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Eine junge Frau zwischen den Fronten – „Die schöne Verräterin“ von Rena Monte jetzt als eBook bei dotbooks. Italien im 13. Jahrhundert: Die schöne Silvana wird vom Erzfeind ihres Vaters, dem diabolischen Ripafratta, erpresst. Er droht, ein Familiengeheimnis zu lüften, das das Ansehen von Silvana und ihrer Familie zerstören würde. Verhindern kann sie das nur, indem sie Schuld gegen ihre Familie auf sich lädt. Zerrissen und ohnmächtig weiß die Schöne nicht, wie sie dieser Situation entkommen kann. Und als sie sich dann auch noch in den Spitzel Ripafrattas verliebt, gerät sie gänzlich zwischen die Fronten … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die schöne Verräterin“ von Rena Monte. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 510
Über dieses Buch:
Italien im 13. Jahrhundert: Die schöne Silvana wird vom Erzfeind ihres Vaters, dem diabolischen Ripafratta, erpresst. Er droht, ein Familiengeheimnis zu lüften, das das Ansehen von Silvana und ihrer Familie zerstören würde. Verhindern kann sie das nur, indem sie Schuld gegen ihre Familie auf sich lädt. Zerrissen und ohnmächtig weiß die Schöne nicht, wie sie dieser Situation entkommen kann. Und als sie sich dann auch noch in den Spitzel Ripafrattas verliebt, gerät sie gänzlich zwischen die Fronten …
Über die Autorin:
Rena Monte studierte Geschichte und Rechtswissenschaft und veröffentlichte unter verschiedenen Pseudonymen zahlreiche historische Romane. Bei dotbooks erscheinen die Romane Das Herz der Falknerin, Die Kurierreiterin und Die Zauberin von Toledo. Außerdem schrieb sie für die Tempelritter-Saga die folgenden Bände:
Die Tempelritter-Saga – Band 1: Der Fluch der Templer
Die Tempelritter-Saga – Band 3: Der Emir von Al-Qudz
Rena Monte lebte als freie Autorin in der Nähe von München und zeitweise in der Toskana. Sie verstarb 2014.
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Neuausgabe März 2015
Copyright © der Originalausgabe 2005 Moments in der area verlag gmbh, Erftstadt
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich
ISBN 978-3-95824-112-1
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Rena Monte
Die schöne Verräterin
Roman
dotbooks.
Silvana, Contessina aus adeligem Luccheser Geschlecht, die unter Soldaten aufwächst und an raue Sitten gewöhnt ist
Dino Monteggiori, Silvanas Vater, jähzorniger Burgherr, der ein strenges Regiment führt
Castruccio Castracani, Herr über die Lucchesia, sieggewohnter Feldherr, klug und stets vom Glück begünstigt, Freund des deutschen Königs Ludwig der Bayer
Pina Streghi di Perotti, Gemahlin von Castruccio, den sie verehrt, aber durch unangebrachtes Mitteilungsbedürfnis in Gefahr bringt
Tiziano Bernardini, Günstling von Castruccio und Liebhaber von Silvana, die er mit den Regeln des Liebeskampfes vertraut macht
Marchesa Donata, Herrin auf Marlia, die ihre Nichte Silvana mit Hilfe der Geistlichkeit zu einem Edelfräulein erziehen möchte
Marchese von Marlia, Gemahl von Donata, der seine Nichte als blendende Reiterin und ausgezeichnete Falknerin bewundert
Roberto di Ripafratta, pisanischer Erbfeind, der Silvana erpresst und misshandelt
Marietta, ältliche Dienerin, die an Silvana die Mutterstelle vertritt und bedingungslos zu ihr hält
Stefano, ein junger Falkner, leichtlebig und ein Freund amouröser Spiele
Matten dal Poggio, Wolf im Schafspelz, der überall seinen Vorteil sucht
Kastellan der Festung Castiglione, misstrauisch und sadistisch
Kastellanin, Frau des Kastellans, Kennerin einheimischer Heilkräuter
Notker, Burggeistlicher von Collodi, Menschenkenner, der kluge Entscheidungen trifft
Um die fünfte Morgenstunde, als die Außenposten vom Steilufer des Serchio zurückkehrten, erhob sich ungewöhnlicher Lärm.
Invincibile! Lauter als sonst schrien die Soldaten ihre nächtliche Parole dem Wachthabenden zu, der vom Turm herab den Grund der Aufregung zu erkennen suchte. Die hölzernen Wehrgänge, in denen die Wachen Tag und Nacht gemessenen Schrittes patrouillierten, erzitterten vom Getrampel schwerer Männerstiefel.
Silvana griff zu ihren Reiterhosen aus grob gewebtem Tuch, die zu tragen ihr Vater sie gezwungen hatte, solange sie denken konnte. Noch niemals hatte er ihr gestattet, eines der seidenen Kleider anzulegen, die in den Schränken ihrer verstorbenen Mutter hingen. Silvana hatte nur kurz gegen dieses Verbot aufbegehrt. Denn nachdem man ihr auf Geheiß des Vaters auch noch ihre langen, gelockten Haare abgeschnitten hatte, unterschied sie sich nur unbedeutend von den jungen Soldaten, so dass sie, entgegen dem Verbot ihres Vaters, unbemerkt in dem Kastell umherstreifen konnte.
Auch jetzt gelang es ihr, ohne entdeckt zu werden, fast bis zum Burgtor vorzudringen. Sechs Soldaten waren soeben dabei, den gewaltigen Eisenriegel beiseite zu schieben, um das Tor öffnen zu können. Von ihrem Versteck aus beobachtete Silvana, wie die kleine Gruppe der Außenposten auf einer schwankenden Trage aus Weidengeflecht einen anscheinend verletzten Soldaten hereintrugen. Aus einer Wunde an der linken Schulter tropfte Blut auf die Steinfliesen des Burghofes, und beide Arme hingen leblos rechts und links an der Trage herab.
Jemand musste wohl den Burgherrn verständigt haben. Seine Stimme war nicht zu überhören, und Silvana drückte sich noch enger in die Dunkelheit der Mauernische. Conte Monteggiori ließ eine Reihe von Flüchen hören, von denen »Stronzo« noch der mildeste war. Sie wusste, was jetzt geschehen würde. Einer der nächststehenden Männer, der sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte, würde ein paar schallende Ohrfeigen empfangen. Und falls durch diese Züchtigung eines völlig Unschuldigen die Wut des jähzornigen Burgherrn noch nicht besänftigt sein sollte, würde er sogar noch seinen Degen ziehen, um mit der flachen Klinge die soeben heimgekehrten Außenposten zu traktieren.
»Was steht ihr hier herum und glotzt? Holt den Feldscher herbei, damit er das Blut zum Stillstand bringt und die Wunde säubert!«
Nur zu gern stürzten vier Soldaten davon. Einen fünften packte der Burgherr beim Kragen und schüttelte ihn so heftig, dass der Kopf des jungen Soldaten unablässig hin und her flog. Silvana glaubte sogar, ein Knacken der Halswirbel gehört zu haben. »Du bleibst hier und berichtest mir, wie es geschehen konnte, dass Matteo verwundet wurde!«
Der Junge, der sich mit erhobenen Armen zu schützen versuchte, brachte mit zitternder Stimme eine Erklärung hervor, dass sich Matteo trotz der Warnung seiner Kameraden auf pisanisches Gebiet gewagt habe. »Er hat den Kampf geradezu gesucht, um sich hervorzutun.«
Vorsichtig wagte sich Silvana noch einen Schritt näher. Sie wusste, dass Matteo unter dem besonderen Schutz ihres Vaters stand, weil der Junge dem berühmten Conte Monteggiori von einem langjährigen Waffengefährten zur Erziehung anvertraut worden war. Und sie erkannte im Gesichtsausdruck ihres Vaters nicht nur Wut, sondern auch Angst.
Anscheinend hatte man den schon betagten Feldscher aus tiefstem Schlaf geholt. Mit halb geschlossenen Augen torkelte er auf unsicheren Beinen herbei. Niemandem in der Burg war es unbekannt, dass der Alte dem Alkohol in überreichlichem Maße zusprach. Der Conte unterließ jedoch jegliche Zurechtweisung, weil der Feldscher mit seiner Kunst schon so manchem verwundeten Soldaten das Leben gerettet hatte.
Mühsam und mit einem Ächzen, das lauter klang als das leise Stöhnen des Verletzten, ließ sich der Feldscher an der Trage nieder. »Der Junge hat sehr viel Blut verloren.«
Im Schutze der Soldaten, die sich kaum zu bewegen trauten, wagte sich Silvana noch einen weiteren Schritt aus der Mauernische hervor und erkannte erst jetzt, dass ein Pfeil tief in das Schulterblatt des Jungen eingedrungen war.
Aber der Conte musste wohl eine Bewegung in seinem Rücken verspürt haben, denn er drehte sich unversehens um, entdeckte seine Tochter und näherte sich ihr mit drohend erhobener Hand. Die Soldaten öffneten den Kreis, den sie um die Trage herum gebildet hatten, so dass Silvana schutzlos dem erzürnten Vater gegenüberstand. Die Stimme des Burgherrn schwoll bedenklich an. »Was hast du hier unter den Männern zu suchen? Scher dich in deine Kammer, und bleibe dort, bis ich dich rufen lasse!«
Er hätte wohl ein mächtiges Gebrüll angestimmt, wenn nicht der Feldscher warnend einen Finger auf die Lippen gelegt und auf das bleiche Gesicht des Verwundeten gewiesen hätte. »Der Junge braucht Ruhe. Lasst ihn in mein Laboratorium schaffen und auf den hölzernen Tisch legen. Es ist keine Zeit zu verlieren. Der Pfeil muss entfernt und die Wunde ausgewaschen werden.«
Silvana hatte den Rückzug angetreten, aber anscheinend hatte der Conte Vorsorge getroffen, damit sie die Kammer ohne seine Erlaubnis nicht noch einmal verlassen konnte. Denn ein bärbeißiger Haudegen hatte vor ihrer Tür Posten bezogen und machte nicht den Eindruck, als sei er irgendwelchen Bitten zugänglich.
***
Drei Tage lang schob dieser Wachtposten mit seiner pockennarbigen Hand einen Blechnapf mit Brot und Milch durch einen Spalt der Kammertür. Silvana war ratlos, wie sie sich Erleichterung verschaffen könnte. Verbittert dachte sie an die wunderschönen Gobelinhandarbeiten, die sie in der Truhe ihrer verstorbenen Mutter gesehen hatte. Wenn man ihr wenigstens erlaubt hätte, einen der unvollendeten Wandbehänge fertig zu stellen!
Aber als sie ihren Vater vor einiger Zeit um diese Gunst gebeten hatte, war ein grobes Gelächter die Antwort gewesen. »Mit deinen ungepflegten Händen wirst du eine so zarte Stickerei niemals zustande bringen. Schau dich nur an! Niemand würde in dir ein adeliges Burgfräulein vermuten. Und das ist auch gut so.« Zu ihrem Entsetzen hatte er eine Gobelindecke mit dem Degen zerschnitten, auf der ein junger Lautenspieler in kunstvollem Kreuzstich abgebildet war.
Hasserfüllt erinnerte sie sich auch daran, dass der Vater ihr ebenfalls untersagt hatte, einer silbernen Flöte einige Töne zu entlocken, die, sorgsam eingewickelt in ein kostbares Tuch, auf dem Grund der Truhe lag. Sie hatte laut geweint, als der Conte in einem seiner Wutanfälle das zarte Instrument mit seinen klobigen Reiterstiefeln zertreten und die verbogenen Teile zum Fenster hinausgeworfen hatte. Wahrscheinlich hätte sie sich nur schwer beruhigen können, wenn sie sich nicht vor dem Zorn ihres Vaters gefürchtet hätte.
Um ihre traurigen Gedanken zu vertreiben, lehnte sie sich weit aus der Maueröffnung und folgte mit den Blicken dem Flusslauf des Serchio, der in weitem Bogen hinter der Hügelkette verschwand. Nicht einmal ihren Augen war es erlaubt, dem Fluss bis dahin zu folgen, wo sich die Stadt Lucca befinden sollte, von der die Soldaten flüsternd erzählten: von den Türmen und Kirchen, von dem bunten ‘Leben in den Gassen, von der Fröhlichkeit der Menschen und natürlich auch von den Mädchen, deren Schönheit unvergleichlich sein sollte.
Zu dieser Morgenstunde warf die Sonne schon ihre ersten Strahlen auf den Fluss und verwandelte die nächtliche Flut in ein silbernes Band. Auf dem Gegenufer blitzten Lichter auf, und Silvana erkannte einen bewaffneten Reitertrupp an dem gegenüberliegenden Ufer. Etwa zehn Männer bewegten sich auf dem Damm flussaufwärts, und der vorderste Reiter trug einen Wimpel mit den Farben des pisanischen Feindes. Ein zweiter Trupp näherte sich auf einem steilen Pfad, der von dem Kastell Ripafratta abwärts führte. Während dieser Frühjahrszeit führte der Serchio ungewöhnlich viel Wasser, so dass es keine Furt gab, die eine Durchquerung erlaubt hätte.
Silvana horchte gespannt, wie ihr Vater wohl der Herausforderung der Pisaner begegnen würde. Sie glaubte zu hören, dass man im Burghof die Pferde sattelte, und sie beschloss, ihren Wächter zu überlisten, um den Wehrgang zu erreichen. Mit heftigem Ruck riss sie die Tür auf, und der junge Mann, der offensichtlich ihre Bewachung übernommen hatte, wich erschrocken zurück. Ihr gegenüber stand Matteo.
Silvana gab sich Mühe, sanft und freundlich zu sprechen. »Geht es dir wieder besser? Das würde mich freuen.« Mit diesen teilnehmenden Worten trat sie einen Schritt näher, um sich an dem Jungen vorbeizudrücken.
Aber Matteo, der an Oberarm und Schulter noch immer einen Verband trug, verwehrte ihr den Durchgang. »Es geht mir gut genug, um Euch am Weitergehen zu hindern.«
»Wie kommst du nur auf den Gedanken, ich wolle meine Kammer verlassen?« Aber entgegen dieser Versicherung machte sie zwei weitere Schritte in Richtung der Treppe, die zum Wehrgang führte. Offensichtlich wusste der Junge nicht, wie er sich verhalten sollte, und verlegte sich aufs Bitten. »Wenn du ohne Erlaubnis diesen Raum verlässt, wird man mich strafen und nicht dich.«
Silvana ließ sich auf der untersten Stufe nieder. »Werden sich unsere Soldaten auf ein Scharmützel einlassen?«
Matteo schüttelte den Kopf. »Man sagt, der junge Herr von Ripafratta sei nach Nozzano unterwegs, um sich für den nächtlichen Vorfall zu entschuldigen, eine Geldbuße zu zahlen und ein Friedensangebot zu unterbreiten.«
»Ah, wirklich?« Silvana schob sich noch eine Stufe höher. »Mein Vater glaubt doch etwa nicht diesem verlogenen Pack?« Sie erklomm noch eine Stufe und hätte den Wehrgang wohl mit einem Sprung erreichen können.
Aber sie blieb auf der Hut und erkannte rechtzeitig die Schritte ihres Vaters. Vor allem die dröhnende Stimme war nicht zu überhören. »Matteo, komm her!«
Silvana war schon wieder in ihrer Kammer, bevor der Conte die oberste Stufe erreicht hatte. Hinter der geschlossenen Tür hörte sie die beiden Männer miteinander reden. Sie wartete, bis sich ihr Vater wieder entfernt hatte, und lugte durch einen Spalt nach draußen. »Was hattet ihr miteinander zu flüstern?«
Matteo brüstete sich mit seiner Antwort. »Der Capitano wird morgen Roberto di Ripafratta empfangen. Er wünscht, dass ich an der Verhandlung teilnehme und meine Verwundung mehr als deutlich zur Schau trage, um eine entsprechend hohe Geldbuße verlangen zu können.«
Silvana schürzte verächtlich die Lippen. »Das sieht ihm ähnlich.« Ihre Gedanken nahmen eine andere Richtung. »Und wen wird man zu meiner Bewachung abstellen? Doch nicht etwa wieder dieses pockennarbige Scheusal?«
Anscheinend durchschaute Matteo nicht die listige Fragestellung, und er berichtete arglos, dass kein Wachtposten zur Verfügung stünde, weil alle Männer im Burghof und am Steilufer Aufstellung nehmen müssten, um einen eventuellen Angriff der Pisaner abzuwehren.
***
Am nächsten Tag zeigte sich aber, dass der pisanische Erbfeind nur mit einer kleinen Eskorte vor dem Burgtor von Nozzano erschien und Einlass begehrte. Das schwere Tor wurde einen Spalt breit geöffnet, um die Männer einzeln eintreten zu lassen. Ein junger lucchesischer Reiter, der seine Lanze stoßbereit gesenkt hielt, gebot den Ankömmlingen, ihre Waffen niederzulegen.
Silvana war es gelungen, einen abgelegenen Hof aufzusuchen, der mit ungeschnittenem Gras und wilden Sträuchern eher einer Steppe als einem Garten glich. Der Koch hatte ihr einmal anvertraut, dass die Contessa Luisa vor ihrem bedauernswerten Unfall dieses Stückchen Erde in ein wahres Blumenmeer verwandelt hätte, dass aber der Conte, nachdem die Contessa nicht von ihrem Abendspaziergang zurückgekehrt und wahrscheinlich vom Steilufer in den Serchio gestürzt sei, bei strenger Strafe verboten hatte, jemals dort wieder Blumen anzupflanzen.
Durch eine Öffnung in der dichten Hecke hatte Silvana die Ankunft der feindlichen Eskorte beobachten können. Sie verfolgte noch, wie ein Offizier den jungen Herrn von Ripafratta am Eingang zum Burgsaal in Empfang nahm und hinter ihm die Tür fest verschloss.
Die Verhandlung wurde mit erregten Stimmen so laut geführt, dass einige Wortfetzen in ihrem Versteck zu hören waren. »Grenzüberschreitung … Spionage … Mordabsichten … schwere Verwundung … lebenslängliche Behinderung.« Anscheinend konnte man sich nicht einigen, und Silvana beschloss, um sich die Zeit zu vertreiben, den kleinen Garten näher in Augenschein zu nehmen. In der hintersten Ecke an der verfallenen Mauer entdeckte sie einen blühenden Pomeranzenbaum. Von dem ungewohnten Anblick überwältigt, blieb sie einige Minuten still vor dem Blütenwunder stehen, schwang sich schließlich auf den untersten Zweig und ließ die Beine baumeln. Sie fühlte sich sehr glücklich. Über ihr im Wipfel stritten sich zwei Vögel um den Erstbezug eines Nestes. Gespannt verfolgte Silvana den Kampf, der mit durchdringendem Zirpen und Schnabelhieben ausgefochten wurde. Sie schloss für sich eine Wette ab, wer denn wohl den Sieg davontrüge, und wünschte dem leuchtend gelb gefiederten Vogel den Erfolg. Niemand hatte ihr die Namen der Vögel beigebracht, denn von ihrer schmalen Fensteröffnung aus sah sie allenfalls einige Fischreiher, die kaum vom tief hängenden Geäst der Bäume zu unterscheiden waren, wenn sie bewegungslos am Ufer des Serchio verharrten, um dort unter den Fischen ihre Beute zu suchen.
»Gefällt dir der Gobbolo?« Sie erschrak, als eine raue Stimme ertönte und jemand sie an den Waden herabzuziehen versuchte. »Wenn man mich nicht gezwungen hätte, die Waffen abzulegen, könnte ich dir den Vogel mit einem Pfeilschuss herunterholen.«
Silvana sah einen stämmigen Mann, dessen eng beieinander liegende Augenbrauen ihm ein finsteres Aussehen verliehen, das auch durch ein Lächeln nicht wettgemacht wurde. Sie war sich nicht sicher, ob es sich bei dieser Begegnung um Roberto di Ripafratta handelte, den sie nur von weitem gesehen hatte. Sollte sie dagegen von einem Soldaten ihres Vaters entdeckt worden sein, könnte das schlimme Folgen für sie haben. Denn alle Männer waren ihrem Vater treu ergeben und würden sich nicht scheuen, dem Capitano von ihrem Ungehorsam Meldung zu erstatten.
»Wer seid Ihr, und wie kommt Ihr in diesen Garten?«
Sie erhielt keine Antwort, sondern eine Gegenfrage. »Und wer bist du, Bursche, der hier im ehemaligen Garten der Contessa von Nozzano auf den Bäumen herumklettert, um die Paarung der Vögel zu beobachten?«
Silvana hob den Kopf und schaute ihrem Gegenüber starr in die Augen. »Ihr solltet Eure Worte zügeln. Denn ich bin als Tochter des Conte Monteggiori in der Burg von Nozzano heimisch und kann mich aufhalten, wo es mir beliebt.«
Das stimmte nicht, und sie schaute ängstlich zur Pforte, ob dort ihr Vater oder einer seiner Vertrauten auftauchen würde. Der Fremde deutete eine Verbeugung an, die ihr spöttisch erschien. »Ich bin der Herr des Kastells Ripafratta, und es freut mich, die Tochter der Contessa Luisa kennen zu lernen, die Euch allerdings, verzeiht mir die Bemerkung, an Schönheit bei weitem übertraf.«
Silvana entging nicht sein abschätziger Blick, mit dem er ihren Aufzug betrachtete. Sie fuhr sich mit allen zehn Fingern durch ihr struppiges Haar und schämte sich. Mit einer plötzlichen Wendung versuchte sie, der Nähe des Pisaners zu entkommen, aber Roberto di Ripafratta hielt sie mit einem groben Griff zurück.
»Warum wollt Ihr nicht ein wenig mit mir plaudern und mir die Zeit vertreiben? Man hat mich in diesen Garten verbannt, bis der Conte Monteggiori geruht, mich das Ergebnis der Besprechung wissen zu lassen. Nun aber hat mich ein glücklicher Zufall zu meinem eigentlichen Anliegen geführt, der Bekanntschaft mit Euch. Ich fürchtete schon, ich müsse mit immer neuen Ausreden und Vorschlägen hierher zurückkehren.«
Silvana war nahe daran, einen der Befreiungsschläge anzuwenden, die sie den Männern abgeschaut hatte. »Welch einen Unsinn redet Ihr da! Warum sollte es Euer Wunsch gewesen sein, mich kennen zu lernen?«
Der Pisaner verstärkte seinen Griff. »Ich könnte Euch mit einer sehr spannenden Geschichte unterhalten. Oder seid Ihr gar nicht neugierig, etwas über Eure Mutter zu erfahren?«
Silvana verschränkte ihre Hände ineinander und schwieg. Noch niemals hatte jemand mit ihr über die Contessa Luisa gesprochen, an die sie keine Erinnerung hatte und die eines Tages nicht mehr von ihrem Abendspaziergang zurückgekehrt war. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, sie sei vom Steilufer des Serchio, der damals Hochwasser führte, in den Fluss gefallen und ertrunken, während der Conte fest davon überzeugt war, sie sei einem Meuchelmord des pisanischen Erbfeindes zum Opfer gefallen.
Roberto di Ripafratta stellte sich breitbeinig vor Silvana hin. »Hat man dir etwa erzählt, deine Mutter sei tot? Wie hässlich von deinem Vater, ein kleines Mädchen auf so infame Weise zu belügen!«
Silvana spürte, wie sie von einer Erregung gepackt wurde, die ihr fremd war. Sie presste ihren Rücken fest gegen den Stamm des Pomeranzenbaumes, um Haltung zu bewahren. »Ihr seid es, der mich belügen will! Wo sollte meine Mutter denn sein, wenn nicht in dieser Burg?«
Der Pisaner stieß ein hässliches Gelächter aus. »Da gibt es eine unterhaltsame Geschichte, die ich dir erzählen werde.« Er betonte das Wort »unterhaltsam« mit einem Grinsen, das Silvana nicht nur am Unterhaltungswert dieser Geschichte zweifeln ließ, sondern auch unbestimmbare Ängste in ihr erweckte.
»Hast du schon einmal von jenen Musikanten gehört, die man Minnesänger nennt? Ah, du schüttelst den Kopf. Wohlgestalte Jünglinge ziehen mit ihrer Laute von Burg zu Burg und besingen Schönheit und edle Gesinnung der Frauen. Mit ihren sanften Stimmen haben sie schon so manches Edelfräulein betört, zuweilen aber auch verehelichte Burgdamen.«
Silvana schwieg noch immer, aber sie begann zu ahnen, wie sich diese Geschichte weiterentwickeln würde.
»Nun, der Minnesänger, der Nozzano aufsuchte, war ein wunderschöner Knabe mit einer Stimme, die nicht einmal im Himmel unter den Engeln zu finden wäre. Was soll ich dir sagen? Als dein Vater gezwungen war, sich an einem Kriegszug gegen die Florentiner zu beteiligen, verschwand deine Mutter auf Nimmerwiedersehen mit diesem Musikanten.«
Silvana fühlte, wie ihre Finger, Arme und Beine nacheinander abstarben, als ob alles Blut aus ihren Adern entwichen wäre. Sie zitterte wie in den kalten Wintertagen, wenn der Ostwind durch die Gänge der Burg pfiff. »Ihr lügt!«
»Ach, meinst du? Es ist kaum einen Monat her, als ich deine Mutter auf einem Jahrmarkt sah. Sie glich allerdings eher einer alten Vettel als einer Contessa, deren Schönheit damals in aller Munde war. Der junge Minnesänger war ihrer bald überdrüssig geworden und stahl sich eines Nachts davon, nachdem er noch einmal sein Vergnügen an ihr gehabt hatte. Nun lebt sie als ehrlose Dirne unter fahrendem Volk und muss froh sein, wenn sie für ihre unwürdigen Liebesdienste einige Kupfermünzen und keinen Fußtritt erhält.«
Silvana fürchtete, dass sie sich erbrechen müsse, aber der Pisaner schien ihren Zustand nicht zu bemerken. »Der eingebildete und hochfahrende Conte Monteggiori wird nicht sehr erfreut sein, wenn ich mein Jahrmarktserlebnis bei allen lucchesischen Edelleuten zu Gehör bringe. Du könntest aber dazu beitragen, dass diese böse Geschichte unter uns bleibt.«
Silvana hatte sich gefasst. »Was verlangt Ihr? Etwa das, womit meine Mutter solchen Männern wie Euch zu Diensten steht?« Sie hatte schon so manches Gespräch der Soldaten belauscht und gehört, mit welchen Mitteln Mädchen gezwungen wurden, die sich gegenüber den Wünschen der Männer allzu halsstarrig zeigten.
Roberto di Ripafratta verzog sein Gesicht zu einer Fratze. »Aber nein! So etwas würde ich von einem unbescholtenen Burgfräulein niemals verlangen. Außerdem halten sich Eure Reize in Grenzen.« Er zog sie so nahe zu sich heran, dass Silvana entgegen seiner beleidigenden Worte seine männliche Gier spürte. Aber ebenso plötzlich stieß er sie wieder von sich. »Da du dich, wie du behauptest, als Tochter des Kommandanten frei in der Burg bewegen darfst, verlange ich für mein Stillschweigen, dass du mir alle Ein-, Aus- und Wehrgänge genau aufzeichnest. Und da du unter den Soldaten lebst, weißt du sicher auch über die Stärke der Besatzung Bescheid. Aber wehe dir, wenn du mich betrügst!«
Silvana brauchte mehrere Minuten, bevor sie die Ungeheuerlichkeit dieser Forderung begriff: Sie sollte zur Verräterin werden! Als ihre Fassungslosigkeit wich, kam ihr eine anscheinend rettende Idee. »Ich brauche einen Beweis, dass Ihr mich nicht belügt!«
Der Pisaner nickte herablassend mit dem Kopf. »Aber gern, mein Täubchen!« Er griff in seine Tasche und zog einen Wappenring hervor, der mit dem lucchesischen Emblem, dem Panther, aus Lapislazuli geschmückt war.
Erleichtert betrachtete Silvana dieses so genannte Beweisstück. »So einen Ring trägt doch jeder, der aus lucchesischem Geschlecht stammt.«
Roberto di Ripafratta sah sie fast bewundernd an. »Du bist gar nicht so dumm, mein Täubchen! Aber da gibt es noch einen anderen Beweis, den ich dir gern erspart hätte.«
Was mochte er noch zurückgehalten haben? Silvana starrte auf die groben Fäuste, die jetzt in der Hosentasche etwas umklammert hielten und nur zögernd zum Vorschein brachten. Auf der ausgebreiteten Handfläche bot er ihren Blicken einen goldenen Ohrring dar, der mit einem auffälligen Rubin geschmückt war. Silvana griff nach dem Schmuckstück. Zu ihrem Erstaunen überließ ihr der Pisaner dieses angebliche Beweisstück. »Woher habt Ihr diesen Ohrring?«
Roberto di Ripafratta lachte. Es klang höhnisch. »Du kennst mich nicht. Aber ich verstehe mich gut darauf, alle Mädchen und Frauen so in Erregung zu versetzen, dass sie sich wie im Paradies wähnen und die Wirklichkeit um sich herum nicht mehr wahrnehmen. Es war mir während einer sehr vergnüglichen Stunde ein Leichtes, deiner Mutter beide Ohrringe abzunehmen.«
Silvana fühlte sich, als ob sie aus einem dunklen Tunnel in grelles Tageslicht gestoßen worden sei. Sie sann auf Rettung aus dieser verzweifelten Situation. »Solche Ohrringe könntet Ihr, die Ihr ein widerwärtiges Scheusal seid, einer adeligen Dame gestohlen haben.«
Diesen Einwand tat der Pisaner mit einer Handbewegung ab. »Lass dich von deinem Vater in den Ahnensaal führen. Dort wirst du viele Gemälde vorfinden, die von den berühmtesten der toskanischen Künstler angefertigt wurden. Sie wetteiferten geradezu miteinander, wer von ihnen diese Schönheit malen durfte. Auf jedem dieser Bilder wirst du nicht nur den Wappenring, sondern auch die Ohrringe erkennen, die sie niemals abgelegt hat. Übrigens war sie eine der besten Dirnen, denen ich jemals in die Ohrläppchen biss.«
Silvana verlor ihre Fassung. Sie spuckte dem Mann ins Gesicht, holte aus und gab ihm eine Ohrfeige, wie sie es zu tun pflegte, wenn ihr einer der Soldaten zu nahe trat. »Ihr seid abscheulich!«
Der Pisaner verhielt sich jedoch in keiner Weise so, wie die eingeschüchterten Untergebenen des Capitano. Er packte sie und grub seine Zähne in ihren Nacken. Silvana schrie laut auf. Mit aller Kraft, die für ein junges Mädchen beträchtlich war, versuchte sie sich aus der Umklammerung zu lösen. Aber je mehr sie sich wehrte, umso kräftiger drückte Roberto di Ripafratta sie an sich, vergrub seine Lippen in ihrem Haar und fuhr mit seiner rechten Hand in den Hosenbund ihrer Reiterhose.
»Sil-va-na!« Ein lang gezogener Schrei ertönte von der Pforte zum Burgsaal. Im Kreise seiner Vertrauten stand dort der Conte mit zornrotem Gesicht, während seine Offiziere vor Schreck und Empörung erbleicht waren. Einer der jüngsten eilte herbei und streckte den Pisaner mit einem Faustschlag nieder, während Silvana entfloh. Ihr war bewusst, dass der Conte und seine Männer diese Situation missdeuten würden, und sie fürchtete sich vor den Folgen, denen sie jetzt ausgesetzt war. Das betraf nicht nur die schreckliche Geschichte des Pisaners, die sie in eine ausweglose Lage geführt hatte, sondern auch die Angst vor einer schweren Strafe.
Ein einziges Mal hatte ihr Vater einem Unteroffizier, der die Prügelstrafe an unbotmäßigen Soldaten vollstrecken musste, unbeugsam befohlen, er solle seine Tochter mit Ruten schlagen. Dabei hatte es mehrerer ernsthafter Wiederholungen des Befehls bedurft, ehe der Unteroffizier dieser Anordnung nachgekommen war. Der Mann hatte jedoch Milde walten lassen und die Ruten nur sanft geschwungen. Trotzdem hatte sie laut geweint, weniger aus Schmerz als wegen der Demütigung, vor allem deswegen, weil sie sich keiner Schandtat bewusst war. Sie hatte sich nur mit einem alten Kleid ihrer Mutter als Prinzessin verkleidet, wie das kleine Mädchen gerne zu tun pflegten. Wenn diese Kleinigkeit schon mit einer Prügelstrafe geahndet worden war, wie schwer musste jetzt die Bestrafung ausfallen, da man sie verdächtigte, mit dem pisanischen Erbfeind ein Liebesverhältnis eingegangen zu sein. Sie fürchtete sich sehr und horchte angstvoll auf die Schritte ihres Vaters.
***
Zwei Tage dauerte die Ungewissheit, welche Strafe der Conte über seine ungehorsame Tochter verhängen würde. Niemand sprach mit ihr, und keine Hand reichte ihr eine, wenn auch noch so dürftige, Mahlzeit durch den Türspalt. Damals, als sie die Züchtigung mit der Rute erdulden musste, hatte sie zum letzten Mal geweint. Auch jetzt verspürte sie keine Tränen, sondern saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Lager und starrte mit trockenen Augen vor sich hin.
Als sie endlich die schweren Schritte des Conte hörte, empfand sie das als Erleichterung. Sie wagte nicht, ihrem Vater ins Gesicht zu schauen, und sah erst erstaunt auf, als der gefürchtete Burgherr mit verhaltener Stimme zu sprechen begann. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt, als ob er sich davor schützen müsse, seine Tochter zu berühren, sei es nun mit Schlägen oder mit einer Liebkosung. »In all diesen Jahren habe ich versucht, dir ein guter Vater zu sein.«
Hier konnte Silvana ein freches Lachen nicht unterdrücken, und sie beobachtete, wie dem Conte die Hand zuckte, als wolle er eine Ohrfeige austeilen. Aber er hatte sich anscheinend in der Gewalt und fuhr ruhig fort. »Das verstehst du nicht. Ich wollte dich vor allen Verlockungen bewahren, denen ein mutterloses Mädchen ausgesetzt ist, das gezwungen ist, unter lauter Männern zu leben. Nicht nur darum habe ich es abgelehnt, dass du als begehrenswertes Weibchen heranwächst. Vor allem aber war es mir wichtig, dass du nicht den Verführungskünsten eines Pisaners erliegen würdest. Deshalb habe ich dir stets verboten, Streifzüge in die nähere Umgebung zu unternehmen, wobei du vielleicht unversehens auf pisanisches Gebiet geraten wärest. Was diese ehrlosen Männer mit der Tochter eines Feindes gemacht hätten, möchte ich dir nicht näher erläutern. Ich habe aber eingesehen, dass ich mit meinen Erziehungsgrundsätzen gescheitert bin. Wie es dir gelungen ist, mit Roberto di Ripafratta ein Liebesverhältnis einzugehen, möchte ich gar nicht wissen.«
Silvana schwieg beharrlich. Ihr erschienen Erklärungen nutzlos. Der Conte löste seine Arme aus der Verschränkung und trat einen Schritt auf sie zu, um nach den nun folgenden Worten einem lautstarken Protest schnell ein Ende bereiten zu können.
»Ich habe daher beschlossen, dich in ein Kloster zu schicken. Die Nonnen sind vielleicht eher befähigt, deine weitere Erziehung zu übernehmen und dich in weiblichen Handfertigkeiten zu unterweisen. Morgen wird meine Schwester, die Marchesa Donata, hier eintreffen und dich auf mein Geheiß den Klarissinnen in Lucca übergeben.«
Der erwartete Tränenstrom blieb aus. Silvana, die es gewohnt war, sich stets unumgänglichen Gegebenheiten anzupassen, nickte folgsam. Denn was konnte schlimmer sein, als hier fast wie eine Gefangene zu leben und der Willkür eines jähzornigen Vaters ausgeliefert zu sein? Und was konnte es Besseres geben, als in einem Kloster den Nachstellungen des Pisaners zu entgehen? Er würde wohl kaum wagen, in einen Konvent einzudringen, um sie dort zu belästigen.
Aber noch beschwerte sie eine ungeklärte Frage. »Würdet Ihr mir gestatten, bevor ich die Burg verlassen muss, ein einziges Mal die Gemälde anzuschauen, auf denen meine Mutter abgebildet ist?«
Der Conte runzelte die Stirn, schien aber doch erleichtert zu sein, dass dieses der einzige Wunsch seiner Tochter war. Er nahm sie sogar bei der Hand, zog sie von ihrem Lager hoch und führte sie durch die weitläufigen Gänge der Burg bis zu einem abgelegenen Raum, an dessen gobelingeschmückten Wänden nichts anderes hing als vier lebensgroße Gemälde einer Schönheit, die in kostbare Gewänder gekleidet war. Voller Bewunderung verharrte Silvana vor diesen Bildern. Sie hatte sogleich den blauen Wappenring aus Lapislazuli erkannt, und auf einem der Gemälde war der kostbare Ohrschmuck so deutlich abgebildet, als sei er wichtiger als die Dame, die ihn trug.
Silvana krampfte ihre Hände um den Ohrring, den sie in ihrer Tasche trug, und war nahe daran, ihn hervorzuziehen und sich dem Vater anzuvertrauen. Aber um sich zu bezähmen, wies sie auf einen kleinen Hund, der auf allen Bildern ihrer Mutter zu Füßen lag. »Und wo ist dieses Hündchen geblieben? Ist es auch ertrunken?« Sie drehte sich zu ihrem Vater um und sah in ein wutverzerrtes Gesicht.
»Ich wollte diesen Hund nicht mehr sehen und habe ihn umbringen lassen.«
Silvana ergriff ein Gefühl, als hätte jemand hundert Fackeln angezündet, um mit grellem Licht diesen Raum nicht nur zu beleuchten, so dass die Person auf den Gemälden kalt und starr wirkte, sondern auch um einen Brand zu legen, der all dies vernichten und auch vor ihr und ihrem Vater nicht Halt machen würde.
Er kennt die Wahrheit und verbreitet die Mär von einem Unfall, wenn nicht gar von einem Meuchelmord, um sich selbst, seine Tochter und die Ehre der Familie vor dem Spott und der Verachtung der lucchesischen Gesellschaft zu schützen. Ich muss ihm seine Härte verzeihen und alles tun, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Silvana empfand ein bisher nicht gekanntes Mitleid mit diesem Mann, der in seinem Stolz getroffen war, vor allem aber mit dem Schicksal ihrer unglücklichen Mutter. Sie griff nach seiner Hand, die er ihr sofort entzog.
»Bereite dich auf deine Abreise vor! Du wirst nicht viel mitnehmen müssen. Man wird dich in dem Kloster einkleiden.« Er verzichtete darauf, sie in ihre Kammer zurückzubegleiten.
***
Diesmal musste sie nur einen einzigen Tag warten, der ihr jedoch endlos erschien. Von ihrer Fensterluke aus beobachtete sie den Serchio und das gegenüberliegende Kastell Ripafratta. Niemand zeigte sich auf dem steilen Weg, der vom Kastell aus abwärts führte, und es schien, als ob es dort keine Menschen gäbe. Nur einige dunkle Vögel umkreisten die Fahne, die schlaff herabhing.
***
Endlich, nach einer Nacht, in der sie kaum geschlafen hatte, ertönte Hufgetrappel vor dem Burgtor. Silvana beobachtete, wie zwei Reiter, die eine prunkvolle Kutsche als schützende Eskorte begleiteten, von ihren Pferden sprangen. Die üblichen Rufe nach der Losung ertönten, und das Tor wurde geöffnet. Dann geschah mehrere Stunden nichts. Schließlich hörte sie erleichtert die Schritte eines Soldaten, der bei ihr um Einlass bat. Es war Matteo, den man mit der Aufgabe betraut hatte, die Tochter des Capitano in den Burgsaal zu führen. Seine Miene drückte Verachtung aus. Anscheinend hatte es sich schon herumgesprochen, dass der Capitano seine Tochter, nach dem empörenden Vorfall im Garten, hinter Klostermauern einsperren werde. Schweigend ging Matteo voran.
Silvana kannte kein Herzklopfen, und es war ihr gleichgültig, wie sich Marchesa Donata ihr gegenüber verhalten würde. Sie hatte erwartet, einer knöchernen alten Tante in schwarzer Kleidung gegenüberzustehen. Aber stattdessen fand sie eine Dame vor, die ihrer Mutter an Schönheit in nichts nachstand und eine Anmut zur Schau trug, die Silvana noch niemals gesehen hatte.
Als Silvana eintrat, sprang sie wie ein junges Mädchen aus ihrem Lehnstuhl hoch. »Um Gottes und des Himmels willen! Was hast du aus diesem Mädchen gemacht?« Sie schlug beide Hände vor ihr Gesicht.
Silvana blieb kerzengerade stehen, wie sie es bei den Soldaten gesehen hatte, wenn höhere Offiziere zu begrüßen waren. Marchesa Donata ließ die Hand wieder sinken, die sie dem Mädchen zum Handkuss gereicht hatte. Fassungslos betrachtete sie ihre Nichte, die derbe Männerkleidung und das struppige Haar. Sie wandte sich an ihren Bruder. »Ich möchte mit dir alleine sprechen.«
Der Conte verzog missbilligend sein Gesicht. »Was soll das? Es ist alles geregelt.«
Aber die Marchesa war es anscheinend gewohnt, dass man ihren Wünschen gehorchte. »Geh in deine Kammer, mein Kind, und bereite dich auf die Abreise vor! Wir werden noch heute aufbrechen.«
Mein Kind, mein Kind! Silvana empfand diese Bezeichnung als lächerlich.
Draußen wartete niemand auf sie, und darum dachte sie gar nicht daran, den Worten der Tante zu folgen, sondern blieb vor der Tür stehen. Es erwies sich als unnötig, die Ohren gegen die hölzerne Türfüllung zu pressen, denn drinnen erhoben sich erregte Stimmen.
»Schämst du dich nicht, dieses Mädchen in so erbarmungswürdigem Zustand aufwachsen zu lassen? Ich hätte nie geglaubt, dass mein Bruder seiner einzigen Tochter gegenüber solcher Hartherzigkeit fähig wäre.«
Der Conte blieb scheinbar gelassen. »Es war die einzige Möglichkeit, Silvana vor den Verführungskünsten der Männer zu schützen. Sie hat offensichtlich das leichte Blut ihrer Mutter geerbt. Irgendwie hat sie es geschafft, mit dem Pisaner Roberto di Ripafratta ein Liebesverhältnis einzugehen.«
Silvana vernahm schnelle Schritte, die näher kamen und sich wieder entfernten. Die Marchesa wanderte wohl erregt in dem Saal hin und her. »Du hast dir ja sehr rasch ein Urteil über deine Tochter gebildet. Das Mädchen macht in keiner Weise einen verderbten Eindruck.«
Jetzt stimmte ihr Vater sein wohl bekanntes Gebrüll an. »Und wie erklärst du es dir, dass die Hand dieses vermaledeiten Pisaners bis tief nach unten in den Hosenbund meiner Tochter gelangt war?«
Einen Atemzug lang herrschte Schweigen. Ein Sessel wurde gerückt. Anscheinend hatte sich die Marchesa wieder hingesetzt und schien nachzudenken. Als sie sprach, klang ihre Stimme sanft. »Ich halte dies alles für ein Missverständnis und bin nicht bereit, dieses armselige Geschöpf den Klarissinnen zu übergeben, bei denen jede Übertretung des Schweigegebotes hart bestraft wird. Stattdessen mache ich dir einen anderen Vorschlag: Ich nehme meine Nichte mit mir nach Lucca und werde die Erziehung übernehmen, und zwar mit Geduld und Milde. Sollte Silvana wirklich mein Vertrauen täuschen, könnte ich sie immer noch den Nonnen und deren harter Hand überantworten. Aber ich bin sicher, dass sich dieses arme zerrupfte Geschöpf sehr bald zu einem adeligen Fräulein entwickeln wird.«
Der Conte lachte bitter. »Wenn du unbedingt diese unlösbare Aufgabe übernehmen willst, so mag ich dich nicht davon abhalten. In einer Stunde könnt ihr abfahren. Bis dahin werde ich einen Reitertrupp zusammengestellt haben, der euch bis zum Schloss Marlia begleiten wird. Natürlich werde ich meiner Tochter einen ehrenvollen Abschied bereiten. Sie ist schließlich ein Spross aus dem Geschlecht der Monteggiori, wenn auch ein unwürdiger.«
***
Silvana blieb keine Zeit, die neue Situation zu überdenken. Die Marchesa erschien in ihrer Kammer und gebot ihr, alle männlichen Kleidungsstücke in der Burg Nozzano zu hinterlassen, denn der Schneider der Villa Marlia werde ihr standesgemäße Kleidung anfertigen. »Das wird dir besser stehen als eine Nonnentracht.«
Silvana überwand sich, den Arm ihrer Tante anzunehmen, und ließ sich ungewöhnlich fügsam die Treppe hinunter zum Burghof führen. Dort war die gesamte Besatzung in ihrer Paradeuniform im Viereck angetreten. Die Kutsche in den lucchesischen Farben erwartete sie mit geöffneten Türen, und ein Diener der Marchesa half den Damen beim Einstieg, wobei er sich allerdings nicht einen verächtlichen Blick auf die verwahrloste Begleiterin seiner Herrin versagen konnte. Als Marchesa Donata und ihre Nichte auf den Polstern des geschlossenen Gefährtes Platz genommen hatten, erscholl Trompetenklang, der von den Mauern der Burg als vielfaches Echo zurückgeworfen wurde. Mit gezogenem Säbel stand der Conte vor seiner Truppe und senkte die Spitze zum Zeichen der Ehrerbietung. Diese letzte Zuwendung ihres Vaters reizte Silvana zum Lachen, denn es hatte nie sehr viel gefehlt, um mit der flachen Klinge Bekanntschaft zu machen. Die sechs Pferde, die das leichte Gefährt mühelos zogen, setzten sich auf einen Zuruf des Kutschers in Trab und verließen das Kastell Nozzano. Silvana warf nicht einen einzigen Blick zurück.
Verwirrt schloss Silvana die Augen, denn ihre Sinne vermochten nicht, die schnelle Abfolge der Bilder zu erfassen. Da war der Fluss, der mit ungeahnten Windungen immer neue Ufer erschloss, die dicht belaubten Olivenbäume, deren Blätter von dunklem zu hellem Grün wechselten, wenn die Sonne unversehens durch das Geäst brach, die sanften Hügel mit den Rebstöcken und die gelb blühenden Ginsterbüsche, die hügelan zu wandern schienen, um mit dem Blau des Himmels zu wetteifern.
Sie spürte, wie die Marchesa nach ihrer Hand griff. Silvana hatte sich fest vorgenommen, jede Zärtlichkeit zurückzuweisen. Aber die zarte Berührung erweckte in ihr eine schemenhafte Erinnerung an etwas, das weit zurücklag.
Sie saß auf dem Schoß einer Frau, die wohl ihre Mutter gewesen sein musste. Deutlich konnte sie sich noch an ein Gefühl der Geborgenheit erinnern, und jetzt, hier in dieser Kutsche, vermeinte sie sogar die süßen Düfte einzuatmen, die den seidenen Kleidern anhafteten. Plötzlich wusste sie genau, dass sie alle diese Bilder, mit denen die vorbeifliegende Landschaft sie erregte, schon einmal gesehen hatte. Da war ein Buch, das die Mutter in Händen hielt und langsam Seite für Seite umblätterte, auf die Bäume und Sträucher, den Fluss und den Himmel wies und mit leiser Stimme von all den Herrlichkeiten der Natur erzählte. Warum nur sollte sie sich jetzt vor den Schönheiten der toskanischen Landschaft ängstigen?
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