohnt sie seit einigen Jahren in Münster. Zahlreiche Romane, Sachbücher, Drehbücher und Erzählungen hat Sandra Lüpkes bereits veröffentlicht. Dies ist der 4. Band ihrer erfolgreichen Inselhotel-Reihe.

 

«Sandra Lüpkes kann es – und sie kann es gut!» (Caren Miosga, Kulturjournal, NDR Fernsehen)

 

«Typisch für Lüpkes sind sinnesgewaltige Beschreibungen, so plastisch, dass man gleich mitten im Geschehen ist.» (Westdeutsche Allgemeine)

 

«Sandra Lüpkes ist ein Multitalent. Das stellt sie eindrucksvoll unter Beweis.» (Nordwest-Zeitung)

 

Mehr zur Autorin unter www.sandraluepkes.de und auf Facebook.

Auf dieser Insel lastet ein Fluch. Auch wenn sie so friedlich erscheint mit ihren sanften Dünen, in deren Tälern hübsche rote Häuschen stehen: Die Insulaner haben große Schuld auf sich geladen in der Nacht der grässlichen Frühjahrsflut anno 1825. Getrieben von maßloser Gier, schickten sie zwanzig tapfere Seeleute in den nassen Tod. Deren Seelen lauern nun ruhelos am Grunde der Nordsee, um Rache zu üben an diesem gottlosen Volk. So hat es der Kapitän der elend gesunkenen Gebecca mit seinem letzten Atem zu mir gesagt: «Wir werden das Land zum Meer machen, kein Stein wird mehr auf dem anderen sein, und sterben sollen alle, die da leben auf diesem gottverdammten Eiland.»

Einzig das Leuchtfeuer kann das Eiland vor dem Untergang bewahren. Gewiss steht der Turm auf der Hellen Düne, um Sühne zu leisten. Möge sein Licht viele Jahre strahlen und den Schiffen auf hoher See den Weg in den rechten Hafen weisen. Doch sollte es jemals erlöschen und die Küste mehr als sieben Nächte im Dunkeln lassen, so bricht der Fluch sich Bahn und wird die Insel zerstören.

Goldene Münzen, silberne Münzen, kupferne Münzen fielen vom wolkenlosen Himmel, verfingen sich in Jannikes komplizierter Hochsteckfrisur oder schlüpften ihr frech ins Dekolleté.

«Soll ich’s rausholen?», bot Mattheusz an und näherte sich auf unverschämte Weise ihrem Ausschnitt, was ihm einen sanften Hieb auf die Finger einbrachte.

«Da musst du dir schon bessere Tricks einfallen lassen!»

Sie standen vor der Kirche, um sie herum ein Meer aus bonbonfarbenen Hüten auf wassergewellten Häuptern und knalligen Seidenkrawatten auf weißen Hemden. Die Taschentücher, mit denen gerade Freudentränen getrocknet worden waren, wurden eben wieder zurück in die Hand- oder Hosentaschen gesteckt, als ein erneuter Geldregen auf Jannike und Mattheusz niederprasselte. Vereinzelt waren auch Euro- und Centstücke dabei, doch Złoty und Groszy waren eindeutig in der Überzahl. Kein Wunder, schließlich handelte es sich um einen einheimischen Brauch, dem frischvermählten Paar Geld zuzuwerfen, und sie befanden sich auf polnischem Boden. Denn Jannike hatte ihr kleines Hotel verlassen, ihre geliebte Insel in der Nordsee, um das Land, in dem Mattheusz aufgewachsen war, besser kennenzulernen.

Und in Żukowo lief eben alles ein bisschen anders. Statt mit Sekt würden die Gäste gleich mit Wodka anstoßen, eigens für den großen Tag gebrannt und in Flaschen gefüllt, auf deren Etiketten Jannike & Mattheusz stand. Eine Trauung im kleinen, familiären Rahmen war in einem Sechstausendseelendorf am östlichen Rand der Kaschubischen Schweiz schlichtweg unmöglich, selbst wenn Jannike das unter den gegebenen Umständen besser gefallen hätte.

Sie versuchte, sich zu bücken, leider ohne nennenswertes Ergebnis. Zum einen war das weiße Kleid nicht gerade für sportliche Einsätze geschneidert worden, zum anderen störte diese Kugel, rund wie ein Globus, schwer wie mit nassem Sand gefüllt. Jannike hatte das Gefühl, wenn sie sich nur einen Zentimeter weiter nach unten beugte, würde sie platzen. Wie soll das erst in zwei Monaten sein?, überlegte sie, denn ungefähr so lange würde sie damit noch herumlaufen müssen.

«Das gilt nicht!», beschwerte sie sich lachend. «Mattheusz ist so was von im Vorteil!»

«Pech gehabt!», rief Lucyna, die nun offiziell ihre Schwägerin war, und warf erneut eine Handvoll polnisches Kleingeld in die Luft. «Bei diesem Brauch gibt es keine Sonderbehandlung für Schwangere.»

«Na dann!» Jannike löste die Klammern aus ihrem Haar und breitete den daran befestigten Schleier aus wie Sterntaler einst ihr Nachthemd. Eine gute Idee, denn der nächste Münzwurf ging deutlich zu ihren Gunsten aus.

«Das ist gegen die Regeln!» Mattheusz versuchte, ihr das selbstgebastelte Fangnetz zu entreißen, doch sie war schneller, zog ihren Mann zu sich heran und küsste ihn auf den Mund. Der Jubel um sie herum übertönte die Glocke, die im Fachwerkturm der kleinen Dorfkirche bimmelte.

Am lautesten freute sich natürlich Trauzeuge Danni, Jannikes liebster Wegbegleiter, der an diesem Tag viel aufgeregter zu sein schien als bei seiner eigenen Hochzeit vor anderthalb Jahren, bei der er dem Inselbürgermeister Siebelt Freese das Jawort gegeben hatte. «Ist das schön!», rief er, und da er sowieso immer zum Überschwang neigte, fügte er noch hinzu: «Ihr seid mit Abstand das hübscheste Paar der Welt!» Danni war immerhin Experte auf dem Gebiet. Alles, was hier und heute hübsch oder sogar schön aussah, ging auf sein Konto: Die knallbunten Ranunkelsträuße in den Händen der Gäste und auf dem Altar zum Beispiel oder der opulent geschmückte Oldtimer, der schon an der Straße wartete. Jetzt juchzte er: «Jannike, du siehst so süß aus.» Klar fand er das, schließlich hatte er sie höchstpersönlich zum Dorffriseur begleitet, damit dieser etwas Festliches aus ihrem unscheinbaren dunkelblonden Haar zauberte. Nie hatte Jannike mehr Haarspray eingeatmet als heute. Die in mühevoller Kleinarbeit ondulierten Locken klebten noch immer bombenfest, auch nachdem sie die restlichen Haarnadeln entfernt und den Schleier beiseitegelegt hatte.

Neben Danni standen mit überglücklichen Gesichtern Schwiegermutter Bogdana und Oma Maria. Beide hatten sich in Schale geschmissen. Bogdana trug normalerweise mit Stolz und Würde ihren bequemen, dunkelblauen Zimmermädchenkittel, auf dessen Brust das Logo vom Hotel am Leuchtturm prangte, und ehrlich gesagt stand ihr der auch wesentlich besser als das himbeerfarbene Kostüm, in das sie sich gequetscht hatte. Trotz des beseelten Lächelns wirkte sie, als müsse sie die ganze Zeit die Luft anhalten. Oma Maria, die viel kleiner und drahtiger war, trug eine alte Tracht, die in dieser Gegend wohl eine besondere Bedeutung hatte. Das weinrote Schürzenkleid mit den weißen Pumpärmeln war aufwendig bestickt und stand ihr ausgezeichnet. Angeblich hatte sie darin sogar selbst geheiratet, vor mehr als fünfzig Jahren. Erstaunlich, dass es noch immer wie angegossen passte. Damals mochte sie blond gewesen sein, heute hatte Oma Maria ihr zauseliges Weißhaar unter einer kostbaren Samthaube versteckt. Wenn Jannike richtig sah, klebte an einer vorwitzigen Strähne noch etwas Mehl. Kein Wunder, seit einer Woche war Oma Maria mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, hatte Berge von Speisen gekocht, gebacken, gebraten oder frittiert, um die mehr als hundert Gäste satt zu bekommen, die gleich ins Haus der Familie Pajak strömen würden.

Nein, Mattheuszs Familie bewohnte keinen Palast, sondern eine recht bescheidene Doppelhaushälfte mit vier Zimmern. Doch sie hatten eine gastfreundliche Nachbarschaft, die ihre Räumlichkeiten ebenfalls zur Verfügung stellte. Die dreiköpfige Band spielte im Wohnzimmer der Familie Krawczyk, Getränke gab es in der Küche der Familie Wróbel, die Geschenke türmten sich im Kinderzimmer der Familie Nowak – und die Waschräume konnte man praktischerweise einfach überall benutzen. Jannikes Schwiegervater Boris war zudem kreativ geworden und hatte alle Häuser durch ein riesiges, mit Holzboden ausgelegtes Festzelt miteinander verbunden. Vielleicht nicht gerade optimal im kalten Februar, doch glücklicherweise regnete es nicht, und ansonsten musste man sich eben mit Essen, Trinken, Tanzen und Lachen warm halten. Manche Dinge, die auf den ersten Blick kompliziert erschienen, wurden in diesem Dorf einfach weggefeiert. Heizpilze waren zwar ein ökologisches Desaster, doch auf diesem Ohr war Boris Pajak taub: «Jeszcze się taki nie urodził, co by wszystkim dogodził», hatte er auf eine entsprechende Anmerkung bloß vor sich hin gebrummelt. Laut Mattheusz bedeutete das sinngemäß, man müsse eben hin und wieder Kompromisse eingehen. Und wenn in der Familie Pajak geheiratet wird, dann hat die Sonne gefälligst zu scheinen, selbst wenn die Energie dazu aus der Steckdose kommt. Jannike war so glücklich, in ihrer Mitte gelandet zu sein. Am liebsten hätte sie ihren Mattheusz geschnappt und sich mit ihm endlos im Kreis gedreht, um all diese liebgewonnenen Gesichter gleichzeitig anzulächeln. Jeder sollte hautnah mitbekommen, wie wunderbar sich dieser Moment gerade anfühlte.

Mattheusz bremste sie natürlich aus. «Übertreib es nicht!» Dann streichelte er ihren Bauch. «Was, wenn die beiden dadrin eine – wie sagt ihr? – Drehschlange kriegen?»

«Drehwurm!» Wahrscheinlich hatte er recht, zur Zeit fühlte Jannike sich einfach so sauwohl, dass sie dazu neigte, ständig Vollgas zu geben. Selbst wenn sie im siebten Monat war. Mit Zwillingen, toll, oder? Ein Junge und ein Mädchen – welch ein Geschenk! So viel Geld konnten die Verwandten und Freunde gar nicht in die glasklare Winterluft werfen, dass es dieses Wunder auch nur annähernd aufwiegen würde.

Alle waren aus dem Häuschen gewesen, als der Gynäkologe letzten Herbst die doppelte Freudenbotschaft verkündet hatte. Na ja, fast alle. Es gab einen, auf dessen Stirn sich Sorgenfalten zeigten, als Jannike ihn damals angerufen hatte. Wirklich, sie hatte ihn gar nicht extra sehen müssen, sie hatte es an der Stimme erkannt, über mehr als dreihundert Kilometer Entfernung hinweg. «Zwillinge! In deinem Alter! Und bei deinem Job!» Auch jetzt war er der Einzige weit und breit, dessen Mundwinkel nicht nach oben zeigten. Zum Glück auch nicht nach unten, also war Jannike schon mal erleichtert. Heinrich Loog, der ein paar Meter abseits neben einer haushohen, gekrönten Marienskulptur stand, trug immerhin eine neutrale Miene zur Schau. Das war besser als erwartet.

Jannike löste sich aus dem Pulk der ausgelassenen Hochzeitsgäste, trat zu ihm und hauchte ihrem Vater ein Küsschen auf die Wange. Das Rasierwasser, das schon in Jannikes Kindheit dasselbe gewesen war, stieg herb in ihre Nase. Erinnerte sie nur ganz entfernt an Moos in Irland, sondern eher an gemähten Rasen in Bergisch Gladbach; an eine Hollywoodschaukel neben einem Bungalow; an ihre Mutter, die zufrieden damit war, in der Nachbarschaft für ihren Marmorkuchen gelobt zu werden. Das erste Mal an diesem Tag wurde Jannike ein klein wenig traurig.

«Alles klar?», fragte sie, obwohl das doch eigentlich eine Frage war, die der Brautvater seiner frischvermählten Tochter stellen sollte. «Schade, dass Mama nicht mehr dabei sein kann.»

Er nickte. Dass er darauf eingehen würde, war nicht zu erwarten. Sein Witwerdasein, das nun schon mehr als zwanzig Jahre währte, war nichts, worüber Heinrich Loog gern sprach. «Hab ich dich eigentlich schon von Steffen gegrüßt?», fragte er stattdessen.

«Ja, hast du.»

«Er hat jetzt eine Professur an der Uni. Und die Praxis ist immer voll.»

«Dann läuft es ja richtig gut für ihn.»

«Übrigens ist er noch immer nicht verheiratet.»

«Tja, aber ich bin es inzwischen.» Jannike hoffte, damit einen Vortrag über Prof. Dr. Steffen Eckmann erfolgreich abgewendet zu haben. Heute war nicht der richtige Tag, um über Exfreunde zu sprechen. Auch wenn sie noch so erfolgreich und solo und der Traum eines jeden Schwiegervaters waren.

«Du hättest auch bei uns heiraten können», wechselte ihr Vater nun ungeschickt das Thema. «Im La Trinité, der Koch hat drei Sterne, und ich kenne den Souschef persönlich.»

«Warte ab, bis du Oma Marias kurczak dla zakochanych gekostet hast, das Hähnchen für Verliebte stellt alles, was du je gegessen hast, in den Schatten.»

«Aber der Saal dort wäre auf jeden Fall beheizt.»

«Papa.»

«Aber zu Hause …», machte er weiter.

«Zuhause ist für mich sowieso die Insel. Wo du übrigens noch nie gewesen bist.»

«Was ist eigentlich aus der schönen alten Tradition geworden, dass der Brautvater die Feier zu zahlen hat? Ich hätte mich nicht lumpen lassen, bei meinem einzigen Kind.»

«Das weiß ich. Und das ist auch lieb von dir. Aber mir war es wichtig, Mattheuszs Familie kennenzulernen.»

Die Cousins zum Beispiel, mit denen Mattheusz in den nahegelegenen Badeseen Steineditschen geübt und angeblich einen Rekord von mehr als zwanzig Hüpfern aufgestellt hatte. Außerdem hatten Mattheusz und sie sich in seiner alten Schule auf die Holzstühle gesetzt und waren anschließend die weiße Küste der Danziger Bucht entlangspaziert, wo Jannike sogar einen Bernstein gefunden hatte. Die Trauung, vollzogen von einem uralten Pater, der bereits Mattheusz das Taufwasser über die Babystirn geträufelt hatte, war nun der krönende Abschluss, bevor sie als frischgebackenes Ehepaar endlich wieder auf die Insel und ins Hotel zurückkehren würden. Rechtzeitig zum Saisonstart, in sechs Wochen begannen die Osterferien. Und nicht nur das: In sechs Wochen würden sie vielleicht schon Eltern sein. Zwillinge kamen oft ein paar Wochen zu früh. Und ihre beiden waren nicht gerade Zwerge, hatte der letzte Ultraschall verraten. Die Zeit lief ab. Und wenn die Zwillinge erst einmal auf der Welt waren, würde es deutlich anstrengender werden als jetzt, wo der doppelte Nachwuchs es sich in ihrem Bauch bequem machte und automatisch rund um die Uhr versorgt wurde. Noch trug sie allein die Verantwortung. Bald würden es viele tun. Jannike schob den Gedanken zur Seite. Er machte ihr ein bisschen Angst. Auch wenn das wahrscheinlich völlig unnötig war, schließlich stand ein wunderbar funktionierendes Team hinter ihr, sie würden die Kinder schon schaukeln.

«Ich muss auf einer Ausziehcouch schlafen», nörgelte ihr Vater weiter. «In Bergisch Gladbach hätte ich alle First Class im Schlosshotel unterbringen können.»

«In Polen gilt es als unhöflich, die Gäste in einem Hotel übernachten zu lassen.»

«Höflichkeit hin oder her, bequemer wäre es schon gewesen. Auch für dich.»

«Mach dir um mich keine Gedanken, meine Schwiegereltern haben ihr Ehebett für uns geräumt.» Jannikes Vater verzog das Gesicht, als hätte sie ihm gebeichtet, dass sie sich in ihrer Hochzeitsnacht auf den blanken Fliesenboden legen werde. Oder in den Hühnerstall. «Ehrlich, es macht mir nichts aus. Ich fühle mich wohl. Und ich wünschte, du würdest dich auch wohlfühlen, Papa.»

Er schaffte ein Lächeln. Immerhin verstand er sich mit Mattheusz, das war sowieso das Wichtigste. Vorgestern hatten die beiden zusammen Fußball geguckt und zur selben Mannschaft gehalten. Spätestens beim Sieg schien das Eis gebrochen zu sein. Da hatte Heinrich Loog seinem Schwiegersohn auch endlich das Du angeboten, Jannike hatte schon befürchtet, er werde damit bis zur Silberhochzeit warten.

«Es ist nur alles so fremd hier», sagte er schließlich. «Von der Predigt habe ich zum Beispiel kein Wort verstanden.»

«Wir bekommen noch eine deutsche Übersetzung. Aber ich bin mir sicher, es ging um Liebe.»

Damit ließ er sich jedoch nicht besänftigen. «Und die Sache mit dem Geld. Was soll das? Warum bewerfen die euch nicht mit Rosen oder meinetwegen auch mit Reis, wie es üblich ist?»

«In Polen sagt man, wer am meisten Geld einsammelt, der hat später in der Ehe das Sagen.»

Jannike sah ihrem Vater an, dass ihm ein Kommentar auf der Zunge lag, wahrscheinlich nichts Nettes, sondern irgendetwas, in dem die Begriffe Geld, Komfort und Prof. Dr. Steffen Eckmann vorkamen. Welch ein Segen, es blieb unausgesprochen, denn ein energisches Hupen erlöste Jannike.

«Wir wollen los!», rief Danni, der am Steuer saß, die Scheibe heruntergedreht hatte und sich offensichtlich darauf freute, den Chauffeur zu spielen. Das hellblaue Auto hatte er in der Garage eines Onkels aufgestöbert, irgendeine polnische Marke, die seit den Siebzigern nicht mehr gebaut wurde und die im polierten Zustand den Charme eines besseren Trabbis verströmte, aufgetakelt mit Blumengebinden, Fähnchen und allerhand Schmuck. Und wieder sorgte ein Geruch dafür, dass Jannike kurz in die Kindheit reiste, an lange Autofahrten in Papas Mercedes dachte. Sie hatte die Rückbank und die von der Hitze ganz klebrigen Gummibärchen für sich allein und brauchte sich nicht anzuschnallen. Aber ihr war sterbenslangweilig gewesen, blödes Einzelkindschicksal, mit einem Bruder oder einer Schwester hätte man sich wenigstens ein paar Stunden zanken können. Und dann diese Übelkeit, in erster Linie auf den Genuss von zu vielen Gummibärchen zurückzuführen, aber auch auf den Gestank der zugestopften Autobahnen. Katalysatorfreie Abgase, genau das war es, wonach ihr Hochzeitsauto roch. Seit Jannike schwanger war, funktionierte ihre Nase außerordentlich gut.

Mattheusz kam zu ihr, nahm sie bei der Hand, sie winkten den Gästen und liefen zum Wagen. Das Einsteigen war mühsam, schon auf der Hinfahrt hatten sie sich entschieden, dass Jannike nicht neben ihrem Bräutigam, sondern besser auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte. In der Reihe dahinter wäre sie bei ihrem Leibesumfang vielleicht bis zur Niederkunft zwischen den hellbeigen Kunstledersitzen eingeklemmt gewesen.

Danni, der sich kurz in das fremde Schaltsystem einfinden musste und dann einen prächtigen Kavalierstart hinlegte, musterte sie von der Seite. «Das war doch eine zu Herzen gehende Zeremonie», fand er und fasste kurz nach ihrer Hand.

Jannike spürte den neuen Ring an ihrem Finger, er war schlicht, nicht zu schmal und aus Weißgold. Ob sie ihn wirklich bis ans Ende ihrer Tage tragen würde? Ganz bestimmt, schließlich hatten sie es sich ja eben versprochen. Mit Mattheusz und ihr war es nicht immer einfach gewesen, inzwischen kannten sie gegenseitig ihre Macken und konnten sich darauf einstellen, dass der eine nun mal schüchtern und wortkarg und die andere manchmal etwas zu forsch war. Bestimmt würde das noch oft zu Missverständnissen führen, aber Jannike war optimistisch, dass sie, egal was passierte, immer wieder zueinanderfänden. Besonders durch die Zwillinge, die waren doch ein Statement: Wir gehören zusammen, sind eine Familie, uns bringt so leicht nichts ins Wanken. Schwierigkeiten sind dazu da, gemeinsam bewältigt zu werden, lautete das Motto der Familie Pajak, zu der Jannike nun zählte, auch wenn sie ihren alten Namen behalten hatte. Zumindest vorerst, denn Jannike und Mattheusz hatten sich auf einen Deal eingelassen: Die Kinder sollten die Entscheidung fällen, welcher Name in Zukunft auf dem Türschild stehen würde. Wenn der Junge als Erster auf die Welt kam, würden sie alle Pajak heißen, wäre es das Mädchen, dann Loog.

«Machst du dir Sorgen?», fragte Danni, dem nicht entging, dass die Braut gerade ins Grübeln geraten war. «Denkst du etwa an dein schnuckeliges Hotel? Keine Sorge, Siebelt und ich haben alles in bester Ordnung hinterlassen. Wenn ihr zurückkommt, brauchst du dich um nichts zu kümmern. Sämtliche Belegungspläne sind in den Computer eingegeben, und die ersten Gäste kommen Mitte März. Ein Ehepaar, ziemlich wichtige Leute, sie schreiben für ein Reisemagazin. Natürlich dürfen die beiden dann die neue Suite einweihen.»

Jannike lächelte. Vor einigen Monaten hatte Danni noch überlegt, aus dem Hotel auszusteigen, weil er sich mehr um seinen Pflegesohn kümmern wollte. Doch dieses Schreckensszenario war nicht eingetreten. Der Junge hatte sich nach einigen Startschwierigkeiten gut eingelebt und war froh, nicht ständig betüdelt zu werden. Also konnte Danni all seine im Übermaß vorhandene Energie in die Renovierungsarbeiten investieren, die nach dem Brand im letzten Herbst nötig gewesen waren. Und natürlich hatte er nicht irgendein stinknormales Doppelzimmer mit Dusche und WC eingerichtet, sondern ein Luxusrefugium geschaffen. Quasi die Präsidentensuite des kleinen Inselhotels, nur dass sie in Ermangelung eines zu erwartenden Präsidenten Bürgermeistersuite getauft worden war. Ein kleiner Gag, den Danni sich seinem Liebsten zu Ehren nicht verkneifen konnte.

«Ich kann es kaum erwarten, bis du alles siehst», seufzte er und bog mit Bedacht auf die Hauptstraße. Hinter ihnen reihten sich die Autos der Hochzeitsgäste ein. Bei diesem gemächlichen Tempo waren sie bis zum Haus der Familie Pajak bestimmt zehn Minuten unterwegs. Durch das Gehupe wusste man dann auch im Nachbardorf Bescheid, dass heute Abend in Żukowo eine Party stattfand. «Es war eine gute Entscheidung, echte Schiffsdielen zu verlegen. Der Kontrast zur Natursteinwand ist der Hammer! Insbesondere durch die indirekte Beleuchtung …» Aha, Danni war bei seinem Lieblingsthema angekommen. Da konnte man prima abschalten. Während der Chauffeur also von einer Sprudelbadewanne schwärmte und zu beschreiben versuchte, wie bequem man in einem Boxspringbett schlief, schloss Jannike die Augen. Wahrscheinlich dachte Danni, sie würde sich die phänomenalen Veränderungen im kleinen Inselhotel bildhaft vorstellen. Doch in Wirklichkeit ging ihr etwas anderes durch den Kopf: Jannike überlegte, was ihr Vater wohl gerade machte. Saß er in seinem silbergrauen Mercedes SLC und drückte ebenfalls ordentlich auf die Hupe, damit die ganze Welt erfuhr, dass seine Tochter einen wundervollen Mann geheiratet hatte und furchtbar glücklich war? Vermutlich nicht. Jannike wünschte, diese Wahrheit würde nicht so wehtun. Natürlich kannte sie ihren Vater. Er war keine Emotionsbombe wie Danni, aber wer war das schon? Heinrich Loog hatte bis vor einigen Monaten als Kieferorthopäde in seiner eigenen Praxis in Bergisch Gladbach gestanden, und was er da in den Mündern zahlreicher Teenager bewerkstelligt hatte, war ihm wohl auch zum Lebensprinzip geworden: Die Dinge hatten gerade zu stehen, und wenn etwas oder jemand aus der Reihe tanzte, so gab es irgendwo eine Schraube, die angezogen werden konnte, damit alles wieder akkurat passte. Die Begegnung mit der Familie Pajak mochte ein Kulturschock für ihn sein. Denn hier war nichts perfekt.

«Was ist los?», fragte Mattheusz besorgt von der Rückbank.

Jannike öffnete die Augen und musste ein paar Tränen wegblinzeln. «Geht schon.»

«Freudentränen?»

«Klar.»

Doch das nahm er ihr natürlich nicht ab, kein Wunder, sie waren seit fast zwei Jahren ein Paar, und er hatte im Grunde schon von Anfang an jede ihrer Stimmungen deuten können. «Willst du dich kurz hinlegen?»

«Ausgerechnet jetzt, wenn die Gäste kommen? Auf keinen Fall!»

«Das würde dir niemand übelnehmen, schließlich bist du schwanger.» Mattheusz war ein Schatz. Man konnte sich auf ihn verlassen. Auf ihn und seine Familie, hundertprozentig.

Doch dann kamen sie an, fuhren auf den aufgeplatzten Asphalt der schmalen Garageneinfahrt und hielten vor dem rostigen Tor. Natürlich hatte Jannike auch schon vorher bemerkt, dass in der Dachrinne das Moos wucherte, es hatte sie jedoch nie gestört. Es war, als würde sie plötzlich alles durch eine Brille betrachten, die ihr gestochen scharf zeigte, wie provisorisch und armselig das Haus ihrer Schwiegereltern in Wirklichkeit war. Sie ahnte, wer ihr diese Sehhilfe aufgesetzt hatte: natürlich ihr perfekter Herr Vater.

«Wir sind da!» Mattheusz sprang aus dem Auto und hielt die Beifahrertür auf. Das Gentlemangehabe stand ihrem Liebsten eigentlich ganz gut. Jannike brauchte eine Weile, bis sie ausgestiegen war – das Kleid und der Bauch und die weichen Knie eben … Inzwischen hatte sich ein Großteil der Hochzeitsgesellschaft als Begrüßungskomitee versammelt, einige hielten bereits Gläser in der Hand, Schwiegervater Boris verteilte den ersten Wodka, von drinnen war Musik zu hören. Bogdana hielt ihnen auf einem Tablett das obligatorische Brot entgegen. Darauf war Jannike vorbereitet: Sie mussten jeder eine dicke Scheibe mit Salz essen, damit es in ihrer Ehe nie daran mangeln würde. Ein schöner Brauch. In den hohen Lindenbäumen, die die brüchige Straße säumten, baumelten tausende Papierherzen. Jannikes frischangetrauter Ehemann reichte galant seinen Arm und küsste ihre Nasenspitze. «Du weißt schon, dass ich dich jetzt über die Schwelle tragen werde.»

«Du Ärmster. Seit du mich das letzte Mal getragen hast, habe ich locker zwölf Kilo zugenommen.»

«Keine Sorge, ich lasse euch nicht fallen!» Mattheusz legte sich ihren Arm um die Schultern und griff ihr beherzt unter die Kniekehlen, dann wuchtete er Jannike hoch und erhielt tosenden Applaus. Als seine Lippen ganz nah bei ihrem rechten Ohr waren, flüsterte er: «Ich bin unendlich glücklich!» Eine wohlige Gänsehaut überlief Jannike, sie schmiegte sich an ihren Liebsten, und obwohl Hunderte Leute um sie beide herumstanden, war es, als wären sie nur für sich.

«Ich auch», sagte Jannike. Auch wenn ihr Vater es niemals glauben würde.

Liebe geht durch den Magen. Das war einer der wichtigsten Sprüche der Welt.

Und weil er Wort für Wort stimmte, mussten sich gerade bei einer Hochzeit die Tische biegen. Jedes freie Stückchen, durch das die gute alte Damastdecke schimmerte, war eine Schande. Da hätte doch sicher noch ein Stapel placki kartoflane Platz gefunden, Oma Maria hatte schließlich über hundert dieser Kartoffelpfannkuchen gebacken. Wenn man links und rechts noch ein bisschen rückte und sortierte, würde auch die Porzellanschüssel dazwischenpassen, aus der die zupa koperkowa ihren köstlichen Dillduft verströmte.

«Boris, komm sofort her! Ich brauche noch einen Beistelltisch.»

Ihr Sohn sah aus, als hätte sie ihm befohlen, eine Brücke über die Ostsee zu bauen. «Wozu?»

«Für das Gołonka w piwie po Bawarsku natürlich.» Da sprang Boris los. Schließlich war das in Bier eingelegte Eisbein eines seiner Leibgerichte.

Oma Maria schaute sich um. Kaum zu glauben, da hatte sie sieben Tage lang in der Küche gestanden und so ziemlich jedes Gericht aus dem Kochbuch ihrer Familie zubereitet, und doch war sie nicht wirklich sicher, ob es für alle reichen würde. Gerade kamen Urszula und ihr dicker Sohn herein, die schafften schon allein einen Berg Quarkklöße. Und der alte Pfaffe, der neugierig in den Topf mit dem Kraut linste, würde sicher gern die Gelegenheit nutzen, sich nach getaner Arbeit mal so richtig den Magen vollzuschlagen, wo er doch sonst keine Frau im Haus hatte. Mochte er glauben, als Pfarrer nach dem Brautpaar die Hauptrolle zu spielen, so lag er falsch. Nein, die wichtigste Person nach Jannike und Mattheusz war sie, Maria Pajak, Großmutter des Bräutigams und Köchin aus Leidenschaft.

Oma Maria konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wie ihre Hände früher einmal ausgesehen hatten. Es gab wohl eine Zeit, in der die Haut nicht Rote-Bete-rot oder schnittlauchgrün gewesen war, aber daran hatte sie einfach keine Erinnerung mehr. Das feine Reiben der getrockneten Kartoffelstärke zwischen den Fingern gehörte genauso zu ihr wie der kräftige Geruch nach Zwiebeln, der wohl schon in die Poren eingedrungen war und nie wieder verfliegen würde. Warum auch? Es roch besser als Parfüm.

Jeder hier dachte, das Kochen sei ihr in die Wiege gelegt worden. Doch ihre Eltern hatten sich eigentlich eine andere Beschäftigung für Marias Hände gewünscht. Sie waren beide stramme Kommunisten gewesen und hatten ihrer Tochter, die sie für klug hielten, einen Posten in der Verwaltung in Gdańsk zugedacht. Da hatte Maria sich beim Vorstellungsgespräch so dämlich angestellt, hatte Plus und Minus verwechselt und gleich dreimal die Bleistiftmine abgebrochen, dass der Verwaltungschef – obwohl er ein Freund der Familie gewesen war – plötzlich behauptet hatte, die Stelle als Bürofräulein sei leider schon besetzt. Maria war nun mal am glücklichsten, wenn sie in der Küche stand und es um sie herum brutzelte und dampfte. Vielleicht hätte sie in der Verwaltung Karriere gemacht, hätte einen Ortsvorsteher geheiratet oder wäre Politikergattin geworden. Doch was hätte ihr das gebracht? Macht war in Polen vergänglicher als sonst wo auf der Welt. Ihr Heimatland hatte sich seit ihrer Geburt Ende des Großen Krieges so viele Male neu erfunden, dass man gar nicht mehr hinterherkam: Land der Kommunisten, der Gewerkschafter, der Bauern und Geldsäcke, neuerdings erinnerten die Reden des Präsidenten wieder an die längt vergangene Zeit der deutschen Besatzung. Egal, denn eines war all die Jahre gleich geblieben: Die Kartoffeln schmeckten am besten, wenn sie zusammen mit dicken Rippchen und sauren Gurken als Eintopf auf den Tisch kamen.

Sie vermisste nichts. Ihr Leben hatte nach Kohlgemüse gerochen, nach Kümmel, Wurst und Bohnensuppe. Sie hatte als junge Frau in der Hafenkantine gearbeitet und den Lageristen Igor Pajak kennengelernt, ihn in ebendieser kaschubischen Tracht, die sie auch heute voller Stolz trug, geheiratet und drei Jungen zur Welt gebracht und großgezogen. Heute hatte sie so viele Enkel, dass sie sich beim besten Willen nicht alle Namen merken konnte, und seit zwei Jahren arbeitete sie in einem kleinen Hotel, welches nicht an der vertrauten Ostsee, sondern auf einer Insel in der wesentlich wilderen Nordsee lag. Die Gäste dort zahlten viel Geld für ihr Essen und mussten sich zusammenreißen, um nicht anschließend die Teller abzulecken. Das Restaurant war im Sommer jeden Abend ausgebucht – ihretwegen! Vielleicht konnte man behaupten, sie habe es auf ihre alten Tage doch noch zu etwas gebracht. Der Trick, sich immer ein bisschen unwissend zu geben, war jedenfalls zu ihrem ganz persönlichen Erfolgsrezept geworden. Sollten die anderen glauben, sie bekomme nichts mit, sei längst jenseits von Gut und Böse. Oma Maria wusste, dass sie allein mit ihren Piroggen die Weltherrschaft an sich reißen könnte, wenn sie nur wollte.

Weitere Hochzeitsgäste betraten das Festzelt. Es war eine Freude, in ihre hungrigen Gesichter zu sehen. Gerade trug ihr Enkel seine lachende Braut über die Türschwelle. Jannike war eine strahlend schöne Schwangere mit rosigen Wangen, Mattheusz hatte den wilden Lockenkopf von seinem Großvater geerbt. Was für ein Paar! Auch wenn sie irgendwie in einer verkehrten Welt lebten, weil Mattheusz in der Küche arbeitete und Jannike die Geschäfte tätigte. Wie sollte das erst werden, wenn die Zwillinge geboren waren? Es würde niemanden wundern, wenn Mattheusz sogar die Windeln wechselte. Nun ja, Hauptsache, sie waren glücklich und aßen viel.

Endlich schleppte Boris den gewünschten Tisch heran. «War nicht so einfach. Inzwischen wird jedes Möbelstück genutzt, um deine Essensberge zu präsentieren. Sogar der Wickeltisch von Nowaks Baby ist von uns beschlagnahmt worden, weil wir noch Platz für den Heringssalat brauchen. Sag mal, Mama, wer soll das alles essen?» Dabei lachte er von einem Ohr zum anderen. Wahrscheinlich weil er selbst dafür sorgen würde, dass nicht der allerletzte Krümel übrig blieb.

Die meisten hatten inzwischen Platz genommen. Es war ein Stühlescharren und Raunen, ein Kichern und Plaudern, wann waren die endlich so weit? Pjotr stimmte als Erster das Sto lat an, in das alle begeistert einstimmten: Hundert Münder oder mehr wünschten dem Brautpaar, dass es hundert Jahre leben möge. Dieses Lied würde heute sicher noch öfter gesungen werden, doch nach der ersten Strophe, so lautete die ungeschriebene Regel, durfte endlich gegessen werden. So auch heute: Kaum war die letzte Zeile verklungen, vernahm Oma Maria wohltuende Schmatzlaute. In ihren Ohren klangen die viel melodiöser als das Ständchen. Sobald die ersten Bissen genommen waren, fing sie an, sich etwas zu entspannen. Lächelnd stand sie im Türrahmen und überblickte die Gesellschaft.

«Oma Maria, du bist die Beste!», rief Jannike ihr zu, und alle klatschten. Dieser nette Satz war zwar der einzige, den ihre Schwiegerenkelin bislang fast akzentfrei auf Polnisch aussprechen konnte, doch die Verständigung zwischen ihnen beiden funktionierte auch ohne Wörterbuch ganz gut, da Jannike eine offene Frau war, der man an der Nasenspitze ablesen konnte, was sie wollte. Zum Glück hatte ihr schüchterner Enkel ein solches Exemplar erwischt. Oma Maria hatte schon befürchtet, er wolle es dem alten Dorfpfarrer nachmachen und bis ans Ende seines Lebens unverheiratet bleiben.

«Jetzt setz dich doch auch endlich mal hin und iss etwas!», forderte Mattheusz. Dabei wusste er ganz genau, dass sie hier die Verantwortung trug. Nein, sie blieb lieber stehen und sah den Menschen beim Essen zu. Außerdem musste sie gleich noch den Nachtisch zubereiten.

Töpfe wurden gereicht, Löffel zum Probieren getauscht, Messer und Gabeln, Gläser und Porzellan trafen aufeinander und sorgten für das ihr so vertraute Orchester des gesegneten Appetits. Wenn das nicht rundum glücklich machte, was sonst auf der Welt?

Doch was war das? Zwischen der rothaarigen Wanda, die sich gerade die Finger ablutschte, und dem buckligen Jakub, der schon den zweiten Nachschlag nahm, saß ein fremder Mann mit zusammengekniffenem Mund und hängenden Schultern – vor ihm ein leerer Teller! Tego już za dużo! Wer war der Mistkerl? Oma Maria quetschte sich zwischen zwei Bänken hindurch, um ihn von nahem zu betrachten. Der Mann mochte in ihrem Alter sein, er trug das Haar sehr kurz und sehr ordentlich und irgendwie seltsam. Wenn Oma Maria nicht wüsste, dass Männer sich nicht das Haar färbten, sie hätte fast geglaubt, dieser hier schmiere sich Tusche in die grauen Strähnen. Jetzt gerade reichte Bogdana, die ihm gegenübersaß, eine Schüssel Heringssalat in seine Richtung, doch er schüttelte den hellbraun gefärbten Kopf. Das war ja wohl eine Unverschämtheit! Ihren Heringssalat hatte noch niemals irgendjemand verschmäht.

Sie machte drei Schritte nach vorn und baute sich bedrohlich neben seinem Sitzplatz auf. Selbst wenn sie diesem Kerl womöglich nur bis zum Bauchnabel reichte, jetzt saß er ja, er sollte wissen, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte. «Schmeckt es nicht?»

Der Fremde schaute sie mit großen Augen an und sagte nichts.

«Oder ist nicht das Richtige dabei? Ich habe zehn verschiedene Hauptgänge gekocht, Fisch und Schwein und Huhn und Ente und Rind. Dazu noch mal so viele Beilagen, Suppen und Salate. Es kann nicht sein, dass hier jemand sitzt, ohne zu essen.»

Immer noch schwieg der Kerl. Jetzt, wo sie ihm direkt gegenüberstand, erkannte sie die Ähnlichkeit zu Jannike. Dieselben graugrünen Augen, das schmale Gesicht, der selbstbewusste Zug um den Mund. Kein Zweifel, das hier war Mattheuszs Schwiegervater.

«Wir sind immerhin ab heute miteinander verwandt. Da kann man nicht einfach das Essen stehenlassen! Ich bin schließlich die Familienälteste!»

Bogdana zupfte sie am Blusenärmel. «Oma Maria, er kann kein Polnisch.»

«Und futtern kann er auch nicht?»

«Es ist ihm wohl zu fettig.» Bogdana zog die Schultern nach oben, und ihre Mimik machte deutlich, dass sie das genauso lächerlich fand wie wahrscheinlich jeder hier im Raum. Das Essen war doch nicht fettig! Butter war nur eben ein sehr guter Geschmacksträger. Wenn man da mit dem Sparen anfing, konnte man gleich Zwieback servieren.

Dem Spaßverderber sah man doch auf den ersten Blick an, dass er lieber nörgelte und stänkerte, als es sich mal richtig gutgehen zu lassen. Typisch deutsch, könnte man denken, doch Oma Maria hatte auf der Insel so viele genussvolle Deutsche kennengelernt, dass sie sich dieses Vorurteil gleich wieder verkniff. Dennoch, Oma Maria kochte, und dieses Mal ausnahmsweise nicht am Herd. «Er soll gefälligst das Gemüse probieren!»

«Sein Magen verträgt angeblich keinen Kohl.»

«Dann schöpfe ich ihm verdammt noch mal eine Portion Barszcz in den Suppenteller.» Oma Maria entging nicht, dass der Pfaffe am Nebentisch bei ihrem Fluch zusammengezuckt war. Dieser Scheinheilige. Hatte Jesus nicht gesagt: Und nun esset und trinket miteinander … oder so ähnlich? «Da ist kein Kohl drin. Kein Fett. Nur ein klitzekleiner Klecks Sahne.» Sie nahm die große Schöpfkelle aus dem Topf, die samtige rote Suppe floss fast über den Rand. Das sah dermaßen appetitlich aus, da konnte nun wirklich kein Mensch widerstehen. Doch Jannikes Vater legte seine Hände über das Porzellan und sagte etwas. Es klang nach einer Abfuhr. Jetzt wäre Oma Maria am liebsten explodiert.

Inzwischen schien auch Jannike auf das Krisengebiet zu ihrer Linken aufmerksam geworden zu sein, jedenfalls stieß sie Mattheusz in die Seite, beide standen auf und eilten mit sorgenvollen Blicken herbei. «Was ist los?», wollte Mattheusz wissen.

«Dein Schwiegervater beleidigt mich!»

Es folgte ein kurzes Gespräch auf Deutsch, das Oma Maria nicht so recht verstehen konnte und wollte. Wahrscheinlich versuchte ihr wie immer viel zu braver, viel zu freundlicher Enkelsohn, gut Wetter zu machen. Erzählte etwas über die Bedeutung des gemeinsamen Essens in Polen und vielleicht auch über den Stolz einer Maria Pajak, die eine Woche lang in der Küche gestanden hatte und nun alles andere als erfreut war, wenn jemand an ihren Gerichten herummäkelte. Recht hatte er, aber seinem Tonfall nach zu urteilen, machte Mattheusz diesem feinen Herrn aus Deutschland nicht wirklich klar, wie kurz er davorstand, gleich einen Schwall Rote-Bete-Suppe über das piekfeine weiße Hemd zu bekommen. Noch hielt Oma Maria die Schöpfkelle in der Hand!

Auch Jannike mischte sich ein, plapperte, gestikulierte, gab ihrem Vater erst einen Kuss, um anschließend mit ihm zu schimpfen. Wie konnte ein solch vertrockneter Knochen nur eine so liebenswerte Tochter haben, fragte sich Oma Maria.

Obwohl die Musiker noch immer spielten, war inzwischen die ganze Hochzeitsgesellschaft auf den Zwischenfall aufmerksam geworden. Hunderte Augen schauten herüber in Erwartung nahenden Unheils. Immerhin lagen hier auch ein paar Messer herum. Doch dann musste es Jannike irgendwie gelungen sein, ihren Vater zur Vernunft zu bringen. Mit fast feierlicher Geste griff dieser butny strojniś nach einer Scheibe Roggenbrot – na also, ging doch –, schmierte sich eine wirklich jämmerlich dünne Schicht Heringssalat darauf und biss hinein, kaute, schluckte, tupfte sich die Mundwinkel ab und sagte für alle hörbar: «Lecker!»

Mattheusz und Jannike blickten zu ihr herüber. Was erwarteten die jetzt? Dass Oma Maria zufrieden war? Mit einem einzigen kläglichen «Lecker»?

«Oma, bitte», versuchte der Enkel sie zu besänftigen.

«Sehr lecker!», steigerte sich Jannikes Vater immerhin.

Nun, damit konnte sie es gut sein lassen. Für den Moment jedenfalls. Schließlich hielten sie mit diesem Theater die ganze Tischgesellschaft auf. Also ließ Oma Maria die Suppenkelle wieder in den Topf sinken, atmete einmal tief durch und schritt hoch erhobenen Hauptes in die Küche, denn es war Zeit für das Apfelsoufflé, für die Mohncreme und die frittierten Teilchen mit Zimt und Kompott. Als Krönung wartete die Hochzeitstorte aus Marzipan, die aber erst nach Mitternacht, wenn Jannike ihren Schleier geworfen hatte, serviert würde.

Doch bei jedem Stückchen Butter, bei jedem Löffelchen Zucker ärgerte Oma Maria sich unglaublich, weil sie sich schon vorstellen konnte, wie ihr neuer Lieblingsfeind auf all die Leckereien reagieren würde: mit angeekeltem Gesicht, mit abweisender Geste, mit diesem überheblichen, besserwisserischen Gehabe. Gut, vielleicht waren nicht alle Zutaten, die sie zum Kochen und Backen benutzte, gesund. Doch wenn man so verbiestert war, wurde man auf lange Sicht bestimmt erst richtig krank. Da hatten sie sich ja was in die Verwandtschaft geholt! Zum Glück war seine Tochter wohl eher nach ihrer verstorbenen Mutter geraten. Und Gott sei Dank – so entfuhr es ihrer atheistischen Seele – war dieser Mann normalerweise weit, weit weg. In den zwei Jahren, die Oma Maria in Jannikes Hotel arbeitete, hatte sich Herr Loog kein einziges Mal dort blicken lassen. Auf der Insel hatten sie alle ihre Ruhe und verstanden sich auch meistens ganz prima – bis auf ein paar kleine Streitigkeiten. Beispielsweise als Jannike letztes Jahr bei einem eigens für sie zubereiteten Romantikmenü die Schweinskopfsülze hatte stehenlassen. Da war Oma Maria auch sehr, sehr wütend gewesen und hatte gezweifelt, ob eine solche Person überhaupt in den Familienkreis passte. Doch letzten Endes hatte sich die Abneigung gegen Aspik mit Jannikes Schwangerschaft begründen lassen, es wurde nie wieder ein Wort darüber verloren. Ansonsten aß Jannike ja alles gern, zählte keine Kalorien und hatte sich noch nie über zu viel Butter im Gemüse beschwert. Doch, man musste es wirklich sagen, diese Frau war ein Gewinn, für Mattheusz sowieso, aber auch für Bogdana, die im Hotel die Zimmer reinigte, für Lucyna, die im Restaurant kellnerte, und für sie, Oma Maria, die nun kochen konnte, bis sie irgendwann endgültig den Löffel abgab.

Über diese ganzen Gedanken hinweg hatte sie nun bereits vier Kilo Äpfel geschält, zwanzig Eier getrennt, einen Berg Eischnee aufgeschlagen und Puderzucker und Speisestärke gemischt. Nun noch kurz den Teig angerührt, und dann konnte das Ganze in den Ofen. Oma Maria schaute zur Uhr. Oh nein, sie war ja viel zu früh dran. Die inzwischen verpuffte Wut hatte ihr Tempo beschleunigt. Doch das Soufflé durfte nicht länger als höchstens zwanzig Minuten in die Hitze, und danach musste es sofort auf die Tische gebracht werden. Zu der Zeit würden die meisten Gäste aber vielleicht noch genüsslich an ihren Eisbeinen nagen.

Was sollte sie so lange machen? Doch nicht etwa hinsetzen und Däumchen drehen, nein, dazu war sie viel zu aufgewühlt. Die Tür zum Festzelt stand ein Stück weit offen, durch den Spalt war Jannike zu sehen, die sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte. Das Unglück über den kleinen Zwischenfall war der Braut anzusehen. Schweigend hockte sie zwischen Mattheusz und Danni, bekam von den um sie herumschwirrenden Gesprächen nichts mit, nur ab und zu schaute sie verstohlen zu ihrem Vater hinüber. Oma Maria wurde das Herz schwer.

Es gab da nämlich eine kleine, fast verblasste Erinnerung an die blutjunge Maria Pajak in einer weinroten Tracht, die auf ihrer Hochzeit neben Igor Pajak saß und immer wieder die Blicke der enttäuschten Eltern auffing. Nein, sie war keine Politikergattin geworden, auch nicht die Sekretärin eines kommunistischen Ortsvorstehers, sondern hatte als Köchin einen schlichten Lagerarbeiter geheiratet. Liebe hin oder her, das war nun mal nicht die Erfüllung der elterlichen Träume gewesen. Wahrscheinlich war die eigene Hochzeit der einzige Tag im Leben der Maria Pajak gewesen, an dem sie keinen einzigen Bissen herunterbekommen hatte. Przez żołądek do serca, Liebe geht durch den Magen. Doch wenn sie mit Schwierigkeiten verbunden ist, mit Zweifeln und Enttäuschungen, dann liegt sie manchmal auch wie ein Stein im Bauch.

Jannike musste sich jetzt gerade genauso fühlen. Das hatte sie nicht gewollt! Es kam selten vor, dass Oma Maria eine sanftmütige Ader an sich entdeckte. Doch in diesem Moment bereute sie es schon ein wenig, so einen Aufstand angezettelt zu haben. Zwar hatte sie allen Grund dazu gehabt, aber vielleicht war sich Jannike nun gar nicht mehr so sicher, ob das Jawort die richtige Entscheidung gewesen war.

Es nutzte nichts, Oma Maria musste die Sache wieder geradebiegen. Der Abend war noch lang, die Nacht noch länger, wenn sie diesen Streit nicht aus der Welt räumte, würden Jannike und Mattheusz in der Hochzeitsnacht womöglich familiäre Probleme wälzen – so wie Igor und sie damals. Aber was sollte sie bloß tun? Sie musste Jannike zu verstehen geben, dass sie in der Familie Pajak willkommen war, egal wie unerhört ihr Herr Vater sich benahm. Sagen konnte man solche Sachen nicht, das wirkte so kraftlos wie panieńskie pierożki, in denen man die Hefe vergessen hatte. Man musste es zeigen.

Vom vielen Denken wurde ihr ganz warm, und sie fasste sich an den Kopf, um die Samthaube ein wenig anzuheben und das Haupthaar zu lüften – prompt kam ihr die passende Idee: Diese Kopfbedeckung war genau das richtige Geschenk! Schließlich hatte sie selbst vor mehr als einem halben Jahrhundert das Mützchen bei ihrer eigenen Hochzeit in derselben Dorfkirche getragen. Oma Maria setzte es vorsichtig ab, nahm es in die Hände und strich liebevoll darüber. So viele Erinnerungen! Wochenlang hatte sie den edlen Stoff mit bunten Fäden bestickt, das war Tradition in der kaschubischen Schweiz und wurde damals von den jungen Frauen erwartet, egal ob Köchin, Bürofräulein oder Politikergattin. Viele tausend Nadelstiche als Test, ob sie dem Leben gewachsen war – es war das erste und letzte Mal, dass sie sich mit Handarbeiten herumgequält hatte. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein aufwendiges Blütenmuster, doch hatte Oma Maria zwischen den Margeriten und Glockenblumen zwei Buchstaben eingeflochten: I und M. Igor und Maria. Und da das I sehr verschnörkelt aussah, ging es notfalls auch als ein J durch – dann könnte man in den Ornamenten auch Jannike und Mattheusz lesen. Wie wunderbar das passte!

Natürlich hätte sie das wertvolle Stück auch einer ihrer Schwiegertöchter vermachen können, doch Bogdana hatte einen viel zu runden Kopf, die andere kam aus Warszawy und wusste mit solchen Traditionen nichts anzufangen, und ihr jüngster Sohn hatte zwar vier Kinder, war aber noch immer unverheiratet. Also würde Jannike die Ehre zuteilwerden, schließlich war sie die Frau, die Oma Maria demnächst die ersten Urenkel bescherte.

Mit einem feierlichen Gefühl im Bauch eilte Oma Maria in den Gastraum. Jannike und Mattheusz fingen ihren Blick auf und wussten sofort, dass nun etwas Bedeutungsvolles passierte. Erwartungsfroh erhoben sie sich von ihren Stühlen, und Mattheusz gab den Musikern, die ohnehin gerade ein Stück beendet hatten, ein Zeichen, dass nun eine kurze Pause angesagt war. Das ließen die Männer sich nicht zweimal sagen, hastig schnallten sie Gitarre und Akkordeon ab, hatten sie doch ohnehin schon die ganze Zeit sehnsüchtig Richtung Braten geschaut.

Fast schon peinlich fand Oma Maria, dass jetzt alle still waren und sie beobachteten. Im Mittelpunkt stand sie nicht gern, das überließ sie lieber ihren Gerichten.

«Liebe Gäste», setzte Mattheusz nun an. Eigentlich war es nicht seine Art, das Wort zu erheben. Normalerweise würde das seine selbstbewusste Frau übernehmen, doch die konnte kein Polnisch. «Wir sind froh, dass ihr alle zu unserem Fest erschienen seid. Offensichtlich schmeckt es euch bereits. Und dass dies so ist, haben wir meiner Großmutter zu verdanken, der legendären Oma Maria!» Die Leute johlten. Es war wie bei einer Aufführung des Heimattheaters. Sie hätte sich am liebsten unter einem der Tische verkrochen.

Doch da das nun mal nicht möglich war, blieb sie einfach vor dem Brautpaar stehen und schaute Jannike an. «Ich möchte dir ein Geschenk machen.» Mattheusz übersetzte, Jannike strahlte und sagte etwas.

«Sie sagt, du hast uns bereits ein großes Geschenk gemacht», übersetzte Mattheusz.

«Es ist auch nur ein kleines Geschenk.» Sie streckte die Hand mit der Samthaube aus. Jannike nahm sie behutsam an sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie begann zu stammeln. Da brauchte man keinen Dolmetscher, das verstand nun wirklich jeder, trotzdem teilte Mattheusz mit: «Jannike ist total gerührt. Sie weiß, welche Bedeutung diese Haube für dich hat.»

«Dann ist es ja gut», sagte Oma Maria und wollte auf dem Absatz kehrtmachen, um endlich zu ihrem Apfelsoufflé zurückzukehren. Doch sie lief ausgerechnet dem Brautvater in die Arme, der sich in der Zwischenzeit hinter ihr aufgebaut haben musste. Um seine Mundwinkel herum war zweifelsfrei ein Hauch von Spott zu erkennen, selbst wenn er versuchte, wie ein fröhlich beschwingter Hochzeitsgast auszusehen.

Herr Loog begann seine feierliche Rede, und schnell war klar, dass Jannike ihr Talent, die Leute in ihren Bann zu ziehen, von ihm geerbt haben musste. Seine Stimme war laut, er betonte jede Silbe, wahrscheinlich sprach er auch besonders langsam, weil er dachte, dann verstünden ihn die dummen Polen besser. Und tatsächlich, mit einigen Wortbrocken konnte Oma Maria etwas anfangen:

«… meine Tochter Jannike … viel Geld … fangen.» Er machte die passenden Gesten dazu, anscheinend spielte er gerade auf den alten polnischen Brauch an, bei dem die Gäste Münzen warfen, so wie vorhin vor der Kirche. «… wer am meisten sammelt … der hat das Sagen …» Aha, die Bedeutung dieses kleinen Spielchens hatte Herr Loog also auch schon kapiert. Aber was machte er jetzt? Er griff in die Tasche seines Sakkos, holte eine dicke Geldbörse hervor und zog zwei neue, glatte lilafarbene Scheine heraus, die er für jedermann sichtbar in die Höhe hielt. So genau kannte Oma Maria sich mit dem deutschen Geld nicht aus, aber wenn sie sich nicht täuschte, waren das tausend Euro. Im Festzelt breitete sich Raunen aus: So viel Geld! Dafür konnte man wahrscheinlich zehn handbestickte Hochzeitshauben kaufen.

«… es Jannike einfach machen …» Er drückte seiner Tochter die Scheine in etwa so lieblos in die Hand, als handle es sich um eine Rolle Küchenkrepp. «… damit klar ist, du hast in Zukunft das Sagen.» Er grinste. Fand sich wohl besonders toll in diesem Moment.

Jannike wurde weißer als ihr Kleid.

Niemand sprach ein Wort.

Niemand klatschte.

Oma Maria schlich zurück in die Küche. Sie wusste nicht, wie und wann, aber es würde sich hoffentlich einmal eine Gelegenheit ergeben, es diesem Mann heimzuzahlen.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so schäbig behandelt worden zu sein.

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