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Jeder hat das Recht, sich zu trennen »Als ich meinem Mann mitgeteilt habe, dass ich ihn verlassen werde, haben wir beide eine Beratungsstelle aufgesucht. Während er mit einem ganzen Stapel Ratgeber versorgt wurde, bekam ich noch nicht einmal ein Blatt Papier in die Hand.« Wer eine Beziehung beendet, wird mit seinen Gefühlen meist ziemlich allein gelassen, alle Aufmerksamkeit wird demjenigen zuteil, der verlassen wurde. Es scheint, als verliere man mit dem Satz »Ich verlasse dich« jedes Recht auf Leiden, Mitleid oder Unterstützung – schließlich hat man es doch so gewollt. Dabei fordert schon die Phase vor dem endgültigen Aus alles von dem, der geht: den Mut zur Entscheidung, das Trennungsgespräch, das Planen des eigenen zukünftigen Lebens - ohne den Partner.
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Seitenzahl: 311
Sandra Lüpkes
Ich verlasse dich
Ein Ratgeber für den, der geht
Ratgeber
Fischer e-books
»Ich schreibe einen Ratgeber über Trennung.«
»Gibt’s doch schon Tausende.«
»Aber nicht für die Verlassenden.«
»Für wen?«
»Für diejenigen, die gehen.«
»Männer und Frauen?«
»Da mache ich keinen Unterschied.«
»Wollen die denn einen Ratgeber? Brauchen die das überhaupt?«
Ja. Denn entgegen landläufiger Meinung leiden bei einer Trennung beide Partner, die Verlassenen – aber eben auch diejenigen, die den Wunsch verspürt haben, die Beziehung zu beenden.
Dialoge wie den obigen habe ich während meiner Arbeit mehr als einmal geführt. Jedes Mal wurde mir klar, wie wenig Verständnis man sich in der Situation des Verlassenden erhoffen darf – und wie wichtig dann dieses Buch ist. Trotzdem gab es bei der Entstehung ein paar Schwierigkeiten, die vielleicht der Grund dafür sind, dass nicht schon viel eher jemand auf die Idee gekommen ist, einen solchen Ratgeber zu schreiben.
Schon allein die Tatsache, dass es gar kein richtiges Wort für die Zielgruppe gibt. Wie soll man sie nennen? Verlassende? Trenner? Der-oder-die-wo-geht? Ein Anhängsel dieser Formulierungsfrage ist auch die männliche oder weibliche Form, die man den Protagonisten dieses Sachbuchs aufdrückt. Sowohl Männer wie auch Frauen verlassen ihre Partner, und für beide sollen die nächsten Seiten Hilfestellung sein. Aber wenn ich in jedem Satz diese »Querstrich/in«-Multigeschlechtsform verwendet hätte, wäre das Buch bestimmt 30 Seiten dicker und somit auch einige Cent teurer geworden. Betrachten Sie also meine neutral gemeinte, aber durchweg männliche Schreibweise lediglich als Sparmaßnahme für Ihr Portemonnaie.
Die Tatsache, dass man Trennungsgedanken eher heimlich und verschämt nachhängt, stellt das zweite Problem dar. Dieses Buch ist keine Lektüre, welche man abends auf dem Familiensofa oder gar im Ehebett kurz vor dem Einschlafen liest. Es wird wahrscheinlich nur selten das Tageslicht erblicken und von seinen Lesern in Nischen und Ritzen versteckt werden. Trotzdem soll das Werk schon im Laden erkannt werden, der Titel und das Cover sollen ins Auge stechen und verraten, worum es geht, wenn ein beziehungsfrustrierter Kunde in der Sachbuchabteilung nach Lebenshilfe sucht. Hier gebe ich Ihnen den Tipp: Suchen Sie sich ein passendes Buch mit Schutzumschlag aus Ihrer Bibliothek – am besten über ein Thema, von dem Sie ganz genau wissen, dass Ihr Partner keinen müden Blick darauf werfen wird – und verkleiden Sie diese Seiten mit dem fremden Einband.
Richtig ernst ist Problem Nummer 3: Die Recherche. Über das Internet, verschiedene Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen habe ich Menschen gesucht, die ihren Partner verlassen haben oder überlegten, dies zu tun. Glücklicherweise gab es einige, die mir gern und bereitwillig über ihre Erfahrungen berichtet und einen vorbereiteten Fragebogen ausgefüllt haben. Die Ergebnisse dieser Umfrage tauchen im Buch an einigen Stellen als informative Prozentzahlen auf. Diese Zahlen erheben keinen Anspruch auf allgemein statistische Relevanz und basieren auf Aussagen von insgesamt 27 Freiwilligen, die ich im Zuge meiner Recherche kontaktiert habe. Alle Personen sind zwischen 25 und 55 Jahre alt und blicken auf eine langjährige Beziehung zurück, die sie vor kurzem oder schon vor langer Zeit beendet haben.
Es waren weitaus mehr Frauen als Männer (19 zu 8). Dies mag daran liegen, dass Frauen wahrscheinlich ohnehin offener über ihre Gefühle reden können, doch sicher war auch ein Grund, dass ich selbst eine Frau bin. Denn im sehr aktiven Getümmel der Trennungsgeschädigten scheint es ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen das andere Geschlecht zu geben. Natürlich hätte ich mich auf dem Online-Forum auch unter einem männlichen Pseudonym einschmuggeln können, aber wenn man Menschen dazu bewegen möchte, ihre oft schmerzhafte Geschichte zu erzählen, sind derlei Tricks wenig vertrauenswürdig. Aus diesem Grund finden sich auch bei den hier erwähnten Fallbeispielen mehr Frauen- als Männerschicksale. Und wirklich nur aus diesem Grund.
Die wahren Geschichten, die thematisch passend in die jeweiligen Kapitel eingearbeitet wurden, sind nicht unbedingt spektakulär, sondern vielmehr authentisch. Sie sollen einfach zeigen: Sie sind nicht der einzige Mensch auf der Welt, der mit diesen Zweifeln und Ängsten, mit dem Gewissen und der Wut zu kämpfen hat. Und alle, die jetzt davon berichten können, scheinen es ja überlebt zu haben.
Ich übrigens auch.
Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich selbst einen Rat gebraucht hätte. Nach elf Jahren Ehe gelangte ich an einen Wendepunkt, hatte aber keine Ahnung, wie ich das alles durchstehen sollte. Als ich die letzten Zeilen schrieb, war ich bereits eine Weile geschieden und einiger Illusionen beraubt, dafür reicher an Erfahrung.
Wenn ich behaupten würde, ich hätte meine eigene Trennung gut gemeistert, dann müsste ich lügen. Aber wenn meine persönliche Geschichte – zusammen mit Expertenmeinungen und den Erfahrungsberichten anderer – nun ein Buch ergibt, welches Menschen in ähnlicher Situation Hilfestellung leisten kann, dann war sie die Fehler und Tiefschläge wert.
Dieses Buch gliedert sich in drei Teile, in das DAVOR, das MITTENDRIN und das DANACH. Es braucht nicht zwangsläufig in einem Rutsch gelesen werden, sondern kann auch immer gerade dann interessant sein, wenn Sie an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter wissen, Orientierungshilfe oder Mut zum Durchhalten brauchen.
Ich wünsche Ihnen, dass die Trennung für Sie nicht nur ein Ende, sondern auch ein Neubeginn wird, weil Sie sich dabei von einer ganz neuen Seite kennenlernen können.
Sandra Lüpkes
Von: Dir An: Jemanden, der es gut mit dir meint
Betreff: Schluss machen!?
Ich habe die Nase voll. Bis hierher und nicht weiter. Ich mache Schluss!
Was sagst du dazu? Sei ehrlich!
Betreff: Re: Schluss machen!?
Ehrlich? Das war ich schon immer, und ich habe dir bereits tausendmal geraten, dich zu trennen. Eure Beziehung ist schon lange nicht mehr das, was man zum Glücklichsein braucht. Ihr passt eigentlich gar nicht zusammen. Ich habe mich immer gewundert, warum du nicht schon viel eher auf die Idee gekommen bist, endlich eigene Wege zu gehen.
Betreff: Re: Re: Schluss machen!?
Du hast ja recht, ich erinnere mich, dass du immer wieder nachgebohrt hast. Was mit mir los sei. Warum ich so schlecht gelaunt wäre. Ob es an meiner Partnerschaft liege. Und ich habe immer gelächelt und geschworen, es sei nichts, es sei alles super, alles okay. Im Grunde habe ich das ja lange Zeit auch tatsächlich geglaubt. Tja, Selbstschutz wahrscheinlich. Außenstehende haben immer den absoluten Durchblick, aber wenn man wie ich mittendrin steckt … Aber jetzt sehe ich klarer!
Betreff: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Und warum fragst du mich dann, was ich davon halte? Klingt ja nicht gerade nach hundertprozentiger Sicherheit.
Betreff: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Mist! Ich habe eine Heidenangst.
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Angst? Wovor?
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Dass nach der Trennung alles aus ist.
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Das ist doch der Sinn einer Trennung, oder nicht?
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Du bist witzig. Ich meine nicht nur die Liebe. Es geht doch um so viel mehr. Es geht auf gut Deutsch ums Eingemachte, um alles, was bisher mein Leben bedeutet hat. Um mein Zuhause, um die Familie, um das liebe Geld, um meinen guten Ruf … du lachst wahrscheinlich darüber und denkst, ich male den Teufel an die Wand. Aber was ist, wenn ich mich irre und die Trennung sich im Nachhinein als großer Fehler herausstellt? Dann stehe ich mit nichts da, habe alles verloren und bin unglücklicher als vorher.
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Schluss machen!?
Klar, was du verlierst, ist immer konkreter als das, was du gewinnen wirst. Aber mach dir nichts vor: So wie es jetzt ist, kann es auch nicht bleiben. Also solltest du es darauf ankommen lassen. Garantie gibt dir da keiner.
Doch ich denke schon, dass du bereits im Vorfeld einiges dafür tun kannst, eine Trennung in richtige, sinnvolle Bahnen zu lenken. Stelle dich deinen Ängsten, schaffe dir die innere Sicherheit, warum du es tun willst, und denke daran: Jeder hat das Recht, sich zu trennen!
Klingt so einfach in ein paar Worten. Bedeutet aber viel Arbeit. Also los!
Nicht viel im Leben ist so schmerzhaft wie eine Trennung.
Dabei ist es im Grunde irrelevant, ob man verlässt oder verlassen wird, denn das Ende einer langjährigen Partnerschaft bedeutet für beide das Scheitern eines bisher gültigen Lebensentwurfes. Nichts wird mehr sein, wie es war – das klingt gleichzeitig nach Herausforderung und Warnung.
Es bedeutet schließlich: Man lässt nicht nur die Dinge hinter sich, die man nicht mehr ertragen konnte, sondern auch liebgewonnene Gewohnheiten, Sicherheit, die vertraute Umgebung, das eingespielte Miteinander.
Nie wieder wird der andere einem im Winter vor dem Einschlafen die Füße wärmen, nie wieder wird man Heiligabend gemeinsam Kartoffelsalat mit Würstchen essen, nie wieder bei der Fahrt in den Urlaub zusammen mit den Kindern »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielen.
Nie wieder ist unendlich lang. Selbst wenn inzwischen die Beziehung – aus welchen Gründen auch immer – unzumutbar erscheint, es kostet Überwindung, deswegen alles andere hinzuschmeißen.
55 % sagen, die Zeit, bevor sie sich zur Trennung entschlossen haben, hat am meisten Kraft gekostet
Fast jeder, der eine Trennung erlebt und herbeigeführt hat, sagt hinterher: Diese Phase vor dem konkreten Aus hat mich am meisten Kraft gekostet. Als ich mich so kompromisslos gegen alles aussprechen musste, nur weil ich erkannt habe, dass ich den einen Faktor – den Partner – nicht mehr an meiner Seite haben möchte.
Wolfram ist ein netter Kerl, der weiß, was er will, der gut aussieht, dessen Leben dank seiner engzusammenhaltenden Familie und steilansteigenden Berufslaufbahn bisher reibungslos vonstatten gegangen ist. Er ist 23 und leitet gemeinsam mit dem Vater eine wirtschaftlich relevante Leuchtstoffröhrenfabrik.
Bei einem Geschäftsessen trifft er Monika – und ist hin und weg. Zwar hat Wolfram schon immer viel von Frauen gehalten – er bewundert seine Mutter, er schwärmt für attraktive Blondinen, er hat den Ruf eines wunderbaren Liebhabers –, aber so etwas wie Monika hat er noch nie gesehen. Sie ist erst 19, steht aber als Lagerverwalterin in einem Logistikunternehmen bereits ihren Mann.
»Sie war so stark. Ganz und gar stolz in ihrer Erscheinung. Ich habe sie direkt auf einen Sockel gestellt und angehimmelt. Nur ein knappes Jahr später war Monika meine Frau. Nicht nur, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits schwanger war, das kam nur noch verstärkend dazu, ich hätte sie auch sonst vom Fleck weg geheiratet. Sie war die Liebe meines Lebens, ich war verrückt nach ihr und sie nach mir. In allen Bereichen gaben wir ein wunderbares Team ab. Besonders im Bett.«
Ronny wird geboren und nach Strich und Faden verwöhnt, sowohl von den jungen Eltern wie auch von den stolzen Großeltern, mit denen das Paar sich ein Haus teilt. Damit Monika, die großen Wert auf Selbständigkeit legt, nicht als Hausfrau und Mutter versauert, bekommt sie einen Büroposten in der firmeneigenen Exportverwaltung. Schon immer waren Verantwortung füreinander und absolute Zuverlässigkeit die unerschütterlichen Stützpfeiler in Wolframs Familie.
Die Firma wirft Profit ab, und mit 26 kann Wolfram seiner kleinen Familie schon ein schmuckes Eigenheim bauen. So plätschert das Leben einige Jahre dahin. Kleine finanzielle Engpässe und geschäftliche Probleme hat man immer irgendwie in den Griff bekommen, gemeinsam, versteht sich. Man kann sich einiges leisten: nette Autos, zweimal im Jahr in den Urlaub fahren, fröhliche Feiern im großen Freundeskreis.
Acht Jahre nach Ronny kommt Pia auf die Welt. Jetzt sind sie zu viert und eine klassische Bilderbuchfamilie. Wenn Wolfram zu diesem Zeitpunkt gefragt wird, wie es ihm geht, antwortet er geradewegs, er sei der glücklichste Mann auf der Welt.
Das Leben ist wie ein großes Gemälde, und beide Partner stehen im Mittelpunkt, eingerahmt von allem, was ihnen wichtig ist: die Kinder, das Haus, die Erinnerungen, der geplante Urlaub, die Kredite, der Alltag, die Routine, der Freundeskreis, die warmen Füße unter der Decke … Es ist ein sehr buntes Bild.
Doch nun möchte der eine den anderen aus diesem Leben ausradieren. Was bleibt? Eine große, leere Stelle. Und alle Dinge scheinen auf einmal am falschen Platz zu sein, wirken asymmetrisch und instabil.
Das Gesamtbild ist unwiederbringlich zerstört. Den ehemaligen Partnern bleibt nichts anderes übrig, als jeder für sich einen neuen Entwurf zu kreieren. Man weiß nicht, wie er aussehen wird. Zuerst wird man sich allein auf einer großen weißen Fläche befinden. Welche bunten Dinge sich dann irgendwann wieder um einen herum versammeln, lässt sich beim besten Willen nicht voraussehen.
Die Kinder, die Familie und ein Teil der Freunde werden sicher wieder mit von der Partie sein. Aber wahrscheinlich an ganz anderer Stelle, denn auch das Verhältnis zu den engsten Vertrauten wird sich neu ergeben müssen, wird eine neue Form oder eine andere Einfärbung bekommen. Schließlich wirft die Trennung auch Fragen auf, die nicht nur unmittelbar die Beziehung zum Partner betreffen. Man beginnt, in der eigenen Kindheit nach Gründen und Erklärungen zu suchen. Es wird an der Tauglichkeit als Elternteil gezweifelt, den Freunden misstraut – und manches Mal nicht zu Unrecht.
So etwas macht Angst. Man forscht nach Alternativen, die es einem entweder ermöglichen, den Trennungsentschluss zu revidieren, oder so etwas wie eine Garantie geben, dass die Entscheidung sich als hundertprozentig richtig erweisen wird.
Diese Suche kann nur vergeblich sein.
Es gibt zu viele Unbekannte, um eine Nummer-sicher-Sache daraus zu machen. Man kann überhaupt nicht wissen, wie der Partner reagieren wird. Vielleicht mutiert die lammfromme Gattin, wenn sie verletzt wird und verzweifelt ist, auf einmal zur rachsüchtigen Intrigantin mit kriminellem Potenzial. Ebenso kam schon mancher prügelnde Ehemann plötzlich reumütig zu Kreuze gekrochen, um mit leisen, liebevollen Gesten die Trennung zu verhindern.
Zudem ist auch nicht abzuschätzen, wie man selbst durch die Sache kommt. Eventuell hält man das alles nicht aus, wird krank und schwach, ist auf Hilfe angewiesen. Es ist aber ebenso gut möglich, dass man viel stärker ist, als man es jemals vermutet hat. Oder beides auf einmal. Oder abwechselnd. Oder etwas ganz anderes.
Fest steht nur: Nichts wird mehr sein, wie es war.
Eine ermutigende Erkenntnis ist jedoch: Die meisten Menschen kämpfen zwar in dieser »Vorher«-Phase mit massiven Sorgen und Zweifeln, sie fühlen sich schlecht, schwach und am Ende. Sie haben Angst davor, hinterher als halbe Portion dazustehen. Einige Monate nach vollzogener Trennung fühlen sich jedoch die meisten Verlassenden stärker, an Erfahrung reicher und »endlich ganz«.
Der Berliner Psychologe und Autor Dietmar Stiemerling [1]hat sich in seiner langjährigen Tätigkeit als Therapeut mit chronisch gestörten Zweierbeziehungen befasst. Er trifft in der Beratung nicht nur auf Menschen, denen er zur Klärung ihrer gemeinsamen Probleme verhelfen will, sondern auch auf Paare, die es trotz destruktiver Beziehung nicht schaffen, sich zu trennen.
Jeder kennt wahrscheinlich diese unglücklichen Zweierkonstellationen, wo man kopfschüttelnd daneben steht und denkt: »Warum sind die denn überhaupt noch zusammen?« Doch die Betroffenen scheinen nichts von ihrem eigenen Unglück mitzubekommen. Dietmar Stiemerling berät solche Paare, und er hält die Beendigung einer unglücklichen Beziehung für unabdingbar, er fordert sie geradezu: »Wenn die Summe an Leid und Elend die wenigen Befriedigungsmomente bei weitem überschreitet, ist eine Aufrechterhaltung der Partnerschaft moralisch nicht mehr zu rechtfertigen.« Da dreht sich alles um 180 Grad. Da macht der Beziehungsexperte die Trennung, die sonst als egoistisch verpönt ist, auf einmal zum moralischen Muss.
• Schon lange hungern Sie nach wahrer Nähe, nach Zärtlichkeit und der Sicherheit, sich auf den anderen hundertprozentig verlassen zu können. Es muss nicht heißen, dass Sie sich nicht in den Arm nehmen oder Sex haben. Doch die Berührungen fühlen sich leer und mechanisch an. Die Kommunikation ist gestört, Gespräche finden nur noch oberflächlich statt. Manchmal missversteht man sich absichtlich, und es kommt Ihnen vor, als redeten Sie in verschiedenen Sprachen.
Sie fühlen sich zu zweit allein.
• Die Nähe des Partners ist Ihnen unangenehm. Wenn er verreist ist oder am Abend später kommt, fühlen Sie sich viel wohler, weil Sie endlich einmal Ihre Ruhe haben. Gemeinsame Urlaube und Wochenenden bedeuten für Sie im Grunde genommen mehr Stress als Erholung. Das meiste, was Ihr Partner sagt, halten Sie für belanglos und uninteressant. Körperliche Zuwendung gehört zum Pflichtprogramm. Manches Mal hassen Sie Ihren Partner regelrecht für seine Bedürfnisse und fühlen sich ausgenutzt, obwohl Sie sich im Klaren darüber sind, dass Sex eigentlich dazugehört und Sie Ihrem Partner etwas Wichtiges vorenthalten, wenn Sie sich verweigern.
Sie fühlen sich bedrängt.
• Ständig gibt es Streit, immer wird für alles Mögliche ein Schuldiger gesucht, meist geht es um dieselben Sachen, Kleinigkeiten à la Zahnpastatube. Und hinter all dem lautstarken Theater verbirgt sich ein nicht ausgetragener Konflikt, der aber nie wirklich zur Sprache kommt. Die Zankereien führen zu keiner Lösung, und statt sich hinterher – wie nach einem nötigen Gewitter – gelöst und frei zu fühlen, zermürbt der ewige Kleinkrieg, macht Sie vielleicht sogar krank.
Sie fühlen sich wie auf einem Schlachtfeld.
• Es kann auch sein, dass Sie resigniert haben. Da das nur oberflächliche Austragen der Konflikte zu keiner Lösung, sondern nur zu Kopfschmerzen, Tränen und Erschöpfung führt, haben Sie es aufgegeben und die Ohren auf Durchzug gestellt. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass diese »Scheiß-egal-Haltung« auf alles andere übergreift und Ihnen nach und nach das ganze Leben gleichgültig wird. Abgestumpftheit, Unempfindlichkeit, Gefühlskälte machen sich breit. Ihre Welt ist grau, das wahre Leben findet woanders statt – ohne Sie. Davon wird über kurz oder lang ihr ganzes Umfeld – also auch Kinder, Freunde und letzten Endes Sie selbst – betroffen sein.
Sie fühlen sich wie abgestorben.
• Ihr Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt, Sie zweifeln sogar an Ihrer Lebenstüchtigkeit. Ohne Ihren Partner sind Sie ein Nichts. Es gelingt Ihnen nicht, die Anerkennung Ihres Partners zu gewinnen, immer machen Sie alles verkehrt. Obwohl Sie ahnen, dass dieses Minderwertigkeitsgefühl gar nichts mit Ihnen, sondern vielmehr mit Ihrem Verhältnis zu tun hat, trauen Sie dieser Intuition nicht. Die Argumente Ihres Partners scheinen stets überzeugender und fundierter. Sie geben ihm recht, ja, natürlich ist es Quatsch, sich in seiner Gegenwart mickrig zu fühlen, ist es nicht offensichtlich, dass er alles für Sie tut? Die Schuldgefühle, die sich wegen Ihrer unterschwelligen Vorwürfe einschleichen, machen Sie noch kleiner. Und noch abhängiger vom Zuspruch Ihres Partners. Irgendwann sind Sie selbst gar nicht mehr da.
Sie fühlen nichts mehr.
Diese Grundprobleme – Entfremdung, Ablehnung, Aggression, Resignation, ungesunde Abhängigkeit, Misstrauen, Lähmung – treten in den verschiedensten Variationen auf und haben tausend Ursachen.
Und das Fatale ist: Sie werden vom Partner meistens gar nicht wahrgenommen. Entweder hat er andere Vorstellungen und Ansprüche, oder es geht ihm genau mit diesen Problemen eigentlich ganz gut. Nicht selten rührt das daher, dass die alten Beziehungsmuster früher einmal funktioniert haben, sich dann aber einer von beiden verändert und neue Ansichten gewonnen hat. Das ist nicht schlimm, sondern im Laufe einer langjährigen Beziehung ganz normal. Niemand wird seinem Partner allen Ernstes das Recht absprechen, sich weiterentwickeln zu dürfen. Nur das Ergebnis, dass dadurch alles bisher so gut Funktionierende aus den Fugen geraten kann, ist natürlich bitter. Und dann fällt auf einmal dieser Satz: »Wir haben uns auseinandergelebt.« Davon abgesehen, dass der Ausdruck überstrapaziert wird, ist er ziemlich passend, denn er verdeutlicht, dass hinter allem keine Absicht, kein böser Plan, sondern nur das Leben selbst steckt.
Wolframs Lebensglück gerät ins Wanken, als er Angela wiedersieht. Seine Jugendliebe aus Teenagerzeiten, der er seine ersten intimen Erfahrungen verdankt und die noch immer eine gefährliche Mischung aus Verrücktheit und Weiblichkeit ausstrahlt. Sie erinnert ihn an diese tiefen Gefühle, die man hat, wenn man unvernünftig ist und einfach nicht widerstehen kann. Wolfram ist eigentlich zufrieden mit seiner Ehe, er liebt Monika und hat nicht vor, sie zu betrügen. Aber er wird sich bewusst, dass es zwischen ihm und seiner Frau diese abgründigen Emotionen nicht gibt. Der Gedanke macht ihm ein schlechtes Gewissen, deswegen verschweigt Wolfram das Wiedersehen und auch die weiteren Treffen mit Angela. Gerade noch rechtzeitig zieht er dann doch den Schlussstrich. Er ist froh, die Sache hinter sich gebracht zu haben und seiner Frau noch ins Gesicht sehen zu können. Doch er irrt sich.
Vier Wochen später erfährt er von Angelas Selbstmord. Es haut ihn komplett um. Nicht nur, dass er sich Vorwürfe macht, die Frau im falschen Moment von sich gewiesen zu haben, das ist es nicht allein. Es wird ihm auf einmal bewusst, wie oberflächlich seine kleine heile Welt doch ist, in der er sich so sorgenfrei all die Jahre bewegt hat. Wolfram beginnt sich zu verändern, er wird grüblerisch, er hinterfragt den Sinn seines Lebens.
Natürlich bleibt Monika diese 180-Grad-Wendung ihres Mannes, mit dem sie immerhin schon seit mehr als zehn Jahren verheiratet ist, nicht verborgen. Als ihr eine Bekannte erzählt, dass Wolfram mit dieser »verrückten Selbstmörderin« gesehen worden war, bastelt sich Monika eine eigene Wahrheit zusammen.
»Als sie mir auf den Kopf zusagte, ich hätte sie mit Angela betrogen, konnte ich nur schwach widersprechen. Denn obwohl es zwischen mir und meiner Jugendliebe zu keinerlei Sex gekommen ist, hatte ich Monika schon irgendwie hintergangen, indem ich ihr nichts von meinen neu entdeckten Sehnsüchten und beängstigenden Zweifeln erzählt habe. Ich habe mich darauf beschränkt, den Seitensprung abzustreiten, doch von meiner Trauer und meinen Schuldgefühlen habe ich kein Wort erwähnt. Es war also nicht verwunderlich, dass Monika die ganze Sache mehr als suspekt erschien. Wer weiß, hätte ich damals den Mut gehabt, mich ihr ganz zu öffnen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen.«
Doch Wolfram schweigt, und die Ehe beginnt nach dieser Geschichte an Festigkeit zu verlieren. Obwohl das Thema irgendwann vom Tisch ist, bleibt etwas Ungutes zurück. Monika wird unzufrieden. Als die kleine Pia in die Schule kommt, will Monika eine Boutique in der Einkaufspassage einer Nachbarstadt eröffnen. Dieser Wunsch nach Eigenständigkeit sprengt den festen Rahmen des gutfunktionierenden Familiengefüges. Wolframs Eltern haben Bedenken, halten diesen Schritt für unnötig und riskant, schließlich habe Monika doch ihren perfekten Job in der sicheren Firma und sie mache ihre Sache gut, worüber alle glücklich seien. Doch Wolfram unterstützt seine Frau und kann die Sippe überreden, die Veränderung mit gemeinsamen Kräften zu meistern. Die Einrichtung und Ausstattung des kleinen Modeladens wird aus der Firmenkasse vorfinanziert, die Kinder sind reihum in der Familie bestens versorgt, und damit Monika an den Wochenenden etwas Zeit für Privates hat, bezahlt Wolfram noch eine Aushilfskraft für den Samstag.
»Ich habe wirklich mein Bestes gegeben, auch wenn ich mich manchmal heimlich geärgert habe, wenn sie so viel Zeit in ihrem Laden verbrachte, statt bei mir und den Kindern zu sein. Am meisten wurmte es mich, wenn sie von den jungen Modevertretern sprach, von denen sie bei den Einkaufsgesprächen immer zum Essen eingeladen wurde. Das war mir alles so fremd, obwohl ich ja selbst Geschäftsmann bin und diese Gepflogenheiten kenne. Doch meine Frau Monika inmitten von blutjungen Schnöseln, das mochte ich mir nicht vorstellen. Ich hätte mich selbst ohrfeigen können für diese alberne Eifersucht und versuchte, mein Misstrauen zu verstecken und mit besonders liebevoller Zuwendung dem unguten Gefühl entgegenzuwirken.«
Aber die Rosen und Geschenke scheinen nichts zu bewirken, Monika wird immer unnahbarer, verweigert sich sogar im Bett, was bislang noch nie geschehen war und bei Wolfram die Alarmglocken schrillen lässt. Er bucht eine Reise nach Venedig, doch ausgerechnet während der romantischen Gondelfahrt klingelt Monikas Handy und ihre bislang so gelangweilte Miene erhellt sich schlagartig, während sie mit einem Olaf telefoniert. Später erläutert sie mit auffälliger Beiläufigkeit, das sei ein Verkäufer aus dem Handyshop in derselben Passage neben ihrer Boutique.
Jetzt wird Wolfram alles klar. Er stellt Monika zur Rede, doch es ist zwecklos, sie hüllt sich in beleidigtes Schweigen, spielt lediglich auf seine angebliche Affäre mit Angela an. Beide reisen früher aus Italien ab. Zu Hause fährt Wolfram gleich in die Firma, um sich mit angeblich liegengebliebener Arbeit abzulenken. Er bleibt drei Tage im Büro, schläft auf der Besprechungscouch und meldet sich nicht ein einziges Mal bei Monika. Als er am dritten Abend völlig übermüdet endlich wieder die Haustür aufschließt, findet er seine verweinte Frau im abgedunkelten Wohnzimmer. Ohne dass er noch einmal nachfragen muss, beichtet sie ihm, dass sie mit eben diesem besagten Handyverkäufer Olaf eine kleine Mittagspausenaffäre begonnen hat. Wenn sie angeblich die Schaufensterdeko einkaufen ging, wenn Wolfram sie auf einer Modemesse wähnte, wenn sie ihre alte Schulfreundin besuchte, ist Monika in Wirklichkeit bei diesem Mann gewesen, hat mit ihm stundenlange Gespräche geführt über alles, was sie bewegt, hat die ungewohnte Nähe genossen und … ja, auch mit ihm geschlafen. Das Geständnis dauert keine Viertelstunde, danach dreht sich alles um Wolfram, ihm wird speiübel, in der Toilette bricht er weinend zusammen.
»Es tat so weh, ich dachte wirklich, ich müsste sterben. Meine Frau ist mit einem anderen Mann zusammengewesen. Dass sie mit ihm über Dinge gesprochen hat, die sie mir nach zwölf gemeinsamen Ehejahren lieber verschwieg, machte mir komischerweise nicht so viel aus. Aber dass sie sich ihm hingegeben hatte, warf mich völlig aus der Bahn.«
Monika schwört, die Sache mit Olaf hätte mit Liebe nichts zu tun gehabt, sie sei nur passiert, weil sie noch immer so verletzt sei wegen der Geschichte mit Angela. Ein tiefes Misstrauen wird offengelegt: Monika hat schon immer daran gezweifelt, dass ihr gutaussehender, erfolgreicher Mann auf Geschäftsreisen oder bei sonstigen Gelegenheiten wirklich alle Avancen ausschlägt. Deswegen hätte sie sich bei dem anderen Mann die Bestätigung geholt, dass sie es auch könne, wenn sie nur wolle.
Neben den mehr oder weniger offensichtlichen Indizien, dass in der Partnerschaft etwas aus dem Ruder läuft, muss man auch versteckte Zeichen für die eigene Unzufriedenheit erkennen. Das klingt einfacher, als es ist, denn nur wenige Menschen können sich selbst einfach so eingestehen, dass sie die Gegenwart des ehemals so Geliebten nicht mehr ertragen können. Und selbst wenn eine oder mehrere der im vorigen Kapitel aufgezählten Beschreibungen zutreffen, muss es noch lange nicht so sein, dass man bereit ist, sich die Frustration einzugestehen. Deswegen entwickeln die meisten mit Hilfe der Psychosomatik unbewusste »Methoden«, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Allgemeinmedizinern, Kurärzten und Orthopäden begegnen die vielfältigsten Symptome, die wie gewöhnliche Krankheiten daherkommen, in Wirklichkeit aber von den Patienten regelrecht »gebraucht« werden, um Probleme in der Partnerschaft zu umgehen. Infektionen, Hautentzündungen, Rückenschmerzen, Migräneattacken, Libidostörungen – dies alles liegt oft weder im Alter, im Hormonspiegel, in der Ernährung oder den Umweltgiften begründet, sondern in der Tatsache, dass man dem Lebensgefährten nicht mehr zu nahe kommen will. Der oft belächelte Satz: »Liebling, heute nicht, ich habe Kopfschmerzen«, lautet übersetzt: »Liebling, ich kann deine Nähe nicht mehr ertragen, aber weil ich mich nicht traue, es dir zu sagen, habe ich Kopfschmerzen.« Zweifelsohne, die gesundheitlichen Probleme sind tatsächlich da, es tut wirklich weh, und der Betroffene ist kein Simulant. Doch kommt es sehr häufig zur »Spontanheilung«, sobald der Konflikt gelöst und somit die Notwendigkeit für die Erkrankung hinfällig ist.
Nicht nur Krankheiten mit dem Ruf, seelischen Ursprungs zu sein, eignen sich als Flucht vor der ernüchternden Beziehungswahrheit. Auch sich ändernde und ins Extreme gehende Verhaltensmuster funktionieren hervorragend – bis zu einem gewissen Punkt.
Die Situation zwischen Wolfram und Monika gleicht seit Monikas Geständnis dem Desaster nach einem Bombeneinschlag, der das Paradies zerstört hat. Es macht wenig Sinn, die Überreste mühsam einzusammeln und zu flicken, nur ein Neuanfang unter anderen Voraussetzungen kann die Ehe retten.
Wolfram will das auch, er versucht fünf Monate lang, der beste, einfühlsamste, liebevollste Ehemann und Vater der Welt zu sein. Er schmeißt seinen Terminkalender um, plant mehr Zeit für die Familie ein, hilft im Haushalt mit und sucht immer wieder die Gelegenheit für intensive Gespräche mit seiner Frau. Doch etwas anderes wuchert in ihm, wird immer größer und ergreift mehr und mehr Besitz: Es sind Wut und Ekel. Ständig läuft vor seinem inneren Auge ein schlimmer Film ab, in dem er Monika mit diesem Mann sieht, dessen Gesicht er gar nicht kennt, der in seiner Phantasie aber stetig größer, männlicher, attraktiver und stärker wird. Die dunkle Seite in Wolfram zwingt ihn, diesem Mann auf die Schliche zu kommen. Auch wenn Monika sagt, dass es aus sei mit Olaf, ertappt sich Wolfram dabei, wie er ihr Handy auf eingegangene Anrufe kontrolliert, wie er abends mit seinem Wagen die Verfolgung aller in der Einkaufspassage arbeitenden Männer aufnimmt. Als Monika an einem Samstag bei den Kindern bleibt, traut er sich endlich, das Handygeschäft zu betreten. Er ist schockiert: Der Mann, der laut Namensschild Olaf sein muss, ist ein Milchbubi, ein blasser Junge mit schmalen Schultern und wenig Bartwuchs.
»Nun hatte ich endlich diesen Kerl vor mir, dem ich in meinen Racheträumen so oft den Schädel eingeschlagen hatte, und es tat noch tausendmal mehr weh, weil es ein nichtssagender Normalo war, mit dem Monika sich amüsiert hatte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Laden. Ich verachtete mich für diese peinliche Schnüffelei, aber noch mehr verachtete ich Monika für ihren unterirdischen Männergeschmack. Das war der Tag, an dem der Sockel, auf dem meine geliebte Frau all die Jahre gestanden hatte, endgültig zerbrach und ich aufhörte, sie zu vergöttern.«
Wolfram gibt sich einer trügerischen Schlussfolgerung hin: Wenn Monika ohnehin denkt, ich springe mit jeder Frau ins Bett, dann kann ich es auch genauso gut wirklich tun. Gelegenheiten bieten sich tatsächlich mehr als genug, und er ist erstaunt, wie leicht es ist, mit fremden oder bekannten Damen Sex zu haben. Man muss nur in Stimmung kommen, ein bisschen Party, ein bisschen Alkohol, laute Musik, dann geht das schon. Wolfram glaubt, durch diese Eskapaden irgendetwas erträglicher zu machen.
»Es mag primitiv klingen, aber ich dachte, ich könnte dem Fremdgehen meiner Frau die zerstörerische Dimension nehmen, in dem ich selbst austeste, wie schnell Frauen dazu eigentlich bereit sind. Ich wollte dadurch beweisen, dass diese Affären für Frauen nicht den Stellenwert haben, den ich hineininterpretiere. Außerdem hoffte ich, diese Sexgeschichten böten mir die Möglichkeit, die gefühlte Demütigung zu relativieren und abzuschwächen. Ich verführte manchmal gezielt Frauen von geschäftlichen Mitbewerbern oder anderen Männern, die mir das Leben ›schwer‹ machten, denn es gab mir das Gefühl, trotz allem ein Gewinner zu sein. Aber je länger und wilder ich es trieb, desto mehr wurde ich zum Verlierer.«
Nach einem halben Jahr erklärt Wolfram diese verrückte Phase für beendet, weil er die Sinnlosigkeit erkennt und seine Achtung vor Frauen gänzlich im Keller ist. Die einzig positive Bilanz nach den Monaten ist die Erkenntnis, dass Monika bei weitem nicht die Schlimmste ist. Vielleicht versteht er hier zum ersten Mal die Frauen wirklich, sie sind allesamt keine Göttinnen, sondern Menschen mit Sehnsüchten, Ängsten, Stärken und Schwächen. Vor Monikas Geständnis hatte er geglaubt, das andere Geschlecht hätte die Tugend quasi gepachtet. Nun muss er nicht mehr wütend sein, weil seine Frau ihm diese Illusion geraubt hat.
Es muss nicht immer dramatisch zugehen, wenn sich das Unterbewusstsein meldet. Oft wollen auch nur Kleinigkeiten darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmt. Bei Frauen können die monatlichen Beschwerden auf einmal heftiger und langwieriger werden. Vielleicht ist man in letzter Zeit im Betrieb nahezu unentbehrlich geworden. Die Kindererziehung nimmt einen derzeit ganz besonders in Anspruch. Man flüchtet sich in Tagträume, schwärmt immer wieder für andere, manchmal verliebt man sich sogar ein bisschen. Man will immer noch eben erst das Buch zu Ende lesen, den Film sehen, die Bügelwäsche erledigen, das Auto staubsaugen, die Grassoden aus den Gehsteigfugen kratzen – der Partner kann warten.
Das Unbewusste im Menschen ist sehr kreativ, wenn es Wege sucht, um eine heikle Tatsache zu umgehen. Und leider ist es sehr schwierig, sein eigenes Verhalten immer richtig zu deuten. Manchmal sprechen einen gute Freunde und Bekannte darauf an, doch Menschen sind auf dem Gebiet nicht nur blind, sondern auch taub. Oftmals muss erst etwas passieren, damit man diesen Abläufen auf die Schliche kommen kann.
Die Beziehung zwischen Wolfram und Monika, dem einst so vorbildlichen Ehepaar, ist trotz der Beendigung seiner Eskapaden in einem desolaten Zustand, es kommt sogar zu unschönen Szenen in der Öffentlichkeit, die das gegenseitige Misstrauen immer weiter vertiefen. Wolfram nimmt 15 Kilo ab, er schläft kaum, er kann sich nicht auf die Arbeit konzentrieren und hat Schwierigkeiten, den Kindern, die inzwischen 15 und sieben sind, unbefangen zu begegnen. Dass Monika im Gegensatz zu ihm alles im Griff zu haben scheint, verletzt ihn, er hält sie für gefühlskalt und abgebrüht.
Trotzdem halten beide an ihrer Ehe fest. Weil es so wehtut. Wenn es nicht egal ist, was man sich gegenseitig angetan hat, muss es doch Liebe sein. Warum kann es nicht irgendwann wieder so werden, wie es war? Es hat doch jahrelang bestens funktioniert. Haben sie sich nicht ein Happy End verdient?
Monika macht eine Fortbildung zur Stilberaterin und muss vier Wochen auf Schulungsreise fahren. Wolfram kann den Gedanken nicht ertragen, nicht zu wissen, was seine Frau tut. Er bittet sie, an den Wochenenden zu Besuch kommen zu dürfen, doch sie fühlt sich kontrolliert, lehnt ab und fährt allein.
Wolfram ist am Ende. Alles scheint festgefahren zu sein in einer Sackgasse aus Misstrauen, Wut, Verletztheit und etwas, das man mal Liebe genannt hat. Und doch kommt ihm der Gedanke an Trennung erst, als er Gitte kennenlernt.
»Endlich mal wieder eine Frau, der ich ohne Vorbehalte begegnen konnte, denn wir trafen uns zufällig bei einem Auffahrunfall, und ich hatte ausnahmsweise mal etwas anderes im Kopf als meine verkorkste Situation. Gitte war älter als ich, sie war schön, warmherzig und humorvoll, zudem strahlte sie etwas aus, was ich dringend vermisste: eine gewisse Gelassenheit. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten, zum Beispiel steckten wir beide in einer unglücklichen Beziehung und zogen uns zum Grübeln auf denselben Waldweg zurück. Also beschlossen wir, es einmal gemeinsam zu tun. Wir trafen uns jeden Tag, gingen redend kilometerweit durch die Pampa, und irgendwann legte ich dabei ganz selbstverständlich den Arm um sie.«
Es geht nicht um Sex, das ist schon mal gut. Es geht nicht darum, Monika etwas heimzuzahlen. Es geht einfach nur darum, jemanden an der Seite zu haben, der einem gut tut und nachvollziehen kann, wie man sich fühlt.
Nach Monikas Rückkehr wird Wolfram nun umso mehr deutlich, was er in seiner Ehe schon lange vermisst. Er wagt einen letzten Versuch und schlägt seiner Frau ein romantisches Wochenende an der Ostsee vor, nur sie beide alleine, lange Spaziergänge am Strand, ausgiebige Gespräche bei gutem Essen. Aber Monika hat kein Interesse.
An diesem Abend übernachtet Wolfram das erste Mal bei Gitte, und es bleibt nicht beim zärtlichen Händchenhalten. Obwohl Wolfram während seiner »heißen Phase« so viele Frauen gehabt hat, ist es jetzt etwas völlig anderes. Das Herz ist mit im Spiel. Er weiß, mit dieser Nacht ist seine Ehe endgültig zu Ende.
Trotzdem versucht er es am nächsten Abend noch einmal mit Monika – und sein Körper spielt nicht mehr mit. Wolfram »versagt« das erste Mal in seinem Leben. Als Monika fragt, was los sei, bricht es aus ihm heraus: »Ich liebe eine andere Frau und werde mich von dir trennen!«
Ein eigentlich längst fälliger Entschluss ist ausgesprochen. Monika ist zwar traurig und schockiert – besonders das Wort »Liebe« setzt ihr gehörig zu –, doch sie akzeptiert die Entscheidung.
Natürlich gibt es Chancen, die Partnerschaft auch im schlimmsten Zustand noch zu retten oder zumindest dafür zu kämpfen. Es existieren unzählige Theorien und Methoden, wie man es schaffen kann, sich zusammenzureißen. Es wird behauptet, wenn man nur sich selbst richtig liebt und mit allen verdrängten Macken akzeptiert, kann man es mit so ziemlich jedem Menschen aushalten [2]. In Illustrierten tauchen immer wieder ultimative Tipps auf, wie man der totgeglaubten Partnerschaft neues Leben einhaucht. Es klingt so leicht, man muss nur die Ansprüche runterschrauben, die Einstellung ändern, die ultimativen zehn Punkte der Liebesgarantie durcharbeiten, die astrologisch optimale Sternenkonstellation abwarten, ein paar Kilos abnehmen und zum Friseur gehen, mal wieder Rosen schenken, den Namen des anderen auf die Schulter tätowieren lassen, das Leibgericht kochen – und alles ist wieder gut.
So einfach ist es natürlich leider nicht, aber man sollte den letzten Rettungsversuch trotzdem auf jeden Fall unternehmen (selbstverständlich nur, solange keine physische und psychische Gewalt im Spiel ist). Diese Chance sollte man sich und seinem Leben gönnen. Wenn es nicht klappt, hat man nichts verloren, kann aber zu sich und allen anderen offenen Herzens sagen: »Ich habe es wirklich probiert.«
Einige gute Maßnahmen werden von Vereinen, Kirchen, Städten oder Landkreisen in Beratungsstellen kostenlos angeboten, entsprechende Adressen sind im Anhang aufgelistet. Private Therapeuten und Mediatoren kosten natürlich Geld, doch wenn das kein Problem darstellt, sind sie sicher eine gute »Investition«.
Es gibt zudem noch die Möglichkeit, eine Familien- oder Einzelkur bei der Krankenkasse zu beantragen. Wer bereits unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet und in Behandlung ist – zum Beispiel wegen Schlafstörungen, Infektanfälligkeit, Migräne, Allergien, Suchtverhalten, Depressionen –, hat gute Chancen, eine Kur mit begleitender psychologischer Betreuung genehmigt zu bekommen.
Paartherapie klingt nach einer Art Arztbesuch für die Partnerschaft, was aber nicht stimmt, denn der Therapeut erteilt keine Ratschläge, die wie Pillen oder Spritzen schnell eingenommen werden können und dann – mit ein paar Nebenwirkungen vielleicht – direkt in Fleisch und Blut übergehen und heilen.
Im Grunde genommen ist die Paartherapie eher mit dem Besuch bei einem Physiotherapeuten zu vergleichen, der im Gespräch falsche Bewegungsmuster erkennt, die sich aus einer Schonhaltung heraus oder durch schlechtes Training eingeschlichen haben. Das Paar wird nach den Sitzungen »Hausaufgaben« mitnehmen, die nicht immer einfach in ihrer Umsetzung sind. Vielleicht soll man eine Art »Beziehungs-Tagebuch« führen. Oder man muss die »Du-hast-aber-immer«- und »Nie-willst-du«-Sätze auf den Index setzen. Manchmal werden gemeinsam erlebte Traumata aufgearbeitet, oder der Therapeut lässt einen schlimmen Streit Revue passieren und unter neuen Regeln noch einmal durchspielen. Die Palette, mit der die Psychologen in den Praxen, bei den Familienberatungsstellen oder in Kurheimen arbeiten, ist bunt. Und dies kann tatsächlich aus mancher festgefahrenen Situation heraushelfen.