In Hermanns Schatten - Sandra Lüpkes - E-Book

In Hermanns Schatten E-Book

Sandra Lüpkes

4,6

  • Herausgeber: KBV
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Wenn Hermann drohend das Schwert erhebt, dann fällt sein Schatten weit auf nordrhein-westfälischen Boden. Hier regieren Mord und Totschlag, und immer wieder hat die Krimiautorin Sandra Lüpkes ihre Finger im mörderischen Spiel. In ihren 13 pointenreichen Kurzkrimis führt eine blutige Spur von Münster in die Eifel, vom Niederrhein nach Detmold, kreuz und quer durchs Land. Ihre Geschichten sind zart und melancholisch, hart und spannend, und manchmal einfach zum Brüllen komisch.

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Seitenzahl: 189

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Sandra Lüpkes

In Hermanns Schatten

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Wer tötete Fischers Fritz? (Hg.)

Mörderisches Münsterland (Hg.)

Sandra Lüpkes, geboren 1971 in Göttingen, verbrachte die längste Zeit ihres Lebens auf der Nordseeinsel Juist und wohnt nun in Münster und Ostfriesland, wo sie als freie Autorin und Sängerin arbeitet. Mit ihren sieben bereits erschienenen Kriminalromanen und einer Kurzgeschichtensammlung hat sie bereits eine Gesamtauflage von knapp 200.000 Exemplaren erreicht und ist weit über den norddeutschen Tellerrand hinaus bekannt.

2005 war sie für den Friedrich-Glauser-Preis und 2004 für den VS-Preis »Das neue Buch« nominiert. Neuere Kriminalromane: 2006 »Die Wacholderteufel«, 2007 »Das Sonnentau-Kind«, 2008 »Die Blütenfrau« (alle bei rororo).

Als Referendarin leitet sie verschiedene Krimiseminare für Jugendliche und Erwachsene, unter anderem an der Bundesakademie in Wolfenbüttel. Sie ist Mitglied im »Syndikat« und bei den »Mörderischen Schwestern«.

www.sandraluepkes.de

Sandra Lüpkes

In HermannsSchatten

1. Auflage Juli 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

[email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Die Originalausgabe erschien 2009 im Pendragon-Verlag

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-942446-17-4

E-Book-ISBN 978-3-95441-081-1

Inhalt

Vorwort

In Hermanns Schatten

Detmold

Bis einer weint

Bielefeld

Der Thron der Lilie

Straelen/Niederrhein

Blitzeis

Siegerland

Personenschaden

Minden

Irgendwo in Immenhausen

Hennesee/Sauerland

Das Gewissen von Werl

Werl

Promille

Monschau/Eifel

Luftveränderung

Saalhausen/Sauerland

Fröhliche Spitzbuben

Bottrop-Kirchhellen

Das geschnitzte Herz

Lemgo

Wunschverzettelt

Dortmund

Einer geht noch rein

Münster

Vorwort

»Wenn wir Nordrhein-Westfalen geschafft haben,dann liegt das Schlimmste hinter uns.«

Nein, dies ist kein historischer Schlachtruf, und wer glaubt, es gehe um eine Reiseroute, der liegt auch daneben. Dieser Satz fällt in meiner alten Heimat Ostfriesland stets, wenn die NRW-Sommerferien anstehen.

Die Gäste aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland unterscheiden sich von sämtlichen anderen Urlaubern, denn sie kommen immer alle auf einen Schlag, wollen sich bitteschön von der ersten Minute an erholen, erwarten, dass alles ewig so bleibt, wie sie es aus den Ferientagen ihrer Kindheit kennen, und beschweren sich im selben Atemzug, wenn das WLAN nicht richtig funktioniert.

So sind sie, die Nordrhein-Westfalen. Und – Hand aufs Herz – würden sie nicht mehr die Nordseeküste so unnachahmlich in Beschlag nehmen, man würde sie schmerzlich vermissen.

Nun bin ich als eingefleischte Niedersächsin, als Inselkind und Küstenmädchen, hierhin gezogen, lebe nicht mehr am Rand der Welt, sondern immerhin an der A 1.

Und ich fühle mich wohl in meiner neuen Heimat. Wirklich wahr.

So wohl, dass ich gleich ein paar Leichen in die Landschaft geschrieben habe, von Minden bis Monschau, von Straelen bis ins Siegerland wurden sie von mir verteilt. Sozusagen als Mitbringsel.

Mordsspaß beim Lesen wünscht die Westfälin mit Migrationshintergrund.

Sandra LüpkesMünster 2009

In Hermanns Schatten

»Bei ihrer Gefangennahme vergoss sie keine Träne, verlor kein Wort der Bitte, presste die Hände auf die Brust und blickte nur stumm auf ihren schwangeren Leib.«

(Tacitus, Annalen - Ab excessu divi Augusti)

Nelly weinte schon seit Tagen. Wenn sie an den Tischen bedienen musste, weil die vielen Bestellungen sonst nicht zu schaffen gewesen wären, verschwand sie zwischendurch kurz auf der Personaltoilette, puderte sich die Rötungen aus dem Gesicht, putzte die Nase und tuschte die Wimpern neu.

Hermann entging das nicht, er hätte sie auch gern getröstet, doch ihm fehlte die Zeit. Der Laden brummte.

»Wer glaubt, die westfälische Küche entbehre jeglicher Raffinesse, der sollte sich im Hermann’s eines Besseren belehren lassen.« Dieser Satz im wichtigsten Reiseführer der Gegend hatte aus seinem kleinen Restaurant auf dem Teutberg einen Ort gemacht, der fast so frequentiert war wie das Denkmal des Cheruskerfürsten, welches unweit des Fachwerkhauses in den Himmel ragte.

»Einmal Pillekauken mit weißen Trüffeln, einmal Pfefferpotthast vom Straußenfilet ...«

Er wirbelte durch seine kleine Küche, erteilte den Angestellten kurze Befehle und checkte die Teller, bevor sie in den Gastraum balanciert wurden. Und bei alledem behielt er seine wunderschöne, traurige Nelly im Auge.

»In meinem Zustand ist man eben nah am Wasser gebaut«, kommentierte sie seine Sorge, als er die Gelegenheit nutzte und ihr beim Vorbeihuschen seine Hand auf den Arm legte. Hermann ahnte jedoch, dass sie sich nach ihrer Familie sehnte. Vergeblich und unverständlich, aber mehr denn je, seit sie wusste, dass sie schwanger war.

Er hätte dem alten Segest den Hals umdrehen können für seine Grausamkeit.

»Pizza muss nicht langweilig sein. Und Pasta bietet mehr Variationsmöglichkeiten, als es Sterne in der Milchstraße gibt. Nicht umsonst gehen die Deutschen lieber italienisch essen, als sich ihre Mägen mit Kraut und Salzkartoffeln zu füllen.«

Segest war verärgert. Früher war das Roma die erste Adresse für Ausflugsgäste gewesen, doch in diesem Jahr wurde sein Restaurant im Reiseführer mit nur zwei Begriffen beschrieben: Pizza, Pasta. Das lag wohl daran, dass sie die Zeilen für die ausufernden Huldigungen an die Konkurrenz verschwendet hatten. Wütend schleuderte er die Broschüre quer über einen der frei geblieben Esstische.

Die Geschäfte liefen schlecht, seit sein bester Koch gekündigt und dann – nur wenige Kilometer entfernt – ein eigenes Restaurant eröffnet hatte. Ein erbitterter Streit um die Speisekarte war der Anlass gewesen. Segest hatte Hermann in Aussicht gestellt, bald die Geschäftsleitung übernehmen zu dürfen, insbesondere weil alles danach aussah, dass dieser Junge demnächst sein Schwiegersohn werden würde. Aber dessen Bedingungen waren unzumutbar gewesen. Er hatte sich strikt geweigert, weiterhin mediterrane Speisen zu kochen. Man sei hier mitten in Deutschland an einem geschichtsträchtigen Ort, beide könnten sie kein Wort italienisch sprechen, da solle man bei seinen kulinarischen Wurzeln bleiben, hatte der blonde Hermann sich konservativ gegeben. Allen Ernstes hatte er Schlackwurst, Töttchen und Möpkenbrot kredenzen wollen.

Sie waren auf keinen verdammten Nenner gekommen. Hermann hatte seine Kochmütze auf den Herd geworfen und das leerstehende Fachwerkhaus auf dem Teutberg gepachtet. Segest hatte ihm keine Träne nachweint und sich für das Roma einen viel gelobten Spitzenkoch aus Italien kommen lassen: Publio, ein Künstler am Herd, zudem nicht weniger talentiert, wenn es darum ging, Frauen zu umgarnen. Nur leider schien Nelly immun gegen den südländischen Charme zu sein.

Vor ein paar Monaten war die Situation eskaliert. »Ich verbiete dir, dass du dich weiterhin mit diesem Klugscheißer triffst, hörst du, Nelly? Er ruiniert unser Restaurant. Wehe, du wagst es, mit ihm gemeinsame Sache zu machen!« Da hatte sein Mädchen ihn nur traurig angesehen und wie blind auf ihr Handy getippt. Zehn Minuten später hatte Hermann sie mit Sack und Pack in seinen Lieferwagen verfrachtet. Seitdem hatte Nelly sich nicht mehr zu Hause blicken lassen.

Und das war es eigentlich, was Segest am meisten schmerzte: Dass seine einzige Tochter sich gegen ihn entschieden hatte. Alles hätte sie haben können. Seinetwegen auch das Restaurant. Und trotzdem war sie mit Hermann gegangen.

Schwanger war sie, erzählte man sich, dabei war sie gerade mal einundzwanzig. Und geheiratet hatten beide noch nicht. Verantwortungslos! Das Mädchen schuftete jeden Tag im Service, obwohl sie seines Wissens weder Mitinhaberin noch sonst etwas Gescheites war. Dieser Hermann scheffelte die Kohle und Nelly war Angestellte, womöglich noch auf Mindestlohnbasis. Sie lief in ihr Unglück, seine kleine Tochter.

Er hätte diesem arroganten Hermann das Küchenmesser an die Gurgel halten können.

Nelly versuchte, trotz aller dramatischen Veränderungen in ihrem Leben zumindest die liebgewonnenen Gewohnheiten beizubehalten. Ihre Gynäkologin zerstreute ihre Sorge, das morgendliche Joggen könne dem Kind schaden. Also war es lediglich die Strecke, die sie nach ihrem Umzug neu erkunden musste. Bevor sie den Hermannsweg erreichte, führte die Route sie am Heidenbach entlang, der fast in Rufweite an ihrem Restaurant vorbeiplätscherte. Wenn sie einen guten Tag hatte, schaffte sie es bis zum Donoper Teich, wo die Ruhe des angestauten Bachs eine geradezu reinigende Wirkung auf Nelly hatte. Kein Tellerklappern, kein Gästerufen, kein Abzugshaubengebrumm.

Und kein Mann, der auf sie einredete, weil er zu wissen glaubte, was gut für sie sei.

Sie hatte sich entschieden mit Hermann zu gehen, weil es das kleinere Übel gewesen ist. Er dachte wahrscheinlich, sie hätte aus Liebe gehandelt, aber das wäre kein ausreichender Grund gewesen, denn ihren Vater liebte sie schließlich auch. Hitzköpfig waren beide gleichermaßen. Nein, sie war nur aus dem Elternhaus gezogen, weil sie wusste, es musste etwas passieren, egal was. Wäre sie geblieben, hätte ihr Vater geglaubt, über sie bestimmen zu können, wie es ihm passte. Doch das Leben an Hermanns Seite war auch nicht mehr als eine Zwischenlösung. Eigentlich wollte sie den Absprung in die Eigenständigkeit schaffen. Das Kind machte nun leider alles um einiges komplizierter.

Sie beschloss, eine kleine Pause einzulegen, denn der Schweiß klebte ihr bereits das Shirt auf die Haut. Der Morgen war kühl und ihr schneller Atem stieg als Wölkchen ins frühlingshafte Blau. Ein Schwanenpaar gab ein romantisches Bild ab, ihr weißes Gefieder spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Tau glänzte auf den bemoosten Steinen. Das Knacken der Äste vernahm Nelly etwas zu spät, sonst wäre sie vielleicht davongelaufen. Doch als die Gestalt vor ihr auf den Weg trat, war die Gelegenheit zur Flucht bereits vertan.

»Ich schau mir das nicht länger an. Du kommst jetzt mit«, sagte ihr Vater.

Sie wäre ihm gern in die Arme gefallen, niemals zuvor war sie so lange von ihm getrennt gewesen. Doch sein strenger Blick hielt sie auf Distanz. Er verhieß nichts Gutes.

»Was soll denn das?«, fragte sie also stattdessen. Doch dann tauchte Publio aus dem Dickicht auf, der neue Kronprinz ihres Vaters. Seine Augenbrauen zogen sich über den dunklen Augen zusammen und bildeten in ihrer Mitte eine bedrohliche Falte.

Nelly war klar, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte: »Soll das eine Entführung sein, oder was?«

Ohne ihr eine Antwort zu geben, fassten die Männer sie hart am Arm und zogen sie mit sich. Hinter einigen Bäumen konnte Nelly den alten Geländewagen sehen. Der Motor lief.

»Papa, ich bin volljährig. Ich kann tun und lassen, was ich will. Und wenn ich bei Hermann leben möchte, dann ...«

»Steig ein«, sagte er nur.

Erst hatte Hermann sich geärgert. Ein Reisebus aus Bottrop hatte sich zum Mittagessen angemeldet und Nelly sollte die Salatteller anrichten.

Ab elf Uhr hatte er sich gesorgt. Ihr Handy war abgestellt. Und sie war anderthalb Stunden über ihre Zeit.

Ab zwölf setzte die Verzweiflung ein. Er überließ seinem Saucier die Küche und fuhr mit dem Mountainbike die Strecke bis zum Donoper Teich ab. Aber Nelly war verschwunden. Er zermarterte sich den Kopf, ob er etwas Falsches gesagt hatte, ob er mal wieder unsensibel gewesen war, im Stress oder aus Nachlässigkeit. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

Dann rief er bei der Gynäkologin an, vielleicht war etwas mit dem Kind und sie hatte sich eilig behandeln lassen müssen, so eilig, dass noch nicht einmal Zeit für einen Anruf geblieben war. Immer hatte er befürchtet, dass das Joggen nicht gut sei für das Baby.

Als letzte Hoffnung fragte er bei der Polizeidienststelle, ob eine junge Frau gefunden worden sei, im fünften Monat schwanger, dunkle Locken, hübsch, schlank, bis auf den Bauch eben.

Und erst dann war er sich sicher, dass Nellys Vater seine Finger im Spiel haben musste.

Die Bottroper Reisegruppe kam um ein Uhr mittags an, sechzig Senioren mit leeren Mägen, er konnte unmöglich von hier verschwinden. Sechzig Portionen Westfälische Kartoffelsuppe. Sechzig Portionen Lippischer Pickert mit Leberwurst und Rübenkraut. Sechzig Portionen Grießpudding mit Rhabarberkompott. So eine Menge Gerichte zeitgleich auf die Teller zu bringen war Knochenarbeit, deswegen gab es ein Zusatzprogramm hier im Hermann’s, um die Wartezeiten zu verkürzen: Ein Bielefelder Student der Geschichtswissenschaften präsentierte einen unterhaltsamen, mit Beamer und PowerPoint bebilderten Vortrag über den Cheruskerfürsten, der als kupferner Gigant genau um die Mittagszeit seinen Schatten auf die Veranda des Restaurants warf. Gerade im Jubiläumsjahr der Varusschlacht war das ein Renner, jeden Mittag füllte sich das Restaurant bis auf den letzten Platz. Rentner, VHS-Kurs-Teilnehmer, Kulturvereine oder Betriebsausflügler. »Arminius aber reiste seiner geliebten Thusnelda hinterher, belagerte mit seinen Soldaten die Burg, auf die sein Schwiegervater die Entführte verschleppt hatte ...«, erzählte der Student.

Die Alten aus dem Kohlenpott ließen sich heute unendlich viel Zeit. Zeit, die unter normalen Umständen ein Segen für den Ablauf in der Küche war.

Doch heute hatte Hermann diese Zeit verdammt nochmal nicht. Er musste Nelly zurückholen, bevor ihr Vater sie verschwinden ließ. Er gönnte diesem falschen, geldgierigen Segest keinen Triumph. Schließlich ging es um mehr als nur um Nellys Zuneigung. Diese Fehde hatte tiefere Wurzeln.

Schon in der Lehrzeit hatte Segest ihm das Leben schwer gemacht, hatte seine Kochkünste in Frage gestellt und ihm immer wieder diese unsäglichen italienischen Gerichte auf die Karte gesetzt. Hermanns Schritt in die Unabhängigkeit war das Beste gewesen, was er bislang gewagt hatte. Sein Konzept setzte sich durch. Und so war aus seinem ungeliebten Chef inzwischen ein erbitterter Feind geworden. Nelly war in diesem Streit nur die letzte Prise Salz auf eine offene Wunde. Nun war Zeit für einen endgültigen Sieg.

Er wusste, er konnte seinen ewigen Rivalen nur kleinkriegen, wenn er ihn in die Enge trieb. Er musste ihn an der Stelle treffen, an der er verwundbar war. Wie gut, dass Hermann sich im Roma auskannte wie in seiner Westentasche.

Die Dessertteller verließen die Küche. Das Schlimmste war geschafft. Jetzt hatte er Zeit. Wo zum Teufel hatte er die Telefonnummer bloß notiert? Er musste nur kurz suchen, dann fand Hermann die Visitenkarte wo sie hingehörte, einsortiert unter L.

»Ich kann mir das nicht erklären!«, beteuerte Segest zum hundertsten Mal. Er saß in seinem gähnend leeren Restaurant, auf dem Tisch war die Lippische Landeszeitung ausgebreitet, der Name seines Restaurants zierte das Titelblatt.

Der Prüfer verzog keine Miene: »Es gab an diesem Wochenende gleich fünf Fälle von Lebensmittelvergiftung in Ihrem Restaurant. Und das sind nur die, die sich bei uns gemeldet haben. Wer weiß, wo die Salmonellen noch überall gelandet sind? Nicht bei jedem sind die Symptome so ausgeprägt wie bei den Betroffenen. Die alte Dame, die das Carpaccio hatte, ringt mit dem Tod. Die Angehörigen haben bereits Anzeige erstattet.«

»Ich kann mir das nicht ...«

»Herr Segest, ich kann Ihre erbärmlichen Entschuldigungen nicht mehr hören. Meine Männer werden Ihre Fleischvorräte mitnehmen und untersuchen. Zudem schauen wir dieses Mal ganz besonders gut hin, wenn wir Ihre Kühlung unter die Lupe nehmen. Der Raum für die sensiblen Lebensmittel war viel zu warm.«

»Aber das Thermometer zeigte 2 Grad ...«

»Dann ist das Ding eben kaputt. Ihre Anlage ist alt, Herr Segest, da kann das schon mal passieren. Die Funktionstüchtigkeit der Kühlung liegt in Ihrer Verantwortung, da können Sie sich nicht herausreden.«

Segest wollte trotzdem etwas erwidern, er hob bereits die Hände zu einer beteuernden Geste, als einer der Beamten mit angeekeltem Gesicht aus der Küche kam. Wortlos hielt er ihnen eine Schüssel hin. Ein Berg Rindergehacktes schwamm grün angelaufen in einer übel riechenden Flüssigkeit. »Das war noch nicht mal mit Folie abgedeckt ...«

Es war eine Katastrophe. Segest zermarterte sich den Kopf. Das Fleisch war definitiv erst am Freitag zugestellt worden, das hatte er mit dem Lieferschein eindeutig belegen können. Doch der Scheißkerl glaubte ihm kein Wort. »Das Zeug sieht aus, als habe da schon der Cheruskerfürst persönlich seine Frikadellen draus gemacht«, kommentierte der Prüfer.

»Ich kenne diese Schüssel mit dem verdorbenen Tartar noch nicht einmal, wir benutzen anderes Geschirr ...«

»Wir schließen das Roma mit sofortiger Wirkung!«

»Aber ...« Segest brach der kalte Schweiß aus. »Heute Abend hat sich eine Gesellschaft angemeldet. Sechzigster Geburtstag ...«

»Soweit ich weiß, haben die schon umgebucht. Das Hermann’s hat großzügiger Weise auf seinen Ruhetag verzichtet ...«

Nelly nutzte die Aufregung. Ihr Vater war am Boden zerstört und hatte sich gemeinsam mit Publio einige Flaschen Wein aus dem Keller geholt. Nun saßen die beiden betrunken in der Küche und bemerkten nicht, wie sie durch die Vordertür schlüpfte.

Seit sechs Tagen hatte ihr Vater sie wie eine Gefangene gehalten. Zwar waren ihr Zimmer nicht verschlossen und die Hände nicht gefesselt gewesen, aber das Handy hatte er ihr weggenommen und der Festnetzapparat stand unerreichbar in der Küche, zudem war jeder seiner Mitarbeiter instruiert, Nelly auf keinen Fall gehen zu lassen.

Doch auf einmal waren fast alle verschwunden und es war einfach zu entwischen. Angst hatte Nelly trotzdem. Teuflische Angst. Sobald ihr Vater ihr Fehlen bemerkte, würde er ausrasten, soviel stand fest.

Es war schon dunkel und menschenleer draußen. Beim Hinausgehen hatte sie einen Blick auf die Küchenuhr geworfen, kurz nach Mitternacht. Wenn sie jetzt das Auto nahm, würden die Scheinwerfer und das Motorengeräusch ihre Flucht vereiteln. Die Fahrräder standen dummerweise abgeschlossen im Keller. Also würde sie die drei Kilometer laufen müssen. Am kürzesten war es, wenn sie den Weg am Denkmal vorbei nahm.

Sie zog ihre Laufschuhe an und die Schnürsenkel fest, dehnte kurz ihre Glieder, dann rannte sie los in die Dunkelheit. Es tat gut, sich zu bewegen. Die unfreiwillige Trägheit der letzten Tage war ihr nicht gut bekommen. Schritt für Schritt fand sie wieder in ihren eigenen Rhythmus, brachte das Herzklopfen mit ihrer Atmung in Einklang, bis sie diese Anspannung, die Furcht der letzten Tage endlich hinter sich ließ.

Der Schatten des Hermann, der sich in noch dunklerem Schwarz vor düsterem Nachthimmel abzeichnete, wirkte riesiger, bedrohlicher, angriffslustiger als am Tage. Nelly hatte diesen Krieger mit erhobenem Schwert schon immer abstoßend gefunden. Als kleines Mädchen war der Koloss in ihren schlimmsten Albträumen auf einmal lebendig geworden und hatte es auf sie abgesehen. Und nun, als erwachsene Frau, als zukünftige Mutter, holte sie die Erinnerung an diese finsteren Kindheitsängste wieder ein.

Nelly lief schneller. Der Bauch spannte seltsam, ihr wurde flau, doch sie drosselte das Tempo nicht, rannte weiter, keuchte und presste sich die Hände auf den Leib. Sie musste bei Hermann ankommen, bevor ihr Vater ...

Wie zur Salzsäule erstarrt blieb Nelly stehen. Dicht vor ihr, nur durch einen mannshohen Busch getrennt, stand ein unbeleuchteter Lieferwagen. Sie konnte auf den Seitenteilen das Logo erkennen: »Lander und Söhne – Fleischgroßhandel«. Der dünne Qualm einer im Freien gerauchten Zigarette erreichte ihre Nase. Zwei Männer standen neben der Fahrertür. Sie wagte kaum zu atmen, als sie im Licht des Feuerzeugs Hermanns Gesicht erkannte.

Was machte er hier, um diese Zeit, an diesem gottverlassenen Ort? Warum traf er seinen Geschäftspartner im Schutz der Dunkelheit? Sicher nicht, um die Bestelllisten für die nächste Woche durchzugehen.

»Und wenn der alte Segest mich dafür verantwortlich macht?« Landers Stimme klang beunruhigt.

»Das wird er mit Sicherheit. Aber was hast du zu befürchten? Bei dir ist doch alles in bester Ordnung, oder nicht? Du zeigst ihnen die falschen Lieferscheine, erzählst die Geschichte von den ausgefallenen Kühlaggregaten, die du schon seit Wochen Segest gegenüber bemängelt hast, und dann werden sie glauben, dass Segest dir in seiner Not den schwarzen Peter zugeschoben hat.«

»Ob das gut geht?« Lander zog nervös an seiner Zigarette.

»Fünftausend! Dafür kannst du deine Zweifel doch ruhig mal vergessen.«

Nelly konnte zwischen den Ästen eine Hand erkennen, die einen Umschlag hielt. Lander griff gierig danach: »Und was versprichst du dir davon?«

»Ich will das Roma ein für allemal erledigt wissen. Segest soll bereuen, was er getan hat!«

In Nellys Kopf nahm der Schwindel zu, ihr wurde übel, als sei sie stundenlang Achterbahn gefahren. Kurz überlegte sie aus dem Gebüsch zu treten. Doch sie kannte ihren Freund, er würde auf sie einreden und ihr mit seiner verdammten Wortgewandtheit früher oder später klar machen, dass sein widerlicher Komplott absolut moralisch gewesen sei. Dass es ihrem Vater recht geschehe, beim Gesundheitsamt angeschwärzt zu werden. Also blieb sie stehen, stumm und schwankend, und hoffte nur, dass die beiden Verschwörer endlich verschwanden, damit sie durchatmen und wieder umdrehen konnte.

Lander warf die Zigarette zur Seite, die Glut landete nur einen halben Meter vor Nellys Fußspitze und erlosch im nachtfeuchten Unterholz.

»Würde mich nicht wundern, wenn der sein Töchterchen dann bis ans Ende der Welt schickt, um sich an dir zu rächen.«

»Und wenn schon«, antwortete Hermann.

Nellys Herz krampfte.

Segest hatte zuviel getrunken. Jetzt schämte er sich. Nelly stand vor ihm, verschwitzt und verweint, und er konnte nichts für sie tun, weil er kaum in der Lage war, einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Publio hatte sich etwas zurückgehalten mit dem Wein, obwohl auch er eine Scheißwut im Bauch haben musste. Doch er konnte sich zum Glück besser beherrschen.

»Papa!«, schluchzte das Kind. Aber mehr bekam er einfach nicht aus ihr heraus. Sie schien Schmerzen zu haben, weigerte sich jedoch, ins Krankenhaus zu gehen. Publio bettete sie auf einer der Restaurantbänke, brachte ihr einen Kaffee und legte ihre Beine auf ein weiches Kissen. Er war ein wirklich feiner Kerl.

»Das ist hier nichts für deine Tochter«, flüsterte Publio ihm zu, als Nelly schließlich eingeschlafen war. »Sie braucht italienische Sonne, Dolce Vita! Italienische Lebensfreude, die fehlt ihr.«

Segest musste seinem Chefkoch zustimmen. So konnte es einfach nicht weitergehen. Heute Nacht war der Tiefpunkt seines Lebens. Er musste Nelly in Sicherheit bringen, bevor er sie mit nach unten zog.

»Was schlägst du vor?«

»Meine Verwandten in Italia suchen eine fleißige Frau für gute Ristorante. Und sie lieben Bambini. Schick Nelly nach Roma. Wir kümmern uns um sie.«

»Ja … aber …« Segest schnürte es die Kehle zusammen.

»Noch heute Nacht, Chef! Ich packe sie in den Wagen, wir fahren los, und in zwei Tagen ist sie bei meinem Paten. Du verstehst? Absolute Sicherheit, die ganze familia passt auf sie auf! Keine blonde Kartoffelfresser kann sie stehlen, versprochen!«

Segest schaute sich in seinem Restaurant um, dessen Sitzplätze wohl noch lange frei bleiben würden. Auf der einen Bank lag seine Tochter.

Er seufzte, dann nickte er Publio zu.

»Schatz, steh bitte auf«, flüsterte er wenig später in Nellys Ohr. »Es wird Zeit für dich zu gehen!«

Nelly erhob sich schlaftrunken und ließ sich von Segest zum Wagen führen. Zum Glück weinte sie nicht, machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren, sondern presste die Hände auf die Brust und blickte nur stumm auf ihren schwangeren Bauch.

Stammgäste erzählten, sie hätten Nelly getroffen. Zufällig, in Rom, sie arbeite in einer Pizzeria an der Fontana di Trevi, kein leichter Job bei den vielen Touristen dort. Ein kleiner blonder Junge hätte an ihrem Rockzipfel gehangen, süßer Kerl.

Hermann wusste von dem Kind, schließlich zahlte er seit dessen Geburt jeden Monat eine beachtliche Summe auf ein italienisches Konto. Gesehen hatte er den Kleinen noch nie. Als Ausrede schob er den Zeitmangel vor, schließlich hatte er expandiert, das Roma war nicht wiederzuerkennen.

Doch der wahre Grund war ein anderer. Er wagte es nicht, nach Nelly zu suchen. Segest hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sich die italienische Familie von nun an sehr intensiv um seine Tochter kümmerte.

Bis einer weint

Liebes Tagebuch!

Timon ist scheiße. Er bohrt beim Essen in der Nase. Ich halte das nicht aus.

Ein paar Freundinnen sagen, sie wünschen sich einen großen Bruder, aber meiner hat immer Chipskrümel an den Händen (dazu noch abgekaute Fingernägel!) und macht andauernd fiese Witze über meine Pickel, obwohl ich ja nichts dafür kann.