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Am 12. Januar 1945 begann die Rote Armee ihre lang erwartete Großoffensive gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich. Obwohl längst keine Hoffnung auf einen Sieg mehr bestand und sie weit unterlegen war, leistete die Wehrmacht vielerorts verbissen Widerstand. Allein die Schlacht um die Hauptstadt Berlin dauerte gut zwei Wochen. Am 2. Mai hissten schließlich Soldaten der Roten Armee die sowjetische Flagge über dem Reichstag. Der Historiker Peter Lieb erklärt, weshalb die Kämpfe in diesen letzten Monaten noch einmal so viele Opfer forderten, und veranschaulicht die gewaltige Vernichtungskraft des von Adolf Hitler ausgelösten Kriegs.
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Seitenzahl: 164
Peter Lieb
Die Schlacht um Berlin 1945
Reclam
Kriege der Moderne
Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0877-01)
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Umschlagabbildung: Sowjetische Panzer vor dem Brandenburger Tor, Mai 1945. akg-images / TT News Agency / SVT
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961674-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011272-4
www.reclam.de
Berlin in Trümmern: Die Budapester Straße mit der zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Anfang Mai 1945
29. April 1945, im »Führerbunker« unter der Reichskanzlei: Fast acht Jahre war der noch junge Oberst Nicolaus von BelowBelow, Nicolaus von Luftwaffen-Adjutant bei Adolf HitlerHitler, Adolf gewesen; seinem »Führer« hatte er stets treu gedient. Die gesamte politische und militärische Elite des sogenannten Dritten Reichs hatte er getroffen, all die Interna und Ränkespiele im Zentrum der Macht kannte er nur zu gut. Der verbrecherische Charakter des NS-Staats konnte ihm nicht verborgen geblieben sein. Mehr noch: BelowBelow, Nicolaus von selbst gehörte zur »Ersatzfamilie« des Diktators. Seit einigen Wochen lebte er nun mit dessen letzten Getreuen unter der Erde, im »Führerbunker« im Herzen Berlins.
Früh um 4 Uhr hatte BelowBelow, Nicolaus von neben den Nazi-Größen Martin BormannBormann, Martin und Joseph GoebbelsGoebbels, Joseph seine Unterschrift unter HitlersHitler, Adolf privates Testament gesetzt. Sein Einsatz als Zeuge war seine letzte Aufgabe. Er hatte seine Schuldigkeit getan; zwanzig Stunden später, um Mitternacht vom 29. auf den 30. April 1945, konnte er gehen. BelowBelow, Nicolaus von erhielt damit die völlig unerwartete Chance, der Todesfalle unter der Reichskanzlei zu entkommen. Ob er überleben würde, war dennoch fraglich, weil [8]zu diesem Zeitpunkt die Rote Armee bereits fast ganz Berlin eingenommen hatte.
BelowBelow, Nicolaus von war der letzte aus dem engeren Umfeld HitlersHitler, Adolf, der den »Führerbunker« verließ. Gegen Mittag war bereits eine andere Gruppe von drei jungen Offizieren aufgebrochen: Oberstleutnant Rudolf WeißWeiß, Rudolf, Major Bernd Freytag von LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und Rittmeister Gerhard BoldtBoldt, Gerhard. LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard hatten in den vergangenen Tagen die Meldungen der Wehrmachtverbände gesammelt und für die Lagevorträge im »Führerbunker« aufbereitet. BelowBelow, Nicolaus von hatte von ihnen erfahren, dass es möglicherweise in Richtung Havel noch einen Fluchtweg nach Westen geben könnte. Als Einziger begleitete ihn Heinz MathiesingMathiesing, Heinz, sein langjähriger Bursche aus der Luftwaffen-Adjutantur.
Luftwaffen-Adjutant Nicolaus von BelowBelow, Nicolaus von (Mitte) gehörte zu den engsten Vertrauten HitlersHitler, Adolf. Rechts im Bild Hermann GöringGöring, Hermann sowie der Chef des Heerespersonalamts, Rudolf SchmundtSchmundt, Rudolf. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1940.
So machten sich die beiden Männer auf den Weg, ausgerüstet mit MP40 Maschinenpistolen, ein wenig Verpflegung und Landkarten. Ihr Weg führte sie zunächst über die Hermann-Göring-Straße (heute: [9]Ebertstraße) zum Brandenburger Tor, von dort durch den Tiergarten bis zum großen Flakturm am Berliner Zoo. Das monströse Gebäude war während des Kriegs erbaut worden, auch als ein Symbol der Unbesiegbarkeit Berlins angesichts der alliierten Bomberangriffe. Inzwischen diente der Flakturm hauptsächlich als Lazarett. Der dortige Kommandant riet BelowBelow, Nicolaus von, seinen Weg entlang der Kantstraße und über den Adolf-HitlerHitler, Adolf-Platz (heute: Theodor-Heuss-Platz), dann über die Heerstraße bis zum Reichssportfeld (heute: Olympiapark) fortzusetzen.
Berlin glich einem apokalyptischen Niemandsland, die Stadt lag im Sterben: Überall sah man Häuserruinen, Bombentrichter, Rauch, Granateneinschläge. Mal war es still wie in einem Leichenschauhaus, mal heulten die Geschosse wie Sirenen des Todes. Am Himmel kreisten sowjetische Bomber und Schlachtflugzeuge. Hilflos irrten Zivilisten umher, die in Kellern und Luftschutzräumen Unterschlupf suchten, um dort irgendwie zu überleben. Deutsche Soldatengruppen und Einheiten des Volkssturms streiften ziellos durch die Straßen; eine klare militärische Struktur und Ordnung war kaum mehr zu erkennen. Auch eine Frontlinie gab es nicht mehr, so dass an jeder Straßenecke die Gefahr lauerte, auf sowjetische Soldaten zu treffen. BelowBelow, Nicolaus von und MathiesingMathiesing, Heinz mussten befürchten, nach einer Gefangennahme sofort erschossen zu werden.
Als beide in den Nachmittagsstunden des 30. April das Reichssportfeld erreichten, trafen sie dort auf zahlreiche Kampfverbände mit 15- und 16-jährigen Hitlerjungen. Der Kampfgruppen-Kommandeur empfahl BelowBelow, Nicolaus von, sofort weiterzuziehen; die militärische Lage sei ungewiss, jederzeit könnten sowjetische Soldaten auftauchen. Die Havel war von dort noch etwa einen Kilometer entfernt. Ob die Brücken in Richtung Spandau noch intakt waren? Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten die beiden Männer schließlich den Fluss bei den zwei Brücken in der Nähe des Ortsteils Pichelsdorf, wo sie auf die andere Gruppe mit WeißWeiß, Rudolf, LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard trafen. Letztere hatten einen nahezu identischen Weg genommen.
Unmittelbar an den Brücken lag ein weiteres Bataillon Hitlerjugend; auch diese Truppe hatte man erst vor wenigen Tagen am Reichssportfeld aufgestellt. Bei einer Lagebesprechung im »Führerbunker« hatte Reichsjugendführer Artur AxmannAxmann, Artur dieses Hitlerjugend-Bataillon freiwillig zur Verteidigung der Pichelsdorfer Brücken angeboten. Es sollte [11]nun die Brücken für den Entsatzangriff der Armee Wenck offenhalten. Generalleutnant Walther WencksWenck, Walther Angriff war zwar gescheitert, aber die Jungen lagen am 30. April immer noch an den Brücken in Stellung.
Below, Nicolaus vonBelow, Nicolaus vonMathiesing, HeinzMathiesing, HeinzWeiß, RudolfWeiß, RudolfLoringhoven, Bernd Freytag vonLoringhoven, Bernd Freytag vonBoldt, GerhardBoldt, Gerhard
Der Befehlshaber des Abschnitts, Obergebietsführer Dr. Ernst SchlünderSchlünder, Ernst, erklärte den Offizieren die Lage. Die Straße über die Pichelsdorfer Brücken war das einzige noch halbwegs offene Ausgangstor aus Berlin. »Es war ein schrecklicher Gedanke, dass diese prächtige Jugend in den letzten Kämpfen sinnlos sich opferte«, bemerkt BelowBelow, Nicolaus von rückblickend in seinen Memoiren. Aber kein Offizier – auch Below nicht – hatte genügend Mut und Verantwortungsgefühl, um den nutzlosen Auftrag zu beenden und »diese prächtige Jugend« einfach nach Hause zu schicken. Vielmehr profitierte auch BelowBelow, Nicolaus von von ihrem Einsatz. Voller Enthusiasmus halfen sie den Offizieren bei ihrer Flucht und organisierten für sie ein Ruderboot. Noch immer machten sie dabei einen zuversichtlichen Eindruck. Schließlich gab es in ihrer Welt ja nichts Größeres, als das Leben für Deutschland und den »Führer« zu opfern. »Blut und Ehre« war ihnen als Wahlspruch immer wieder eingetrichtert worden. Dass sie in den letzten Tagen des Weltkriegs nur noch ›verheizt‹ wurden, erkannten sie nicht.
In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai brachen BelowBelow, Nicolaus von, MathiesingMathiesing, Heinz, WeißWeiß, Rudolf, LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard schließlich auf und ruderten auf der Havel nach Süden bis zur nördlichen Spitze der Wannsee-Insel. Dort gingen die fünf Männer morgens an Land und trafen auf die kläglichen Reste der 20. Panzer-Grenadier-Division. Der Divisionskommandeur, Generalmajor Georg ScholzeScholze, Georg, hatte sich wenige Tage zuvor erschossen; seine Frau und seine vier Kinder waren beim britischen Luftangriff auf Potsdam am 14. April ums Leben gekommen. Die Truppe verschanzte sich nun im Wald und war auf der Insel eingeschlossen, weil die Rote Armee die Wannsee-Brücke weiter im Süden blockierte. BelowBelow, Nicolaus von und MathiesingMathiesing, Heinz beschlossen daher, mit dem Boot ans Westufer der Havel überzusetzen. Hinzu kamen HitlersHitler, Adolf Heeresadjutant, Oberstleutnant Willy JohannmeyerJohannmeyer, Willy, sowie zwei weitere Männer, die bereits vor einigen Tagen den »Führerbunker« verlassen hatten. Sie hatten Erfolg, konnten sich schließlich weiter nach Westen durchschlagen und der sowjetischen Gefangenschaft entgehen.
WeißWeiß, Rudolf, LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard hingegen standen noch einmal ungewisse Tage bevor. In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai versuchten die [12]Reste der 20. Panzer-Grenadier-Division über die Wannsee-Brücke durchzubrechen. Das endete im völligen Fiasko. Hunderte von Toten lagen verstreut in der Umgebung der Brücke und der Eisenbahnunterführung; WeißWeiß, Rudolf selbst kam dabei in Gefangenschaft. Anschließend durchkämmten sowjetische Soldaten den Wald auf der Wannsee-Insel. LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard versteckten sich im Laub und konnten erst am 3. Mai in Zivilkleidern nach Süden ausbrechen.
Mehrmals waren BelowBelow, Nicolaus von, MathiesingMathiesing, Heinz, LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von und BoldtBoldt, Gerhard in diesen Tagen dem sicheren Tod entkommen; WeißWeiß, Rudolf kehrte nach einigen Jahren aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft wieder in die Heimat zurück. Sie alle durften weiterleben, LoringhovenLoringhoven, Bernd Freytag von war von 1971 bis 1973 sogar Stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr. Andere hingegen hatten weniger Glück. Allein die Hitlerjungen an den Pichelsdorfer Brücken hatten knapp 100 Tote zu beklagen, bevor die Reste des Bataillons in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai durch die sowjetischen Linien sickern konnten. In den Gefechten am Reichssportfeld und an der Heerstraße fanden weitere Hunderte von Hitlerjungen noch kurz vor Abschluss der Kämpfe den Tod. Der mörderische Krieg hatte seine letzten militärischen Opfer gefordert.
Die beschriebene Flucht aus dem »Führerbunker« steht sinnbildlich für Chaos, Zerstörung, Tod und Überleben in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs. Diese dramatischen letzten Wochen und Monate des Dritten Reichs sollen in diesem Buch knapp erzählt und analysiert werden. Dabei ist das Inferno in den Straßen von Berlin im April 1945 nur ein Aspekt. Im Mittelpunkt stehen die militärischen Operationen und die Frage, warum die Deutschen so lange weiterkämpften, obwohl längst alles verloren war. Wie in einem Brennglas bündelten sich in jener Zeit noch einmal der Vernichtungswille des nationalsozialistischen Deutschlands sowie das Gewaltpotenzial der Kriegsparteien in dem von HitlerHitler, Adolf ausgelösten Zweiten Weltkrieg.
Junge deutsche Panzergrenadiere in den Ardennen, Dezember 1944
An Heiligabend ging der Sprit endgültig aus. Fünf Kilometer vor der belgischen Stadt Dinant an der Maas kam der Vormarsch der 2. Panzer-Division zum Erliegen. In den Ardennen hatten Wehrmacht und Waffen-SS seit dem 16. Dezember 1944 noch einmal die Initiative gegen Amerikaner und Briten ergriffen. Dabei waren ihnen in den ersten Tagen tatsächlich einige Überraschungserfolge gelungen. 50 Kilometer waren die Verbände der 5. Panzer-Armee nach Westen vorgedrungen; die 2. Panzer-Division hatte den Keil am weitesten nach vorne getrieben. Doch nun, am 24. Dezember 1944, war das Scheitern dieses letzten großen deutschen Angriffs, der als Ardennenoffensive oder »Battle of the Bulge« in die Geschichte eingehen sollte, offensichtlich.
Noch einmal hatte HitlerHitler, Adolf mit dieser Offensive eine strategische Entscheidung gesucht, eine wirkliche Veränderung einer Situation, in der die totale Niederlage nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien. Das [14]ganze Jahr 1944 über hatte sein Hauptaugenmerk nicht auf der Ost-, sondern auf der Westfront gelegen. Die Ardennenoffensive mit dem Decknamen »Wacht am Rhein« war Bestandteil dieser Gedankenwelt. Ihr Ziel war Antwerpen, der wichtige alliierte Nachschubhafen. HitlerHitler, Adolf wollte damit zweierlei erreichen: die Versorgung der Westalliierten unterbrechen und große Teile der britischen Armee in Belgien einkesseln. Dahinter stand die strategische Absicht, einen politischen Keil zwischen Briten und Amerikaner zu treiben. Anschließend – so HitlersHitler, Adolf Planspiele – könnte er seine Kräfte wieder an der Ostfront gegen die Rote Armee ins Feld schicken.
Die Grundidee von »Wacht am Rhein« basierte allerdings auf völlig falschen Annahmen. Militärisch und politisch war sie eine Fehlkalkulation ersten Ranges. Das britisch-amerikanische Bündnis war trotz einiger Spannungen nicht einmal ansatzweise so brüchig, wie HitlerHitler, Adolf glaubte. Militärisch ist die Ardennenoffensive oft als »Glücksspiel« beschrieben worden, und dieses Urteil ist immer noch zu positiv. Um die alliierte Luftherrschaft zu umgehen, mussten Wehrmacht und Waffen-SS bei Schlechtwetter angreifen. Eroberte alliierte Depots sollten die deutsche Treibstoffknappheit kompensieren. »Wacht am Rhein« beruhte auf einer dilettantischen militärischen Planung. Der Wehrmachtführung war dies auch durchaus bewusst, aber sie tat das, was sie schon seit 1939 gemacht hatte: blind gehorchen. Mit dem Scheitern der Ardennenoffensive hatte das Deutsche Reich seine letzten Ressourcen verspielt.
Nichtsdestotrotz war zur Jahreswende der deutsche Machtbereich immer noch beachtlich groß – zumindest auf der Karte. Mit Ausnahme von Aachen hatten die Alliierten noch keine deutsche Großstadt einnehmen können. Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Norditalien sowie der Großteil Polens waren unter deutscher Kontrolle. Von den einst riesigen besetzten Gebieten in der Sowjetunion hingegen blieb nur noch ein kümmerlicher Rest in Kurland (im heutigen Lettland) in deutscher Hand, der von den Hauptfronten abgeschnitten war. Auch Frankreich war längst geräumt; nur mehr ein halbes Dutzend »Festungen« am Atlantik und der Kanalküste hielten den Belagerungen noch stand. Hinzu kamen einige griechische Inseln. Die meisten der einstigen deutschen Verbündeten waren spätestens im Sommer 1944 abtrünnig geworden. Lediglich die Marionettenregierungen in Italien, Ungarn, Kroatien und der Slowakei hielten als letzte Verbündete zum [16]Reich, wobei deren Staatsgebiete alle deutlich zusammengeschrumpft waren. Das Bündnis mit Japan hatte zu keinem Zeitpunkt des Kriegs eine wirkliche globale Bedeutung besessen, und daran änderte sich auch Anfang 1945 nichts.
In den letzten Kriegsmonaten bestand HitlersHitler, Adolf Strategie – sofern man sie überhaupt noch so bezeichnen mag – nur mehr aus drei Komponenten: Erstens hoffte er, das Bündnis seiner Gegner würde zerbrechen. In seinen Phantasien stand ihm der Preußenkönig Friedrich der GroßeFriedrich der Große, König der Preußen Pate, den im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) ein Bruch der gegnerischen Koalition aus scheinbar auswegloser Situation gerettet hatte. Zweitens befahl HitlerHitler, Adolf allerorten lediglich stures Halten seiner Verbände an »Festen Plätzen«, wobei die Wortwahl immer fanatischer und die Konsequenzen für die Soldaten bei »Versagen« immer drastischer wurden. Drittens gab das Weiterkämpfen ihm Zeit, sein Vernichtungswerk gegen die europäischen Juden noch fortzusetzen, das er als seine »historische Aufgabe« ansah. Auch wenn im Spätherbst 1944 das industrialisierte Morden aufgehört hatte, ging die Vernichtung in anderer Form weiter.
Der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Martin BormannBormann, Martin, mit HitlerHitler, Adolf1942 auf dem »Berghof«. BormannBormann, Martin wurde in der letzten Kriegsphase eine der einflussreichsten Personen im untergehenden Dritten Reich.
[17]Im Zentrum der nationalsozialistischen Macht bildete sich in der Endphase des Kriegs eine Viererclique heraus, die in bedingungsloser Treue zueinanderhielt und zum totalen Untergang fest entschlossen war. Neben HitlerHitler, Adolf waren dies Joseph GoebbelsGoebbels, Joseph, Heinrich HimmlerHimmler, Heinrich und Martin BormannBormann, Martin. Damit waren auch die Spitzen in den wichtigsten Bereichen zur Lenkung der totalen Kriegsgesellschaft besetzt: HitlerHitler, Adolf war das Staatsoberhaupt und führte obendrein noch den Oberbefehl über die Wehrmacht sowie das Heer. GoebbelsGoebbels, Joseph manipulierte als Propagandaminister nach wie vor das deutsche Volk und sorgte mit seiner Durchhaltepropaganda für den »geistigen« Überbau im totalen Krieg. Wen diese Propaganda nicht mehr erreichte, und die Zahl dieser »Volksgenossen« war in den vergangenen Monaten stetig gewachsen, der wurde durch Terror diszipliniert.
Zuständig dafür war Heinrich HimmlerHimmler, Heinrich, der sich während des Kriegs durch zahlreiche Ämter und Posten ein Imperium eigener Art geschaffen hatte. Als Reichsführer-SS befehligte er SS und Waffen-SS, als Chef der deutschen Polizei die traditionellen Träger staatlicher Gewalt. Zudem war er Innenminister und inzwischen auch Befehlshaber des Ersatzheeres. Martin BormannBormann, Martin schließlich hielt als Leiter der Parteikanzlei die Zügel der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) fest in seiner Hand. Mit der letzten Mobilisierung der deutschen Gesellschaft für die Verteidigung der Heimat konnte der Parteiapparat noch einmal seine Macht ausbauen. Als sogenannte Reichsverteidigungskommissare waren die Gauleiter in ihren jeweiligen Reichsgauen mit den Verteidigungsmaßnahmen betraut.
Reichsführer-SS Heinrich HimmlerHimmler, Heinrich zeichnet als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel Scharfschützen aus, Januar 1945. HimmlerHimmler, Heinrich zog in der zweiten Kriegshälfte zahllose Ämter und Kommandos an sich.
Der Stern des Rüstungsministers Albert SpeerSpeer, Albert hingegen war in den letzten Monaten des Dritten Reichs im Sinken begriffen. GoebbelsGoebbels, Joseph machte ihm als neuernannter Bevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz die Kontrolle über die Kriegswirtschaft streitig. SpeerSpeer, Albert hatte zwar im Sommer 1944 in einer ungeheuren ökonomischen Kraftanstrengung, die eine gnadenlose Ausbeutung von Zwangsarbeitern erforderte, die Rüstungsproduktion auf einen neuen Höchststand getrieben; man sprach von einem »Rüstungswunder«. Ende Januar 1945 meinte er, im Jahr 1944 habe »seine« Kriegswirtschaft genügend Material produziert, um 225 Infanterie- und 45 Panzer-Divisionen auszurüsten. Doch die schweren deutschen Verluste an den Fronten in Ost und West ließen diese Bestände wie Schnee in der Sonne dahinschmelzen. Vor allem [18]aber wurden ab Sommer 1944 die Folgen der britischen und amerikanischen Luftangriffe auf die deutsche Rüstungsindustrie immer stärker spürbar. Im Januar 1945 war die deutsche Kriegswirtschaft wieder auf den Stand von Mitte 1942 zurückgeworfen, die Produktion für Marine und Luftwaffe sogar auf den Stand von Anfang 1942. Zudem trafen die Luftangriffe die Treibstoffherstellung besonders hart.
Mit seiner Einschätzung, die Koalition zwischen der Sowjetunion und den Westmächten sei »widernatürlich«, hatte HitlerHitler, Adolf nicht völlig unrecht. Konnten – auf der einen Seite – die Westmächte der Sowjetunion trauen, die 1939 mit HitlerHitler, Adolf einen Pakt zur Aufteilung Polens geschlossen und den Ostteil des Landes annektiert hatte? Jener Sowjetunion, die 1939 Finnland überfallen hatte und 1940 in die unabhängigen baltischen Staaten einmarschiert war, um sich diese einzuverleiben? Einem durch und durch totalitären Staat, der bis 1945 Millionen seiner Bürger verfolgt und ermordet hatte? Konnte – auf der anderen Seite – die Sowjetunion den Westmächten trauen? Während die sowjetischen Völker jahrelang unter deutscher Besatzung gelitten und die Rote [19]Armee immense Blutopfer erbracht hatten, führten die Westmächte lange Zeit auf eine Weise Krieg, die eigene Verluste weitgehend vermied.
In der Tat galt vor allem das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Sowjetunion als angespannt. Doch insgesamt hielt die Anti-Hitler Koalition. Denn trotz aller Differenzen: Ihr größter Feind war HitlerHitler, Adolf, ein Sieg über Deutschland das oberste Kriegsziel. An diesem Germany First gab es seit der Washington-Konferenz 1941/42 kein Rütteln. [20]Außerdem war zur Jahreswende 1944/45 der Sieg schon längst absehbar. Fraglich war nur noch der Zeitpunkt.
Deutschland sollte bei einer Kapitulation keine Bedingungen stellen dürfen (Unconditional Surrender); so hatten es der britische Premier Winston ChurchillChurchill, Winston und vor allem US-Präsident Franklin D. RooseveltRoosevelt, Franklin D. auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 festgelegt. Genauso hatte das Deutsche Reich die meisten seiner geschlagenen Gegner in den ersten Kriegsjahren schließlich auch behandelt.
Unklar war allerdings, wie das Deutschland und das Europa der Zukunft aussehen sollten. Auf der Außenministerkonferenz in Moskau im Herbst 1943 wurde für diese Frage eine Europäische Beratende [21]Kommission (European Advisory Commission) mit Sitz in London ins Leben gerufen. Deutschland sollte – das stand fest – von den Siegerstaaten besetzt und entmilitarisiert, der Nationalsozialismus als Ideologie mit Stumpf und Stiel entfernt sowie alle Kriegsverbrecher vor ein Gericht gestellt werden. Für die territoriale Neuordnung legte die Kommission in den nächsten Monaten verschiedene Entwürfe vor. Pläne einer Zerstückelung Deutschlands wurden nach und nach ad acta gelegt, da sich die Alliierten darüber nicht einigen konnten.
Der britische Premierminister Winston ChurchillChurchill, Winston, US-Präsident Franklin D. RooseveltRoosevelt, Franklin D. und der sowjetische Diktator Josef StalinStalin, Josef auf der Konferenz von Jalta, Februar 1945