Die Schritte zu deinem Herzen - Kate Lord Brown - E-Book

Die Schritte zu deinem Herzen E-Book

Kate Lord Brown

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Beschreibung

Im glamourösen New York der 60er Jahre tanzen zwei Herzen in eine neue Richtung … New York City, 1961. Das scheinbar perfekte Leben der Ballettlehrerin Tess Blythe bricht in sich zusammen, als ihr Mann nach über zwanzig Jahren Ehe um die Scheidung bittet. Nachdem Tess ihr eigenes Glück stets dem ihrer Familie untergeordnet hat, muss sie sich nun zum ersten Mal fragen, was sie in ihrem Leben wirklich will. Durch die herannahende Hochzeit ihres Sohnes lernt sie die Familie ihrer zukünftigen Schwiegertochter kennen und begegnet so Marco Affini. Der italienische Schuhmacher weckt eine Sehnsucht in ihr, die sie lange Zeit in sich verborgen hat. Und mit jedem Schritt in seine Richtung beginnt ihr Herz, endlich wieder zu tanzen … Der neue Liebesroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kate Lord Brown ist nostalgisch schön und klingt lange nach. »Browns Erzählstil ist einfach wunderbar. Es gelingt ihr, den Leser bis zur letzten Seite zu fesseln.« The Bookseller »Kate Lord Brown schreibt Geschichten, die den Leser zu Tränen rühren.« literaturmarkt.info Kate Lord Brown wuchs in der englischen Grafschaft Devon auf. Nach ihrem Studium am Courtauld Institute of Art war sie zunächst als internationale Kunstberaterin tätig. Später zog sie mit ihrer Familie nach Valencia und widmete sich dort dem Schreiben. »Das Haus der Tänzerin«, ihr erster auf Deutsch erschienener Roman, stand mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Heute lebt sie in Großbritannien.

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Für Guy

 

Aus dem Englischen von Elke Link

 

Sprichwort S. 7:

Erstmals erschienen 1927 in The Times.

Deutsche Übersetzung von Elke Link.

Zitat S. 331:

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Fegefeuer, Achter Gesang.

Deutsche Übersetzung von Karl Witte.

© Askanischer Verlag, Berlin 1916

 

© Piper Verlag GmbH, München 2020

© Kate Lord Brown 2020

Titel der englischen Originalausgabe:

»Silent Music«, Großbritannien 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2020

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: arcangel/Ildiko Neer; FinePic®, München

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorbemerkung der Autorin

Prolog

ERSTER AKT

1 – Vielleicht hatte Tess …

2 – Tess stand vor Kits …

3 – Tess klopfte an die …

4 – »Willkommen! …

5 – Die Reihe der auf …

6 – Claudia trug die …

7 – Frankie brachte Marco …

8 – »Gestern Abend hast …

9 – Tess ging zu ihm. …

10 – Es regnete, als sie …

11 – In der 5th Avenue …

12 – Kit Blythe trieb …

13 – »Wo sind wir?«, …

14 – Tess stellte sich …

15 – »Das hat Spaß …

16 – »Wir hätten vom …

17 – Über die Bank …

18 – Es war ein schillernder …

PAUSE

19 – Ich sollte dankbar …

20 – Der Bärlauchgeruch …

21 – Da. Da war der …

22 – Das Licht war …

23 – Der Hügel erhob …

24 – »Kit, findest du …

ZWEITER AKT

25 – Marco kam durch …

26 – »Ich suche Marco …

27 – In der Ferne sah …

28 – Kit verlangsamte …

29 – »Du hast geträumt«, …

30 – Kit lehnte seinen …

31 – Die Woche ohne …

32 – »Hmmm, ah – Claudia …

33 – Die Stadt kam Tess …

34 – »Kit! Was hast du …

35 – Kit wartete auf ihn …

36 – Kit schloss die Tür …

37 – Tess schlief kaum …

38 – »Frankie, Telefon«, …

39 – Frankie war genau …

40 – Tess dachte an …

DRITTER AKT

Epilog

Danksagung

»Die Tanzenden wurden für verrückt gehaltenvon denjenigen, die die Musik nicht hören konnten.«

Sprichwort

Vorbemerkung der Autorin

»Ich hätte da etwas für Sie.« Es ist wirklich erstaunlich, wie viele Menschen einem ihre Geschichte erzählen wollen, sobald sie erfahren haben, dass man schreibt. Aber Tess Blythe bewahrte ihre Geheimnisse stets in ihrem Herzen. In dem Augenblick, als ich sie kennenlernte, verstand ich, warum jedermann Tess liebte. Die Tür ihres alten Hauses auf Cape Cod, unten im East End von Provincetown, war stets offen, etwas Köstliches stand auf dem Herd, und um ihren roten Lacktisch scharten sich Familienmitglieder und Freunde, die dorthin gepilgert waren. Tess sagte, die Form von Cape Cod erinnere sie an den erhobenen Arm einer Tänzerin in der vierten Position, und deshalb habe sie sich dort niedergelassen.

Mit über neunzig Jahren war Tess gebrechlich, aber sie besaß die innere Schönheit, die mit der Zeit immer strahlender wird, selbst wenn manche Menschen schrumpfen wie welkes Laub. Ihre kühlen grünen Augen schimmerten wie Quellwasser über glatten Kieselsteinen, in dem sich das Licht fängt. Ich hatte das Gefühl, hinter diesem stillen Lächeln verbarg sie lebenslange Geheimnisse, aber Tess war kein Mensch, der über sich sprach. Ich hatte viele Fragen, aber sie wollte immer nur wissen, wie es mir gehe, ob ich mit dem Buch vorwärtskomme, ob ich noch verliebt sei, ob ich den Tanzunterricht ausprobiert habe, den sie empfohlen hatte. Sie müssen tanzen, meine Liebe! Seien Sie nicht so gehemmt. Kinder werden tanzend geboren. Entspannen Sie sich, amüsieren Sie sich ein bisschen.

Nach einem Abend bei Tess am Tisch hatte man das Gefühl, sein tiefstes Innerstes preisgegeben zu haben – erst später begriff man, dass sie einen dazu ermutigt hatte, die ganze Zeit zu reden. Sie war ein Rätsel.

Ich muss im Winter bei ihr zu Hause gewesen sein, aber in meiner Erinnerung herrschte dort ewiger Sommer, die Türen und Fenster ließen die warme Brise vom Meer herein, die durchscheinenden Vorhänge blähten sich, das Licht der Sonne fiel durch die Blätter. Es war eines der Häuser, die einen zu umfangen scheinen, sobald man eintritt. Es war nichts Besonderes, nur ein kleines, mit Holzschindeln verkleidetes Haus nahe am Wasser, doch es enthielt zahlreiche chinesische Antiquitäten – hohe Hochzeitstruhen, ein Opiumbett im Gästehäuschen, glatte Pillowboxes voller Notizen und Kleinode. Tess erzählte nie von ihrer Vergangenheit, daher war ich neugierig, was sie mit Asien verband.

Tess war der ruhige Mittelpunkt des Kaleidoskops. Sie schien das funkelnde Licht, das Gelächter, die Musik auszustrahlen. Wenn ich an Tess denke, denke ich an das Glitzern von Pailletten, Glitter, Gold und Diamanten. Ich bin eine Elster, meine Liebe. Auf den Stil kommt es an – guter Geschmack ist furchtbar öde, finden Sie nicht? Wenn sie entspannt am Kopf ihres alten Tisches saß und allen zusah, wie sie redeten und aßen, erinnerte mich ihr Gesicht an einen See, nachdem der Wind sich gelegt hat und die Oberfläche den Himmel spiegelt. Ich fand nie heraus, was sie unter dieser schönen Ruhe verbarg. In Archiven habe ich Aufnahmen von ihr aus den späten Sechzigerjahren gesehen: Ihre eindrucksvolle Präsenz konnte jedes Gespräch urplötzlich verstummen lassen. Tizianrote Haare, alabasterfarbene Haut. Alle sagten, sie hätte das Zeug zu einer Primaballerina gehabt – warum trat sie dann nie auf?

Nun saß sie am Tisch wie eine gütige Königin, aufrecht, aber entspannt. Mit der einen Hand strich sie anmutig dem Pekinesen auf ihrem Schoß über den Kopf, mit der anderen hielt sie ihren einen Martini, den sie täglich trank. Sie war diszipliniert – was ihre Gewohnheiten, ihren Haushalt, ihren Beruf betraf. Das würden alle Tänzerinnen und Tänzer bestätigen, die mit ihr gearbeitet haben. Sie erwartete das Beste von sich selbst und von ihrem Umfeld. Ihre Arbeit als Choreografin war sicherlich legendär, aber ihre Liebenswürdigkeit ungeheuer liebenswert. Das blieb mir vor allem von ihr in Erinnerung. Ihre Freundlichkeit. Man muss stets den Geist, das Herz öffnen. Es wird besser, vertraut mir. Die Welt ist ein magischer Ort. Wir waren alle ein bisschen verliebt in sie.

Es waren stets Leute da, junge Künstler, Tänzer, Schriftsteller wie ich, die nach Provincetown gekommen waren, um mit einem Stipendium ihrer Stiftung in Tess’ Häuschen unten in den Dünen zu arbeiten – in der Hütte, wie sie es nannte –, und denen es so gut gefallen hatte, dass sie immer wieder in den Ort zurückkehrten. Es war fast so, als könnte man sich nicht lösen, sobald man einmal in Tess’ Umlaufbahn geraten war. An den meisten Tagen sah ich sie und ihren Sohn Robert den Hund unten am Strand ausführen, und wir vertrieben uns gemeinsam die Zeit, oder sie lud mich ein, sonntags zum Mittagessen hinauf ins Haus zu ihr zu kommen.

Als ich letztes Jahr eines Abends zufällig Robert auf einer Party in der Stadt traf, nahm ich allen Mut zusammen, ihn nach seiner Mutter zu fragen. »Ah«, sagte er, »das wissen Sie gar nicht? Eine große Liebesgeschichte. Kommen Sie doch morgen Abend zum Essen vorbei, dann zeigen wir Ihnen all ihre Unterlagen. Sie hat unzählige Schachteln mit Briefen und Zeitungsausschnitten. Es sollte wirklich mal jemand ein Buch über sie schreiben.« Und genau das tat ich.

Februar 2018

Prolog

Hongkong 1939

»Elizabeth Martha Montgomery, willst du diesen Mann zu deinem rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen …?«

Will ich? Für Tess war es so ungewohnt, nach ihrer Meinung gefragt zu werden, dass es ihr einen Augenblick lang die Sprache verschlug. Sie wagte es nicht, in Kits hoffnungsvolles Gesicht zu blicken, schließlich könnte er ihr ihre Unsicherheit anmerken. Er sah blendend aus, war so perfekt, so gut. Kurz malte sie sich aus, mit ihrem Strauß aus weißen Chrysanthemen auf ihn einzuschlagen. Mrs Christopher Blythe, Mrs Christopher Blythe, wiederholte sie im Geiste immer wieder, und ihre Blicke irrten durch den kühlen blauen Schatten der St John’s Cathedral, in der Hoffnung auf eine sichere Antwort. Sie wusste, er war irgendwo dort, unter den Hochzeitsgästen, die sich in der Kirche versammelt hatten. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, sie solle »Nein!« rufen, weglaufen. Sie stellte sich vor, wie sie durch den Mittelgang flüchtete, durch das Wäldchen mit Banyanbäumen und Palmen entkam, Chiffon, Spitze, Blütenblätter hinter sich herziehend, und der Blumenstrauß flog durch die Luft, während Kakadus und Papageien sie anfeuerten. Aber diese vielen Leute hier. Die Besucher waren gleichmäßig auf den Bänken verteilt worden wie ausgepflanzte Setzlinge, denen Platz eingeräumt wurde, um den Mangel an Gästen von Kits Seite her zu verbergen. Habe ich eine Wahl? Sie suchte nach der Tür, ihr Herz flatterte wie ein Vogel, der hinter einer Glasscheibe gefangen war. Ich kann das nicht durchziehen. Es ist nicht gerecht gegenüber Kit. Sie sah ihre Eltern. Die Miene ihres Vaters war undurchdringlich wie gewöhnlich, er hatte die stolze Haltung eines Marineoffiziers der China Station eingenommen. Ihre Mutter, Elizabeth die Erste, wie Tess sie bei sich nannte – immer Elizabeth, niemals Liz oder Lizzy, geschweige denn Tess, versuchte vergeblich, die Mischung aus Erleichterung und Überraschung, die sie während der letzten zwei Wochen permanent präsentierte, zu verschleiern. Immer wieder warf sie verstohlen fröhliche Blicke nach hinten zu den Gästen. Elizabeth Montgomery sprühte vor Energie, sie bewegte den Kopf auf und ab wie ein Kanarienvogel und überprüfte, ob die Prominenz der Kolonie auch angekommen war, statt sich auf Tess und Kit zu konzentrieren: Sind schon alle da?Sind sie beeindruckt? Was für ein Bravourstück, Sir Percy auf der Hochzeit meiner Tochter zu haben.

Die enge Haube von Tess’ Schleier drückte gegen ihre pochenden Schläfen, Hitze breitete sich über ihrer Wirbelsäule aus wie Flammen, die trockenes Gras verschlangen, und eine Schweißperle lief ihr über den Rücken. Sie wünschte, ihre Mutter hätte nicht auf einer so furchtbar schweren Seide für das Kleid bestanden. Funken tanzten ihr vor den Augen, und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Ich hätte etwas frühstücken sollen, egal, was Mutter gesagt hat. Ihr leerer Magen krampfte sich zusammen, ihr wurde wieder übel. Ich darf nicht umkippen. Sie zwang sich, sich auf die Worte zu konzentrieren, die der Priester intonierte. Will ich? Will ich? Sie schöpfte tief Atem und zuckte zusammen. In der Eile hatte die Schneiderin eine Nadel im Ärmel des schweren Seidenkleids übersehen. Seit Tess das Haus ihrer Eltern auf dem Peak verlassen hatte, pikste die silberne Spitze sie in ihren zarten, bleichen Unterarm.

O Gott, ist es denn wichtig, dass ich nicht bis über beide Ohren in Kit verliebt bin? Wie ihre Mutter mit einer Beständigkeit, die der telefonischen Zeitansage Schande machen würde, betonte, war sie nicht in einer Position, wählerisch zu sein. Ich kann ihn doch lieben lernen. Sein Antrag kam zu einem so guten Zeitpunkt, war eine so große Erleichterung. Sie sollte doch eigentlich glücklich sein!

Tess blickte hinunter auf die Spitzen ihrer Seidenschuhe, die unter den Röcken hervorlugten. Wenigstens kann man in dem Kleid deine Riesenfüße nicht sehen, hatte ihre Mutter angemerkt.

»Willst du …?«

Was habe ich für eine Wahl? Ich muss das Richtige tun. Bruchstücke aus Unterhaltungen stellten sich ein: »Wer hätte das gedacht? Was für ein Glück für dich. Siebzehn Jahre jung und verliebt in den heiratswürdigsten Junggesellen in Hongkong. Kit ist ein großartiger Fang.« Tess unterdrückte ihre Übelkeit. Sie hätte alles für einen Schluck kaltes Wasser gegeben, ihr trockener Mund öffnete sich unwillkürlich, als sie an ein beschlagenes Glas dachte. Sie spürte Kit, er wartete auf sie, und sie blickte ihm endlich in die ruhigen, freundlichen blauen Augen. Er ist wirklich freundlich. Und gebildet, und in seiner Marineuniform sieht er furchtbar gut aus. Alles sagen, wie glücklich ich mich schätzen kann. Alle. Dahinter sah sie das aschfahle Gesicht des Trauzeugen, der sie beide mit geröteten Augen anstarrte. Ist er verkatert? Er sieht aus, als hätte er geweint. Tess zwang sich, sich auf Kit zu konzentrieren. Sie wagte es nicht, einen Blick auf die versammelten Gäste zu werfen. Sie wusste, er war da, sah zu.

»… bis dass der Tod euch scheidet.«

Das Schweigen durchdrang die Kirche, sammelte sich in den dunklen Ecken, wartete. Tess blickte starr auf die Spitzen ihrer weißen Seidenschuhe, und plötzlich schoss kalte Angst durch sie hindurch, die Erinnerung an einen Blutstropfen, einen sich ausbreitenden Fleck. Sie blinzelte das Bild fort. Sie spürte ein Flattern im Bauch, als ihr die Endgültigkeit bewusst wurde, die Zukunft, die sich unendlich vor ihr ausstreckte wie der Looping einer Achterbahn in Richtung eines unsichtbaren Ziels.

Er ist ein guter Fang für ein Mädchen wie dich, hatte eine Bridgepartnerin ihrer Mutter ein paar Abende zuvor gesagt.

Ein Mädchen wie mich?

Unabhängig. Klug. Er wird dich an nichts hindern.

Er ist wirklich ein guter Mann, dachte Tess jetzt. Zu gut für mich. Ich bin schlecht, und ich bin beschädigt. Wenn Tess sich ihr Inneres vorstellte, dann dachte sie an zerbrochene Spiegel, an Eisscherben. Als hätte sich die Nadel in ihrem Ärmel von ihrem Herzen gelöst und würde sie ins Gewissen stechen. Ich bin kaputt.

Sie erinnerte sich, wie sie als Kind mit den Fingern unter Wasser einen Käfig gebildet und einen Goldfisch darin gehalten hatte, erinnerte sich, wie sein schimmernder Schwanz sie sanft berührt hatte. Ein guter Fang. Die Bewegung in ihrem Bauch unter der beruhigenden Handfläche war genauso leicht, genauso nachdrücklich und voller Leben.

Es ist zu spät, dachte sie. Was habe ich denn für eine Wahl?

Das Schweigen schien sich auszudehnen, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Da lächelte Kit und zwinkerte ihr zu. Sie kehrte zurück in den Augenblick, nahm das Licht aus den Fenstern des Kirchenschiffs wahr, hörte jenseits der bleichen weißen Wände die Stadt, die sie liebte. Will ich?

Wenn Tess in den folgenden Jahren von diesem Moment träumte, hörte sie das Kreischen einer fallenden Mörsergranate. Dann nichts mehr. Die Vernunft sagte ihr, dass Hongkong erst im Dezember 1941 erobert wurde, dass sie und ihr Sohn damals längst in Somerset und in Sicherheit waren. Aber nicht Kit. Und ihre Eltern auch nicht. Vielleicht hatte Tess seit diesem Augenblick ihrer Hochzeit einfach das Gefühl, dass sich etwas Explosives in ihrem Leben befand. Die Gefahr, dass etwas jeden Moment hochzugehen drohte.

ERSTER AKT

Tess Blythe’ Debüt Der Tanz des Lebens offenbart den Puls, die Musik in unserem innersten Herzen. Sie drückt etwas aus, das nicht in Worte zu fassen ist. O ja, ihre Choreografie ist schön und poetisch, aber sie ist unnachgiebig. Sie zwingt uns dazu, uns selbst gegenüberzutreten. Sie hält unserer Liebe, unserer Wut, unserer Einsamkeit den Spiegel vor. Sie greift falsche Idole, Autoritätsfiguren an – Kriegstreiber, Politiker, den Klerus. Sie führt ihr Publikum von einer kargen, dunklen, mit Erde bedeckten Bühne in den versteckten Wald. Aus dem Bühnenboden wachsen und blühen Bäume. Ihre Bilder sind archetypisch, zeitlos, aber mehrdeutig. Sind ihre eleganten, gehörnten Tänzer Hirsche? Sind sie Hahnreie? Ist ihre weiß gekleidete Solotänzerin mit den roten Schuhen eine jungfräuliche Braut, eine Mutter, eine Hure? »Es wird nie aufgelöst, wer die brennende Frau ist«, sagte sie. »Ich bin stets auf der Suche nach den allgemeingültigen Wahrheiten, die uns als Menschen vereinen. Die magnetische Anziehungskraft des Begehrens ist der Motor dieses Balletts. Hoffentlich spürt jeder, der es sieht, diese stumme Musik.«

 

Ballet Today 1968

 

1

New York, Oktober 1961

Vielleicht hatte Tess es nur geträumt. Alles kam ihr viel zu normal vor. Am Morgen, nachdem er seine Frau um die Scheidung gebeten hatte, frühstückte Kit Blythe wie jeden Tag pünktlich um acht Uhr hoch oben über dem Central Park im Esszimmer seines Penthouseapartments in der 5th Avenue 1040.

»Ich würde ja zu gerne dem Direktor schreiben«, fuhr Kit fort. »Stell dir nur vor, Matisse’ ›Le Bateau‹ verkehrt herum aufzuhängen. Wie ich zu Mr und Mrs Hoffman sagte, wenn das Museum of Modern Art es nicht hinkriegt, wie soll es dann der Plebs schaffen?«

Er schlug die frische Ausgabe der New York Times auf, die sein Gesicht vor Tess’ Blick verborgen hatte, und streckte die Hand nach einer weiteren Scheibe Toast aus. Die Morgensonne schimmerte auf dem goldenen Siegelring an seinem kleinen Finger, seinen säuberlich manikürten Nägeln. Tess hatte es immer geärgert, dass Kit so schöne Hände hatte. Es kam ihr irgendwie ungerecht vor, dass seine Nägel vollkommene Ovale waren, im Gegensatz zu ihren eigenen, die sich stur weigerten zu wachsen und ständig splitterten oder abbrachen. Die Titelschlagzeile Riesige Saturnrakete gestartet fiel ihr ins Auge.

»Ich bin froh, dass wir zivilisiert damit umgehen, meine Liebe«, sagte Kit.

Zivilisiert?, dachte Tess und setzte sich an ihren Platz ihm gegenüber. Am liebsten hätte sie ihn am Kragen seines Brooks-Brothers-Hemds gepackt und ihn geschüttelt. Sie wollte kohlschwarze Tränen um ihre Ehe weinen und das Gesicht an seiner gestärkten weißen Brust vergraben. Es musste doch etwas geben, das die Zerstörung ihres Lebens sichtbar machte? Es war unerträglich, dass sie sich beim Aufwachen einer Welt gegenübersah, die so normal wirkte.

»Ich würde nicht gerne …«, sagte Kit.

»Glaubst du wirklich, am Ende dieses Jahrzehnts wird es Menschen auf dem Mond geben?«, unterbrach sie ihn.

»Lächerlich.« Kit tupfte sich mit einer schweren Damastserviette einen Krümel vom Mundwinkel. Die Art, wie Kit die Silben dieses Wortes aussprach, ließ sie an Glasmurmeln denken. Also, ich könnte Ihrem Mann den ganzen Tag zuhören, hatte eine seiner Kundinnen ihr einmal atemlos gestanden. Was für eine schöne Stimme. Niemand von ihnen wusste, wie das Leben mit Kit wirklich war. Erst letzte Woche hatte eine Freundin zu ihr gesagt: Du bist die einzige Frau, der ich meinen Mann anvertrauen würde. Du und Kit habt die letzte gute Ehe in der ganzen Stadt.

»Ich würde gerne auf den Mond.« Tess blies in ihre dampfende Tasse mit heißer Zitrone.

»Du?« Er lachte hinter seiner Zeitung.

Wieso nicht?, dachte sie. »Ich kann doch jetzt machen, was ich will.«

»Sei nicht so, Schatz.« Kit trank einen Schluck Kaffee. »Iih!«, stieß er aus. »Kein Zucker.« Die Tasse klapperte auf der Untertasse. »Andererseits, wenn Kennedy jetzt will, dass wir alle Atomschutzbunker bauen, dann bist du auf deinem Mond vielleicht besser dran.«

Sie stand auf, ließ eine Grapefruit unangetastet auf ihrem Teller liegen und gab zwei Zuckerwürfel in Kits Tasse. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dich selbst um dich zu kümmern.« Sie wandte sich den raumhohen Fenstern zu und betrachtete die Morgensonne, die sich durch den Dunst über dem Reservoir und dem Park brannte. Tess stellte sich vor, wie sie durch den Weltraum trieb und die Erde und all ihre unbedeutenden Probleme immer kleiner wurden, und Ruhe und Frieden erfüllten sie.

»Außerdem habe ich gehört, dass Bloomingdale’s nicht zum Mond liefert.«

»Idiot«, sagte sie leise. Ihre tizianroten Haare fielen ihr offen über eine Schulter, ihr nilgrüner Seidenkimono lag auf dem Boden auf. Sie hob die durchscheinende Porzellantasse an die Lippen und blies wieder sanft darüber, sodass der Dampf die Sonne verschleierte. Er isst geräuschlos, dachte sie. Das ist wenigstens etwas. Im Vergleich zu den Ehemännern mancher ihrer Freundinnen hatte Kit immer tadellose Manieren gehabt. Wie oft hatten Leute zu ihr gesagt: Du hast so ein Glück, mit Kit verheiratet zu sein. Er ist ein wahrer Gentleman und hat so einen guten Geschmack. Die Verkörperung des Engländers in New York.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte sie. In diesem Moment empfand sie es nicht so, als hätte sie besonderes Glück.

»Nicht schlecht.«

»Ich habe kein bisschen geschlafen.« Tess rieb sich die Schläfen. Sie stellte sich eine Armee winziger Figuren vor, die die funkelnden Höhlungen in ihrem Hirn mit Spitzhacken bearbeiteten. »Ich hatte deine Tür gehört …«

»Bist du jetzt mein Gefängniswärter?«

»Fang nicht an, Kit.«

»Ich wollte dich nicht wecken.«

Tess schloss die Augen, zwang sich, langsam zu atmen, bevor sie antwortete. Sie kannte diesen bockigen Ton gut. »Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte sie freundlich. »Es … es war ein Schock. In meinem Badezimmer sind Schlaftabletten, falls du …«

»Herrgott noch mal, Tess. Mir war einfach nach einem Spaziergang.« Kit blätterte um. »Ich werde erst entspannen können, wenn die Arbeit für die Hoffmans erledigt ist. Habe ich dir erzählt, dass Mrs Hoffman auf goldenen Delfinwasserhähnen und einer Tapete mit Tiki-Print für das Hauptbadezimmer besteht? Ich hatte gehofft, ich hätte sie ein bisschen erzogen …«

»Du hast also nicht ein Mal über uns nachgedacht?« Tess schüttelte den Kopf.

»Wir wollen doch zivilisiert damit umgehen.«

»Ach, Verzeihung.« Tess’ Hand zitterte, als sie sich setzte und die Tasse auf die Untertasse stellte. »Natürlich. Hoffman. Hoffman. … Die in der Park Avenue? Goldene Delfinwasserhähne und Tiki-Print-Tapete? Nicht schlecht.« Kit verzog das Gesicht. »Ach, das wird wunderschön. Alle deine Projekte sind gut.«

»Sobald ich damit fertig bin und wieder klar denken kann, treffen wir alle Vorkehrungen.«

»Vorkehrungen?« Tess blickte auf ihre Hände.

»Die Scheidung, Tess. Wir müssen entscheiden, was wir mit Bobby machen, mit dieser Wohnung.«

»Du warst derjenige, der dieses lächerliche Mausoleum wollte.« Sie machte eine ungestüme Geste, sodass die Porzellantasse zu Boden fiel und zerbrach. »Du und deine verdammte Obsession mit Zeit der Unschuld.«

»Du Tollpatsch.« Kit schnalzte mit der Zunge.

Sie blickte hinunter auf die feinen Scherben, die in einer sanft dampfenden Wasserpfütze auf dem Parkett lagen. »Das war die Letzte von dem Set aus Hongkong.« Irgendwie schien das zu passen. Tess kämpfte gegen die Versuchung an, zur Anrichte zu treten und jedes einzelne Stück wertvolles Porzellan und jeden Bone-China-Teller wie ein Frisbee durch den Raum zu schleudern. Bei der Vorstellung, wie Kit in Deckung ging und versuchte, sie zu retten, lächelte sie in sich hinein. »Kit, können wir nicht darüber reden, bitte …« Sie unterbrach sich, als es an der Tür klopfte, und warf einen Blick über die Schulter, immer noch mit dem wilden Geklapper der Pfoten ihres Hundes auf dem Parkettboden rechnend. »Er fehlt mir«, sagte sie.

»Wer?«

»Bingo.«

Draußen begrüßte ihre Haushälterin Bessie jemanden. Aus dem Vorraum drangen das beruhigende Brummen des Staubsaugers und das gedämpfte Klingeln des Aufzugs, als die Wohnungstür ins Schloss fiel.

»Wie auf ein Stichwort.« Kit legte seine Zeitung zusammen und lächelte zu Bessie auf, die einen großen Weidenkorb zum Tisch trug. Kits leicht gebräuntes Gesicht war frisch rasiert, seine goldfarbenen Haare waren noch feucht von der Dusche. Er sieht immer noch gut aus, dachte Tess. Die Erkenntnis, dass es bald einen Tag geben würde, an dem er nicht mehr der erste Mensch war, den sie am Morgen sah, traf sie wie ein Schlag auf die Brust, und sie schnappte unwillkürlich nach Luft. Irgendwann einmal hatte sie ihre Ehe, ihre Familie im Herzen getragen wie ein Geschenk, wie einen kostbaren, vom Meer geglätteten Stein. Sein Gewicht war zuverlässig und echt. Er erdete sie, ruhig und sicher. Wie konnte es sein, dass ihr nicht aufgefallen war, dass er weg war? Als Kit ihr sagte, er wolle sich scheiden lassen, spürte Tess, wie ein unergründliches dunkles Loch in ihrem Herzen entstand und alles wegriss, was sie kannte, alles, was sie liebte. Nun sah sie ihn an, leicht benommen und erschüttert. »Danke!« Kit nahm den Korb. »Mach die Augen zu«, sagte er zu Tess.

»Kit, ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für Spielchen.« Sie war den Tränen nahe.

»Vertrau mir«, sagte er sanft und wartete, bis Bessie gegangen war. »Mach die Augen zu.« Hinter ihren Augenlidern verblasste ein Strahlenkranz, bis alles ganz dunkel war, und Tess lauschte aufmerksam. »Hier, bitte«, sagte Kit, und sie fuhr überrascht zusammen, als sie Krallen in dem Korb scharren, ein erbärmliches Wimmern vernahm.

»Kit, was hast du dir bloß gedacht?« Tess stellte sich ein weißes Fellknäuel mit einer roten Satinschleife vor. »Du hast doch nicht …«

»Ich weiß, wie niedergeschlagen du bist, seit Bingo tot ist, und nachdem Bobby jetzt am College ist, na ja …«

»Du dachtest, ich wäre einsam.« Sie spürte das Gewicht des Hundes auf ihrem Schoß, die zitternde Flanke, den schnellen Herzschlag durch das weiche Fell und die dünnen Rippen. »Das ist wirklich typisch. Man kann sich darauf verlassen, dass du so etwas planst und es unmöglich machst, dich zu hassen.«

»Ich liebe dich, Tess, das weißt du.« Kit strich ihr über das Kinn. »Ich werde dich immer lieben, aber …«

»Aber das genügt dir nicht mehr.«

»Uns beiden nicht.«

Sie hielt die Augen geschlossen, als sie sich an ihn lehnte, versuchte, sich zu fassen und die Tränen zurückzuhalten. »Ich ertrage das nicht, Kit. Du bist nicht nur mein Mann, du bist mein bester Freund. Wie soll ich denn …?«

»Bitte nicht. Weine nicht. Du brichst mir das Herz.« Kit kniete sich neben Tess auf den Boden und nahm ihre Hand, drückte ihre Finger an die Lippen. »Wir werden immer Freunde sein. Du bist stark, Tess. Du wirst stark sein, und du wirst wieder glücklich sein. Nur das ist mir wichtig. Wir brauchen das beide.« Er räusperte sich. »Willst du sie dir denn mal ansehen?«

Tess’ Augen glänzten, als sie blinzelte und auf den Pekinesen hinabblickte. Er sah mit einem klaren, dunklen Auge zu ihr auf. Das andere war zugenäht, eine zackige Reihe von dunklen, zitternden Fadenwimpern, das Fell kurz geschoren.

»Ach, du armes Ding. Was haben sie dir denn angetan?«, flüsterte Tess und legte die Hand an die Flanke des Hundes. Sie spürte, wie die Anspannung des kleinen Tiers bei ihrer Berührung dahinfloss wie Regen in trockene Erde. »Sieh dir die Kleine an, Kit. Unvorstellbar, dass sie Menschen immer noch traut, nach allem, was sie durchgemacht hat.«

»Weißt du noch, in was für einem Zustand Bingo war, als du ihn adoptiert hast? Ich dachte mir, wenn jemand dieser Kleinen zu einem guten Leben verhelfen kann, dann du. Man hat sie angebunden auf einem Hof in der Canal Street gefunden. Keine Spur von einem Besitzer.« Kit ging in die Hocke. »Wie nennst du sie?«

Tess dachte einen Augenblick nach. »Looty II, nach meiner ersten Pekinesenhündin. Ich habe sie nach der von Queen Victoria benannt«, sagte sie. »Danke! Es ist nett von dir, dass du …« Dass du dir vorstellst, wie allein ich bin. Tess biss sich auf die Lippen, ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich weiß nicht, wie man allein ist.

»Ich habe jedes Tierheim in der Stadt nach einem Pekinesen abgesucht, hundertmal telefoniert …«

»Was ist denn mit ihr passiert?«, unterbrach sie ihn.

»Sie glauben, sie wurde angegriffen oder getreten. Armes Ding. Sie konnten ihr Auge nicht retten.«

Sie sieht so aus, wie ich mich fühle, dachte Tess, als sie zu ihr hinunterblickte. Versehrt. Der Hund duckte sich, als sich ein Schlüssel im Schloss drehte und die Tür in der Diele zuschlug. »Alles gut.« Tess drückte sie fester an sich. »Keine Sorge, dir wird nie mehr jemand wehtun.«

»Guten Morgen! Was für ein wunderbarer Morgen«, rief Bobby und warf seinen grauen Filzhut auf den Hutständer. Er schlüpfte aus seiner Jacke und hängte sie über die Lehne seines Stuhls am Tisch. »Was, zum Teufel, ist denn das?« Er zog eine Grimasse, als er den Hund betrachtete.

»Halt dir die Ohren zu, Looty«, sagte Tess. »Sie ist ein Geschenk von deinem Vater. Du weißt, wie es mir gefehlt hat, einen Hund zu haben. Bessie«, rief sie die Haushälterin, »ihre Nase ist ein bisschen trocken, geben Sie ihr doch bitte etwas Wasser – und im Kühlschrank ist noch etwas kaltes Hähnchen. Ach ja, und könnten Sie Bingos altes Bett aus der Abstellkammer holen?« Sie reichte ihr den Hund. »Danke!«

»Guten Morgen!«, begrüßte Kit Bobby. »Oder gute Nacht?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht.« Tess ging auf ihren Sohn zu.

»Ich bin schon groß, Mom.« Er legte ihr den Arm um die Taille und hob ihre Hand, um sie im Kreis zu drehen. »Ich war tanzen. Dagegen hast du doch bestimmt nichts?«

»Die ganze Nacht?« Kit zog eine Augenbraue hoch.

»Wozu sind denn sonst die Freitagabende da? Komm nächstes Mal einfach mit!«, sagte Bobby zu Tess. Die Hüfte schwingend, tanzte er von ihr weg. »Twist, Mom! Die jungen Leute fahren alle total darauf ab. Du wärst begeistert.«

»Ich bin zu alt für den Twist.« Tess lachte und setzte sich an den Kopf des Tisches, gegenüber von Kit. Die Falten ihres Kimonos glänzten wie Perlmutt. Als sie das Gesicht ihres Mannes betrachtete, das ihr so vertraut war wie ihr eigenes, fand sie, er sah müde aus, seine hellen Haare wurden dünner, ein lilafarbener Schatten umgab seine Augen. Sie warf einen kurzen Blick auf Bobby. Als sie Kit kennengelernt hatte, hatte er dieselbe jugendliche Energie gehabt wie ihr Sohn. Er spielte Tennis. Er war groß, hatte die Figur eines Schwimmers – breite Schultern und schmale Hüften. Seine Entschlossenheit, sein brutales, elegantes Spiel faszinierten sie. Bei der Erinnerung durchfuhr sie ein plötzliches Begehren. Noch bevor sie ein Wort gewechselt hatten, hatte sie entschieden, dass sie ihn wollte. Was ist passiert?, dachte sie. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann wir das letzte Mal tanzen waren. Du?«, sagte sie.

Kit widmete sich wieder seiner Zeitung, ohne sie auch nur anzusehen, und ihr Lächeln schwand.

»Stell dir vor. Ich habe sie gefragt«, sagte Bobby zu seiner Mutter und zog seinen Stuhl heraus. Tess beugte sich vor, um ihm eine Tasse Kaffee einzuschenken. »Ich habe Frankie gefragt, und sie hat Ja gesagt.« Er nahm sich zwei Scheiben Toast aus dem silbernen Ständer, und Tess hielt beim Einschenken inne.

»Du heiratest?« Sie goss die Tasse voll und stellte die Kaffeekanne wieder auf den Untersetzer.

»Ach, erfahren wir das auch schon!« Kit blickte kurz von seiner Zeitung auf. Nur Tess spürte die Beunruhigung, die sich hinter seiner unverändert ruhigen Miene verbarg.

»Schatz, bist du sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist? Du fängst doch gerade erst mit dem Jurastudium in Boston an«, meinte sie.

»Ich habe es euch aber im Sommer gesagt.« Bobby lehnte sich zurück. »An dem Tag, an dem ich Frankie kennengelernt habe, habe ich gesagt, dass sie das Mädchen ist, das ich heiraten werde.«

»Aber es besteht doch wohl kein Grund zur Eile?« Tess bemühte sich, locker und ruhig zu sprechen.

»Wir sind verliebt, Mom. Ich will, dass sie bei mir ist, in Boston. Ich halte es nicht aus, getrennt von ihr zu sein.«

Das hatte er in dem Sommer, in dem er elf Jahre alt wurde, auch gesagt, als er ins Ferienlager fuhr: Ich halte es nicht aus, getrennt von dir zu sein. Dann kehrte er mit einer neuen Zurückhaltung aus dem Sommerlager zurück. Zuvor hatte er sie ganz offen umarmt, hatte seinen biegsamen Körper an sie gedrückt. Sie erinnerte sich an das Gewicht seines Kopfs an ihrem Schlüsselbein, an seine Haare wie Fell in ihrer schützenden Hand. Nach jenem Sommer brauchte er sie weniger. Bobbys Lachen holte sie zurück in die Gegenwart.

»Das Timing ist nicht gerade ideal«, sagte sie. »Dein Vater …«

»Hat gerade eine Menge Arbeit.« Kit starrte sie eindringlich an. »Deine Mutter und ich sind zu beschäftigt, um kurzfristig eine Hochzeit zu organisieren.«

Tess hatte das Gefühl, der Raum um sie herum würde wegbrechen. Er würde es Bobby nicht erzählen, nicht jetzt. Was soll ich denn machen? Einfach so tun, als wäre alles ganz normal?

»Mein Projekt ist in einer entscheidenden Phase, und die Tanzschule hat nach der Sommerpause gerade erst wieder aufgemacht, deine Mutter hat also keine Zeit zu …«, fuhr Kit fort.

»Ihr müsst überhaupt nichts machen. Frankies Ma erledigt alles«, unterbrach Bobby ihn.

»Wir kennen das Mädchen noch gar nicht und ihre Familie auch nicht …«, begann Kit.

»Sie kommen heute Abend vorbei, um euch kennenzulernen.«

»Heute Abend?«, fragten Kit und Tess einstimmig.

»Wozu warten? Ich dachte, wir könnten zusammen tanzen gehen. Um das Eis zu brechen.«

Tess stellte sich den Abend vor, Kit mit seinem üblichen Charme. Bobby und seine Freundin, strahlend, verliebt. Sie malte sich aus, wie sie selbst unablässig lächelte. Das Eis brechen. Sie stellte sich ihr zu Eis erstarrtes Herz vor, wie es zersplitterte.

»Tanzen?«, sagte Kit. »Aber nicht in einem dieser schäbigen Rock-’n’-Roll-Clubs in Midtown, wo ihr euch immer herumtreibt? Hast du dort dieses Mädchen kennengelernt?«

»Nein, ich habe sie zuvor in einem Café in der Nähe der Universität gesehen.«

»Ist sie Studentin?«, fragte Tess.

»Sie besucht die Abendschule. Sie will Übersetzerin werden.« Tess hörte den Stolz in seiner Stimme. »Tagsüber arbeitet sie einfach im Café ihrer Mutter.« Bobby nahm sich noch eine Scheibe Toast und strich dick Butter darauf. »Und manchmal im Pep. Du solltest sie sehen, Mom, Frankie bewegt sich zwischen den Tischen hindurch, als würde sie tanzen.« Er hielt den Toast wie ein Tablett über den Kopf, schwang die Hüften und glitt durch den Raum.

»Eine Kellnerin, Bobby?« Kit verschränkte die Arme. »Hast du das gehört, Tess? Unser Stammhalter ist drauf und dran, eine Kellnerin zu heiraten. Na, das ist ja mal ein Knaller. Wir haben einen erfreulichen Abend vor uns.«

»Achte nicht auf deinen Vater.« Tess stützte das Kinn auf die Hand. Wenn Kit so tun konnte, als wäre alles ganz normal, dann würde sie das auch tun. Sie bekam das hin. Sie konnte ihre Rolle spielen. »Du Snob«, sagte sie zu Kit.

»Hoffnungslos romantisch«, schoss er zurück.

»Ihr versteht das schon, wenn ihr sie seht.« Bobby biss in seinen Toast.

»Na gut, dann lade sie ein«, meinte Tess. »Nichts Förmliches. Wir haben …« Sie blickte nach Bestätigung suchend zu Kit.

»Vier.« Kit hielt inne. »Nein, ich verschiebe die Hoffmans auf später. In Anbetracht der Umstände. Ich glaube, Mrs Hoffman hatte für morgen sowieso vor, die Stadt zu verlassen, in die Abnehmklinik …« Er blies die Backen auf.

»Sei nicht so gemein, Kit«, sagte Tess.

»Moment – was denn für Umstände?«, fragte Bobby.

»Dein Vater meint nur, dass wir Frankie und ihre Familie gerne im privaten Rahmen kennenlernen würden …«

»Ich schäme mich nicht für Frankie.« Bobby sah seinen Vater mit gerunzelter Stirn an. »Warte einfach, bis du sie kennenlernst. Du wirst schon sehen.«

»Das meinten wir doch nicht.« Tess nahm seine Hand. »Ich freue mich für dich, Schatz. Wirklich.« Sie warf einen kurzen Blick zu Kit hinüber. »Dein Leben fängt gerade erst an.«

2

Tess stand vor Kits Geschäft auf dem Gehsteig der East 61st. Der Verkehr und die Menschen wirbelten um sie herum. Sie betrachtete das rote Lackkästchen im Fenster des Antiquitätenladens. Irgendwie dachte sie zurzeit öfter an Hongkong. Selbst nach all den Jahren in Amerika trug sie Asien noch in sich wie eine Melodie – ein dunstiges Licht, ein übel riechender, schwerer Duft, der sich immer noch durch ihre Träume zog. Ihre Mutter hatte eine Sammlung von Lackkästchen gehabt, genau wie dieses. Jetzt beschwor es für Tess eine verlorene Zeit herauf. Eine ganz bestimmte Welt aus glänzenden Teakholzböden, weiß verputzten Wänden, sich drehenden Ventilatoren und grünen Palmen hinter den Fensterläden. Blutroter Hibiskus und der Duft von Frangipani. Das rege Treiben am Anleger der Kowloon Ferry am Ende der Ice House Street und das Klatschen des dunklen, von Sternen funkelnden Hafenwassers am Rumpf der Fähre. Der Geruch von Citronella an einem Sommerabend. Lavendelfarbene Berge. Kit.

Wir waren doch einmal glücklich? Tess widmete sich wieder ihrem eigenen glänzenden Spiegelbild in der Fensterscheibe. Da wurde ihr klar, dass sich schon seit Jahren nichts mehr sicher anfühlte. Sie lebte in einer schwimmenden Welt, und jetzt trieb sie völlig frei umher, nachdem Kit, der letzte Anker, gelichtet worden war. Nach dem Kino war sie ziellos umhergelaufen, wollte nicht nach Hause in das Apartment gehen, und stand plötzlich vor Kits Bürogebäude. Es war eine unausgesprochene Regel, dass Tess ihn nicht an seinem Arbeitsplatz besuchte. In dem Gebäude befanden sich ausschließlich Antiquitätenläden und Designer. Es war Kits Bereich. Es bereitete ihm stets Unbehagen, wenn Privates und Geschäftliches aufeinandertrafen, aber sie hatte gehofft, zufällig auf ihn zu stoßen, um vor heute Abend noch einmal mit ihm reden zu können. Ich ertrage das nicht. Der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden will, ist derjenige, der mir das Herz gebrochen hat.

Das gedämpfte Schlagen mehrerer Uhren in dem Gebäude war zu hören. Tess musste gleich Unterricht geben, und sie musste sich konzentrieren. Ich kann das, wiederholte sie in Gedanken und ging los. Ich kann es. Ich kann es. Auf der anderen Straßenseite sah sie die schlanke Gestalt einer jungen Frau, der Saum ihres dunklen Mantels, der um ihre schmalen Fesseln schwang, als sie einem Taxi winkte. Tess lächelte, sie erkannte sie wieder. Sie entdeckte ihre Mädchen auf fünfzig Schritte Entfernung – die Ehemaligen der Blythe Dance Academy strahlten eine kühle Gelassenheit aus, besaßen eine elegante Haltung, die sie von den schwitzenden Pendlern mit den hochgezogenen Schultern, die sich nachmittags durch die Straßen drängten, unterschied. Auf dem Gehsteig bei der Ampel – grün, rot – sah sie, wie das Mädchen noch einmal in einem anmutigen Bogen den Arm hob. Sie stellte sich anschwellende Orchestermusik vor, die Menschenmenge, die sich teilte, um das Mädchen allein auf der Straße tanzen zu lassen. Level fünf mit Auszeichnung, dachte sie. Ein Naturtalent. Das gelbe Taxi hielt, schaltete das Licht auf dem Dach aus. Ein Mann mit einem schwarzen Filzhut, der darauf wartete, die Straße überqueren zu dürfen, öffnete dem Mädchen die Tür des Taxis und tippte sich an den Hutrand.

Tess lächelte zufrieden und schritt im Licht der Herbstsonne über den Bürgersteig, als hörte sie Musik. Ich kann das … Ich mache mein Glück. Ich schaffe mir ein eigenes Leben. Der erste Schock nach Kits Ankündigung hatte sich gelegt, und Tess spürte Entschlossenheit in sich aufsteigen. Ihre Stöckelschuhe mit den metallenen Absätzen knallten wie Pistolen. Ihr Pillbox-Hut, ihre weißen Handschuhe und der Mantel waren wie eine Rüstung. In dieser Welt aus Stahl und Glas war sie zu Hause, sie war vertraut mit den grellen Lichtern, den vom Dunst verschwommenen Rändern. An der Ampel an der 2nd Avenue war eine Baustelle, ein Arbeiter lehnte sich auf seine Spitzhacke, den Helm hatte er ein wenig zurückgeschoben. Tess fiel auf, dass sie ihm auffiel. Sie starrte geradeaus.

»Kopf hoch, Süße«, rief er ihr zu.

»Idiot«, murmelte sie. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt.

»Hey, Rotschopf. Genau, du.« Er schob den Zahnstocher, auf dem er kaute, in den anderen Mundwinkel. Tess schloss die Augen, stellte sich vor, wie er sich daran verschluckte. »Komm schon, Puppe. Hast du was verloren? Kopf hoch – wie wär’s mit einem Lächeln?«

»Kopf hoch?«, sagte sie ruhig. Ihre Halswirbel knackten, als sie das Kinn hob, den Kopf ruckartig zur Seite wendete. Der Mann hörte auf zu kauen und riss erschreckt die Augen auf. »Kopf hoch?«

»Schon gut, Süße. Ich meinte es ja nicht so.« Er hob abwehrend die Hände.

»Sind Sie vielleicht mal auf den Gedanken gekommen, dass ich etwas Wichtiges verloren haben könnte? Etwas Lebenswichtiges sogar.« Sie erhob die Stimme über den Verkehr hinweg und ging langsam mit schwingendem Rock auf ihn zu. »Was ich verloren habe, fragen Sie? Wie wäre es damit?« Tess stemmte die Hände in die Hüften. »Angenommen, Sie lernen jemanden kennen. Angenommen, Sie bauen sich ein Leben auf …«

»Oha.« Der Mann wich zurück.

»Angenommen, die Person hat – na ja – zahllose heimliche Affären.« Sie trat näher zu ihm, und ihre Augen glänzten. »Und Sie fragen, was verloren ist? Sie erdulden das, weil Sie ein Versprechen gegeben haben. Sie haben ein Gelübde abgelegt. Aber jedes Mal geht etwas verloren. Sie verlieren Ihren Funken. Sie verlieren Ihre Hoffnung. Sie verlieren jeden Tag ein kleines Stückchen von sich selbst. Sie verlieren ein ganzes Leben, ohne es zu bemerken. Denn es passiert Tag um Tag, jeden kleinen Funken um Funken, und Sie sehen nicht, wie das Licht in Ihnen erlischt.« Sie hob die Hand, mit den Fingerspitzen ahmte sie kleine Feuerwerkskörper nach. »Und dennoch machen Sie Tag um Tag um Tag weiter, Ihres Kindes wegen, Ihrer Familie wegen – Sie tun Ihr Bestes für Ihren Mann, und Sie machen sich schön und bleiben schlank und begehrenswert, obwohl …« Tess hielt inne. »Und wenn der andere dann um die Scheidung bittet – so, wie es mein lieber Mann erst gestern Abend getan hat –, dann wachen Sie unvermittelt auf und stellen fest, dass nichts mehr von Ihnen übrig ist.« Sie ließ die Hände sinken, die Finger schlängelten sich wie Rauch. »Puff!« Der Mann konnte sie nicht ansehen. »Wenn Sie also das nächste Mal den Drang verspüren, einem armen Mädchen zu sagen: Kopf hoch, Süße, was hast du denn verloren?« – ihre Augen glühten –, »dann behalten Sie das besser für sich, denn vielleicht, ja, vielleicht hat sie das Wichtigste auf der Welt verloren, nämlich sich selbst.«

 

Tess schloss die Tür des Studios in der Gasse auf der Rückseite des alten Brownstone-Hauses an der East 79th auf und schaltet die Neonröhren an. Die Luft war still und staubig, und es roch noch nach Sommer. Sie wusste, bald kamen die Tage, an denen es draußen dunkel war, die Dachfenster von Schnee bedeckt waren und die alten Heizkörper spuckend und gurgelnd Wärme in den Raum schickten. Tess fröstelte bei dem Gedanken an einen weiteren Winter in New York, während sie ihre schweren rotbraunen Haare zu einem Dutt drehte und sie feststeckte, sodass die Haarklammern sie am Kopf kratzten. Mit erhobenen Armen hielt sie inne. Alles hat sich geändert, wurde ihr bewusst. Vielleicht bin ich nächsten Winter nicht einmal mehr hier.

Ihr Magen krampfte sich vor Unsicherheit zusammen. Ich kann das, sagte sie sich. Ich schaffe das. Sie warf einen Blick auf die Golduhr an ihrem Handgelenk. So spät schon? Die Mädchen werden gleich hier sein. Tess eilte in die Umkleide. Sie versuchte, sich von den immer wiederkehrenden, panischen Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen wie eine Möbiusschleife, abzulenken, indem sie Moon River summte, während sie sich ihre helle Strumpfhose über ihre schmalen Füße streifte. Sie rollte sie hoch, strich den Stoff glatt über die harten Knochen ihrer Knöchel und Knie, die festen Muskeln ihrer Waden und Schenkel. Das Trikot war frisch gewaschen. Tess dachte daran, wie warm es in Bessies Arbeitsraum war, während sie es straff über die Hüften und die Arme zog, sich vorstellte, wie sich die Tür zu dem hellen, weiß gefliesten Raum im Zentrum ihrer Wohnung öffnete, wie beruhigend sich die Trommel des Wäschetrockners drehte, den Duft frischer Wäsche. Das wird alles bald weg sein. Tess stellte sich vor, wie sie eine dunkle, regennasse Fifth Avenue entlangging, einen kleinen Koffer in der einen Hand, Looty auf dem Arm.

Wo gehen wir hin? Tess richtete sich den Schulterriemen und blickte in den Spiegel. Ich kann überallhin. Paris. Rom … Sie sah aus wie immer, aber sie fühlte sich so zerbrechlich wie die letzte der chinesischen Porzellantassen, aus denen sie jeden Morgen ihre heiße Zitrone trank. Durchscheinend. Kaputt. Nach Hause, dachte sie. Ich will einfach nach Hause. Sie atmete tief und zitternd ein und vergrub das Gesicht in den Händen. Hör auf damit! Reiß dich zusammen! Die Mädchen sollen dich nicht so sehen. Sie wischte sich die verschmierte Wimperntusche unter den Augen weg und konzentrierte sich auf den silbernen Abdruck, den ihre Handfläche auf dem Glas hinterlassen hatte, sah zu, wie er langsam verschwand. Genau so. So fühle ich mich. Alles, was ich kenne, alles, was ich liebe … es verschwindet. Tess schlüpfte in einen dünnen Chiffonrock und griff nach ihren Schuhen. In ihrem Schrank waren mehrere Paare verstaut – weiche Ballerinas und Spitzenschuhe in Schwarz und Rosa. Wie viele Tage, Wochen, Monate hatte sie das schon gemacht – sich ihre Tanzschuhe für den Unterricht angezogen? Bald würde es ein letztes Mal sein. Wieder überkam sie eine Welle der Unsicherheit. Die Wohnung werden wir aufgeben müssen, die Schule. Alles wird sich ändern müssen. Tess zögerte. Ganz hinten im Spind war ein einzelner roter Spitzenschuh aus Satin. Sie holte ihn hervor. Der Stoff war kühl und glatt, die Schleife ringelte sich aus der Dunkelheit, eine Provokation. Eine Verführung. Trau dich, flüsterten die Bänder. Sie dachte an einen Lieblingscheongsam aus roter Seide, den sie noch aus der Zeit in Hongkong hatte, den Kit als »zu laut« empfand. Tess hatte Kit getrotzt und ihn behalten. Sie trug ihn manchmal, wenn sie allein war und sich andere Lebenswege vorstellte. Genau das muss ich machen. Mir ein neues Leben bauen. Tess erinnerte sich an das aufregende Gefühl der Seide auf ihrer Haut. Jetzt trage ich ihn, wann immer ich will. Sie stellte sich ihren Abgang noch einmal vor, malte sich aus, wie sie durch die graue Menschenmenge auf der Fifth Avenue schritt, ein scharlachroter Aufschrei.

Das Geräusch der Straße trieb zu ihr, und die Tür schlug zu, als die ersten Schülerinnen zum Nachmittagsunterricht kamen. Gladys spielte sich am Klavier ein, Tonleitern und Akkorde hallten durch das Studio. Tess steckte den Schuh weg und wählte praktische schwarze Ballerinas, bog das Leder durch, schnürte eilig die Bänder und steckte die Enden fest. Ich kann das. Sie war bereit.

 

Die Mädchen, zehn, elf Jahre alt, hüpften und rannten schwatzend aus der Umkleide in den Unterrichtsraum. Ein paar Mütter machten sich wie Hennen um sie herum zu schaffen, befestigten lose Strähnen, zogen an verdrehten Gummibändern. Tess bemerkte ein kleines, pummeliges Mädchen mit einer dicken Schildpattbrille, das mit steifen Armen und eingezogenem Kopf allein dastand. An den zitternden Schultern erkannte Tess, dass sich das Mädchen bemühte, nicht zu weinen. Sie blickte sich im Raum um. In einer Ecke standen drei Mädchen beieinander und warfen Blicke wie Giftpfeile in Richtung des Mädchens. Tess kniff die Augen zusammen und klatschte laut in die Hände.

»Patsy, Betty und Matilda, macht euch schon mal warm …«

Eine Mutter unterbrach sie. »Mrs Blythe, ich würde gerne mit Ihnen sprechen, ob man Betty nicht einen Level höher einstufen könnte.« Das leichte Wollkostüm der Frau erinnerte Tess an den klebrig süßen Geschmack von gebrannten Mandeln.

»Nach dem Unterricht, Mrs Dean«, sagte sie, ohne langsamer zu werden, als sie durch das Studio ging. »So.« Sie kniete sich vor dem einzelnen Mädchen hin. »Lass uns mal diese Bänder ordnen, Hazel, ja?« Sie blickte auf. Das Gesicht des Mädchens leuchtete rot von heißen Tränen der Demütigung. »Willst du mir davon erzählen?« Das Mädchen presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Tess bemerkte, dass sie zu den drei Mädchen ganz hinten sah. »Nicht dort«, rief sie. »Betty, Patsy, Tilda, ganz nach vorn, bitte.« Tess löste die Bänder um die Knöchel des Mädchens und band sie neu. »Kennst du die Geschichte vom hässlichen Entlein, Hazel?«

»Ja, Mrs Blythe«, sagte sie blinzelnd.

»Ich war dieses hässliche Entlein, meine Kleine. Als ich, na ja, so neun oder zehn war, etwa in deinem Alter, hatte ich vorstehende Zähne, eine Klappe über meinem schielenden Auge und diese großen, langen Füße.« Sie wedelte mit den Händen, als wären sie Flossen, und Hazel lachte.

»Sie, Mrs Blythe? Aber Sie sind doch schön. Das glaube ich nicht.«

»Es ist aber wahr.« Tess zog die Schleifen fest und steckte die Enden hinein. »Und meiner Erfahrung nach können manche Mädchen unglaublich grausam sein.« Sie machte eine Pause. »Möchtest du das Geheimnis wissen, das ich erfahren habe?«

»Ja. Ja bitte.«

»Menschen, die gemein sind, Menschen, die andere schikanieren, fühlen sich selbst schrecklich. Sie hacken auf anderen herum, weil sie sich selbst so sehr hassen. Ist das nicht traurig? Sie sollten uns leidtun. Wehre dich gegen sie – entschieden und freundlich, aber lass dich nie auf ihr Niveau herab – und glaub an dich, Liebes. Eines Tages wirst du ein Schwan.«

»Ein Schwan?«, sagte das Mädchen und richtete sich ein wenig auf.

»Wenn du das Kinn hochhältst und der Welt ins Auge blickst, dann gibst du dein Bestes, ja, dann wirst du fliegen. Während sie noch herumflattern und quaken wie die dummen Enten, die sie sind.« Tess neigte den Kopf und erwiderte Hazels Lächeln. »Na also, das ist ja schon viel besser.« Sie führte sie ans hintere Ende des Raums und blickte die drei Mädchen streng an. »Hier ist jetzt dein Platz«, sagte sie. »Auf diese Weise sieht dich niemand an, und niemand ist unfreundlich. Du kannst dir so viel Zeit lassen, wie du willst, bis du dich sicher fühlst.«

Das Mädchen blickte zu ihr auf. »Danke, Mrs Blythe!«

»Du hast aber schöne goldfarbene Augen. Kein Wunder, dass deine Mutter dich Hazel genannt hat.« Sanft korrigierte sie die Haltung des Mädchens. »Die Schultern zurück, das Kinn hoch«, sagte sie. »Stell dir vor, eine unsichtbare goldene Schnur zieht deinen Kopf, deine Wirbelsäule hoch, immer höher.« Sie wich zwischen den anderen Mädchen zurück, bis sie ganz vorn stand, und gab der Klavierspielerin ein Zeichen. »Gladys, wir fangen an.«

 

Gladys steckte ihre Noten in eine weiche alte Ledermappe und hängte sie sich mit ihrer Handtasche aus Krokodilleder über den Arm. »Hast du Hunger, Tessie?«

»Schatz, ich habe seit dreißig Jahren Hunger.« Sie schüttelte ihr Haar aus und löste die Spannung in ihren schmalen Schultern. »Geh du ohne mich. Ich mache hier alles dicht.« Tess stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte aus dem seitlichen Fenster, als sie Gelächter und Frauenstimmen hörte. »Außerdem wartet Bettys Mutter immer noch, um in der Gasse über mich herzufallen. Na los, geht schon«, murmelte sie, als die Mädchen aufbrachen. Gladys zog einen silbernen Flachmann aus ihrer Handtasche und schwenkte ihn fragend. »Scotch? Du bist ein Engel.« Tess nahm einen Schluck und schloss dankbar die Augen. »Danke! Es war ein höllischer Tag.«

»Der Sommer kommt einem bereits vor wie eine ferne Erinnerung, findest du nicht?«

»Es ist verrückt, Glad. Warum arbeiten wir das ganze Jahr über, damit wir uns nur einen Monat lang wie wir selbst fühlen können?« Tess’ Herz wurde von Sehnsucht erfüllt. Sie dachte an kühle Morgendämmerungen, den Nebel über dem Meer, Sand auf Holzplanken, nach Salz schmeckende Haut. Sie könnte jetzt einfach ins Auto springen, und in fünf Stunden wäre sie in ihrem Strandhäuschen in Provincetown. Sie stellte sich vor, wie sie mit offenem Verdeck über die Sagamore Bridge fuhr, die salzige Luft einatmete, den Duft zerdrückter Kiefernnadeln. Ihr Magen knurrte bei dem Gedanken an einen Teller mit gebratenen Muscheln von ihrem Lieblingsimbiss an der Straße.

»Du bist ja lustig. Am besten, wir denken gar nicht darüber nach, wir müssen alle arbeiten. Tag um Tag, das ist die einzige Möglichkeit. Wie hat dir eigentlich der Film gefallen?« Gladys nahm einen großen Schluck aus dem Flachmann und lehnte sich an das Klavier.

»Ach«, seufzte Tess. Sie hob ein heruntergefallenes Wickeltop vom Boden auf, fasste sich mit der Hand an die Brust und drehte eine langsame Pirouette. »Du musst dir Frühstück bei Tiffany unbedingt ansehen, Gladys. Er ist …« Sie runzelte die Stirn, dachte daran, wie sie an diesem Nachmittag allein im Kino gesessen hatte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Er ist wirklich sehr nett. Audrey Hepburn sieht umwerfend aus.«

»Wo läuft er denn?«

»In der Radio City.« Tess faltete das kleine rosafarbene Jäckchen zusammen und legte es auf einen Stuhl.

»Heute Abend gehe ich rein.« Gladys öffnete den Schnappverschluss ihrer Handtasche, ließ den Flachmann hineinfallen und nahm ein goldenes Lippenstiftröhrchen heraus. »Willst du ihn dir noch mal ansehen?«

»Ich würde gerne, aber wir bekommen Besuch.«

»Spielverderberin.« Sie machte einen Schmollmund. »Mit einem Abendessen kann ich dich nicht locken, mit einem Film auch nicht. Sind es wenigstens nette Gäste?«

Tess holte tief Luft. »Wir lernen heute Abend Bobbys Verlobte kennen.« Wie absurd, dachte sie. Typisch Kit.

»Verlobte?« Gladys wandte sich ihr mit aufgerissenen Augen zu, den Lippenstift in der Hand.

»Offenbar.«

»Seit wann?«

»Seit unser Stammhalter beschlossen hat, dass er ohne sie nicht am College studieren kann.« Tess biss sich auf die Lippe. »Sie sind zu jung. Ich habe keine Ahnung, warum er nicht warten kann, bis er sein Jurastudium beendet hat.« Sie hielt inne. »Na ja, ich weiß es doch. Aber was habe ich damit zu tun? Ich bin nur seine Mutter.«

»Die jungen Leute heutzutage wollen nicht warten.« Gladys ließ ihre Tasche zuschnappen. »Ich vergesse immer wieder, dass du schon alt genug bist, um ein Kind auf dem College zu haben.«

»Wie nett von dir. Ich bin ruckzuck vierzig.«

»Das sieht man dir jedenfalls nicht an.« Gladys legte den Kopf schief. »Aber ein bisschen traurig siehst du aus. Ich kann dir wirklich nicht helfen?«

Tess zögerte. Sie sehnte sich danach, jemandem, irgendjemandem zu erzählen, wie Kit ihr ganz ruhig gesagt hatte, dass ihre Ehe vorbei sei. Sie waren zu zweit beim Essen im Rainbow Room gewesen. Vielleicht hatte er Angst, dass ich eine Szene mache? Deshalb hat er es mir lieber in einem Restaurant gesagt statt zu Hause. Kit hat von seinem Tag erzählt, von einem Bild, das er bei einer Auktion gekauft hatte. Und dann ist er einfach damit rausgerückt, stellte sie sich vor, Gladys zu erzählen. Ich will mich scheiden lassen. Ich glaube, ich habe gelacht. Ich dachte, er macht einen Witz. Du kennst ja seinen Humor. Ich war schlichtweg schockiert. Es ist doch normal, zu lachen, wenn man schockiert ist, oder? Stattdessen nahm sie Gladys’ ausgestreckte Hand und drückte sie. »Ich komme schon klar. Na los, beeil dich. Wenn du jetzt gehst, schaffst du den Film noch.«

»Morgen wie immer Frühstück mit den Mädchen?«

»Wir sehen uns im Diner.«

 

Sobald sie allein war, legte Tess eine ihrer liebsten Singles auf, The Right Time von Ray Charles. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ mit geschlossenen Augen den Kopf kreisen, um die Spannung in den Schultern zu lösen. Ihre Haare waren seidenweich. Kit mochte es nicht, wenn sie sich die Haare zurückkämmte, wie es gerade Mode war, und sie mit Haarspray gefügig machte. Er mochte es, ihr einen einfachen, eleganten Knoten oder einen Dutt zu machen. Darin bestand eine ihrer intimen Gesten, die sie von Anfang an gepflegt hatten. Er bürstete ihr jeden Abend die Haare. Mit einhundert Strichen. Nicht mehr, nicht weniger. Hat gebürstet, dachte sie und probierte es aus. Mein Mann – mein Ex-Mann – hat mir jeden Abend die Haare gebürstet.

Tess legte sich die linke Hand auf das Brustbein, streckte den anderen Arm aus und bewegte sich, als würde sie mit einem Partner tanzen, langsam, geschmeidig, geleitet von der Musik. Der Rhythmus stieg in ihr auf, der vertraute Drang zu tanzen war wie eine impulsive Reaktion. Sie verlor sich kurze Zeit in der Musik und schloss die Augen. Ich kann das. Zum ersten Mal spürte sie eine Art Erleichterung. Es ist vorbei. Der falsche Schein war vorüber. Im Herzen wusste sie, dass Kit recht hatte. Die Erinnerung an die Jahre ging ihr durch den Kopf. Die Streitigkeiten. Das Schweigen. Den Schein wahren, dachte sie, und sie ließ den Arm sinken, als ihr klar wurde, wie spät es war. Als sie an ihr Gespräch mit Kit und Bobby an diesem Morgen dachte, glitt sie mit der mühelosen, flüssigen Anmut eines fallenden Seidenschals neben dem Plattenspieler auf den Boden und lehnte den Kopf an den Lautsprecher. Sie hatte keine Lust, heute Abend die gute Frau, die gute Mutter zu spielen. Sie wollte spüren, wie die Musik in ihr widerhallte. Mein Leben, dachte sie, es besteht nur aus Höhen, ohne Bässe. Sie drehte die Lautstärke auf. Die Musik drang durch die ruhige Abendluft im Studio, legte sich über den warmen Holzboden. Die Töne waren tief, voll. Sie sehnte sich danach, dass ihr Herz heftig pulsierte, als die Musik in ihr aufstieg. Sie sehnte sich danach, berührt zu werden. Sich lebendig zu fühlen.

3

Tess klopfte an die Tür von Kits Arbeitszimmer. »Der Pförtner hat angerufen, sie sind da.« Als er nicht antwortete, trat sie ein, gefolgt von Looty. »Kit, es ist Zeit, zu gehen«, sagte sie und drückte die schwere Holztür auf. Ein wenig Widerstand leistend, glitt sie über den dicken Teppich im Arbeitszimmer, und durch den Windzug flackerte das Feuer im Marmorkamin auf. Schatten tanzten an den preußisch-blauen Wänden, der Schein des Feuers wärmte die goldenen Rahmen der Radierungen mit Motiven aus Somerset. Kit saß an seinem Mahagonischreibtisch, einen feinen Pinsel in der Hand. Eine Tischlampe mit schwarzem Schirm und einer antiken dorischen Säule als Ständer beleuchtete ein Moodboard. Die Innenseite des Lampenschirms war in Handarbeit mit Blattgold ausgekleidet worden, was ein düsteres Leuchten hervorrief. Das war das charakteristische Element bei allen Entwürfen von Kit. Er blickte zu Tess auf, nahm die halbmondförmige Schildpattbrille ab und legte sie auf eine Ausgabe von Die Gefangene. Vorsichtig hielt er ein türkisblaues Ei in der Handfläche, tupfte ein letztes bisschen Farbe mit dem feinen Pinsel darauf und setzte es schließlich auf einen Ständer.

»Wie findest du es?«, fragte er.

»Es sieht perfekt aus.« Sie betrachtete es genauer. Kit hatte die spitzen Enden des ausgeblasenen Eis versiegelt und genau die richtige Farbe dafür gewählt.

»Fast wie unsere Ehe, nicht wahr, meine Liebe?« Er lachte traurig und wischte den Pinsel ab, den er dann wieder in die Tuchrolle neben sich steckte.

»Bitte, das ist nicht lustig.« Tess fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie dachte an ein junges Paar, das sie im Park gesehen hatte, als sie Looty ausführte. Sie war dem Mann schon mehrmals begegnet, wahrscheinlich wohnte er in der Nähe. Er war eine große, dunkle, leere Leinwand für ihre Begierden. Es hatte andere, namenlose Fremde gegeben, mit denen eine Art gegenseitiges Erkennen stattgefunden hatte. Deren Blick hatte gefragt: Würdest du? Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, würdest du? Spieglein, Spieglein, siehst du mich? Er war derzeit ihr Liebling. Aber heute war er mit einem kleinen, zwei oder drei Jahre alten Mädchen unterwegs gewesen, das auf seinen Schultern saß, und einer Frau, die eindeutig seine Ehefrau war, so, wie sie sich bei ihm untergehakt hatte. Die Sonne schien auf die beiden wie ein Segen durch das schimmernde Laub. Tess ging unbemerkt an ihnen vorbei – kein kurzer Blick wie sonst: Ich bin eine Frau, du bist ein Mann. Heute hatte er nur Augen für seine Frau. Genau so, wie es sein sollte, dachte sie. Wenn sie das nächste Mal aneinander vorübergingen, würde Tess seinen Blick nicht erwidern. Das brachte ihr nichts, wenn sie die Geschichte im Hintergrund kannte. Sie wollte Romantik, einen heimlichen Tagtraum, nicht die Realität. Sie beneidete das junge Paar, spürte das krude, fehlende Etwas im Herzen ihrer eigenen Ehe.

»Wir sind aber doch wenigstens Freunde, oder?«, sagte sie. »Das waren wir schon immer, und du warst Bobby ein wunderbarer Vater.« Ihr wurde klar, dass sie bereits in der Vergangenheitsform von ihrer Ehe dachte. Ihr war schwindelig, als würde die Welt schwanken und ruckeln, eine Rakete, die sich losriss. Sie betrachtete die aufgereihten Vogeleier in den makellosen Mahagonivitrinen, die in Kits Arbeitszimmer verteilt waren. Welches war es? Es bereitete ihr ein heimliches Vergnügen, zu wissen, dass irgendwo zwischen den vollkommenen ausgeblasenen Eiern das eine war, mit dem sie Bobby als Kind beim Spielen erwischt hatte. Bessie hatte ihn erschreckt, und er hatte es fallen lassen, sodass es auf einer Seite zerbrach. Tess hatte es einfach ersetzt und die angeknackste Stelle verborgen. Es war ihr Geheimnis. Ein Betrachter würde das niemals bemerken. Sie nahm ein blaues Lackkästchen in die Hand, das auf Kits Schreibtisch stand.

»Heute habe ich in einem Laden eine kleine Pillowbox gesehen. Weißt du noch? Mutter hat sie gesammelt.«

»Ob ich das weiß? Ich habe ihr die meisten verkauft.« Er dachte nach. »Das Leben ist schon ulkig. Hätte ich dich damals nicht zufällig auf der Hollywood Road getroffen, dann gäbe es Bobby nicht.«

Tess erinnerte sich. Sie hatte in Hongkong am Fuß einer der steilen Treppen, die hinauf zu der schmalen Straße mit Antiquitätenläden führten, gestanden. Ihr war übel von dem Gestank von Fisch, Abwasser, Räucherwerk, gebratenen Nudeln. Sie hielt sich an dem eisernen Geländer fest und bemühte sich verzweifelt, sich nicht zu übergeben. Jemand hatte dort neben die Treppe eine kleine Statue gestellt, einen improvisierten Altar, mit rosafarbenen Räucherstäbchen, die in die schmutzige Abendluft hineinrauchten wie die Staubgefäße einer exotischen Lilie. In einer Hand hielt sie eine Papiertüte mit Kräutern umklammert.

Ende der Leseprobe