Die Sanduhr unserer Liebe - Kate Riordan - E-Book

Die Sanduhr unserer Liebe E-Book

Kate Riordan

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Beschreibung

England, 1878: Harriet Jenner ist einundzwanzig Jahre alt, als sie durch die Tore von Fenix House tritt. Nach einer persönlichen Tragödie glaubt sie nicht daran, dass ihr neues Leben als Hauslehrerin einfach wird. Knapp fünfzig Jahre später tritt Harriets Enkelin Grace Fairford in ihre Fußstapfen. Für Grace, die mit den faszinierenden Geschichten ihrer Großmutter aufwuchs, ist Fenix House wie aus einem Märchen, ein magischer Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Doch der verblichene Glanz der Villa entlarvt Harriets Geschichten bald als Lügen, und Grace findet sich in einem Dickicht aus tragischen Geheimnissen wieder ....

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Das Buch

Harriet Jenner ist gerade einundzwanzig Jahre alt, als sie 1878 durch die Tore von Fenix House tritt. Nach einer persönlichen Tragödie glaubt sie nicht daran, dass ihr neues Leben als Hauslehrerin einfach wird. Knapp fünfzig Jahre später tritt Harriets Enkelin Grace Fairford in ihre Fußstapfen. Für Grace, die mit den faszinierenden Geschichten ihrer Großmutter aufwuchs, ist Fenix House wie aus einem Märchen ein magischer Ort, an dem die Zeit stehengeblieben ist. Doch der verblichene Glanz der Villa entlarvt Harriets Geschichten bald als Lügen, und Grace findet sich in einem Dickicht aus Geheimnissen und Tragödien wieder …

Die Autorin

Kate Riordan lebt in Cheltenham. Sie ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für den Guardian und Time Out.

Lieferbare Titel

Im Spiegel ferner Tage

KATE RIORDAN

DIE

SANDUHR

UNSERER LIEBE

Roman

Aus dem Englischen von Heike Holtsch

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Shadow Hour bei PenguinCopyright © 2016 by Kate RiordanCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Stefanie KordaUmschlaggestaltung: Nele Schütz design, Münchenunter Verwendung von Shutterstock/V. KutsmanSatz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN 978-3-641-19416-1V001www.heyne.de

PROLOG

21. Mai 1910

Ein einziger Augenblick kann alles verändern. Stellen Sie sich eine grüne englische Wiese vor: idyllisch, aber so unspektakulär, dass sie nicht einmal einen Namen hat. Von Weitem sieht man die Spitze eines Kirchturms, unter einer Kastanie grasen ein paar Schafe, der Sohn eines Bauern sitzt auf einem Zauntritt und raucht eine Zigarette. Das Gesicht der Frühlingssonne zugewandt, schließt er die Augen und pustet langsam den Rauch aus. Dann hört er es: ein dumpfes Vibrieren tief unter der Erde und ein schrilles Pfeifen in der Luft, in einer so hohen Frequenz, dass es kaum wahrnehmbar ist. Er öffnet die Augen und richtet den Blick auf die Hecke am Ende der Böschung, hinter der ein Nebengleis der Eisenbahn verläuft.

Im Nachhinein fällt es ihm schwer zu beschreiben, was dann passierte. Natürlich fragen ihn alle danach: Polizisten, seine Mutter, sogar ein Reporter, der ihm eine volle Packung Zigaretten zusteckt. Nur stockend kann er den Leuten davon erzählen, und alles, was er sagt, trifft es nicht richtig. Er kann das Unglück einfach nicht in Worte fassen. Kann nicht erklären, dass er in einem Moment noch friedlich dort saß und seinen Gedanken nachhing – und sich im nächsten alles gleichzeitig abzuspielen schien: Geräusche, Gerüche, grelles Licht und eine Druckwelle, die ihn zu Boden riss. Am nächsten kommt er der Wahrheit, als er sich an diesem Abend von seiner Mutter zu Bett bringen lässt wie früher, als er noch ein kleiner Junge war: »Erst war es wie im Himmel, dann wie die Hölle.«

In dieser Nacht träumt er von dem, was er gesehen hat - nach dem Licht und dem Knall, der so laut war, dass er ihn eher spürte als hörte, ein Schlag auf den Brustkorb, so fest, dass ihm die Luft wegblieb. Auch als er wieder auf den Beinen stand, war fast nichts zu hören. Nur dieses unablässige Pfeifen in den Ohren. Er wankte die Böschung hinunter und spähte durch eine Lücke in der Hecke. Dabei nahm er vage wahr, dass die Sonne nicht mehr schien. Nicht etwa, weil die Dämmerung eingesetzt hatte, sondern wegen all des Rauchs. Er stützte sich am Zaun ab und versuchte, in dem stickigen Dunst irgendetwas zu erkennen.

Ein riesiger, dunkler Metallklumpen lag umgekippt auf der Böschung gegenüber. Einzelne Feuer flackerten in der nebligen Finsternis wie Irrlichter im Moor. Ein Stück weiter lagen ein paar Eisenbahnwagen. Sie waren so deformiert, als wären sie vorher nicht stabiler als Strohballen auf Rädern gewesen. Dahinter standen ein paar Wagen noch auf den Schienen, einige schief, andere aufrecht. Von Letzteren lösten sich Schatten. Es dauerte einen Moment, bis der Junge begriff, dass es Menschen waren. Er war fassungslos. Wie konnte hier noch jemand am Leben sein?

Er richtete den Blick wieder auf die zerstörten Wagen, und als der Rauch sich verzog, konnte er ein wenig besser sehen. Glassplitter. Ein leichter Koffer, dessen Inhalt herausquoll wie die Eingeweide eines verwundeten Tieres. Die verrußten Seiten eines aufgeschlagenen Buches, die im Wind flatterten. Ein Damenhalbschuh, gnädigerweise ohne abgetrennten Fuß. Und dann etwas Weißes, so hell und rein, dass er sich fragte, warum er es nicht sofort bemerkt hatte. Etwas bewegte sich darin. Oder darüber. Getrieben von einem inneren Instinkt kletterte der Junge über den Zaun und wollte darauf zugehen.

Doch als er auf der anderen Seite des Zauns stand und nach dem hellen Fleck suchte, näherte sich jemand – eine rabenschwarze Gestalt mit Hut und in einem langen Mantel. Der Mann bückte sich und hob das weiße Bündel vorsichtig auf. Er betrachtete es einen Moment lang und verbarg es dann behutsam unter seinem Mantel. Und plötzlich wusste der Junge, was das war. Es war ein Wunder. Ein Wunder, das unversehrt aus dem Wrack eines brennenden Eisenbahnwagens herausgeschleudert worden war.

Nicht alles besteht aus Anfang, Mitte und Ende. Nicht alle Geschichten verlaufen geradlinig. Nicht immer liegt die Vergangenheit in weiter Ferne und hat auf direktem Weg zur Gegenwart geführt. Manche Geschichten – und dazu gehört auch diese – bilden einen Kreis, in dessen Mitte sich etwas Furchtbares verbirgt, von dem alles andere sich ausbreitet. Wie Ringe auf dem Wasser um einen Regentropfen.

EINS

Grace, 1922

Es war eine kurze, unauffällige Annonce in einer Zeitung aus Cheltenham, die mich im Jahr 1922 nach Fenix House führte. Die Looker-On erschien wöchentlich, und so lange ich denken konnte, ließ meine Großmutter sie sich nach Bristol zustellen, wo wir damals wohnten. Die wenigen Zeilen, die den Lauf meines Lebens verändern sollten, standen fast ganz unten auf der Annoncenseite, versteckt zwischen dem Gesuch nach einer Gesellschafterin, die bereit wäre, auch einen kleinen Hund auszuführen, und dem Stellenangebot für einen Koch mit untadeligen Referenzen und tugendhaften Gewohnheiten, der Hausmannskost zubereiten konnte. Noch heute weiß ich den Wortlaut auswendig.

»GOUVERNANTE« stand in großen, schwarzen Lettern darüber.

//JUNGE DAME für siebenjährigen Jungen gesucht, der die Schule nicht besuchen kann. Unterricht in allgemeinbildenden Fächern und gelegentliche Betreuung erwünscht. Angemessene Entlohnung inklusive Unterbringung in Zimmer mit idyllischer Aussicht. Referenzen erforderlich. D. Pembridge, Fenix House, bei Cheltenham.//

»Weißt du, was das heißt?«, fragte meine Großmutter. Sie hatte die Zeitung vor mir ausgebreitet, die Seite mit der Annonce mit einem Eselsohr gekennzeichnet. Sie zitterte geradezu vor Aufregung. Ihre grauen Augen funkelten. Für einen Moment konnte ich mir genau vorstellen, wie sie als junges Mädchen in meinem Alter ausgesehen haben musste.

»Ich glaube, ja«, antwortete ich zögernd, unsicher, ob ich wirklich wusste, was sie meinte. »Das sind sie. Die Pembridges. Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass sie eine Gouvernante suchen? Genau wie vor all den Jahren, als du zu ihnen gekommen bist.«

»Das ist kein Zufall«, sagte meine Großmutter. »Es ist genau das, worauf wir gewartet haben.«

»Wir?«, fragte ich unbeschwert, beinahe belustigt. Gleichzeitig war mir ein wenig unbehaglich zumute.

»Mein Liebling, was glaubst du wohl, warum ich dir so viel von Fenix House erzählt habe?«

»Ich dachte, das wären nur die üblichen Geschichten. Ich dachte, du wolltest mir etwas aus der Zeit erzählen, als du noch jung warst.«

»Das wollte ja ich auch, teilweise zumindest. Aber es gab noch einen Grund: Vorbereitung. Du solltest vorbereitet sein, wenn du selbst einmal dorthin gehst.«

Meine Großmutter war wunderbar im Geschichtenerzählen. Wie Perlen an einer silbernen Schnur zogen sie sich durch meine Kindheit. Über die Grenzen der Zeit hinaus bestanden sie in meinen Gedanken weiter, so lebendig wie alles, was ich selbst als Kind erlebt hatte. So deutlich, dass ich manchmal kaum noch auseinanderhalten konnte, wo meine eigenen Erinnerungen aufhörten und die meiner Großmutter anfingen.

Die Geschichten, die ich am liebsten hörte, drehten sich alle um Fenix House. Im Sommer 1878 war meine Großmutter als Gouvernante für die Töchter des Hauses dorthin gekommen, und es kam mir vor, als könnte ich mich an diesem Ort mit verbundenen Augen zurechtfinden, Raum für Raum allein durchs Tasten und Hören erkunden. Die cremefarbenen, roten und königlich blauen Fliesen in der Eingangshalle unter den Sohlen meiner Schuhe. Das gewundene Treppengeländer, glänzend nach jahrelanger Politur, glatt unter meinen Fingerspitzen. Das Weinen eines Kindes aus der oberen Etage, das Klirren von Geschirr auf dem Tablett eines Hausmädchens.

Als sie selbst in Fenix House gewesen war, hieß meine Großmutter noch Harriet Jenner. Und wenn sie mir erzählte, wie sie jeden Morgen am Fenster ihres Zimmers gestanden und die Aussicht genossen hatte, bekam ich immer das Gefühl, ich würde mit ihr einen Blick auf das Gold und Grün von Gloucestershire werfen, auf die Landschaft mit ihren Hügeln und Tälern, die sich irgendwo in der Ferne verloren.

Harriets Vergangenheit war mir damals wohl lieber als meine Gegenwart gewesen. Ich war gerade erst zu einem Waisenkind geworden, als ich zum ersten Mal von Fenix House und seinen Bewohnern hörte. Vielleicht fand ich es tröstlich, Geschichten aus einer Zeit erzählt zu bekommen, als meine Eltern sich noch in absoluter Sicherheit befanden, in ihrer ungeborenen Behaglichkeit, die ich mir vorstellte wie einen Kokon, der verborgen in der Dunkelheit hinter den Sternen hing.

Sie kamen bei einem Eisenbahnunglück zwischen London und Bristol ums Leben, auf der berühmten Bahnlinie, die Isambard Kingdom Brunel gebaut hatte. Ohnehin sollte sich das Frühjahr des Jahres 1910 für Reporter als ungewöhnlich lukrativ erweisen. Zunächst war der Halleysche Komet mit seinem leuchtenden Schweif aus todbringendem Zyanid lautlos am Himmel aufgeflammt und hatte neben allgemeiner Verunsicherung auch Schlagzeilen nach sich gezogen, die sogleich die Apokalypse heraufbeschworen. Als wäre es damit nicht genug, war der Onkel und oberste BonvivantEuropas, Edward VII., gestorben, vermutlich an einem allzu erfüllten Leben. Damals ahnte es noch niemand, aber seine Beisetzung am zwanzigsten Mai war die letzte Veranstaltung dieser Art. Alles, was Rang und Namen hatte, war noch einmal in Glanz und Gloria erschienen, darunter nicht weniger als neun gekrönte Häupter. Nachdem sie aus allen Teilen des Kontinents zusammengekommen waren, um dem König das letzte Geleit zu geben, würden die meisten von ihnen sich bald darauf unwiederbringlich in alle Winde verstreut haben – entthront, verbannt oder ermordet.

Aber auch andere, weniger bedeutende Leben erloschen in jenem Frühjahr. Namen, denen es ursprünglich bestimmt war, der sicheren Vergessenheit anheimzufallen, wurden stattdessen für alle Zeit mit fleckiger Tinte auf dünnes Zeitungspapier gebannt. Unter ihnen waren auch meine Eltern. Es geschah am Tag nach der Beisetzung des Königs. In royalem Glanz oder hoch oben am Himmel im Schweif uralten Gesteins war der Tod nichts weiter als ein entferntes Schreckgespenst gewesen – aber nun hatte er sich meine Mutter und meinen Vater geholt. Und mit ihnen neunzehn weitere Menschen, die gemeinsam mit meinen Eltern durch eine Verkettung von Fehleinschätzungen aus dem Leben heraus- und in die reißerischen Aufmacher der Abendzeitungen hineinkatapultiert wurden.

Zwölf Jahre nach diesen folgenschweren Ereignissen saß ich im Wohnzimmer und las mir die Annonce noch einmal durch. Dabei hatten sich die Zeilen längst in mein Gedächtnis eingebrannt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich damals schon die volle Tragweite der Worte meiner Großmutter erfasste: Ich sollte nach Fenix House gehen.

»Ausgezeichnete Referenzen kannst du vorweisen«, sagte sie nachdenklich. »Gottlob haben wir nicht damit gewartet, dass du mit dem Unterrichten beginnst.«

»Referenzen?«, fragte ich schroff. »Wozu Referenzen?«

Doch kaum hatte ich es ausgesprochen, verstand ich. Nicht nur die Geschichten, die meine Großmutter mir in all den Jahren erzählt hatte, ergaben plötzlich einen Sinn – auch der Umstand, dass sie mir, als ich zwanzig wurde, geraten hatte, einer kleinen Gruppe Schülerinnen die Grundlagen in Kunst, Rechnen und Schreiben beizubringen. Ich trete in ihre Fußstapfen, war mir damals sogleich durch den Kopf gegangen. Ich fand Gefallen an dem Gedanken, dass es in meiner Familie etwas gab, das Bestand hatte. Mehr noch gefiel mir das Gefühl, behandelt zu werden wie eine Erwachsene, der man zugestand, für sich selbst sorgen und eigene Bekanntschaften schließen zu können.

Nun aber sackte mein ganzer Stolz auf zwei Jahre Lehrtätigkeit in sich zusammen wie eine Theaterkulisse aus Pappmaché. Der Unterricht, den ich den Mädchen erteilt hatte, war offenbar nichts weiter gewesen als eine Generalprobe. Meine Großmutter hatte die ganze Zeit darauf hingearbeitet, mich als Gouvernante in Fenix House unterzubringen. Ich sollte den gleichen Weg antreten wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor.

Mit welcher Absicht, konnte ich nicht einmal ahnen.

ZWEI

Drei Wochen später stand ich auf dem Bahnsteig von Temple Meads, um Bristol zu verlassen. Die Stellung als Gouvernante war mir schriftlich zugesagt worden. Auf dem Bahnhof herrschte reges Treiben. Schnaufende Lokomotiven stießen schrille Pfiffe und zischenden Dampf aus, während ihre blank polierten Kessel angeheizt wurden. Bei dem Getöse war das Stimmengewirr der Reisenden nur noch ein gedämpftes Gemurmel, abgesehen von gelegentlichen Willkommens- oder Abschiedsrufen. Unbeeindruckt von der Geräuschkulisse erhoben sich im Hintergrund die Wände aus rotem Backstein, die über unseren Köpfen mit dem abgerundeten Dach, einem Gebilde aus Eisen und rußverschmiertem Glas, abschlossen.

Für alle anderen Reisenden war der Bahnhof, den Brunel gebaut hatte, ein ganz normaler Ort. Ich aber stand da und nahm alle Eindrücke in mich auf wie ein staunendes Kind. Dabei war ich längst kein Kind mehr. Mittlerweile war ich zweiundzwanzig, genauso alt wie das Jahrhundert. Und obwohl es mir häufig so vorkam, als hätte meine Kindheit am Tag des Eisenbahnunglücks ein jähes Ende gefunden, fühlte ich mich im Gedränge auf dem überfüllten Bahnsteig so weltfremd wie lange nicht mehr.

Bevor ich in den Zug stieg, sah ich mich ein letztes Mal um, als würde ich nie wieder hierher zurückkehren. Ein Gepäckträger, der mein Zögern bemerkt hatte, eilte zu mir, riss mich aus meinen Gedanken und half mir hinauf in den Wagen. Als ich mich bei ihm bedankte, klang meine Stimme heiser, denn vor lauter Aufregung war mein Mund ganz trocken. Das lag nicht nur daran, dass ich alles mir bis dahin Vertraute hinter mir lassen würde, sondern auch, dass ich seit 1910 nicht mehr mit der Eisenbahn hatte fahren dürfen.

Bei den wenigen Tagesreisen, die meine Großmutter in den Jahren seit dem Zugunglück mit mir unternommen hatte – an die Küste nach Weston-super-Mare und einmal nach Bath –, hatte sie stets darauf bestanden, mit einer Reisekutsche zu fahren. So schien mir diese Zugfahrt, die ich ganz allein antreten sollte, das Schicksal geradezu herauszufordern. Die Tatsache, dass meine Großmutter sich darüber keinerlei Sorgen machte, beruhigte mich nicht sonderlich.

»Du bist dazu bestimmt, nach Fenix House zu gehen. Das weißt du doch«, hatte sie in der Woche vor meiner Abreise zum wiederholten Mal gesagt. Ich hatte kaum glauben können, dass sie mir eine Zugfahrkarte gekauft hatte. »Bei unseren Ausflügen hätte ich es niemals darauf ankommen lassen, aber auf dem Weg nach Fenix House wird dir nichts passieren. Glaub mir, Grace! Es soll so sein. Das habe ich vorausgesehen.«

Doch die Überzeugungskraft meiner Großmutter konnte mir das flaue Gefühl im Magen nicht nehmen, als der Zug aus dem Bahnhof rollte. In den vergangenen Wochen hatte ich mir einzureden versucht, von zu Hause wegzugehen sei nun einmal das, was man mit zweiundzwanzig Jahren für gewöhnlich tat, und dass ich, wenn ich es noch länger hinauszögerte, wohl niemals den Absprung schaffen würde. Aber nun, als mich der Zug immer weiter von meiner vertrauten Umgebung fortbrachte, fragte ich mich, ob ich nicht einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Während meine Mitreisenden schon längst durch das eintönige Rattern eingeschlafen waren, regten sich in mir immer mehr Zweifel. Ich hatte auch keinen Appetit auf die Sandwiches, die meine Großmutter mir morgens eingepackt hatte, aber ich aß sie trotzdem – voller Heimweh und mit schlechtem Gewissen, weil ich beim Abschied so abweisend zu ihr gewesen war.

Ich hatte gerade den letzten Bissen heruntergeschluckt, da fuhr der Zug auch schon den letzten Halt an. Gloucester mit der Kathedrale aus Kalkstein, die sich erhob wie ein Schiff aus seichtem Wasser, lag bereits hinter uns. Am nächsten Bahnhof musste ich aussteigen: Cheltenham Spa. Da mich niemand abholen würde, sollte ich mit dem Bus oder einem Taxi weiterfahren. In jedem Fall würde man mir das Fahrgeld erstatten. So stand es jedenfalls in dem Brief, den meine Großmutter mir morgens noch in die Handtasche gesteckt hatte. Ich entschied mich für Letzteres, um wenigstens auf der letzten Etappe meiner Reise ein Weilchen allein sein zu können.

An einen Ort zu kommen, den man in Gedanken schon so oft vor sich gesehen hat, ist sonderbar – wie ein wiederkehrender Traum, dessen Details doch nicht ganz dieselben sind, in dem alles so vertraut und doch leicht verzerrt ist. Die Kuppen der Hügel kamen genau dort in Sicht, wo ich sie erwartet hatte, und die Straße führte ebenso steil bergauf, wie ich vermutet hatte. Aber die Bäume auf der linken Seite, die, wie ich wusste, Kalksteinfelsen verdeckten, kamen mir viel bedrohlicher vor als in meiner Vorstellung.

Das Tor am Ende der kurzen, steilen Auffahrt sah äußerst mitgenommen aus. Ein Flügel hing schief in den Angeln und steckte auf einer Seite im Kiesweg fest. Der andere stand eine Handbreit offen und schlug im Wind hin und her. Dichte Azaleen umwucherten das Tor, und es wirkte, als wären sie kurz davor, es voll und ganz zu erobern. Aber als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass der Strauch innen schon abgestorben war – ein endlos tiefes, dunkles Nichts. Wieder wurde mir flau im Magen. So etwas hatte ich nicht erwartet.

Der Chauffeur wollte die Auffahrt nicht weiter hinauffahren, und ich bestand auch nicht darauf. Wie ich nach dem Aussteigen bemerkt hatte, hatte das Gestrüpp bereits Kratzer an den Türen des Gefährts hinterlassen, und ich fürchtete, er würde verlangen, dass ich für den Schaden aufkam. Er band meinen Koffer los und ließ ihn nachlässig auf den nassen Boden fallen.

Die Ziegelsteine in der Auffahrt waren einst im Fischgrätenmuster verlegt worden, mittlerweile aber so tief im Schlamm versunken, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Ob durch Vernachlässigung, den Zahn der Zeit oder beides – jeder zweite Stein hatte Risse oder sich durch das darunter wuchernde Unkraut gelockert. Der Chauffeur hatte Mühe, das Automobil zu wenden, weil die Räder auf dem rutschigen Boden immer wieder durchdrehten. Aber schließlich schaffte er es. Die Autodroschke rollte wieder hinunter zur Straße und ließ mich allein zurück.

Hier oben war der Wind um einiges stürmischer als unten in Cheltenham. Er fegte durch die knarrenden Äste der Bäume und wehte mir fast den Hut vom Kopf. Die Böen zerrten an dem offenen Torflügel, der ein so menschlich klingendes Ächzen von sich gab, dass ich zögernd davor stehen blieb.

Schließlich griff ich nach dem alten eisernen Riegel, der sich trotz meiner Handschuhe eiskalt anfühlte. Genau hier musste auch meine Großmutter vor fünfzig Jahren gestanden haben.

Lange war Fenix House für mich nichts weiter gewesen als der Handlungsort einer Geschichte – unberührt vom Verstreichen der Zeit schien es darauf zu warten, dass meine Großmutter und ich beschlossen, dorthin zurückzukehren. Erst in diesem Moment wurde mir vollends bewusst, dass das Haus die ganze Zeit über dort gestanden hatte, heruntergekommen wie alle Gebäude, die dem Lauf der Zeit und der Natur überlassen werden.

Den Garten konnte man hinter den riesigen Azaleen kaum erkennen. Ich erspähte allerdings ein paar Lorbeerbüsche und Tannen, so hoch, dass sogar das Haus davor klein erschien. Die Lorbeerbüsche schüttelten ihre Blätter und die Tannen senkten ihre Kronen. Ich wusste, es war nur der Wind, aber es kam mir vor, als richtete sich ihr Zorn gegen die Menschen, die den einst so prächtigen Garten derart hatten verkommen lassen.

Auch die Kutscheneinfahrt, von der ich nur einen Ausschnitt sah, bot einen erbarmungswürdigen Anblick: Zwischen den spärlich verteilten Kieselsteinen wuchsen Gras und Unkraut, und der Boden schimmerte hindurch, sodass man sich an einen abgetretenen Flickenteppich erinnert fühlte. Zweifelsohne war der Kies einmal gleichmäßig verteilt und ordentlich geharkt gewesen, aber nun schien er noch unebener als die Ziegelsteine in der Auffahrt, auf der ich stand.

Dahinter stand das Haus. Das Haus, von dem ich schon so viel gehört hatte und von dem ich gehofft hatte, es wäre mir in dieser ungewohnten Situation vertraut wie ein alter Freund. In Wahrheit hatte ich Fenix House nämlich schon erspäht, noch bevor mein Blick auf die Lorbeerbüsche, die Tannen und den ungepflegten Kiesweg gefallen war. Doch ich hatte sofort den Kopf abgewandt – wie vor einem Fremden, der entstellt ist und den man nicht anstarren möchte. Nun musste ich mich überwinden, um mir das Haus genauer anzusehen.

Natürlich war es nicht völlig verfallen. Dach und Fenster waren intakt, und es war auch nicht so, dass Mauern und Schornsteine in sich zusammengestürzt wären. Doch was ich da vor mir sah, war fast noch schlimmer. Dem Verfall preisgegeben und in einem Zustand zwischen morbider Eleganz und Baufälligkeit ließ sich noch erahnen – und umso mehr bedauern –, welchen Charme das Gebäude mit seiner eigenwilligen Schönheit einst verströmt haben musste. An einigen Stellen waren die Mauern schwarz angelaufen, an anderen hatten die verrosteten Schellen der undichten Regenrinnen bräunlich feuchte Flecken hinterlassen. Von der Brüstung vor der Eingangstür war eine Steinkugel herausgebrochen. Wie ein abgeschlagener Kopf lag sie noch dort, wo sie hingefallen war. Und in den brüchigen Stufen, die zum Eingang hinaufführten, klafften tiefe Risse wie offene Wunden.

Aber noch etwas stimmte hier nicht. Und das betraf nicht allein den Zustand des Hauses, sondern auch dessen Ausmaße. Die Architektur kam mir zum Teil bekannt vor – die Giebel, die Ecktürme, die sonderbare Mischung verschiedener Stilrichtungen –, aber ich hatte gedacht, das Haus wäre größer. Ich hatte ein richtiges Herrenhaus erwartet, ein Gebäude mit mehreren Flügeln, erbaut mit altem Geld. Dieses Haus war zwar groß, aber keineswegs so riesig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es wirkte eher wie der Wohnsitz eines wohlhabenden viktorianischen Industriellen und seiner Familie. Und genau das war es ja auch gewesen. Warum also hatte ich es mir so viel eindrucksvoller vorgestellt? »Fenix House war jedem ein Begriff.« Das hatte meine Großmutter immer gesagt. Dem Chauffeur der Droschke war es jedenfalls kein Begriff gewesen – ich hatte die Adresse zweimal wiederholen müssen. Aber er war in meinem Alter, und vielleicht war das Haus längst in Vergessenheit geraten. Abgesehen davon kann alles, was uns als Kind imposant erscheint, aus der Perspektive eines Erwachsenen wesentlich weniger beeindruckend aussehen.

Abermals betrachtete ich Fenix House, bis das Bild, das ich so lange vor Augen gehabt hatte, verblasste wie eine Fotografie in einem sonnendurchfluteten Raum. Lediglich der Respekt vor allem Vergänglichen hielt mich davon ab, laut aufzulachen. Aber dann schob ich mein Befremden beiseite, strich meinen Mantel glatt, ließ den schweren Koffer in der Auffahrt stehen – und trat durch das Tor.

DREI

Als ich mich dem Haus näherte, erkannte ich immerhin Anzeichen dafür, dass es bewohnt war. Auf der obersten Stufe neben der Eingangstür stand eine Holzkiste, die sauberer und neuer aussah als alles andere weit und breit. Vermutlich war sie erst vor Kurzem geliefert worden und hatte Lebensmittel enthalten. Außerdem waren die Vorhänge hinter einigen der trüben, staubigen Fensterscheiben zugezogen. Ich warf einen Blick auf den achteckigen Turm direkt neben mir, und es kam mir so vor, als hätten sich die Vorhänge in einem der Fenster bewegt. Offenbar wurde ich beobachtet.

Vielleicht verunsicherte mich der Gedanke, dass jemand mein Herannahen gesehen hatte, vielleicht war es auch nur ein falscher Schritt – meine neuen Schuhe waren für den unebenen Boden nicht geeignet –, jedenfalls blieb ich mit einem der hohen Absätze hängen, stolperte und schlug auf den Boden auf. Ungeachtet des stechenden Schmerzes in meinen Knien rappelte ich mich wieder auf. Wie entsetzlich peinlich, dass der erste Eindruck, den ich bei den Pembridges hinterlassen würde, der eines Tollpatsches war, der vor ihrem Haus im Schlamm lag! Noch dazu hatte ich ein neues Paar Strümpfe ruiniert. Beim nächsten Schritt merkte ich, dass ich mir außerdem den Fuß verstaucht hatte. Mit schmerzverzehrtem Gesicht humpelte ich die Stufen hinauf.

Ich drückte auf die Klingel und lauschte angestrengt. Als auch beim zweiten Versuch aus dem Inneren des Hauses kein Läuten zu hören war, wollte ich schon an die Tür klopfen. Aber sicher hätte das massive Eichenholz jedes Geräusch geschluckt, und womöglich wären dabei die Scheiben aus der oberen Hälfte der Tür gefallen und zu Bruch gegangen, so lose, wie sie in den Bleirahmen saßen. Der einzige Lichtblick: Wenn mich jemand beobachtet hätte, wäre derjenige längst erschienen. Vielleicht hatte also doch niemand etwas von meinem Sturz mitbekommen. Erleichtert drehte ich den Messingknauf. Die Tür war nicht verschlossen! Ich stemmte mich dagegen und trat zögernd über die Schwelle.

Eigentlich hatte ich Fliesen erwartet – massive, bemalte Bodenfliesen in einem geometrisch verlegten sternförmigen Muster –, aber etwas eindeutig Weicheres dämpfte das Geräusch meiner Schritte: Teppiche oder Fußmatten –, was genau, konnte ich im Halbdunkel nicht erkennen. Lediglich durch die Bleiverglasung der Tür, die ich leise hinter mir zugezogen hatte, fiel Tageslicht in die Eingangshalle und warf Schatten aus düsterem Gelb und staubigem Rosa auf den Boden.

Vielleicht stimmte die Adresse nicht? Oder man hatte sich einen Scherz mit mir erlaubt? Möglicherweise wohnte weder ein D. Pembridge noch sonst jemand in Fenix House, und meine Großmutter hatte das Gesuch für eine Gouvernante aus irgendeinem unerfindlichen Grund selbst aufgegeben.

Doch dann ertönte in dem ansonsten absolut stillen Haus ein durchdringendes Läuten. Erschrocken wich ich zurück und hielt vor Schmerz den Atem an, denn ich war mit dem verstauchten Fuß aufgetreten.

Das Läuten hielt an, sodass mir erst nach ein paar Sekunden ein weiteres Geräusch bewusst wurde, eindeutig weniger schrill, aber umso näher. Ich hob den Kopf und entdeckte in dem gedämpften Licht eine Reihe nebeneinander gespannter Kupferleitungen. Einige verliefen entlang der düsteren Treppe zu den oberen Etagen, andere zweigten zu Zimmern ab, deren Türen geschlossen waren. Einer der Drähte, die nach oben führten, vibrierte, und in Gedanken sah ich vor mir, wie Agnes, die zu Zeiten meiner Großmutter hier das Hausmädchen gewesen war, aufhorchte und die Hausherrin verwünschte, weil sie schon wieder nach ihr läutete. Doch das hier war nicht der Anfang einer Geschichte meiner Großmutter, sondern die Realität. In genau diesem Moment läutete irgendwo in diesem Haus, das ich schon fast für unbewohnt gehalten hatte, tatsächlich jemand nach einem Bediensteten.

Als wieder Stille eingekehrt war und nur der Nachklang des Läutens widerhallte, hörte ich unter meinen Füßen ein Scharren und gleich darauf etwas zerschellen, das wie splitterndes Glas klang. Es schien aus der Etage unter mir zu kommen. Nachdem ich etwa eine halbe Minute lang reglos verharrt hatte, hörte ich jemanden mit schweren, schleppenden Schritten unverkennbar Stufen hinaufsteigen. Hinter einer kaum erkennbaren, mit Tapeten bespannten Wandtür musste also eine Treppe sein.

Hastig warf ich einen Blick über die Schulter und versuchte mir auszurechnen, ob ich Zeit genug hatte, das Eingangsportal aufzureißen, über den Kiesweg zu laufen und das quietschende Tor hinter mir zu schließen. Und was dann?Den Koffer hinter mir herzerren bis hinunter nach Cheltenham? Trotz meines wachsenden Unbehagens blieb ich wie angewurzelt stehen und lauschte auf die sich nähernden Schritte, bis die Wandtür sich schließlich öffnete.

Auf der Schwelle erschien eine Frau von Mitte sechzig, mit hochgezogener Hüfte. Anscheinend war das Gelenk steif, wodurch ihr Gang unbeholfen schaukelnd erschien. Sie trug ein schwarzes Kleid mit schmuddeligem weißem Kragen, und um ihren Hals hing eine Schnur, von der ein Schlüssel herabbaumelte. Ihr Haar sah aus, als müsse es dringend mal gewaschen werden. Ein paar Strähnen hatten sich aus dem strengen, dünnen Knoten auf ihrem Kopf gelöst und hingen ihr ins Gesicht. An den wenigen Stellen, wo das Haar noch nicht grau war, leuchtete es in demselben Orange wie die Roststreifen am Mauerwerk des Hauses.

Als sie mich sah, blieb sie abrupt stehen. »Und wer sind Sie nun wieder?«

»Miss Fairford«, brachte ich zögerlich heraus.

Mein Name war ihr anscheinend kein Begriff, und sie machte keine Anstalten, sich vorzustellen. »Haben Sie geläutet, oder waren das wieder die da oben?«, fragte sie stattdessen, wobei sie ihre Missachtung für »die da oben« mit einem knappen Kopfnicken in Richtung der im Halbdunkel liegenden Treppe zum Ausdruck brachte. Ich hatte zwar eine vage Vorstellung, war aber dennoch gespannt zu erfahren, wen sie meinte.

»Oh, nein, das war ich nicht«, antwortete ich hastig. »Ich bin gerade erst hereingekommen. Ich habe an der Tür geschellt, aber es öffnete niemand, und da …«

»Irgendeiner von denen läutet immer«, bemerkte sie mürrisch, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. »Hier hat man nicht einen einzigen Moment seine Ruhe.«

Mir stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase, und allmählich wurde mir bewusst, dass er von der Frau kam, die vor mir stand. Nun, da es mir aufgefallen war, wurde es noch schlimmer. Und obwohl ich versuchte, nur durch den Mund zu atmen, glaubte ich außer Fett und Schweiß auch noch etwas Strengeres riechen zu können. Ich sah der Frau in die Augen und stellte fest, dass ihr Blick nicht fokussiert war. Alkohol? Das war vielleicht auch eine Erklärung für ihre verzögerte Reaktion auf meine unerwartete Anwesenheit.

Als könnte sie mir die Gedanken vom Gesicht ablesen, fragte sie in aggressivem Tonfall: »Wie war Ihr Name noch gleich? Sie erinnern mich an jemanden, aber ich weiß nicht, an wen. Hab höllische Kopfschmerzen … Moment mal! Woher soll ich wissen, dass Sie nicht bloß was stehlen wollen? Einfach so hier reinzukommen! Also wirklich, ganz schön dreist!«

Anstelle einer Antwort kramte ich den Brief aus meiner Handtasche hervor. Sie riss ihn mir aus der Hand und tat, als würde sie ihn lesen. Aber ihr Blick bewegte sich nicht entlang der Zeilen. Wahrscheinlich konnte sie nicht mehr gut genug sehen, um bei dem diffusen Licht etwas entziffern zu können. Oder sie konnte gar nicht lesen, und es war ihr peinlich, es zuzugeben.

»Das ist die Bestätigung meiner Anstellung«, erklärte ich höflich und ein wenig zaghaft. »Ich bin die neue Gouvernante. Meine Großm… Ich meine, ich habe Mr. Pembridge den Tag meiner Ankunft schriftlich mitgeteilt. Also heute.«

»Haben Sie das? Ich bin die Haushälterin. Für Sie Mrs. Peck. Ja, allmählich klingelt da was. Wie überall um mich herum, nicht wahr? Egal, wo ich bin, irgendwo klingelt es immer. Wie heißen Sie noch gleich?«

»Miss Fairford. Grace Fairford.« Ich nahm ihr den Brief wieder aus der Hand, bevor sie noch auf die Idee kam, ihn im Ausschnitt ihres schmuddeligen Kleids verschwinden zu lassen. Mir war durchaus bewusst, wie spröde das klang, aber ich hatte mir die Haushälterin von Fenix House eher vorgestellt wie Mrs. Rakes, die zur Zeit meiner Großmutter das Kommando über die Dienstboten gehabt hatte.

Als könne sie mir abermals meine Gedanken vom Gesicht ablesen, setzte die Frau direkt vor mir eine selbstmitleidige Miene auf. »Leider treffen Sie mich heute nicht in bester Verfassung an, Miss Fairford«, klagte sie und schniefte demonstrativ. »Schon seit Tagen fühle ich mich nicht wohl. Aber die halten mich hier ständig auf Trab.« Sie verdrehte die Augen in Richtung der oberen Etage. »Das macht es natürlich nicht besser. Aber die scheren sich nicht darum, ob es mir gut oder schlecht geht. Wissen Sie, ich habe Probleme mit der Hüfte, und bei diesem nasskalten Wetter ist es die reinste Qual. Vor lauter Schmerzen mache ich nachts kein Auge zu. In diesem Jahrhundert habe ich überhaupt noch keine einzige Nacht durchgeschlafen. Ja, genauso sieht es nämlich aus.«

»Das tut mir sehr leid, Mrs. Peck. Durch die Lage des Hauses hier auf dem Hügel ist man den Wetterverhältnissen sicher ganz besonders ausgesetzt.«

Sie nickte. »Entsetzlich! Der Ostwind kommt direkt aus Sibirien. Da kann ich noch so viele Lappen zwischen die Fensterrahmen stopfen. Durch irgendwelche Ritzen zieht es immer. Und dann kriecht mir die Kälte in alle Knochen, bis ich völlig durchgefroren bin.«

Ich nickte, obwohl es mir ein Rätsel war, wie der Wind aus der russischen Taiga auf der Ostseite des Hauses wehen konnte, wo die doch durch eine steile Felswand geschützt wurde.

»Sie werden schon sehen, an was für einen gottverlassenen Ort Sie hier geraten sind«, redete Mrs. Peck munter weiter. »Woher kommen Sie denn?« Nun, da sie glaubte, endlich ein mitfühlendes Ohr gefunden zu haben, klang sie beinahe freundlich.

»Aus Clifton, einem Stadtteil von Bristol«, antwortete ich. »Ich bin dort aufgewachsen.«

Mrs. Peck stieß einen Seufzer aus. »Ach, Bristol würde mir auch gefallen. Eine richtige Großstadt mit Theatern und Geschäften direkt vor der Haustür. Und dann die Vergnügungsdampfer und all die Orte, wohin man Ausflüge machen kann. Da würde ich mich bestimmt fühlen wie neugeboren. Stattdessen hänge ich hier oben fest. Im November werden es schon fünfzig Jahre. Ein halbes Jahrhundert, länger als mein halbes Leben. Ob Sie es glauben oder nicht, ich war erst zwölf, als ich herkam. Damals war ich noch grün hinter den Ohren und dachte, nach ein oder zwei Jahren würde ich mich verbessern und in eins der größeren Häuser gehen, unten in Cheltenham, in Montpellier oder Lansdown, vielleicht sogar in London. Und nun bin ich immer noch hier.«

Ich gab mir alle Mühe, der Auflistung von verpassten Gelegenheiten und Ungerechtigkeiten zu folgen, die sie im Lauf der Jahre hatte hinnehmen müssen und von denen die aktuellste darin bestand, dass ihr Arbeitgeber den Kauf eines Staubsaugers verweigerte. Doch in Gedanken war ich noch bei den fünfzig Jahren, von denen sie gesprochen hatte und die ich nun versuchte, von 1922 zu subtrahieren. Möglichst unauffällig zählte ich die Jahrzehnte an meinen Fingern herunter. Dann unterbrach ich sie: »Wenn Sie schon so lange hier sind, erinnern Sie sich doch bestimmt an …«

Ich führte den Satz nicht zu Ende, denn mir war wieder eingefallen, was meine Großmutter mir noch an diesem Morgen gesagt hatte: Ich sei nun alt genug, mich zu bewähren und auf eigenen Beinen zu stehen. Die Tatsache, dass sie lange vor mir in Fenix House gearbeitet hatte, bräuchte ich nicht zu erwähnen. Sonst würde ich nur das Gefühl haben, in ihrem Schatten zu stehen. Nach unserem Disput der letzten Wochen hatte ich ihr da ausnahmsweise einmal zustimmen müssen. Also hatte ich mir vorgenommen, allein zurechtzukommen.

»An wen soll ich mich erinnern?«, fragte Mrs. Peck ungehalten, weil ich ihr ins Wort gefallen war.

»Ach, an niemanden. Ich dachte nur, dann kennen Sie die Familie und das Haus ja schon ziemlich lange«, stammelte ich. »Sie haben bestimmt als Küchenmädchen hier angefangen. Oder waren Sie erst in der Spülküche?«

Mrs. Peck war empört, mein Fauxpas vergessen, genau wie ich gehofft hatte. »Ich war doch nicht in der Spülküche! Jedenfalls nicht immer. Ich hatte auch oben zu tun. Ich war nämlich das zweite Hausmädchen.«

Mrs. Peck war also Agnes. Natürlich! Angesichts ihrer schlechten Laune und den noch erkennbar roten Haaren hätte ich sofort darauf kommen müssen. Ich wusste nicht, ob ich in Gelächter ausbrechen oder die Flucht ergreifen sollte. Ebenso wie an Fenix House waren die Jahre auch an Agnes nicht spurlos vorübergegangen. Meine Großmutter hatte geheiratet, meine Mutter zur Welt gebracht und in Bristol ein neues Leben angefangen. Aber Agnes war all die Jahre hier gewesen, war bei jedem Läuten die Treppen hinaufgestiegen und hatte die engen, vorhersehbaren Bahnen ihres Lebens nie verlassen.

Ich musste sie wohl ziemlich perplex angestarrt haben, denn sie schob die Schnur mit dem Schlüssel in den Ausschnitt ihres Kleids und sah mich misstrauisch an. Dann machte sie sich mit schaukelndem Gang auf den Weg zur Treppe, wobei jeder ihrer mit Bedacht gewählten Schritte von theatralischem Luftholen begleitet wurde. »Warten Sie im Salon«, rief sie mir zu. »Ich komme wieder runter. Aber ich muss mich erst um Seine Durchlaucht kümmern. Bestimmt war er es, der geläutet hat. Neun von zehn Malen ist er es nämlich.«

Bevor ich fragen konnte, wer Seine Durchlaucht denn war, hatte sie sich schon umgedreht, hielt sich mit ihren geschwollenen roten Händen am Geländer fest und humpelte die Treppe hinauf.

VIER

Nachdem Agnes in der oberen Etage verschwunden war, suchte ich den Salon auf. Als ich die Tür öffnete, stand ich sogleich vor der nächsten Ungereimtheit. Den Schilderungen meiner Großmutter zufolge war der Salon das schönste Zimmer im ganzen Haus gewesen, architektonisch perfekt konstruiert und lichtdurchflutet. Im Gegensatz zu den übrigen Zimmern war dieser Raum von Mrs. Pembridges Vorliebe für schwere Vorhänge und dunkle Tapeten verschont geblieben. Auf dem Boden lagen edle türkische Teppiche in verblasstem Rosa und Gold, und die Wände waren in einem zarten buttergelben Streifenmuster tapeziert. Zwei Sofas, ein Ohrensessel und kleine Tischchen waren mit Bedacht platziert worden, damit man sich gepflegt unterhalten oder den Blick durch die bodentiefen Fenster genießen konnte. Die Vorhänge aus luftigem Damast waren mit Schlaufen aus feinstem Satin zusammengerafft worden und hatten eine spektakuläre Aussicht auf das weitläufige Tal hinter der von einem schmiedeeisernen Geländer umgebenen Veranda geboten.

Die Aussicht war alles, was von der ehemaligen Pracht übrig war. Die alten Tapeten waren verrußt und lösten sich in den feuchten Ecken von den Wänden, als hielten sie es in dem heruntergekommenen Raum nicht länger aus. Die Vorhänge hingen schlaff herunter und hatten Stockflecken. Auf den Teppichen lag so viel Staub, dass man die Farben gar nicht mehr erkennen konnte. Und überall stapelten sich vergilbte Zeitungen, teilweise noch aus Kriegszeiten.

Als ich mich bückte, um mich voller Entsetzen davon zu überzeugen, dass dort tatsächlich ein Paar uralter Pantoffeln stand, hörte ich, wie das Eingangsportal geöffnet und so laut wieder zugeschlagen wurde, dass die Bleiverglasung bedrohlich schepperte. Noch ehe ich wieder aufrecht stand, stürmte ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Haar und grimmigem Blick durch die offene Tür. »Wer zum Teufel sind Sie?«, rief er. »Und was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«

Vielleicht lag es an der unfreundlichen Begrüßung, die Agnes mir hatte zuteilwerden lassen, vielleicht auch an der wochenlangen Ungewissheit meiner Zukunft oder daran, dass meine Großmutter mich aus unerfindlichen Gründen in dieses erbärmlich vernachlässigte Haus geschickt hatte – jedenfalls war ich auf einmal so verärgert, dass ich zunächst tief Luft holen musste, bevor ich antwortete. Und selbst danach bebte meine Stimme. »Ich heiße Miss Fairford. Ich bin hier, um meine Stellung als Gouvernante anzutreten. Und vermutlich haben Sie selbst mich hierherbestellt.«

Der Mann überraschte mich, indem er in Gelächter ausbrach. Eigentlich war es eher ein lautes, rostig klingendes Bellen, das ihn selbst ebenso zu erstaunen schien wie mich. »Ja, natürlich«, sagte er mit vor Heiterkeit geradezu entwaffnendem Gesichtsausdruck. »Ich hatte Sie ganz vergessen.«

»Wenn Sie keine Gouvernante mehr brauchen, fahre ich natürlich sofort wieder zurück nach Clifton«, sagte ich und verspürte angesichts der Möglichkeit, alldem hier zu entkommen, einen heftigen Anflug von Heimweh.

Er verzog das Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten. Offenbar musste er sich ein Grinsen verkneifen. »Nein, da muss ich Sie leider enttäuschen, Miss Fairford. Ich brauche noch immer eine Gouvernante. Oder möchten Sie keine mehr sein? Entspricht Fenix House nicht ganz Ihren Vorstellungen?«

»Keineswegs«, hörte ich mich in einer vermaledeiten Anwandlung von Trotz sagen. »Ich stehe nach wie vor zur Verfügung.«

»Schön. Meinem Sohn wird es guttun, eine Frau um sich zu haben. Abgesehen von Agnes natürlich.«

»Aber … Also, was ist denn mit seiner …?«

»Seine Mutter ist tot«, lautete die schlichte Antwort.

»Oh, das tut mir sehr leid.« Sogleich stieg mir glühende Röte in die Wangen.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte er nach einem Moment betretenen Schweigens in schroffem Ton. »Äußerst unhöflich von mir. Aber man braucht sich wohl nicht zu wundern, dass man an einem Ort wie diesem gesellschaftliche Gepflogenheiten allmählich vergisst. Ich bin David Pembridge.« Er reichte mir die Hand. Sie war groß, und seine Fingernägel waren gepflegt. Am kleinen Finger trug er einen goldenen Siegelring. Und sein Händedruck war sanfter, als ich gedacht hatte.

»Grace Fairford«, sagte ich leise, noch immer ein wenig betreten über meine gedankenlose Frage.

»Gut, Miss Fairford, da wir uns nun miteinander bekannt gemacht haben, kommen Sie vielleicht einfach mit.« Er drehte sich zur Treppe um. »Dann lernen Sie den Jungen gleich kennen, vorausgesetzt, er schläft nicht. Wenn Sie Ihren Koffer ausgepackt haben, essen Sie hoffentlich mit uns zu Abend. Es wäre eine nette Abwechslung, sich einer Frau gegenübersitzend vorzufinden, wenn man von der Suppe aufschaut. Abgesehen davon halte ich nichts von Klassenunterschieden und ähnlichem Unsinn, der hier früher üblich war. Seit dem Krieg hat sich das ohnehin erledigt, und wenn Sie mich fragen, wurde es auch höchste Zeit.« Mit einem Blick über die Schulter rief er mir zu: »Hier ist es finster wie in einem Verlies. Passen Sie auf, dass Sie nicht stolpern.« Dann verschwand er im Dunkeln, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Ich erreichte gerade den oberen Treppenabsatz, als ich ein reißendes Geräusch hörte und plötzlich Licht durch ein großes Fenster hereinfiel und den Flur durchflutete. Die Scheibe des Fensters war herausgebrochen, im Rahmen steckten spitze Scherben.

»Darum muss ich mich unbedingt kümmern«, murmelte Mr. Pembridge. »Das kann man unmöglich so lassen. Viel zu gefährlich.« Anscheinend war er in Gedanken ganz woanders als bei der tödlichen Falle, die der Zustand des Fensters darstellte.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, welche anderen Pembridge-Familienmitglieder derzeit hier wohnten, abgesehen von dem Jungen, um den ich mich kümmern sollte. Aber die Art, wie David Pembridge sich verhielt – mal ganz bei der Sache, und dann wieder geistesabwesend –, ließ erkennen, warum sich das Haus in einem solch erbarmungswürdigen Zustand befand. Die kaputte Fensterscheibe, die einfach ihrem Schicksal überlassen wurde, war nur eins der Zeichen für den Verfall von Fenix House. Dinge, die nicht zeitnah instand gesetzt wurden, summierten sich, bis schließlich alles heruntergekommen war. Aber vielleicht hatte Mr. Pembridge nach dem Tod seiner Frau einfach nicht die Kraft aufgebracht, sich darum zu kümmern, weil der Verlust ihn so hart getroffen hatte, dass ihm alles andere schlichtweg sinnlos erschien. Wer weiß, vielleicht hatte er das Fenster ja auch selbst eingeschlagen, mit der bloßen Faust, nachdem er aus einem der verstaubten Gläser, die mir im Salon aufgefallen waren, zu viel Whisky getrunken hatte?

»Kommen Sie hinterher?«, riss seine Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich sah gerade noch, wie er in einen Gang abbog, der vom Hauptkorridor abzweigte. »Vorsicht mit dem Läufer«, rief er mir zu. »Der hat Falten geworfen. Noch so etwas, was dringend in Ordnung gebracht werden müsste.« Er drehte sich um und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Genau deswegen lasse ich normalerweise keine Fremden ins Haus. Wenn ich es mit deren Augen sehe, fällt mir jedes Mal auf, in welch schlimmem Zustand hier alles ist.«

Ich hätte lügen müssen, um dem zu widersprechen. Also folgte ich ihm weiter schweigend. Der schmuddelige Läufer hatte nicht nur Falten geworfen, sondern war auch noch ausgefranst. Ich sah keinerlei Anzeichen dafür, dass Agnes – oder Mrs. Peck, wie sie nun genannt werden wollte – hier überhaupt irgendwelche Arbeiten verrichtete. Die alten Tapeten, die auf dieser Etage die Farbe von geronnenem Blut hatten, lösten sich zwar nicht von den Wänden, waren aber trotzdem nicht mehr zu retten. Ich blieb stehen und sah mir den Schaden genauer an.

Irgendetwas oder irgendjemand hatte auf der gesamten Länge des Flurs eine tiefe Furche hinterlassen, etwa zwei Fuß oberhalb der Sockelleiste. Im weiteren Verlauf waren die Kerben weniger tief und kaum noch zu sehen. Aber dann war das Messer, oder was immer den Schaden verursacht hatte, mit erneuter Wucht in den Putz gerammt worden.

Ich richtete den Blick wieder auf Mr. Pembridge. Er hatte die Tür am Ende des Flurs geöffnet und spähte in das Dunkel des dahinterliegenden Raums. Hastig folgte ich ihm und nahm mir vor, ihn in einem passenderen Moment zu fragen, was um Himmels willen mit der Wand geschehen war.

»Lucas?«, hörte ich ihn leise fragen. »Bist du wach?«

Vorsichtig betrat er das Zimmer und zog die Tür so weit hinter sich zu, dass mir nichts anderes übrig blieb, als davor stehen zu bleiben und angestrengt zu lauschen. Zunächst war nur ein Rascheln zu hören, demnach lag also jemand in einem Bett. Dann herrschte Stille. Meine Gedanken schweiften allmählich ab.

Umso mehr erschrak ich über das laute Geheul, das plötzlich einsetzte. »Nein!«, jammerte eine helle Kinderstimme, gedämpft und verschlafen, aber dennoch sehr bestimmt. »Ich will nicht!«

»Ach komm, sonst ist der Tag schon fast wieder vorbei«, hörte ich David Pembridge sanft sagen. »Deine neue Gouvernante ist hier, und sie möchte dich doch kennenlernen.«

Dielenböden knarrten. Wahrscheinlich war Mr. Pembridge zum Fenster gegangen, denn kurz darauf hörte ich, dass er die Vorhänge aufzog. Die Farbe der Wand, von der ich durch den Türspalt nur einen Ausschnitt hatte sehen können und die mir fast schwarz erschienen war, wechselte zuerst zu Grau und erwies sich schließlich als verblichenes Blau.

Angesichts der plötzlichen Helligkeit ertönte wütendes Brüllen, und etwas Schweres – vielleicht aus Metall oder dickem Porzellan – wurde auf den Boden geschleudert und prallte mit einem dumpfen Geräusch von etwas Weicherem ab. Im nächsten Augenblick riss Mr. Pembridge die Tür auf und hätte mich fast umgerannt. Instinktiv fing er mich auf und für einen Moment kamen wir uns irritierend nah.

»Ich hatte ganz vergessen, dass Sie vor der Tür stehen«, murmelte er.

»Geht es … Ist bei Lucas alles in Ordnung?« In dem beengten Flur klang meine zitternde Stimme viel zu laut. Noch immer standen wir dicht voreinander, daher wich ich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

»Sie können ihn jetzt doch noch nicht kennenlernen«, sagte er, und damit der Junge es hören konnte, fügte er betont laut hinzu: »Er ist heute nicht in der richtigen Verfassung für Besuch.« Mr. Pembridge war verärgert. Das war ihm deutlich anzumerken. Aber auf seinem Gesicht spiegelten sich auch tiefer gehende Emotionen.

Ohne das Zimmer noch einmal zu betreten und die Vorhänge wieder zuzuziehen, schloss er die Tür. Er achtete nicht auf das daraufhin einsetzende Geschrei, sondern ging schnurstracks den Flur entlang, und ich musste wieder hinter ihm herlaufen. Das Jammern klang herzzerreißend, besonders weil es von einem Kind kam, aber es war auch rasende Wut herauszuhören. Was das betraf, klang der Junge wesentlich älter als ein Siebenjähriger.

Nach dem missglückten Versuch, mich mit meinem Schützling bekannt zu machen, kam mir die ganze Situation von Minute zu Minute seltsamer vor, als geriete ich mit jedem Moment tiefer in eine bizarre Traumwelt.

Dieser Eindruck verstärkte sich umso mehr, als Agnes sich bereit erklärte, mir das Zimmer zu zeigen, das man für mich vorgesehen hatte. »Den Koffer bringe ich Ihnen später rauf. Der kommt bestimmt nicht weg«, sagte sie auf dem Weg die Treppe hinauf.

»Er ist aber ziemlich schwer«, gab ich zu bedenken, während ich gleichzeitig überlegte, ob ich wohl im selben Zimmer untergebracht würde wie einst meine Großmutter. Soweit ich wusste, war es ein sehr hübsches Zimmer. »Vielleicht sollte jemand anders den Koffer …«

»Wie Sie sehen, bin ich als Einzige hier«, schnitt Agnes mir mürrisch das Wort ab. »Ich habe schon viel Schwereres stemmen müssen. Da werde ich mit dem Koffer einer Dame ja wohl noch zurechtkommen.«

Meine Großmutter hatte mir viel über ihr damaliges Zimmer erzählt. Für eine Gouvernante war es recht behaglich eingerichtet. Es war sehr geräumig und lag in einem der Ecktürme, mit malerischer Aussicht aus Fenstern gen Süden und Westen. Auf dem Boden lag ein dicker, zartrosa Teppich, der Kamin war aus cremefarbenem Marmor, das Bett hatte ein Gestell aus Messing und war so breit, dass meine Großmutter, die ohne Schuhe nur 1,53 Meter groß ist, sich quer hätte hineinlegen können. Das Zimmer hatte sich außerdem auf der ersten Etage befunden, wo auch die Schlafzimmer der Familie gelegen hatten – für eine Hausangestellte ein ganz besonderes Privileg. Ich hatte es so deutlich vor Augen, dass mir ein enttäuschtes »Oh« entfuhr, als Agnes mich eine Treppe weiter hinaufführte.

Sie drehte sich um. »Warum bleiben Sie stehen? Ihr Zimmer ist da oben.«

Dann sollte ich also doch in einem anderen Zimmer untergebracht werden. Ich hätte damit rechnen müssen, dass sich hier mittlerweile einiges geändert hatte. Dabei war mir der Gedanke, im ehemaligen Zimmer meiner Großmutter zu wohnen, irgendwie tröstlich erschienen.

Mein Zimmer auf dem Dachboden hingegen war klein und spartanisch eingerichtet. Es gab nur ein einziges winziges Fenster, in einer hohen Gaube zwischen den Dachbalken, sodass ich mich auf die Zehenspitzen stellen müsste, wenn ich hinaussehen wollte.

»Wohl nicht ganz nach Ihrem Geschmack?«, fragte Agnes, als sie sah, was für ein Gesicht ich machte.

»Das geht schon, danke. Ich dachte nur …«

»Das Zimmer war sonst auch immer gut genug für die Gouvernanten.«

Ich sah sie prüfend an. »Tatsächlich? Schon immer?«

Sie antwortete nur mit einem knappen Kopfnicken. Dann drehte sie sich um, und ihre Schritte polterten über die Holzdielen des Korridors. Es war Jahrzehnte her, seit meine Großmutter hier gewohnt hatte. Vielleicht erinnerte sich Agnes nicht mehr so genau. Oder sie hatte mich bloß in die Schranken weisen wollen. Möglicherweise fand ich die Antwort aber auch hier in diesem Zimmer. Ich kniete mich auf den Boden und spähte unter das schmale Bett. Meine Großmutter hatte einmal beiläufig etwas erwähnt, schon vor Jahren. Aber es war mir im Gedächtnis geblieben, nicht nur, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass sie so etwas getan hatte, sondern weil ich als Kind sogar ein wenig schockiert darüber gewesen war.

Unter dem Bett war es zu dunkel, als dass ich etwas hätte erkennen können. Also zog ich es an einem der Beine, die auf Rollen waren, ein Stück beiseite. Mit einem lauten Quietschen bewegte sich das Bett so weit, dass ich die Fußleiste dahinter besser sehen konnte. In den Fugen hatte sich der Staub von Jahrzehnten gesammelt. Als ich ihn an einer Stelle mit dem Finger abwischte, sah ich sie sofort: die Zeichen, die meine Großmutter hinterlassen hatte. Sie sahen aus wie das Gekritzel eines aufsässigen Schulkindes und passten ebenso wenig zu ihrer sonst so gestochenen Handschrift, wie die Tatsache, dass sie sie überhaupt hier hineingeritzt hatte, ihrem eigentlichen Charakter entsprach. Wie sie auf eine solche Idee gekommen war, hatte sie mir nie erzählt. Aber wahrscheinlich hatte sie es aus demselben Grund getan wie alle Menschen, die sich an einem Ort verewigen wollen, an den sie voraussichtlich nicht mehr zurückkehren: um der Nachwelt etwas zu hinterlassen und – mehr noch – sich mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden zu fühlen. HJ. Ich presste einen Finger auf ihre Initialen und hätte in dem Moment nicht sagen können, ob ich sie vermisste oder ob ich noch immer verärgert war.

Ich verlagerte mein Gewicht wieder auf die Hacken und rieb mir den Staub von den Händen. Dabei kam mir der Gedanke, ob unter den winzigen Partikeln aus Farbe, Lack und Stoff auch etwas aus dem Jahr 1878 war, etwas, das noch von meiner Großmutter stammte. Ungeachtet dessen, was sie von teuren Teppichen und Marmor erzählt hatte, war mir mittlerweile klar: Dies war ihr Zimmer gewesen. An meinem Rock war ein langes Haar hängen geblieben. Auf dem dunkelgrauen Wollstoff sah es aus wie ein Goldfaden. Ich wickelte es so fest um meinen Finger, dass er oben ganz weiß wurde. Obwohl wir fast die gleiche Haarfarbe hatten, wusste ich: Es war nicht von mir. Ein längst vergangener Windhauch hatte es unter das Bett geweht, und dort hatte es all die Jahre gelegen, außerhalb der Reichweite von Besen und Scheuertüchern, als hätte es geduldig darauf gewartet, dass ich es eines Tages finden würde. Warum meine Großmutter wegen des Zimmers gelogen hatte, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht hatte sie sich einfach die erzählerische Freiheit dazu genommen, oder aber es lag an ihrem Stolz. Sie hatte schon immer einen sehr ausgeprägten Stolz gehabt.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meinen Koffer sofort auszupacken. Aber dann beschloss ich, lieber zum Abendessen hinunterzugehen. Gerade hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als ich vom anderen Ende des Dachbodens ein Geräusch hörte. Es kam aus einem Zimmer, das gegenüber der Felswand lag und das daher ziemlich dunkel sein musste. Agnes konnte das Geräusch nicht verursacht haben. Ihre schweren, humpelnden Schritte wären mir bestimmt aufgefallen, wenn sie noch einmal die Treppe heraufgekommen wäre. Weitere Bedienstete gab es nicht. Das hatten sowohl Mr. Pembridge als auch Agnes gesagt. Ob weitere Mitglieder der Familie noch am Leben waren, wusste ich nicht. Aber selbst wenn, was hätten sie hier oben auf dem Dachboden zu suchen gehabt?

Das Geräusch ertönte erneut, und da ich dieses Mal genauer hinhörte, schien es mir, als klänge es wie ein Rascheln oder Schlurfen. Ich näherte mich der Tür und hörte noch etwas im Hintergrund: das Knarren alter Dielenböden möglicherweise, auf denen jemand langsam hin und her ging, und ein leises Surren, mal höher, mal tiefer, dann ein gedämpftes Pfeifen. Am liebsten hätte ich durchs Schlüsselloch gespäht. Aber was hätte ich sagen sollen, wenn man mich dabei erwischt hätte? Dann wäre ich mir vorgekommen wie ein neugieriges Zimmermädchen aus einem alten Groschenroman. Das schien mir doch ziemlich albern. So lief ich hastig die Treppe hinunter.

Obwohl David Pembridge von »uns« gesprochen hatte, als er sagte, ich solle zum Abendessen ins Speisezimmer kommen, hatte ich damit gerechnet, ihn allein dort vorzufinden. Dem nicht zu überhörenden Klappern von Topfdeckeln nach zu urteilen, war eine missgelaunte Agnes unten in den Wirtschaftsträumen zugange. Mein mir weiterhin unbekannter Schützling lang vermutlich immer noch im Bett.

Doch an dem riesigen, ovalen Mahagonitisch saßen zwei Männer: mein Arbeitgeber und ein älterer Herr mit dichtem, grau meliertem Haar, das ihm wild und ungebürstet in alle Richtungen vom Kopf abstand. Er war nicht sehr groß, und unter seiner geflickten Tweedjacke schien er eher schmächtig zu sein. Die Jacke war falsch zuknöpft, und in der Brusttasche steckten ein paar Bleistifte, ein Lineal aus Messing, ein Vergrößerungsglas, ein undichter Füllfederhalter und ein sorgfältig geschälter Zweig.

Als ich die Tür leise hinter mir zuzog, sprang der ältere Herr auf, um mich zu begrüßen, und stieß vor lauter Eifer seinen Stuhl um. Pembridge sagte nichts und verdrehte nur die Augen, als er aufstand, um ihn wieder hinzustellen.

»Vielen Dank, David«, rief der Ältere, der meinem Arbeitgeber nicht einmal bis zur Schulter reichte. »Ich bin ein unbeholfener Esel erster Güteklasse, meine Liebe«, sagte er an mich gerichtet, während er mit ausgestreckten Armen auf mich zukam und nach meinen Händen tastete. »Daran werden Sie sich wohl gewöhnen müssen. Ich kann nur noch sehr schlecht sehen, und ständig verliere ich meine Brille. Ich kann von Glück reden, wenn an einem Tag mal nichts zu Bruch geht. Fragen Sie Agnes, die kann ein Liedchen davon singen. Und sie wird sicher mit Vergnügen von meinen Missgeschicken berichten.« Unbeholfen griff er nach meiner Hand. Wie es schien, konnte er mich nicht deutlich erkennen. Blinzelnd wie ein Neugeborenes sah er mich an. Dann drehte er mich ein wenig zur Seite, kniff seine tiefbraunen Augen zusammen und betrachtete mein Haar.

»Ich bin Miss Fairford«, sagte ich mit nachdrücklicher Betonung auf meinem Nachnamen. Auch wenn es abwegig schien, fürchtete ich, der unverkennbar warme Ton meiner Haarfarbe würde ihn an meine Großmutter erinnern. Seinem Alter nach konnte es gut sein, dass er sie noch kennengelernt hatte. Wieder sah ich ihn an. Was er da alles in der Brusttasche seiner Jacke mit sich herumtrug, seine beflissene Art und das freundliche Lächeln … War er vielleicht Bertie, im Jahr 1878 noch der kleine Sohn der Familie? Jemand anders fiel mir nicht ein. Bertie hatte meine Großmutter gern gemocht. Jetzt war er natürlich wesentlich älter, aber seine Hände fühlten sich so klein und warm an wie die eines Kindes.

»Ah ja, sehr schön, Miss Fairford«, sagte er entzückt. »Und Sie auch: wirklich sehr schön, soweit ich es erkennen kann.«

»Was, wie wir gerade gehört haben, nicht sehr weit ist«, bemerkte Pembridge von seinem Platz am Tisch aus.

Ich war mir nicht sicher, ob er sich über mich oder über Berties Kurzsichtigkeit lustig machen wollte – aber meine Wangen glühten, und ich war froh, dass das Speisezimmer ebenso schlecht beleuchtet war wie der Rest des Hauses. In diesem Fall war das ein Kronleuchter, der von der Decke hing, aber eigentlich nur die Stuckrosette erhellte.

»Mein Onkel«, erklärte Pembridge leicht abwesend, während er eine verstaubte Weinflasche abwischte. »Bertie Pembridge.« Den Vornamen sprach er ein wenig verächtlich aus, als schien ihm die Verniedlichung unangebracht für einen älteren Herrn.

Es stimmte also. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch das war gar nicht so einfach. Nach Agnes stand nun ein zweites Relikt aus der Vergangenheit leibhaftig vor mir. Und genau wie bei Agnes war die Zeit auch an Bertie nicht spurlos vorübergegangen. Jahr für Jahr ließ sich an Falten, nachlassendem Augenlicht und versagenden Hüften ablesen. Auf einmal fühlte ich mich so haltlos, dass ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Da stand ich nun an meinem ersten Abend in Fenix House und wäre sicher auch nicht verstörter gewesen, wenn Bertie nicht eifrig meine Hand ergriffen hätte, sondern einfach durch mich hindurchgeschwebt wäre – als flimmernde Erscheinung in verblassenden Farben.

Stattdessen drückte er meine Hand noch fester. »Also, Miss Fairford, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.« Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

Ich schluckte ein wenig irritiert und antwortete mit einem Kopfnicken. »Ja?«

Er strahlte mich an. »Wenn es nach dem Essen noch hell genug ist, würde ich Ihnen gern den Garten zeigen.«

Jahrzehnte zuvor war es auch Bertie gewesen, der meiner Großmutter den prächtigen Garten vorgeführt hatte. Diese Parallele zur Vergangenheit ließ die Gegenwart meiner Großmutter in dem heruntergekommenen Speisezimmer nahezu greifbar erscheinen, sodass ich mich fragte, ob sie in Clifton gerade an mich dachte.

Im Spätsommer nach dem Eisenbahnunglück hatte sie mir zum ersten Mal von ihrer Zeit bei den Pembridges erzählt. Sie war gar nicht lange bei ihnen gewesen. Kaum ein halbes Jahr war vergangen, als sie Fenix House wieder verließ und meinen Großvater heiratete. Natürlich hatte ich am liebsten Geschichten über die drei Kinder der Pembridges gehört. Wenn meine Großmutter von ihnen sprach, wirkte sie immer so unbeschwert. Obwohl ich mit zunehmendem Alter das Gefühl bekam, hinter ihren Erinnerungen steckte auch etwas Düsteres, etwas, das einen Schatten darauf warf, den ich als Kind noch nicht wahrgenommen hatte.

»Weißt du«, sagte sie manchmal, »es kommt mir vor, als wäre seitdem erst ein Jahr vergangen, dabei sind es mehr als dreißig. Es ist, als ob ich mich mit den Jahren immer deutlicher und klarer daran erinnere.«

Dabei ist es ja nicht so, als besäßen wir einen Schlüssel zu unserem Gedächtnis. Was wir tatsächlich vor Augen haben, wenn wir etwas aus der Vergangenheit hervorholen, ist die Erinnerung, die wir das letzte Mal hatten, als wir daran dachten. Und so setzt es sich fort. Bei jedem Erinnern geht ein Stück der Realität verloren und ein wenig mehr aus unserer Vorstellung schleicht sich ein. Wenn wir uns dann zum zehnten Mal an etwas erinnern, könnten wir Stein und Bein schwören, wir hätten an einem bestimmten Tag ein rotes Kleid getragen, dabei war es in Wirklichkeit blau gewesen. Oder eine bestimmte Zeit wäre leicht und unbeschwert gewesen, wenn sie in Wirklichkeit sehr viel komplizierter gewesen war.

FÜNF

Harriet, 1878

Die geografische Lage von Fenix House entsprach nicht unbedingt dem, was Harriet Jenner nach ihrem Briefwechsel mit der Vermittlungsstelle für Gouvernanten in der Rodney Road in Cheltenham erwartet hatte. An den genauen Wortlaut des Schreibens, das nun ganz unten in ihrem ramponierten Koffer lag, konnte sie sich zwar nicht mehr erinnern, aber sie war sich sicher: Es war von fußläufig erreichbaren Wintergärten, Zierteichen und Brunnenhäusern die Rede gewesen. Doch mit zunehmendem Entsetzen hatte sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Pferdedroschke, in die sie am Bahnhof eingestiegen war, an den eleganten Häuserzeilen und Plätzen im Zentrum der Stadt vorbeirollte, einen weniger gehobenen Randbezirk passierte und nun eine lange Steigung hinauffuhr.

Als die Straße wieder flacher wurde, kurz bevor sie eine Kurve machte und jegliche Zivilisation hinter sich ließ, brachte der Kutscher die Pferde endlich zum Stehen. Nachdem sich Harriet durch die Dachklappe hatte bestätigen lassen, dass es kein weiteres Haus mit demselben Namen in der Stadt gab, stieg sie aus und sah enttäuscht der Droschke zu, die wendete und die Straße wieder hinunterfuhr.

Erst als die Kutsche außer Sicht war, betrachtete Harriet die Landschaft. Nach der langen Anreise aus London hatte sie für die spektakuläre Aussicht nicht viel mehr übrig als einen flüchtigen Blick. Sie drehte sich wieder um zu der Abzweigung von der Hauptstraße, auf die der Kutscher gewiesen hatte. Eine Steintafel auf der Bruchsteinmauer am Straßenrand bestätigte es: Fenix House lag weiter oberhalb, noch außer Sichtweite. Erschöpft nahm Harriet ihren Koffer – ein Relikt aus den besseren Zeiten, die die Familie Jenner erlebt hatte – und machte sich auf den Weg den Hang hinauf.