Die Schmetterlingsfängerin - Margarita Kinstner - E-Book

Die Schmetterlingsfängerin E-Book

Margarita Kinstner

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Beschreibung

Die schwangere Katja wird in wenigen Wochen zu ihrem Freund Danijel nach Sarajevo ziehen. Die Zeit vor der Abreise nutzt sie, um ein letztes Mal das Tal ihrer Kindheit zu besuchen. Dort stößt Katja auf die alten Geschichten: Wieso ist ihr Urgroßvater damals von Bosnien nach Österreich ausgewandert? Und weshalb sind drei seiner Kinder nach Kanada gegangen? Was wäre gewesen, wenn Großmutter einst den Mut gehabt hätte, ihrer großen Liebe in die Schweiz zu folgen? Und was bedeutet das, Heimat? Eine Liebesgeschichte aus dem Herzen von Mitteleuropa über das Bleiben und Fortgehen und über den Mut, ein neues Leben anzufangen.

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Deuticke E-Book

Margarita Kinstner

DIE SCHMETTERLINGSFÄNGERIN

Roman

Deuticke

Manche in diesem Buch dargestellte Ereignisse sind tatsächlich so passiert wie geschildert. Alle handelnden Personen, ihre Motive und ihre Charaktereigenschaften, sind jedoch frei erfunden.

ISBN 978-3-552-06304-4

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Motive: © Liliia Rudchenko – Fotolia.com, © nata777_7 – Fotolia.com

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

1

Sie geht, den Arm voller Blumen, die Treppen hoch. Er hinter ihr, die Schachtel mit Pralinen in seinen Händen, auch hier obendrauf drei Blumensträuße. Sie lachen. Es ist Freitagnachmittag, Anfang Juli, Ferienbeginn.

»Mozartkugeln«, sagt er, als er hinter ihr stehen bleibt und ihr beim Aufsperren zusieht. »Wie kann man diese Dinger nur fressen?«

Sie stößt die Tür auf. Ruft nach dem Kater.

»Ach komm, Isidor wird sich irgendwo eingerollt haben und schlafen.« Er stellt den Karton ab, schüttelt sich die Regentropfen aus dem schulterlangen Haar. Sein Hemd ist nass, die Krawatte hängt schief.

Sie läuft durch die Wohnung. Ins Schlafzimmer, ins Bad. Dann fällt ihr ein, dass sie am Morgen frische Unterwäsche vom Wäscheständer geholt hat, Isidor muss …

Sie geht los, auf die Balkontür zu. Dort sieht sie ihn hängen, den Kopf im gekippten Fenster zwischen Balkon und Küche, der Körper reglos.

Sie schreit.

Er kommt ins Zimmer gerannt. Sieht auf den Kater, stöhnt, dann öffnet er die Balkontür. Hebt den weißgrauen Tiger aus dem Fenster.

»Wo ist der nächste Tierarzt?«

Er rennt mit dem Körper im Arm an der schockstarren Schwester vorbei, öffnet die Tür, läuft die Treppen hinunter.

Im Auto legt er ihr das Tier in den Schoß. Sie wimmert und streicht über sein Fell. (Bitte, bitte, lieber Gott, nicht …) Haare bleiben an ihren verschwitzten Handinnenflächen kleben.

Eine Dreiviertelstunde später stehen sie im Purkersdorfer Wald, die Kleider patschnass und die Schuhe voll Matsch. Er steht quer, um nicht abzurutschen, stützt sich mit dem linken, durchgestreckten Bein ab, das rechte hat er angewinkelt. Das Loch vor ihm will nicht größer werden, nur eine Pfütze bildet sich darin. Der Waldboden ist hart, das Gelände abschüssig. Immer wieder stößt er mit der Schaufel auf Wurzeln. Seine bunte Krawatte schwingt mit, jedes Mal, wenn er mit der Schaufel ein Stück Erde aushebt.

Sie steht mit der toten Katze im Arm und sieht ihn an. Dass das kein anderer tun würde, denkt sie. Als es beim Tierarzt geheißen hat, man müsse die Tierkörperverwertung anrufen, ist er an den Tisch getreten, hat den Kater hochgehoben (so vorsichtig, so sanft), hat ihn ihr in den Arm gedrückt, sie am Ellbogen genommen. Und sie ist ihm gefolgt, zum Auto, mit dem sie nochmals zu ihrer Wohnung fuhren (um die Blumen zu holen) und dann aus der Stadt hinaus.

In Purkersdorf ist er ausgestiegen. Hat bei einem ehemaligen Schulfreund an die Tür geklopft. Die Eltern um eine Schaufel und einen Müllsack gebeten.

Jetzt stehen sie hier. Geschwister, die einander kaum kennen. Die sich erst wieder annähern, das letzte halbe Jahr.

Er, acht Jahre jünger als sie, aufgewachsen beim Vater und drei Frauen. Sie, aufgewachsen bei der Großmutter und einer Frau, die sich nicht Mutter nennen lässt.

Er, aufgewachsen in einer Kommune zwischen Ölfarben, Leinwänden und Terpentin.

Sie, aufgewachsen an einem Ort der Sauberkeit, der Ordnung und des Wissens. Blankgeputzte Fliesenböden und Regale mit Grammatikbüchern, Sachbüchern und fremdsprachiger Literatur.

»Das schau ich mir an, wie da einer ein Loch für einen ganzen Menschen ausbuddeln soll. Scheißhollywood!«

Sie muss lachen. Mitten im Regen mit den Tränen auf den Wangen und der toten Katze im Arm bricht sie in einen Lachkrampf aus.

Sie beschließen, dass das Loch jetzt tief genug ist. Der Bruder reißt den Müllsack auf, sie wickelt den Kater darin ein. Streicht ihm über das Fell, ein letztes Mal. Dann werfen sie die Erde darauf, er mit der Schaufel, sie mit den bloßen Händen. Sie trampeln auf dem Grab herum.

»Das muss ganz fest sein, wegen der Füchse«, sagt er.

Sie holen die Blumen aus dem Kofferraum. Der Regen spritzt braune Tropfen vom Boden hoch. Am Abend werden die Blumen welk sein. Wenn der Fuchs kommt, wird er Isidor trotzdem finden.

Die Schwester bin ich. Katja Köhler. Tochter, Schwester, Verlobte. Damals auch noch: Enkeltochter. Das ist jetzt sechs Jahre her.

Manchmal, wenn ich an Sarajevo denke, fällt mir jener Tag ein.

Nachdem wir Isidor begraben hatten, fuhren wir zu einem Heurigen. Ich langweilte meinen Bruder Curd mit meinen Isidor-Erinnerungen, und er hörte geduldig zu. Über unsere krebskranke Großmutter sprachen wir nicht. Anders als ich, hatte Curd kaum Kontakt zu ihr gehabt, er hatte sie nur drei oder vier Mal gesehen. Unsere Leben sind zu verschieden, um die Leben von Geschwistern zu sein.

»Kommst du klar?«, fragte Curd, als er mich nach Hause brachte, und ich sagte: »Ja.«

Ich kam nicht klar. Ich dachte an Oma, die im Sterben lag, und ich dachte an Isidor, der in seinem Todeskampf den Fensterrahmen zerkratzt hatte. Ich dachte an Danijel, der in Sarajevo auf mich wartete, und an meinen gepackten Rucksack im Flur. Ich saß auf dem Fußboden vor der Balkontür und bohrte mir die Fingernägel in die Haut. Am nächsten Morgen hatte ich dicke rote Striemen auf den Oberarmen.

»Dein Isidor ist gestorben? Aber wann denn, wie …?«, fragte meine Nachbarin, als ich bei ihr klopfte.

Ich sagte: »Bitte nicht.«

Sie nahm den Kratzbaum (meiner war nagelneu) und den Plastiktransporter (sie hatte nur einen aus Korbware). Ich trug die drei Säcke Katzenstreu und die Kartons mit dem Katzenfutter in ihre Wohnung. Die Haarbürsten, das Katzenklo und die Spielbälle warf ich in den Müllcontainer. Ich saugte die Sofafläche, bis kaum noch ein Haar zu sehen war. Nachdem ich mit dem Wischen der Böden fertig war, rief ich Sana an. Sie kam sofort. Ich zeigte ihr die Kratzspuren im Fensterrahmen und begann zu weinen.

Gemeinsam blätterten wir durch das Album. Isidor als Kätzchen, an dem Tag, an dem ich ihn geholt hatte. Isidor auf der Heizung, am Ende seines ersten Sommers. Isidor nass auf der Sofadecke, nachdem ich ihn gewaschen hatte, weil er die Parfümflasche vom Regal gefegt hatte und mitten hineingesprungen war. Isidor, der auf der Klobrille stand und aus der Schüssel trank …

»Sieh mal!«

Es war das Foto, dessen Abzug ich meiner Großmutter zwei Monate zuvor nach Graz geschickt hatte. Isidor stand auf dem neuen Kratzbaum und streckte die Nase zum Schmusen vor.

Sana ging mit mir auf den Balkon und lehnte das Foto ans Fenster – unter die Stelle, an der Isidor gestorben war. Dann ging sie in die Küche und nahm ein paar Teelichter aus dem Schrank.

Danijels Cousine kennt sich aus in meiner Wohnung, sie ist drei Monate meine Mitbewohnerin gewesen, nach ihrer Scheidung von Miodrag, der ihr einen Haufen Schulden hinterließ. Anderthalb Jahre hat sie zusätzlich zu ihrer Tätigkeit im Museum für Völkerkunde jeden Abend in einem Callcenter gearbeitet, bis ihr Vater den Rest der Schulden übernahm und sagte: »Nie wieder holst du mir einen Serben ins Haus, verstanden?« Sana schluckte die Antwort hinunter. Besser in der richtigen Sekunde den Mund halten als drei weitere Jahre Callcenter.

Sana stellte die Teelichter neben das Foto und zündete sie an.

»Das wird dir helfen.«

Wir blieben eine Weile am Balkon sitzen, starrten auf die flackernden Kerzen und rauchten ein paar Zigaretten. Danach gingen wir ins Lokal am Eck, wo ich mich zuerst mit Whisky-Cola und danach mit Whisky pur betrank.

Als ich nach Hause kam, rief ich Danijel an und erzählte ihm alles. Er hörte mir beim Weinen zu und fragte nicht, warum ich nicht gleich angerufen hatte. Weil mein Schluchzen nicht nachlassen wollte, summte er eine leise Melodie ins Telefon, und als ich mich endlich beruhigt hatte, schickte er mir Küsse und sagte, wie sehr er sich schon auf mich freuen würde.

Am nächsten Nachmittag stieg ich in den Zug nach Graz. Als ich ankam, schlief meine Großmutter.

»Sie schläft fast nur noch«, sagte meine Tante.

Sie wärmte mir das Geschnetzelte von mittags und kochte Reis. Ich schlief im Gästezimmer. Unter den Stofftieren entdeckte ich mein altes Plüschpferd Hilda. Ich stand auf und nahm es ins Bett. Drückte es an mich und weinte in sein weiches Fell. Ich weinte um Isidor, ich weinte, weil Danijel in Sarajevo war und eine zehnstündige Busfahrt zwischen uns lag, und ich weinte, weil ich nicht um Oma weinen konnte, die im Haus nebenan lag und aufs Sterben wartete.

Bevor ich zum Busbahnhof fuhr, drückte mich meine Großmutter an sich. »Mach viele Fotos. Ich möchte alle Moscheen sehen. Und die Kirchen fotografier auch, damit ich sehen kann, ob sie wirklich kleiner sind, denn wenn nicht, dann hat uns unser Vati ganz schön angeschwindelt.«

Ich versprach ihr, genau auf die Höhe der Minarette und der Kirchtürme zu achten.

»Wie lange fährst du?«, fragte sie.

»Zehn Stunden.«

»Hoffentlich setzt sich keiner neben dich, dann kannst du ein wenig schlafen.«

Ich konnte nicht schlafen. Ich kam todmüde in Sarajevo an und fiel augenblicklich ins Bett.

Seitdem habe ich manchmal Angst, dass die Stadt für mich unter einem schlechten Zeichen steht. Ich sage: Das erste Mal, als ich nach Sarajevo fuhr, lag meine Großmutter im Sterben und meine Katze erhängte sich im Fenster. Ich sage es zu Sana, die mich nicht an Danijel verrät, obwohl sie seine Cousine ist. Danijel soll von meinem Aberglauben nichts wissen. Meine privaten Tode haben nichts mit dem zu tun, was seinem Land und seiner Stadt passiert ist. Damit hat Danijel zu kämpfen, das geht mich nichts an. Darf mich nichts angehen. Der Krieg ist seine Erfahrung, nicht meine.

2

»Kein Mensch zieht von Österreich nach Bosnien«, sagt Magda.

Seit einem halben Jahr versucht sie, mir diese Tatsache vor Augen zu führen.

»Schau sie dir an, die Leute dort, alle wollen sie nach Österreich. Dort kann man nicht leben, Katja, dort ist alles kaputt.«

»Sarajevo ist wiederaufgebaut, und es ist eine schöne Stadt.«

»Ja, als Touristin, aber doch nicht, um dort zu leben.«

Das Schlimme ist: Ich weiß, dass sie recht hat. Trotzdem werde ich nach Sarajevo ziehen. Ich habe mich entschieden. Ich will dort sein, wo Danijel ist. Wenn ich einmal auf dem Sterbebett liege, möchte ich sagen können: Ich war mutig genug, meiner Liebe zu folgen. Auf keinen Fall möchte ich wie Oma sagen müssen: Das Einzige, was ich bereue ist, damals so feig gewesen zu sein.

Hätte sich meine Großmutter für Urs Keller und die Schweiz entschieden, gäbe es mich heute nicht. Aus der Distanz der Gegenwart ist es nur eine kleine Abzweigung. Meine Großmutter stand vor einer Gabelung, links oder rechts. Sie packte ihre Koffer, kam nach Solburg zurück und fragte sich ihr ganzes Leben, wie dieses wohl verlaufen wäre, wenn sie geblieben wäre.

Magda und ich sitzen in der Küche und warten darauf, dass die Pizza fertig ist. Immer schon sind wir an diesem Tisch gesessen, wenn wir zu zweit waren. Den Tisch im Wohnzimmer benutzten wir nur, wenn Gäste da waren. An Feiertagen waren es meine Wiener Großeltern, wenn wir ausnahmsweise nicht in ihrem Haus aßen, sondern hier, weil Magda es sich so gewünscht hatte.

Manchmal waren die Gäste Männer. Magda kochte und stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Beim Essen kicherte sie wie ein Teenager. Ich habe mich geschämt für die gackernde Mutter. Für ihre tiefausgeschnittenen T-Shirts und die zerrissenen Jeans, die nicht zu ihr passten. Magda hatte Angst, alt zu wirken. Mit einer Tochter im Teenageralter fühlt man sich immer alt, auch wenn man erst Mitte dreißig ist.

»Wie früher, findest du nicht?«, fragt Magda, als sie die Pizza aus dem Rohr hebt und in zwei Hälften teilt.

Die Samstagnachmittage sind immer unsere besten gewesen. An den Samstagvormittagen, während ich in der Schule war, erledigte Magda den Haushalt, und wenn ich nach Hause kam, war sie gutgelaunt. Wir aßen Pizza, gingen spazieren, und danach drehten wir den Fernseher auf. Knabberten Kekse und versteckten unsere kalten Füße unter Plüschdecken. Am Sonntag wussten wir nichts mehr miteinander anzufangen. Wir vermieden jedes Wort, um nicht aneinanderzugeraten.

»Hast du das Buch schon?«, fragt Magda.

»Ich habe dir doch gesagt, dass es erst Ende August erscheint«, kaue ich.

»Warum dauert das denn so lange? Das verstehe ich nicht.«

Natürlich weiß Magda, wann das Buch in den Handel kommt. Und natürlich weiß sie, dass es ein Verlagsprogramm gibt, dass man auch ein Bilderbuch nicht einfach auf den Markt wirft, dass es einen Veröffentlichungstermin gibt, dass es auf der Kinderbuchmesse vorgestellt werden soll. Aber das Buch ist ein gutes Gesprächsthema. Es verhindert, dass wir über Sarajevo sprechen. Wenn es wenigstens Mailand wäre. Oder Paris. Von mir aus auch Rom oder Avignon, sagen Magdas Augen.

Meine Mutter ist Dolmetscherin für Französisch und Italienisch. Sie hat hart für ihren Beruf gekämpft, damals, nach der Matura, als ich bei meiner Oma im Lusniztal war und mein Vater den ganzen Tag auf einer fleckigen Matratze lag, Gras rauchte und seine leere Leinwand anstarrte, weil er bereit sein wollte, wenn ihn die Inspiration ansprang.

»Woher soll sie denn kommen, die Inspiration, du Idiot? Du hast ja nicht einmal das Fenster offen!«, rief Magda und riss die Fensterflügel auf, um den fauligen Geruch zu vertreiben. Das war dann schon am Ende ihrer Beziehung.

»Damals ist mir ein Licht aufgegangen«, sagt Magda, wenn sie heute davon erzählt. »An dem Tag, an dem ich deinen Vater verließ, bin ich erwachsen geworden.«

Der Tag, an dem meine Mutter ihre Sachen packte, um wieder bei ihren Eltern einzuziehen, war der Tag vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. An ihrem Geburtstag selbst fuhr sie mit dem Zug über den Berg (Let’s Iltendorf, Baby!) und von dort weiter ins Lusniztal, wo sie ihre kleine Tochter besuchte.

Ich saß auf dem orangefarbenen Hüpfball, den ich Flora nannte.

»Wer ist Flora?«, fragte Magda.

Die Mutter meines Vaters holte das Buch mit dem dicken Nilpferd, und als sie damit in den Garten zurückkam, setzte ich mich auf ihren Schoß, lehnte meinen verschwitzten Kopf an ihre Brust und zeigte auf das Bild. Als Magda sich vorbeugte, um mir einen Kuss zu geben, habe ich sie weggeschubst. Mit der Handfläche habe ich gegen ihren Kopf geschlagen, sie störte mich und Oma beim Lesen. Zum Weinen ging Magda aufs Klo. Dort setzte sie sich auf den Klodeckel, danach klatschte sie sich kaltes Wasser auf die geschwollenen Augen, damit ihre Schwiegermutter nicht sah, dass sie geweint hatte.

In den Wochen nach Magdas Wiederkehr schraubte mein Wiener Großvater ein Brett an den Kleiderschrank im Kabinett. Ein zwei Meter vierunddreißig langes, mit Birkenfurnier überzogenes Sperrholzbrett, das bis zum Bücherregal reichte. Die ausziehbare Couch wurde ins andere Eck geschoben, das Tischchen mit dem Spitzendeckchen und der Kristallvase verschwand in der Garage, in der schon lange kein Auto mehr stand, weil mein Großvater es lieber auf der Gasse stehen ließ.

Die Bildbände meines Großvaters landeten in der Wohnzimmerbank im oberen Stock, deren Sitzfläche man hochklappen konnte. Magda brauchte Platz für die Vokabeln, die sie auf kleine Karteikärtchen schrieb und von Fach zu Fach wandern ließ. Nach einem halben Jahr wurden alle Vokabeln aus dem obersten Fach noch einmal durchgenommen. Die meisten von ihnen landeten im Müll, nur jene, die Magda in den letzten sechs Monaten aus dem Gedächtnis gerutscht waren, kamen wieder in die Karteikästen ganz unten.

Während Magda lernte, tapezierte mein Großvater Magdas ehemaliges Kinderzimmer, das nun mein Zimmer werden sollte. Auf der Tapete tanzten Nilpferde. Die Tapete war teurer gewesen als alle anderen, und meine Wiener Großmutter hatte mit Magda geschimpft: »Warum müssen es denn ausgerechnet Nilpferde sein, die mit den Enten ist doch auch hübsch«, aber Magda hatte nicht mit sich reden lassen. Nilpferde mussten es sein und basta.

Magda erzählt mir von ihrem Chef und den Kolleginnen. Dass sie sich wohlfühle in dem kleinen Büro. Dass sie sich heute nicht mehr vorstellen könne, so zu arbeiten wie früher, ständig auf dem Sprung für den Chef, mit dem ewig gepackten Koffer.

»Ich brauche Sie, Frau Köhler, können Sie nicht Ihre Mutter bitten, einzuspringen?«

Manchmal entschied Magdas Chef am Vorabend seiner Abreise, dass Magda mitkommen musste, dann rief sie Oma an, und Oma kam, und wenn sie in der Tür stand, seufzte sie: »So kann das doch nicht weitergehen, ich werde schließlich auch älter.«

Meine Mutter reiste ab, meine Großmutter übernahm das Abendbrot, und am nächsten Tag gab es statt Ovomaltine echten Kakao. Meine Großmutter verrührte zwei Löffel des dunkelbraunen Pulvers und einen Löffel Zucker mit etwas Milch zu einem sämigen Brei, den sie mit dem Schneebesen in die warme Milch rührte. Dann ließ sie das Ganze aufkochen und wieder abkühlen und leerte den Kakao durch ein Sieb in eine Tasse. Omas Kakao schmeckte tausendmal besser als Magdas Ovomaltine. Vor allem gab es keine Hautfetzen, die ich mit dem Finger herausfischen musste. Meine Oma bestrich Semmeln mit Butter und Marmelade, und während ich aß, schnitt sie eine weitere Semmel auf und belegte sie mit Wiener Wurst, Emmentaler und Essiggurken, klappte die beiden Semmelhälften wieder zusammen, umwickelte sie mit Stanniol und legte sie mitsamt einer Packung Manner Schnitten und einer Birne in meine Schultasche. Die Birnen aus Omas Garten waren saftig und weich, und die neuen Schulbücher hatten bereits im Oktober braune Ecken.

»Kannst du nicht aufpassen?«, schimpfte Magda, wenn sie zurückkam. »Schau dir an, wie das jetzt ausschaut!«

Ich frage mich, was sie tun wird, wenn ich nicht mehr da bin. Wenn ich nicht mehr alle zwei Wochen zu ihr kommen werde, um mit ihr am Küchentisch zu sitzen. Magda ist zu oft allein. Allein mit sich, den fremdsprachigen Romanen und den Wörterbüchern. Jetzt hat sie angefangen, Portugiesisch zu lernen. »Man weiß ja nie«, sagt sie, »mit Italienisch und Französisch kommst du heute nicht mehr weit, mit Portugiesisch auch nicht, aber besser, du beherrschst drei Sprachen, die jeder kann, als nur zwei.«

Magda hat Angst, ersetzbar zu sein. Mit vierundfünfzig ist sie froh, in einer kleinen Firma einen Platz als Übersetzerin gefunden zu haben.

Wir tun uns schwer, seit wir nicht mehr offen reden können. So schwer, wie wir uns früher miteinander getan haben. Dazwischen hat es eine Zeit gegeben, da ging es leichter, da sind wir einander so etwas wie Freundinnen gewesen, aber über Sarajevo will Magda nicht reden, nicht so, als wäre sie bloß meine Freundin, die mir Glück wünscht. Das war schon immer so. Wenn ich mir eine Freundin gewünscht habe, ist Magda Mutter gewesen, und wenn ich eine Mutter gebraucht hätte, hat Magda eine Freundin in mir gesucht.

Wir sitzen auf dem Sofa. Magda hat ein Fläschchen Kinderschaumwein für mich und ein Fläschchen Prosecco für sich geöffnet und erzählt vom zehnjährigen Kind ihrer Kollegin. Die Flüssigkeit in meinem Glas ist rosa, prickelnd, sämig und süß und schmeckt mir besser als der Prosecco, den ich sonst immer mit Magda trinke.

»Ein verzogenes Balg«, sagt Magda. »Heute sind sie alle so, ich weiß nicht, die haben keinen Respekt mehr vor den Eltern. Die Mütter lassen ihnen alles durchgehen, und dann sind sie überfordert, weil die Kinder nicht folgen.«

Durch ihre erwachsene Tochter hinkt Magda der eigenen Generation hinterdrein. Sie selbst hat mir nichts durchgehen lassen, sie hat sich Respekt verschafft, indem sie sich umgedreht und geschwiegen hat. Das Schweigen war Magdas härteste Waffe, und sie setzte sie gezielt ein, ebenso wie ihre Worte und ihr Lachen. Wenn Magda einen Raum betrat, nahm man sie sofort wahr. Wenn sie nicht gerade schwieg (was sie nur bei Oma und mir tat), hatte Magda immer etwas zu sagen – auf Deutsch, auf Französisch, auf Italienisch. Magda ging durch einen Raum und nahm ihn auf der Stelle für sich ein, und manchmal, wenn sie mich mitnahm (als ich schon älter war), beobachtete ich sie aus meiner stillen Ecke heraus und stellte mir vor, einmal genauso zu sein wie sie.

»Blödsinn«, lacht sie mich heute aus, »ich war genauso unsicher wie du. Das ist eine Erbkrankheit, dagegen sind wir machtlos. Du hast es von mir, und ich habe es von deiner Oma. Wenn du Bluter bist, bist du es dein Leben lang. Du kannst Medikamente schlucken, aber du bleibst doch einer. Mit der Unsicherheit ist es genauso. Du kannst viel reden und so tun, als wärst du selbstsicher, aber wenn du nach Hause kommst, wirst du trotzdem jedes Wort, das du gesagt hast, zu deinen Ungunsten auf die Waagschale legen.«

Dass meine Mutter nicht die selbstsichere Frau ist, für die ich sie immer hielt, habe ich erst spät erkannt. Wir halten unsere Mütter für allmächtig. Vielleicht ist das der Grund, warum wir so mit ihnen kämpfen.

Magda hat sich von klein auf gewehrt. Zuerst gegen ihre Eltern, dann gegen meinen Vater, der das genaue Gegenteil ihrer Eltern war, und schließlich gegen mich. Magda war nicht gerne Mutter. Sie hat studiert, hart gearbeitet und Karriere gemacht. Später ist sie mit ihrem Koffer nach Italien und Frankreich geflogen, immer und immer wieder, weil der Chef sie gebraucht hat. Dass ihre Tochter sie ebenfalls gebraucht hätte, hat sie nicht wahrgenommen. Vielleicht gab es auch nichts wahrzunehmen. Ich habe mich gefreut, wenn meine Mutter mit ihrem Koffer aus der Wohnung ging und meine Wiener Großmutter mit ihrer Tasche hereinkam. Großmütter sind eine tolle Erfindung, sie kochen Powidltascherl und Marillenknödel und beten mit dir zum Schutzengerl über dem Bett. Danach musst du dich unter der Decke verstecken (Zieh sie schön bis zum Kinn!), damit die Großmutter das Fenster öffnen kann (durchs Fenster kommt der Sandmann). Die kalte Luft setzt sich hart auf deine Wangen und tut dir in den Augen weh. Zehn Minuten später kommt die Großmutter wieder herein und schließt das Fenster. Haucht dir ihren warmen Atem auf die kalte Wange und knipst das Licht aus. Im Gegensatz zur Mutter lässt die Großmutter die Kinderzimmertür immer einen Spaltbreit offen, weil sie weiß, dass du so weniger Angst vor der Dunkelheit hast.

Großmütter wissen alles über Kinder. Sie haben aus den Fehlern gelernt, die sie als Mütter gemacht haben.

Wenn ich mit meinem Kind auf Besuch kommen werde, wird Magda mit ihm auf dem Boden herumrobben und es auf ihren Knien schaukeln. Sie wird ihm das Bilderbuch, das im Herbst erscheinen soll, vorlesen (immer und immer wieder) und sagen: »Das hat deine Mutti gezeichnet.«

Dass ich ausgerechnet jetzt, da ich schwanger bin, ins Ausland gehe, schmerzt sie. Magda würde es nie zugeben, aber sie freut sich auf das Kind. Sie freut sich so sehr, dass sie sich heimlich die Tränen aus den Augenwinkeln wischt, wenn ich nicht hinsehe.

Jetzt geht sie zum Plattenspieler, den sie sich vor einem halben Jahr über einen Versandkatalog bestellt hat, und legt die alte Led-Zeppelin-Platte auf.

»Es hat Vorteile, allein zu leben«, sagt sie, »Josef kann Led Zeppelin nicht ausstehen.«

Josef mag nichts, was meine Mutter mag. Josef hört Tschaikowsky, Bach und Wagner-Opern. Manchmal schleppt er sie in ein Konzert, dann sitzt meine Mutter im Konzertsaal und langweilt sich. Lieber wäre ihr, er würde mit ihr zu einem Rockkonzert gehen. Josef kann mit The Who und Jefferson Airplane nichts anfangen, er kennt die Bands nicht einmal dem Namen nach.

»Der muss auf dem Mond gelebt haben, als er jung war«, sagt Magda.

Magda kennt Josef seit zwölf Jahren. Die ersten Jahre hat sie darauf gewartet, dass er seine Frau verlässt. Irgendwann hat sie angefangen, sich einzureden, dass ihre Beziehung ohnehin besser funktioniert, wenn sie einander nicht täglich sehen. Manchmal glaube ich, dass sie tatsächlich glücklich ist mit Josef.

»Ich kann mein Leben leben und bin doch nicht allein«, sagt sie.

Eifersucht empfindet sie schon lange keine mehr. Josefs Frau mag dasselbe wie Josef. Sie begleitet ihn ins Konzerthaus, in den Musikverein und zu Ausstellungseröffnungen. Zu Hause unterhält sie sich mit ihm über die österreichische Kulturlandschaft.

Magda sind die österreichischen Künstler egal. »Alles Idioten«, sagt sie. »Brauchst nur deinen Vater anschauen.«

Ich weiß nicht, was Magda und Josef verbindet. Vielleicht gar nichts. Josef kommt zu ihr, sie essen, sie trinken Wein, manchmal sehen sie sich einen Film an oder unterhalten sich über ein Buch, das beide gelesen haben (oder das nur Magda gelesen hat). Sie gehen schlafen, manchmal schlafen sie miteinander, manchmal schlafen sie ein, bevor es dazu kommt (sagt Magda). Am nächsten Morgen sitzen sie gemeinsam am Frühstückstisch und lösen das Kreuzworträtsel im Standard.

Josefs Frau weiß von Magda. Im Gegensatz zu Magda weiß sie jedoch nicht, wie Magda aussieht, denn als Magda den beiden am Burgring zufällig über den Weg lief, ist sie an Josef und seiner Frau vorübergegangen, ohne sich zu erkennen zu geben.

Josef sagt, dass er seine Frau liebt. Er sagt: »Meine Frau und ich sind Seelenverwandte.« Trotzdem braucht er Magda.

Magda sagt: »Josef braucht die Reibung. Den Kick. So etwas kann ihm eine Seelenverwandte nicht bieten.«

Wir umarmen einander zum Abschied. Wie immer kommt mir ihr Körper klein und zerbrechlich vor. Meine kleine Mutter, denke ich.

»Mach’s gut«, sage ich. Dann laufe ich die Treppen hinunter und bin froh, wieder draußen zu sein.

3

Ich habe Danijel vor sieben Jahren auf einer meiner unzähligen Fluchten nach Graz wiedergetroffen.

Damals war ich noch mit Norbert zusammen. Norbert verstand nicht, dass ich ständig nach Graz fuhr. Alle zwei Wochen zog es mich zu meiner Großmutter, zu ihrem Haus, zu dem Garten, in dem wir auf bunten Stoffbetten lagen, sie mit einem Kreuzworträtsel in der Hand oder einer Stickerei, ich mit einem Buch.

Dass das nicht normal sei, beschwerte sich Norbert. Dass ich endlich erwachsen werden solle. Trotzdem verließ er mich nicht.

Ich sah Norbert immer an den Wochenenden. Am Freitag zog ich zu ihm, am Montagmorgen zog ich wieder aus. Einen Rucksack musste ich nicht packen, in Norberts Kommode wartete frisch gewaschene Unterwäsche auf mich, in seinem Kasten hingen meine Jeans und Röcke. Während ich in meiner Wohnung immer weniger T-Shirts zur Verfügung hatte, wuchs der Stoß bei ihm beständig an.

Am Freitagabend gingen wir essen, manchmal ins Kino, selten ins Theater. Am Samstag fuhren wir in ein Einkaufszentrum, um Computerzubehör oder Kleidung zu kaufen, oder wir fuhren in den nahe gelegenen Wald, wo wir zwei bis drei Stunden spazieren gingen. Norbert konnte nie länger als zwei Stunden stillsitzen, und auch das nur vor dem Fernseher. Unsere Wochenendaktivitäten waren ähnlich wie die meiner Kolleginnen, und wenn ich mich bei einer von ihnen beschwerte, sagte sie: »Ich weiß gar nicht, was du hast, sei doch froh, so einen Mann zu haben.«

Meine Kolleginnen hatten Kinder, und wenn sie keine Kinder hatten, dann hatten sie zumindest Ehemänner. Sie beneideten mich um den Mann, den ich nur am Wochenende sah und der meine Wäsche wusch, damit ich sie am Samstagmorgen frisch vorfand.

Trotzdem flüchtete ich nach Graz. Anfangs nur alle zwei Monate, am Schluss jedes zweite Wochenende. Ich flüchtete vor den Einkaufszentren, den Spaziergängen, den Fernsehabenden und den gemeinsamen Restaurantbesuchen, bei denen wir einander gegenübersaßen und nichts zu erzählen wussten. Norbert war Teamleiter bei einer Beschwerde-Hotline und erzählte mir von Frauen, die die Schulden ihrer Exmänner abarbeiteten. »Wenn der Nächste daherkommt, werden sie wieder in die Falle tappen. Solche Frauen werden nicht klüger, glaub mir«, sagte er.

Ich hielt seine Erzählungen für ein Klischee und wusste doch, dass er nicht log. Norbert log nie, er wäre nicht kreativ genug gewesen, um sich etwas auszudenken. Er brachte seine Berichte mit trockener Stimme vor und erzählte so langsam, dass ich meist viel schneller mit dem Essen fertig war als er.

Als ich Sana zwei Wochen nach meiner Trennung von Norbert kennenlernte und sie mir erzählte, dass sie in einem Callcenter die Schulden ihres Exmannes abarbeitete, brach ich in einen Lachkrampf aus.

Was habe ich bloß an Norbert gefunden, dass ich ihm viereinhalb Jahre meines Lebens (an die zweihundert Wochenenden insgesamt) geschenkt habe?

Im Sommer 2007 ging unsere Beziehung bereits dem Ende zu. Im Grunde genommen war sie von Anfang an ihrem Ende entgegengegangen. Ich war nach meiner Trennung von Raul in die Beziehung mit Norbert geschlittert, und anfangs hatte ich es genossen, dass er lieb und zuverlässig war und nie am Tag unseres Treffens absagte, weil er zu müde war oder keine Lust hatte. Dass er mir nie vorwarf, die Dinge nicht locker genug zu sehen und ihn mit meiner Unsicherheit unter Druck zu setzen.

Norbert war das exakte Gegenteil von Raul. Aufmerksam, liebevoll, langweilig. Norbert gab mir die Sicherheit, die Raul mir vorenthalten hatte. Genau das wurde schließlich zu unserem Problem: Norbert ging nicht, und ich hatte nie gelernt, zu gehen.

»Es wird schon noch der richtige Zeitpunkt kommen«, sagte meine Großmutter, die selbst nicht wusste, wie man einen Mann verlässt.

Und dann traf ich Danijel. Er saß mir schräg gegenüber in einem jener neumodischen Großraumwagen, die heute eine Selbstverständlichkeit sind. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir einander seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Ich war nach der Matura für zwei Jahre nach Frankreich gegangen, und als ich zurückkam, hatte ich nur mehr zu Betty Kontakt. Zu den Klassentreffen gingen weder Betty noch ich – Danijel auch nicht, wie er mir kurz nach Wiener Neustadt gestand.

Er hatte Medizin studiert und arbeitete seit zwei Jahren an der Abteilung für pädiatrische Hämato-Onkologie in Graz. Das war in unserer Klasse immer wichtig gewesen. Woher du kommst, wer deine Eltern sind, schließlich das eigene Studium. Danijel haben sie großzügig verziehen, dass er aus Bosnien kam, denn sein Deutsch war gut und sein Englisch sogar besser als das unsere. Außerdem war Danijels Vater nicht nur Arzt, sondern ein Held gewesen.

Ich hatte ebenfalls Glück, meine Mutter verdiente als Dolmetscherin gut, und mein Vater war als Künstler exotisch genug, um mit ihm angeben zu können. Dass ich meine Mutter Magda nannte, verschwieg ich, als ich aufs Gymnasium kam. Ich begann mich zu kleiden wie die anderen, mich zu bewegen wie die anderen, zu sprechen wie die anderen. Das hieß vor allem, das letzte Stück Lusniztal, das letzte Stück Heimat, das ich mir in meiner Sprache bewahrt hatte, abzulegen.

Als Danijel in unsere Klasse kam, waren wir einundzwanzig Fünfzehnjährige und eine eingeschworene Klassengemeinschaft. Danijel war nach seiner Ankunft in Wien in eine Hauptschule gekommen, ein halbes Jahr später wechselte er ins Gymnasium – zu uns. Keinen anderen Hauptschüler hätten wir akzeptiert. Hauptschüler waren dumm und minderwertig. Hauptschüler trugen weiße Sportschuhe und waren Proleten.

Die Nase hoch tragen oder untergehen. So ist das, wenn man im Villenviertel zur Schule geht. Wenn du selbst nicht in einer der Villen oder in einer renovierten Altbauwohnung in der Gegend wohnst, sondern, wie ich damals, in einem Fünfziger-Jahre-Bau in Hernals, musst du dich erst recht anpassen. Mein Auge erfasste jedes Detail, das anders war. Magda ermöglichte mir meine Angepasstheit, indem sie mir Markenkleidung kaufte. Anfang der Neunziger hatte sie die frühen Achtziger vergessen. Hatte verdrängt, dass sie sich neben Punks an die Tür hatte ketten lassen, als man das Haus, in dem sie mit meinem Vater wohnte, abreißen wollte. Nachdem Magda meinen Vater verlassen hatte, zählte für sie nur noch der soziale Aufstieg. Zuerst lernte sie mehr, und danach arbeitete sie härter und länger als andere.

Je älter ich wurde, desto mehr wurde ich von meinen Klassenkameradinnen um meine junge Mutter beneidet. Die Hausfrau hatte ausgedient. Die Mädchen meiner Klasse sahen in Magda ein Vorbild, anders als in ihren eigenen Müttern, die ihr Studium abgebrochen hatten, um ihren Männern die Hemden zu bügeln und die Kinder zu umsorgen. Sosehr ich in der Unterstufe darum hatte kämpfen müssen, so zu sein wie die anderen, ihre Sprache zu sprechen und ihre Moral zu leben, so sehr wurde ich in der Oberstufe um mein Anderssein beneidet. Sie hatten keine Ahnung, wie sehr ich mich nach einer zehn Jahre älteren Hausfrau als Mutter gesehnt hätte.

Wir waren sechzehn Mädchen und sechs Buben. Die hatten nicht viel mitzureden, sie bildeten eine eigene Gruppe. Der einzige, der von uns Mädchen beachtet wurde, war Danijel. Vielleicht lag es daran, dass er ein Jahr älter war. Vielleicht auch daran, dass er etwas erlebt hatte, von dem wir keine Ahnung hatten. Während wir im bunten Dirndl für Nachbar in Not gesungen und uns wichtig gefühlt hatten, war Danijel dort gewesen. Mitten in einem Geschehen, das für uns weit weg war.

Das erste Mal sahen wir Danijels Heimat im Keller unseres Schulgebäudes. Wir starrten auf den Fernseher, aßen Gummibärchen und Schokoriegel und waren stolz auf unsere Tränen. Über Danijels Fehlen in dieser Stunde tuschelten wir noch wochenlang hinter vorgehaltener Hand.

Und plötzlich saß er da, schräg gegenüber, hinter einem hochgeklappten Laptop, an einem der Tische im Großraumwagen. Ich schielte am Rand meines Buches vorbei und fragte mich, ob ich auf ihn zugehen sollte (Aber worüber reden? Wie anfangen?), oder ob ich mich ins Nebenabteil setzen sollte, um eine Begegnung zu vermeiden. Noch während ich überlegte, sah er vom Bildschirm auf. Sein Blick schien durch mich hindurchzugehen, dann jedoch weiteten sich seine Augen, und er lächelte mich an. Er klappte den Laptop zu und forderte mich mit einer winkenden Geste auf, mich zu ihm zu setzen.

Als die Bahn den Semmering auf der anderen Seite wieder herunterkroch, wussten wir die wichtigsten Dinge voneinander. Ich wusste um die Leukämieerkrankung seiner Mutter, um ihren Kampf, den sie schließlich verloren hatte und der für ihn der Auslöser gewesen war, sich nicht, wie ursprünglich geplant, für die Pädiatrie, sondern für die Onkologie zu entscheiden.

Als ich endlich auf dem Gartenbett neben meiner Großmutter lag und alles bis ins kleinste Detail wiedergab, grinste sie und sagte: »Das klingt ja fast so, als hättest du dich verliebt.«

Ich stritt es heftig ab und blieb noch ein halbes Jahr bei Norbert.

4

Wenn ich meine Finger ausstrecke, bilden sich an den Fingerknöcheln dicke Querfalten. Wie bei der alten Ziehharmonika, mit der ich als Kind gespielt habe. Das Fffft, wenn mein Wiener Großvater mir half, sie wieder zu schließen. Wenn er sich danach hinsetzte und mir mit dem Instrument, das einmal Magda gehört hatte (er selbst hatte eine Bajan), etwas vorspielte.

Meine Finger sind aufgedunsen und rot. Unter den Nägeln haftet grauer Schmutz. »Das kommt vom Kratzen«, sagt Magda. »Kannst du nicht einmal deine Hände ruhig halten?«

Ich kratze mich am Kopf, kratze mich am Hals, kratze mich unter den Achseln, wenn ich zu Hause bin und den weiten Jogginganzug anhabe.

Ich sehe mich um. Neben mir steht keiner. Ich fahre mit dem Zeigefingernagel der rechten Hand unter die Fingernägel der linken. Pule den Schmutz hervor. Die Straßenbahn ruckelt gemütlich vor sich hin und bleibt an einer Kreuzung stehen. Ein Autofahrer stützt seinen Ellbogen im geöffneten Fenster auf und bohrt in der Nase.

Magda bohrte auch gerne in der Nase, vor allem, wenn wir im Stau steckten. Mit dem Finger ganz weit hinauf (bis ins Hirn, sagte meine Wiener Oma), von dort mit dem Schleim am Finger wieder hinunter, in den Mund hinein.

Wenn Magda ihren Finger in den Mund steckte, stellte ich mir den salzigen Geschmack vor.

Zu Hause werde ich unter heißem Wasser mit der Nagelschere unter die Ränder meiner Fingernägel fahren, dann mit Seife und Bürste weiter schrubben.

Bauernfinger. Arbeiterhände. Je älter ich werde, desto schlimmer sehen meine Hände aus. »An den Händen einer Frau erkennt man ihr Alter«, sagt Magda.

Ich spreize meine Finger und führe sie wieder zusammen.

»So ein zarter Ring. Hat er keinen ordentlichen bekommen?«, fragte Magda.

Ich habe mir immer einen schlichten, ganz schmalen Silberring gewünscht. Er sollte aussehen wie der Ring, den ich als Teenager trug und dessen Stein ich immer nach unten drehte, sodass nur noch der dünne Reif zu sehen war.

»Der schaut aus wie der Ehering armer Leute.«

Magda wird nie ein nettes Wort finden, wenn ihr etwas nicht gefällt. »Ich bin eine ehrliche Haut«, sagt sie mit Stolz in der Stimme.

»Wenn du am Ring drehst, bist du bei mir«, habe ich Danijel zugeflüstert. »Du musst ihn nur dreimal drehen und dabei ganz fest an mich denken.«

Seit Danijel in Sarajevo ist, drehe ich oft am Ring. Nachts, wenn ich im Bett liege. Wenn ich von Magda komme. Komisch schauen die aus, deine Illustrationen. Gefallen die den Kindern überhaupt?, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf. Früher waren die Bilderbücher schöner. Kannst du dich an das Nilpferd erinnern?

Was weiß Magda schon von Flora?

Das Buch gehörte meinem Vater. Vorgelesen bekam ich es von meiner Großmutter. Wo ist es heute? Ich glaube nicht, dass Oma das Buch mit nach Graz genommen hat. Flora ging verloren oder wurde ausgemustert. Meine Großmutter warf so viele Dinge weg, als sie das Haus in Haizendorf verkaufte. So viele Erinnerungen, einfach fort. Nur das Familienalbum nahm sie mit. Und Hilda, das Stoffpferd, weil es mein Lieblingstier war.

Was werde ich mitnehmen, wenn Danijels Onkel mich mit dem Lieferwagen seiner Firma abholt? Von den Möbeln behalten wir nur den großen Schreibtisch. Wir haben ihn vor zwei Jahren gekauft, als ich die ersten Aufträge über die Agentur bekam und begann, regelmäßig für Zeitschriften zu illustrieren. Schon damals habe ich ausgemistet, um Platz zu schaffen. Kippte die alten Schulbücher und Ordner in den Müll.

Ich habe Umzüge immer gehasst. Das wochenlange Schlichten in Kartons, die hektischen Tage, das Schleppen und dann das tagelange Einordnen. Magda und ich mussten zweimal die Wohnung wechseln, bevor wir endlich die Genossenschaftswohnung in Hernals bezogen. Mit neunzehn entschied ich mich für die erstbeste Wohnung, in der ich bis heute geblieben bin. »Nie gebe ich meine Wohnung auf«, habe ich immer gesagt, »wenn jemand mit mir leben will, muss er zu mir ziehen.«

Und jetzt ziehe ich nicht nur in Danijels Wohnung, sondern in sein Land. Alles, was nicht in den Firmenwagen seines Onkels passt, muss hierbleiben. Wir wollen Mihajlo nicht zweimal fahren lassen.

»Wer ein neues Leben anfängt, sollte kein altes Gerümpel mitnehmen«, sagte meine Großmutter immer.

Ich drehe den Ring und stelle mir vor, meinen Kopf an Danijels Schulter zu legen.

»Hast du Angst?«, fragt er mich.

»Schon«, sage ich. »Du nicht?«

»Doch, ein bisschen. Dass es dir hier nicht gefallen könnte.«

»Und was, wenn es tatsächlich so ist?«

»Dann sehen wir weiter. Immer ein Schritt nach dem anderen.«

5

Zwei Wochen bevor meine Großmutter nach Graz zog, erschien ihr mein toter Großvater im Traum.

Dass das nicht möglich sei, sagte sie, dass er doch nicht einfach so zurückkommen könne, so mir nichts, dir nichts, nach so vielen Jahren, wie ein von der Gefangenschaft Heimgekehrter. Und überhaupt, jetzt, wo sie doch gerade alles verkauft habe, das Haus und die Pferde.

Die Großmutter schüttelte den Kopf, immer wieder, nein-nein-nein, von links nach rechts und wieder zurück, nein-nein-nein, sie biss mit dem Unterkiefer fest auf den Oberkiefer, nein-nein-nein und nochmals nein, er solle wieder dorthin zurück, wo er hergekommen sei, sie könne ihn hier nicht mehr brauchen. Außerdem ziehe sie bald nach Graz, das Haus sei bereits verkauft, die Papiere unterschrieben, der Kaufvertrag und auch der Auftrag für die Umzugsfirma, morgen käme der Schwiegersohn die Kartons abholen, viel seien es ohnehin nicht.

»Wozu das alte Gerümpel mitnehmen?«

Da habe mein Großvater mit der Faust auf den Tisch geschlagen.

So erzählte sie es mir einen Monat vor ihrem Tod.

»So schnell kann es gehen«, sagte sie und zeigte auf ihren abgemagerten Körper, als sei ihr Sterben nur ein Spiel, oder ein Traum, so wie der Großvater, der damals so plötzlich im Türrahmen gestanden war, als wolle er wieder einziehen bei ihr, als seien keine zehn Jahre vergangen. Mit den schmutzigen Arbeitsstiefeln sei er in die Stube gepoltert und habe gefragt, was es zu essen gebe.

»Als dein Großvater auf den Tisch geschlagen hat«, sagte sie, »da habe ich mich dann schon ein wenig gefürchtet.«

In der Küche sei sie gestanden, am Herd. Davor habe sie den ganzen Tag alles, was sie behalten wollte, in Kisten verstaut, und der Nachbar habe ihr geholfen, das Gerümpel wegzuführen, damit sie das Haus ordentlich übergeben konnte. Und dann, gerade als sie sich eine Kartoffelsuppe habe kochen wollen, sei die Tür aufgesprungen, und der Großvater sei im Zimmer gestanden, als sei nichts geschehen, als hätte er sich nicht zehn Jahre zuvor das Genick gebrochen bei seiner Arbeit im Kohlenbergwerk.

Dass der Großvater nicht immer so gewesen sei, erinnerte sich meine Großmutter. Dass er ein sanfter Mann gewesen sei, nur dann, in der Ehe, sei er ihr fremd geworden.

Dass es nicht leicht gewesen sei, nach Graz zu ziehen, nachdem ihr der Großvater im Traum erschienen war. Als hätte sie ihm die Heimat genommen, als müsse sein Geist jetzt im Haus fremder Leute wohnen.

»Glaubst du, er spukt dort herum?«, fragte sie mich und zog sich die Decke über den Oberkörper.

Ich schüttelte den Kopf. »Ist dir kalt?«

»Aber nein, die Sonne scheint doch herein.«

An der Wand meiner Großmutter hingen Teller aus der ganzen Welt: Wien, Bad Ischl, Salzburg, Rom, Zürich und Nizza. Den Keramikteller aus Frankreich hatte ich ihr mitgebracht, nachdem ich das erste Mal in den Sommerferien nicht zu ihr, sondern auf Sprachreise nach Nizza gefahren war. Auch Kanada war auf den Tellern zu sehen. Ein Teller aus Toronto und einer aus Wawa mit der Gans darauf. Land der Bäume und Holzfäller, wie es in unserer Familie immer hieß, weil sowohl der Bruder meiner Großmutter als auch der Mann ihrer Schwester als Holzfäller Arbeit fanden, nachdem sie in Kanada angekommen waren.

»Sucht euch etwas aus«, befahl meine Großmutter, als sie wusste, dass sie bald sterben würde. Dass sie mehr davon habe, wenn sie unsere Freude sehen könne, sagte sie.

Ich hätte gerne Hilda mit nach Wien genommen – das Plüschpferd, dessen Beine schon so zur Seite standen, dass der verfilzte Bauch am Boden schleifte –, aber meine Cousine wollte das Pferd ebenfalls. Karo ist jünger, sie hat zuletzt damit gespielt.

»Was wollt ihr denn mit dem alten Pferd, nehmt doch die Silberbecher, die sind wenigstens etwas wert«, sagte Oma.

Meinen Großvater kenne ich nur von der eingerahmten Fotografie auf dem Schreibtisch, an dem meine Großmutter immer ihre Briefe schrieb. Darauf blinzelt er in eine Sonne, die er sein Lebtag lang so gut wie nie gesehen hat, denn er hat die meiste Zeit unter der Erde verbracht. Nachdem man ihn auf dem Friedhof begraben hatte, war sein Körper dem Tageslicht näher als die dreißig Jahre zuvor.

Bei meinen letzten Besuchen lag das Fotoalbum immer auf dem Tisch. Mit dem Sterben ist es so, wie man sagt, man sieht das ganze Leben noch einmal an sich vorüberziehen. Weil meine Großmutter wusste, dass sie bald sterben würde, nahm sie sich extra viel Zeit dafür.

Jetzt, sechs Jahre nach ihrem Tod, treffen wir uns im Haus meiner Tante Silvia und wiederholen das Ritual. Wir sitzen unter der Gartenlaube oder liegen auf Liegestühlen. Wir trinken Eiskaffee, erzählen uns das Neueste aus unserem Leben, erinnern uns an früher, und irgendwann sind wir dann an dem Punkt angelangt, an dem Silvia das Fotoalbum hervorholt. Auf den Fotos lachen Verwandte, die ich nie kennengelernt habe. Meine Großmutter hat ihre Geschwister nur alle fünfzehn bis zwanzig Jahre gesehen, und auch Silvia kennt die meisten ihrer kanadischen Cousins und Cousinen nur von den Bildern, die Omas Geschwister ihren Briefen beilegten und die jetzt alle in dem Album kleben.

Alle zwei Wochen schrieben Oma und ihre Schwester Klara einander. Seit sechs Jahren gibt es keine Briefe mehr. Kann man eine Erwartung, die mehr als ein halbes Leben lang erfüllt wurde, einfach so abstellen? Ich stelle mir Klara vor, wie sie die Klappe des Briefkastens öffnet und ihr erst, als sie in das dunkle Maul schaut, wieder einfällt, dass nie wieder ein Brief ihrer Schwester darin liegen wird.

Wenn ich in Sarajevo leben werde, werde ich Fotos auf Facebook stellen. Sarajevo im Herbst, werde ich schreiben und Sarajevo im Winter