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Die Starköchin Diana ist stolz auf ihr Schlosshotel im Südwesten Irlands. Um es in Schuss zu halten, veranstaltet sie jedes Jahr einen Backwettbewerb, der auch bei der Presse für große Aufmerksamkeit sorgt. Doch dieses Jahr läuft alles anders als geplant. Erst taucht überraschend ihre Tochter Darcy auf, die seit vielen Jahren ihren Heimatort gemieden hat, nachdem ihr ein Mann das Herz gebrochen hat. Und dann sabotiert ein Unbekannter den Wettbewerb. Bald müssen Diana und Darcy feststellen, dass die Vergangenheit sie mit voller Wucht einholt und ihr Leben völlig auf den Kopf stellt ...
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Für Celia
Übersetzung aus dem Englischen von Elke Link
ISBN 978-3-492-99000-4
© Kate Lord Brown 2016
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Taste of Summer«, Orion Books, London 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Arcangel/Irene Lamprakou; FinePic®,München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Piper Verlag GmbH, München 2018
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Cover & Impressum
Erdbeeren zum Frühstück
1 Kenmare, Irland Gegenwart
2 London 1969
3 Kenmare Gegenwart
4 London 1969
5 Kenmare Gegenwart
6 London 1969
7 Kenmare Gegenwart
8 London 1969
9 London 1969
10 Kenmare Gegenwart
11 London 1969
12 Kenmare Gegenwart
13 Darcy gab es ...
14 »Na, schaust du, ...
15 Conor saß bei ...
Naked Lunch
16 Darcy blieb vor ...
17 Silberner Mondschein legte ...
18 Beim ersten Licht ...
19 Nach dem Abendessen ...
20 »Es reicht dir ...
Honig zum Tee
21 Als Conor am ...
22 Beatrice stand am ...
23 »Tris, sei doch ...
24 Diana stand in ...
25 Aus Conors Pick-up ...
26 »Nein, ich will ...
27 Darcy ging im ...
28 Darcy blieb über ...
29 »Ich dachte mir ...
30 Conor trat aus ...
31 Schlaflose Nächte gingen ...
32 Beatrice saß in ...
33 Conors Exfrau Alannah ...
34 Beatrice verschanzte sich ...
35 »Was ist denn ...
36 »Mrs Hughes«, sagte ...
37 Conor stand hinter ...
38 Darcy stand vor ...
39 »Wie macht sie ...
40 Darcy stand auf ...
41 Diana nahm eine ...
42 Die vier Kandidaten ...
43 Beatrice gab einer ...
44 Tristan drehte Darcy ...
45 »Hallo!« Darcy winkte ...
Rat mal, wer zum Essen kommt
46 Am nächsten Abend ...
47 In dieser Nacht ...
48 »Ach, hallo, Darcy«, ...
49 Conor stand am ...
50 Am nächsten Tag ...
51 London Juni
52 Irland August
53 Diana war in ...
54 »Ich gebe keine ...
55 Darcy musste auf ...
56 London August 1969
57 Kenmare August
58 Angestellte und Gäste ...
59 Darcy ging die ...
60 Darcy rannte zu ...
Epilog
Danksagung
»Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.«
Jean Anthelme Brillat-Savarin
Von der Straße aus war nicht zu sehen, wo man ihre Mutter ohnmächtig unter dem Apfelbaum gefunden hatte. Die Stelle war hinter dichtem Laub verborgen, das nach dem Regen im Licht des Augustmorgens schimmerte. So viele Grüntöne, dachte Darcy, den Kopf an die kühle Fensterscheibe des Busses gelehnt. Sie reckte den Hals, um noch einen letzten Blick auf den Obstgarten zu werfen, doch die Blätter hinter den Steinmauern und den doppelten Regenbogen, der ihr den Weg nach Hause in die Bucht von Kenmare wies, sah sie nur verschwommen. Die Äste der Apfelbäume trugen noch schwer, getupft von dunkelroten Früchten. Kein Wunder, dass man sie erst so spät entdeckt hat. Darcy ließ die letzte Erdbeere aus der Papiertüte in ihre braun gebrannte Hand rollen und steckte sie sich in den Mund. Der Bus wurde auf den silbrig schimmernden Biegungen der Küstenstraße gelegentlich von Porsches und gleißenden Geländewagen überholt, die es eilig hatten, nach Castle Dromquinna zu kommen und dort mittags das berühmte Degustations-Menü zu sich zu nehmen.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht, in deinem Alter noch auf Bäume zu klettern?«, hatte Darcy gesagt, nachdem sie vor ein paar Tagen vom Anruf ihrer Mutter geweckt worden war. Als Kind hatte sie sich früher im Obstgarten immer Höhlen gebaut. Über die unteren Äste hatte sie weiße Laken drapiert, die bei Sonnenuntergang von den Laternen golden erleuchtet wurden, und es roch nach Würstchen, die über einem Holzfeuer brieten.
»Ich bin erst fünfundsechzig, da bleiben mir noch eine Menge Jahre, in denen ich auf Bäume klettern kann«, sagte Diana über die knisternde Überseeverbindung. »Ich wollte nur einen Apfel pflücken, das war alles. Einen saftigen, glänzenden roten Apfel, an den ich knapp nicht hinkam. Ich habe das Gleichgewicht verloren und bin runtergefallen, so einfach ist das.«
»Und wenn dich niemand gefunden hätte? Man hat es mir nämlich erzählt, nur damit du es weißt. Angeblich warst du halb tot und lagst unter dem Baum wie eine Leiche, alle viere von dir gestreckt.«
»Na ja, immerhin haben sie mich ja entdeckt, dank Conors dreibeinigem Hund.« Diana unterbrach das Gespräch, um jemandem in der Küche Anweisungen zuzurufen. »Dieses Jahr gibt es eine fantastische Ernte. Komm nach Hause, Darcy«, sagte sie. »Bitte, ich brauche dich.«
»In der Küche?«
»Nicht so ganz. Conor ist ja jetzt wieder da. Ich erkläre es dir, wenn du hier bist.«
Darcy streckte den Arm aus und drückte auf den Halteknopf, als das Tor zur Zufahrt zu Castle Dromquinna ein Stück voraus zu sehen war. »Könnten Sie mich hier rauslassen? Vielen Dank.« Sie zog einen großen kirschroten Koffer durch den Gang. Dann wuchtete sie den Koffer nach draußen und sprang auf das Bankett hinunter. Mit ihren silbernen Converses landete sie in einer ölglänzenden Pfütze. Der Bus fuhr wieder weiter. Einen Augenblick blieb sie, dem Castle den Rücken zugewandt, stehen, ließ die Stille auf sich wirken und erinnerte sich. Sie nahm ihre weiße Ray-Ban Wayfarer aus ihren dunklen Haaren, setzte sie auf und hielt inne. Es roch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte, und doch schien alles verändert. Oder bin ich es, die sich verändert hat? Ein Windstoß spielte mit dem Saum ihres weißen Sommerkleids, und sie bekam eine Gänsehaut im Nacken. Sie klappte den Kragen ihrer Jeansjacke hoch und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Ein Mann joggte auf sie zu und verlangsamte den Schritt, ein blau-weißes Stirnband schützte seine Augen vor den ungebärdigen schwarzen Locken.
»Howya«, grüßte er sie atemlos. Er sah zweimal hin. »Darcy? Ich habe dich kaum erkannt.«
»Es ist doch erst ein Jahr her.« Sie lachte und zog ihren Koffer über die Straße zu ihm. Conor breitete die Arme aus, und in ihrer unsicheren Wiedersehensfreude – erst auf die rechte oder die linke Wange? – drückte sie ihm einen Kuss mitten auf den Mund. Ein dreibeiniger Windhund kam aus dem Wald auf sie zugelaufen. Der Hund umkreiste sie und schlug mit dem Schwanz gegen ihre Beine. »So was«, sagte Conor, ohne zurückzuweichen. »Du isst immer noch gerne Erdbeeren zum Frühstück?«
»Ich war am Verhungern.« Darcy errötete. Er erinnerte sich noch daran. Sie griff hinunter, um den harten, seidigen Kopf des Hundes zu streicheln. »Ich bin mit Taxi, Flugzeug, Zug und Bus hierhergekommen, und zwischen San Francisco und Kenmare bekam ich nichts Anständiges zu essen.«
»Da scheint es ja eine Marktlücke zu geben«, meinte er.
»Und was ist mit dir passiert? Conor Ricci beim Laufen?«
»Ein neues Leben.« Er grinste, aber sie ahnte eine Verwundbarkeit in ihm, die sie von früher nicht kannte. »Du hast es wahrscheinlich schon gehört.«
»Es tut mir leid.« Sie hielt seinem Blick stand. »Wie geht es dir?«
»Besser. Viel besser.« Er wischte sich mit dem Ärmel seines grauen Kapuzenpullis die Stirn ab und lachte. »Ich schaffe es, nach und nach. So, und jetzt lass mich dir helfen.« Er nahm ihr den Koffer ab und zog ihn hinter sich her. Ihr fiel die hellbraune Linie an seinem Finger auf, wo früher der Ehering war. »Erzähl mir von deinen ganzen Abenteuern, Darcy Hughes. Was ist das für ein Akzent?«
»Kalifornien.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Deinen Dubliner Akzent haben sie dir immer noch nicht abgewöhnt?«
»Dalkey kann man keinem austreiben …«, sagte er. »Vorsicht!« Ein Range Rover mit dunklen Scheiben fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die Auffahrt auf sie zu. Conor stellte sich vor Darcy und bekam den Großteil des schmutzigen Spritzwassers ab. »Verdammter Idiot.« Er wischte sich das dreckige T-Shirt ab. Der Hund rannte voraus und bellte das Auto an, das an einem Banner mit der Aufschrift Irland sucht den Superkoch auf Castle Dromquinna vorbeifuhr.
»Du hast dich also gar nicht so sehr verändert«, sagte Darcy zu Conor und stupste ihn am Arm.
»Wenigstens ein Laster braucht der Mensch.« Lächelnd wandte er sich ihr zu, und um seine grauen Augen bildeten sich Fältchen. Ihr wurde flau im Magen. Sie war wieder neun Jahre alt, sah ihn zum ersten Mal, wie er mit der athletischen Anmut eines Balletttänzers morgens die Leute in der Küche dirigierte. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich versteckt hatte, um über die Edelstahltheke hinweg einen Blick auf ihn zu erhaschen, und wie sie gebannt hinter den weiß verputzten Backsteinsäulen hervorschielte. Buh. Er hatte sie entdeckt und sich heimlich angeschlichen, um sie zu überraschen. Er hatte sie auf die Arbeitsfläche gehoben und darauf bestanden, dass sie von einem neuen Dessert kostete, an dem er gerade arbeitete. Erdbeeren zum Frühstück.
»Deine Ma wird froh sein, wenn du da bist, und ich könnte hier beileibe auch ein bisschen Hilfe gebrauchen, solange sie noch schachmatt ist.« Der Koffer rumpelte über die Kieszufahrt hinter ihnen her. »Hast du schon mir ihr geredet?«
»Kurz. Wie geht es ihr?«
»Unverändert. Sie ist nur etwas schwieriger geworden, seit sie dauernd Schmerzen hat.«
»Aber sie hält Bettruhe?«
»Ruhe?« Er lachte. »Wie wir beide wissen, kann Di wahnsinnig gut Hilfe annehmen, wenn man sie ihr anbietet.« Conor warf ihr einen kurzen Blick zu. »Besonders viel Dank wirst du von deiner Mutter nicht ernten, aber es ist nett von dir, dass du alles stehen und liegen lässt, um hier auszuhelfen. Ich weiß, was dir die Arbeit im Chez Panisse bedeutet hat …«
»Was blieb mir anderes übrig?« Darcy hielt den Blick auf ihre Füße gerichtet, sie konnte ihn nicht ansehen. »Sie hat sich zu viel aufgeladen wie üblich. Das Castle, die Fernsehshow, dieser Contest …«
»Irland sucht den Superkoch? Die Einschaltquoten schnellen jedes Jahr mehr in die Höhe«, sagte er. »In ein paar Wochen findet hier das große Finale statt. Wir haben zuvor Vorausscheidungen gedreht, in denen wir Amateurköche aus dem ganzen Land beurteilen. Zum Glück war das meiste vor ihrem Sturz schon abgedreht.«
»Gott sei Dank hat Jake sie gefunden.«
Die Auffahrt beschrieb eine Kurve, und da stand das Castle vor ihnen. Das Gelände fiel ab bis zum Horizont, wo Himmel und Wasser sich vereinigten, ein schimmerndes Land aus Gold und Grün und Blau, umsäumt von pastellfarbenen Bergen. Aus dem Schornstein über dem Torffeuer, das stets in der Eingangshalle des Hotels brannte, stieg gemächlich Rauch. Einen Moment lang standen sie schweigend da. Er musterte sie. »Hast du vergessen, wie schön es ist?«
»Ja. Das habe ich wohl.«
Die Morgensonne schien über das Wasser, den Spiegel des Himmels, und Wolken jagten über die stille Bucht hinweg. Sie schloss kurz die Augen und atmete ein, genoss das Gefühl, zu Hause zu sein – die kühle Brise, den Geruch von Ozon und Wasser, die gute, feuchte Erde. Ein alter Steinturm ragte an der Ecke eines neueren, weiß verputzten georgianischen Hauses mit Dachzinnen und steinernen Stabwerksfenstern auf. Der Turm beherbergte die Familienküche und die Privatzimmer, ganz oben befand sich Dianas Suite. In dem georgianischen Teil waren das Restaurant und die Gästezimmer untergebracht, mit einer neuen Profiküche auf der Rückseite. Darcy lächelte, als sie an der Fahnenstange auf dem Dach einen Totenschädel mit gekreuzten Knochen entdeckte.
»Ist das zu Ehren von Mas gebrochenem Arm?«, fragte Darcy.
»Nein, auch wenn ich deine Frage nachvollziehen kann«, sagte Conor. »Wir haben sie zum Spaß hochgezogen, denn einer von unseren Köchen hat hier einen Kindergeburtstag gefeiert.«
»Ich finde, wir sollten sie behalten«, sagte Darcy, während sie weiter Richtung Castle ging. Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Passt irgendwie zu deiner Brigade in der Küche.«
»Ach, jetzt sind wir also Piraten?« Er folgte ihr. »Willkommen zu Hause, Darcy.«
Colleen beobachtete hinter der kaum sichtbaren Spiegelung ihres Gesichts im Küchenfenster, wie ein Rotfuchs geschmeidig am Rand des terrassenförmig angelegten Gartens entlangschlich. Er verharrte einen Moment lang und schien ihren Blick zu erwidern. Fordert er mich heraus? Was sieht er?, fragte sie sich. Eine verdreckte U-Bahn fuhr scheppernd und dröhnend über die Gleise hinter dem Garten, und die Küchentheke erbebte. Der Fuchs wandte sich ab, schlüpfte zwischen das hohe Gras auf den Nebengleisen und erlosch wie eine Flamme. Sie hätte es am liebsten genauso gemacht.
Colleen fühlte sich schwerelos, als hätte sie sich verflüchtigt. Wie ein Roboter, der an den schwülen, heißen Augusttagen alles mechanisch erledigt. War es schon immer so gewesen mit ihm? Sie versuchte sich zu erinnern. Am Anfang vielleicht nicht. Er verbarg es eine Weile. Doch nach und nach, tröpfchenweise, nahm er ihrem Leben die Farbe. Saugte sie aus ihr heraus. Wie ein Vampir. Sie hatte das Gefühl, immer mehr zu verblassen, genau wie ihr Spiegelbild.
Wieder vibrierte es. Es kam noch ein Zug. Er bremste ab. Hinter den schmutzigen Fenstern konnte sie die gebeugten Gestalten der frühmorgendlichen Pendler ausmachen. Eine junge Frau starrte sie aus dem Zug heraus an. Was sehen sie? Ein erleuchtetes Fenster, ein Mädchen mit langen roten Haaren, das ein Babyfläschchen warm macht. Das Baby. Colleen nahm das immer lauter werdende Wimmern wahr und wischte rasch die Glasflasche ab, gab sich zur Probe einen Tropfen Milch auf die Innenseite des Handgelenks. Sie zuckte zusammen, als die Milch über die frische Brandwunde lief.
»Colleen?«, rief er von oben.
Er war wach. Ihr Herz schlug schneller. »Ich bin gleich da.« Sie hastete an der Schusterpalme vorbei, die auf dem Gestell in der Diele lauerte, und tappte lautlos in ihren Pantoffeln die schmale braune Treppe hinauf. Honky Tonk Women spielte nebenan im Radio. Vielleicht hatte die Musik das Baby geweckt. Colleen schob die Tür zu dem schwach erleuchteten hinteren Schlafzimmer auf. Es war stickig und heiß und müffelte nach durchnässten Windeln. Die Kleine stand tobend im Gitterbett, heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. »Alles ist gut … Mami ist ja da.« Colleen nahm ihre Tochter auf die Arme.
»Schsch.« Er trat hinter sie. Colleen bekam eine Gänsehaut. »Entspann dich. Kinder bekommen Gefühle genau mit.« Sie erstarrte, fürchtete, seine Sanftheit würde ohne Warnung jeden Moment umschlagen. »Die Praxis ist heute ausgebucht, und abends ist ein Treffen in der Lodge. Ich komme erst spät wieder.«
Sieh ihn nicht an, dachte sie. Gib ihm keinen Anlass zu fragen: Warum bist du noch nicht angezogen? Warum sind deine Haare nicht gemacht? Ist es zu viel verlangt, dass eine Ehefrau beim Frühstück hübsch aussieht? »Dein Porridge steht auf dem Tisch, Timothy«, sagte sie. »Ich würde ja runterkommen, aber sie hat Hunger, und ich weiß doch, dass du nicht gerne zu spät kommst.« Sie zwang sich, langsam durch den Raum zu gehen, obwohl sie am liebsten weggerannt wäre. Sie setzte sich in den harten hölzernen Schaukelstuhl und hielt den Blick gesenkt, während das Kind gierig die Milch trank.
»Eigentlich solltest du noch stillen – das weißt du?«, sagte er.
»Sie hat mich gebissen.«
»Das machen sie alle.«
Colleen blinzelte und kämpfte mit den Tränen. »Nein, ich meine, sie hat mich immer wieder gebissen, bis es blutete. Sie hat gelacht. Sie wusste, sie hat mir wehgetan, und sie hat gelacht. Sie ist jetzt achtzehn Monate alt, Timothy. Alt genug.«
Sie blickte immer noch nicht auf, um ihn anzusehen, aber sie bemerkte, wie er den Arm hob und auf seine goldene Armbanduhr schaute. Die dicken schwarzen Haare auf seinen Fingerknöcheln waren ihr zuwider. »Ich … ich stelle dir das Abendessen in den Ofen, ja? Fleisch und Gemüse, so wie du …« Sie verstummte bei der Erinnerung an die Rindfleisch-Daube, die sie am Vorabend gekocht hatte, an den zerschlagenen Teller und den auf dem Boden verteilten Eintopf, an den jähen Schmerz, als er ihr den heißen Deckel ihres geliebten Le-Creuset-Bräters gegen den Arm gedrückt hatte. Colleen zog sich den Ärmel ihrer Strickjacke über die Hand, denn er sollte nicht sehen, wie sehr er ihr schon wieder wehgetan hatte.
»Braves Mädchen. Nicht wieder dieses ausländische Zeug, ja? Dann kannst du auch um die Ecke einkaufen gehen. Ich mag es nicht, wenn du in die Stadt fährst.«
»Aber ich muss doch.« Sie blickte auf. »Die Zutaten, die ich brauche, gibt es nur in den italienischen Läden in Soho.« Er kam auf sie zu. Jede Zelle in Colleens Körper zuckte zurück. In diesem Moment hasste sie sich selbst, dachte an einen streunenden Hund in einer Gasse am Markt. Er war rührend dankbar gewesen, als sie ihm ein bisschen Aufschnitt gegeben hatte, folgte ihr bis nach Hause und hatte den ganzen Tag am Tor gewartet. Sie hätte ihn sehr gerne mit ins Haus genommen, wusste aber nicht, was er ihm antun würde. Jetzt stand Timothy vor ihr.
»Schau mich an.« Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn hoch. »Na also. Alles in Ordnung?«
»Ja. Ja, alles ist gut.«
»Wie wäre es dann mit einem Lächeln?«
Ihre Lippen zitterten. »Hab einen schönen Tag, Timothy.«
»Ich mag es nicht, wenn du dir wehtust, das weißt du doch, Colleen? Du musst einfach lernen. Was hat es für einen Sinn, seine Haushälterin zu heiraten, wenn der Haushalt nicht perfekt ist? Leiste dir keine Fehler mehr, ja? Keine Unfälle. Du bist neunzehn und kein Kind mehr. Braves Mädchen.«
»Ich will ja eine gute Ehefrau sein, wirklich.« Colleen nahm die leere Flasche und stellte sie neben sich auf den Tisch. Sie hob das Baby hoch, legte es sich an die Brust und rieb ihm den Rücken. Das Kind quengelte und schlug nach dem Gesicht seiner Mutter.
»Vielleicht hat sie noch Hunger.« Timothy lächelte nachsichtig und strich der Kleinen über ihre dunklen Haare. »Sie will mehr.« Er schmunzelte. »Da, so ein schönes Lächeln. Sie sieht genauso aus wie meine Mutter, nicht wahr, du kleiner Hase?« Er sang: Run, rabbit, run, run, run, run … Colleen schluckte, ihr war übel. Sie hasste dieses Lied, seit er die alte 78er-Scheibe in ihren Flitterwochen gespielt hatte. Sie erinnerte sich an das Kratzen und Rauschen der Platte und wie er ihr erst spielerisch hinterhergejagt war. Sie kniff die Augen zu. Damals hatte er sie zum ersten Mal geschlagen, als er sie gefangen hatte. Als sie versucht hatte, ihn aufzuhalten.
Colleen tastete über die frischen Kratzer von den kleinen Fingernägeln auf ihrer Wange. »Für sie ist es auch wie ein Spiel.«
»Wie meinst du das? Sei doch nicht albern. Sie ist achtzehn Monate alt, was weiß sie denn schon?«
»Sie weiß es ganz genau.« Colleen sah ihn an. »Sie genießt es, mir wehzutun. Neulich hat sie mich mit der Rassel da geschlagen, und als ich aufgeschrien habe, hat sie nur gelacht.« Genau wie ihr Vater, dachte Colleen. Das sehe ich in seinem Gesicht, wenn er mich schlägt – nicht Wut, sondern distanzierte, neugierige Freude.
»Du brauchst Erholung, Colleen, kein Wunder, dass du gestern Abend so tollpatschig warst. Du siehst abgespannt aus«, sagte Timothy. Das ist seine vernünftige Stimme, dachte sie. Spricht er so mit seinen Patienten? Er nahm seine Geldbörse heraus und reichte ihr einen Schein. »Kauf dir doch einen neuen Bräter. Gönne dir etwas. Fahr in diesen Laden in Chelsea und kaufe einen Ersatz für den anderen, den du so gerne mochtest. Zu schade, dass du dich gestern Abend verbrannt hast, als du ihn aus dem Ofen genommen hast.« Bei dem Gedanken daran, wie er ihr Handgelenk gegen den Rand des schweren Metalldeckels gedrückt hatte, als sie ihn aus dem Ofen genommen hatte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Das hatte er doch getan, oder? Es war doch kein Unfall gewesen? Sie schloss die Augen gegen die Erinnerung; der Lärm, als der Bräter auf den Boden krachte, der kochend heiße Eintopf, der ihr auf die Beine, die Kleidung spritzte. »Was sagst du?«
Ich halte das nicht aus, hätte sie am liebsten gerufen. Ich ertrage das nicht mehr.
»Danke«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Sie zwang sich, lächelnd zu ihm aufzublicken, ihre Lippen zitterten. »Danke.«
Diana Hughes schritt über die gekieste Auffahrt von Castle Dromquinna und führte eine dürre schwarze Ziege mit bernsteinfarbenen Augen. Der Saum ihres orangefarbenen Kaftans rutschte an Dianas kräftigen, braun gebrannten Beinen hoch, als die Ziege sich wehrte. Sie zog fester an dem kirschroten Paschminaschal, den sie ihr um den Hals gebunden hatte. »O nein, mein Freund. Wir gehen jetzt schön wieder zurück auf die Wiese.« Sie zerrte die Ziege weiter. Ihre silbergrauen Haare wehten im Wind, als sie zu dem steinernen Wappen mit den Buchstaben DH über dem Torbogen hochblickte. Sturmwolken jagten über den Himmel und verbargen die Sonne. Regen, dachte sie. In ihrer Brust regte sich die Sehnsucht nach den goldenen, sonnendurchfluteten Tagen in Italien. Sie zählte die Stunden bis zu ihrem Jahresurlaub.
»Geben Sie den doch mir, Mrs Hughes«, sagte der Gärtner und stellte seinen Schubkarren ab. »Der ist ein echter Plagegeist.«
»Das wäre großartig, vielen Dank, Séan. Bitte überprüfen Sie noch einmal Mephistopheles’ Zaun, ja?« Der Gärtner hob die Ziege auf die Arme, und Diana band den Schal los. »Du Schlingel.« Sie kraulte der Ziege den knochigen Kopf, deren Ohren vor Wonne zitterten. Diana zog sich die Armschlinge im Nacken zurecht und kniff die Augen leicht zusammen.
»Sie waren aber doch nicht etwa schwimmen, Mrs Hughes? Nicht mit Ihrem Arm?«
»Mit diesem dämlichen Ding konnte ich nur ein bisschen Wasser treten.« Sie hob den eingegipsten Arm. »Seit 1988 habe ich keinen Tag ausgelassen, und jetzt fange ich auch nicht damit an. Um diese Jahreszeit ist das Wasser einfach herrlich. Belebend.« Sie zupfte der Ziege einen Halm Schilfgras vom Rücken. »Dich habe ich ja auch unten an der Bucht entdeckt.«
Auf der Veranda drückte sie die schwere Mahagonitür zum Empfangsbereich auf. Sofort umgaben die vertrauten Gerüche des Castles sie: das offene Feuer, Bienenwachspolitur, der schwere, an Weihrauch erinnernde Duft der Stargazer-Lilien auf dem runden Tisch in der Mitte der mit Stein gefliesten Halle. »Ist Darcy schon da?«, fragte sie das Mädchen hinter dem Empfangstisch und zog sich die Gummistiefel aus. Eine weiße Katze mit aquamarinblauen Augen sprang von dem roten Samtsessel neben dem Kamin herunter und strich um Dianas bloße Füße. »Hallo, Kato, hast du denn dein Frühstück schon bekommen?« Sie schlüpfte in abgetragene Espadrilles und ging weiter.
»Conor ist mit Ihrer Tochter in der Küche«, sagte das Mädchen. »Mrs Hughes, da wollte jemand …«
»Nicht jetzt.« Diana ging mit großen Schritten durch die Halle und blieb kurz stehen, um ein schief hängendes Gemälde von der Kenmare Bay gerade zu rücken. Sie kannte das Castle wie ihre Westentasche, sie hatte jede Lampe, jeden Teppich, jedes Bild eigenhändig ausgesucht. Das Restaurant und die wenigen diskreten Zimmer darüber für Gäste, die über Nacht bleiben wollten, bevor sie zurück nach Dublin oder noch weiter fuhren, verströmte noch die Atmosphäre eines Privathauses. Es war klassisch und kunstvoll »shabby«. Die Antiquitäten passten zur Architektur des achtzehnten Jahrhunderts, und alles Neuere hatte sie auf alt getrimmt. Nach dem verlassenen Gerüst eines Altersheims mit avocadogrünen Badezimmern und Haltegriffen wirkte Dianas Schöpfung wie eine Pop-up-Seite in einem Hochglanzmagazin. Im Lauf der Jahre hatte sie immer mehr hinzugefügt, hatte Behelfsmäßiges durch Statements ersetzt, die sie auf Landhausauktionen erworben hatte, um die Stücke zu ergänzen, die ihr Mann gesammelt hatte. Beim Gedanken an Kavanagh lächelte sie und blieb stehen, um den Formgarten zu betrachten, die Kieswege, die von beschnittenen Sträuchern gesäumt wurden und zu dem ummauerten Küchengarten mit seinen ordentlichen Backsteinwegen und den Kräuterhochbeeten führten. Wir sind ein gutes Team, hatte Kavanagh immer gesagt. Du hast den Geschmack und die Schönheit, Di, und ich habe die Eier und das Scheckheft. Ein Pfau stolzierte schreiend über den Rasen. Diana wischte eine dünne Spinnwebe von der grau gestrichenen Fensterleiste und blies sie von der Fingerspitze. Sie nahm sich vor, der Reinigungskraft aufzutragen, die handgemalte Tapete abzubürsten, deren Ranken sich zur Decke hinaufschlängelten. Du hast ein Auge für so etwas, mein Mädchen, dachte sie und stellte sich die tiefe Stimme ihres Mannes vor. Du hast ein Auge dafür, so viel steht fest.
Ich fühle mich alt, dachte sie und ging weiter durch das Castle. Ihr gebrochener Arm schmerzte, und die Rippen, die sie sich bei dem Sturz geprellt hatte, mussten noch verheilen. Was würdest du heute von mir halten, Kavanagh? Wo ist das Mädchen, in das du dich in Porto Ercole verliebt hast? Sie dachte an die wilde toskanische Küste, an das dunkle Grün und die friedlichen Weinberge und Olivenhaine, die zum schimmernden Meer hin abfielen, an ihr einfaches weiß verputztes Häuschen in den Hügeln. Wenn das vorbei ist, fahre ich in Urlaub. Ihre Züge wurden weicher, und sie blickte träumerisch in die Ferne. Italien gehörte ihr ganz allein – dort gab es keine anspruchsvollen Gäste, keine widerspenstigen Angestellten, die man maßregeln musste, keine Fernsehkameras, keine Anrufe vom Steuerberater, keine Briefe von der Bank. Vielleicht gönne ich mir ein paar Tage im Il Pellicano, bevor ich das Ferienhaus aufmache. Sie dachte an die Sonnenterrasse des Hotels, mit Blick auf das endlose blaue Meer, stellte sich vor, wie die Wärme der Sonne ihren Knochen guttat, das glitzernde Licht, das durch ihre geschlossenen Augenlider drang. Aber zuerst muss Arbeit erledigt werden. Diana atmete tief durch und zuckte zusammen. Gott, hoffentlich war es richtig von mir, Darcy zu bitten, nach Hause zu kommen. Sie drückte eine mit grünem Stoff bespannte Tür mit der Aufschrift »Privat« auf und ging über den Steinfliesenkorridor in die Familienküche in dem alten Turm. Gelächter war zu hören, Conor erzählte mit seiner tiefen Stimme eine Geschichte.
»Nicht wahr!« Darcy, ihr weicher irischer Akzent vermischt mit dem Amerikanisch der Westküste.
»Da bist du ja«, sagte Diana und blieb in der Tür stehen. Ihre Tochter stand neben dem gescheuerten Tisch aus Kiefernholz in der Mitte der gelben Küche. Auf dem Steinfußboden lagen abgetretene Perserteppiche, und das alte blaue Sofa neben dem Ofen zierten ausgeblichene Kissen mit Liberty-Druck. Die weiß gestrichenen Küchenschränke und die Anrichte waren abgenutzt und nicht künstlich gealtert, und überall standen Töpfe und Dosen mit Utensilien. Es war ein funktionierender, behaglicher Ort und Dianas liebster Raum im ganzen Castle. Das Zimmer wurde von einem Ölgemälde beherrscht, das Diana im besten Alter zeigte. Sie blickte von der Wand zwischen den beiden raumhohen Schiebefenstern auf die Betrachter herunter und hatte frisch geerntetes Obst und Gemüse aus dem Küchengarten in den Armen. Darcy ging auf ihre Mutter zu, ihre Augen verrieten ihre Unsicherheit und ihre Freude. Diana steckte Darcy eine schwarze, glänzende Haarsträhne hinter das Ohr und legte ihr die dünne, trockene Hand auf die Wange. »Schön, dich zu sehen.« Darcy umarmte ihre Mutter vorsichtig. »Na endlich«, sagte Diana, schloss die Augen, atmete den warmen Vanilleduft ihrer Tochter ein. Sie drückte Darcy einen Kuss auf den Kopf.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte Darcy mit erstickter Stimme.
»Von ein paar gebrochenen Knochen lasse ich mich doch nicht unterkriegen.« Diana richtete sich auf, als sie sich voneinander lösten. »Gut siehst du aus. Du hast dir die Haare schneiden lassen, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe.« Du siehst deinem Vater ähnlich, dachte sie, hast seine dunkle Schönheit.
»In der Küche sind kurze Haare einfacher. Was macht der Arm?«, fragte Darcy.
»Und die Rippen«, warf Conor ein.
»Ich könnte schreien vor lauter Frust.« Diana ging zum Herd. »Ich kann nicht schwimmen, ich kann nicht kochen. Wollen wir uns eine Kanne Tee machen?« Sie machte sich an der Teedose zu schaffen.
»Komm, lass mich. Setz dich doch hin«, sagte Conor und zog ihr einen Holzstuhl heraus. Er ließ den Wasserkessel volllaufen und stellte ihn auf den Herd. »Sag mal ehrlich, würde es dich umbringen, wenn du einmal um Hilfe bitten würdest?«
»Ja, wahrscheinlich. Du kennst mich doch«, sagte Diana und verzog das Gesicht.
»Ich war so froh, dass du mich angerufen hast.« Darcy setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Ich wollte dich nicht stören.« Diana zeigte auf Conor, der die Morgenzeitungen durchsah. »Er meinte, es wäre an der Zeit, dass die nächste Generation in der Sendung übernimmt.«
»Frisches Blut.« Conor zog die Irish Times heraus und setzte sich eine Schildpattbrille, die er sich in die Haare gesteckt hatte, auf die Nase, um die erste Seite zu lesen. »Die Leute haben unsere Gesichter oft genug auf dem Bildschirm gesehen.«
»Wir sind immer davon ausgegangen, dass du die Leitung des Castles übernimmst, wenn ich im Ruhestand bin …«, sagte Diana.
»Aber du setzt dich doch noch nicht zur Ruhe?«, fragte Darcy.
»Nicht ganz.« Diana sah auf die Uhr. »Lasst uns später darüber sprechen. Pack erst mal aus. Morgen kommt jemand, den ihr kennenlernen sollt.«
Colleen stolperte, denn sie war mit ihrem Lackschuh auf dem glitschigen Gehsteig vor dem U-Bahn-Eingang am Sloane Square ausgerutscht. Sie schob einen schweren Silver-Cross-Kinderwagen vor sich her. Das Gesicht ihrer Tochter war unter der dichten schwarzen Haarmähne vor Zorn puterrot angelaufen, mit den Fäusten umklammerte sie wütend die Decke, die Colleen pflichtschuldig an den Winterabenden gehäkelt hatte.
»Schsch, schsch …«, beruhigte Colleen sie, der selbst noch das Herz von der Fahrt raste, von der schweigenden Missbilligung der Pendler, die sie umgab wie ein Nebel. Ihre Beine, ihre Arme zitterten vor Erschöpfung, ihr Pony klebte ihr schweißnass unter dem grauen Glockenhut an der Stirn. Sie beneidete die sorglosen, langbeinigen Chelsea-Girls, die im Minirock an ihr vorbeigingen. Aber das würde Timothy niemals erlauben. Sie versuchte, das Kind nicht anzusehen, hoffte, die Kleine würde sich beruhigen, wenn sie den Wagen weiterschob. Zwei Frauen mittleren Alters, die sich an der Straßenecke unterhielten, starrten sie an, als Colleen vorübereilte, ihre kritischen Blicke durchbohrten sie wie Pfeile. Ihr Magen krampfte sich vor Sorge zusammen. Ich tue mein Möglichstes, dachte sie. Aber sie hört einfach nicht auf. Der Kleinen stockte der Atem, sie hatte sich an einem wütenden Schluchzer verschluckt, und Colleen blieb stehen und beugte sich zu ihrer Tochter vor. Das Kind schlug nach ihr, Arme und Körper starr. Das Ebenbild ihres Vaters, dachte sie. Sie gleichen einander aufs Haar.
Colleen packte den Griff des Kinderwagens und steuerte ihn über Holbein Place. Am Handgelenk hatte sie ihre schwere Handtasche mit dem Buch darin hängen. Sie bog in die Graham Terrace ein und blieb in der Bourne Street gegenüber dem Laden mit der Nummer 46 stehen. Sie atmete durch und betrachtete genießerisch die Auslage. In handgeschmiedeten, vergoldeten Lettern stand »Elizabeth David Ltd.« über einem Arrangement von Küchengegenständen, die schwerelos in der Luft zu schweben schienen. Colleen schob den Kinderwagen über die Straße.
»Wollen Sie rein?« Eine große, elegante Frau blieb an der Ladentür stehen. Sie bedeckte den Inhalt eines Korbs, den sie am Arm trug, mit einem Geschirrtuch aus Leinen. Ihre Stimme klang katzenhaft, rauchig.
»Danke.« Colleen errötete. »Entschuldigung, sind Sie vielleicht Mrs David?«
»Ja. Guten Tag. Dafür ist leider nicht genug Platz.« Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete Elizabeth David den Kinderwagen. »Sie können ihn hier draußen stehen lassen.«
»Sicher?«
»Ich bitte eines der Mädchen, ein Auge darauf zu haben – auf ihn? Sie?« Sie zuckte zusammen, als das Mädchen anfing zu schreien. »Herrje. Wie schaffen Sie das nur?« Sie schob die Glastür auf.
»Das tue ich nicht. Ich … ich bin keine sehr gute Mutter.« Colleen umklammerte den Henkel ihrer Handtasche. Sie entspannte sich erst, als die Tür zufiel und das Babygeschrei nicht mehr zu hören war. »Ich finde immer mehr, dass es ein schrecklicher Fehler war …« Sie hatte das Gefühl, zu viel zu reden, und Mrs Davids höfliches Lächeln schien das nur zu bestätigen.
»Nun gut. Was können wir für Sie tun?«
»Ich brauche einen neuen gusseisernen Bräter. Mein alter …« Colleen zog den Ärmel ihrer Jacke herunter. »Ich … ich hatte einen Unfall.«
»Das passiert den besten Köchen. Sie werden es nicht bereuen. Haben Sie das neue Blau schon gesehen?«
»Ach, die sind wunderschön.« Die Farbe glänzte vielversprechend. Colleen nahm einen schweren ovalen Schmortopf zur Hand. Das alles – Mrs Davids souveräne Gelassenheit, die solide Qualität des Ladens, die Stimmigkeit – schien in dem dunkelblauen Le-Creuset-Bräter vereint zu sein. Mehr wollte Colleen nicht vom Leben, nach mehr sehnte sie sich nicht. Ordnung. Farbe. Gewicht. Sie sah auf das Preisschild. »Ich nehme ihn.«
Elizabeth bedeutete einem der Mädchen, den Topf einzupacken. »Schaffen Sie es auch, ihn zu tragen?«
»Ich kann ihn unter den Kinderwagen stecken.« Sie ließ ihre Handtasche aufschnappen und nahm einen großen braunen Papierumschlag heraus, den sie Mrs David entgegenstreckte. »Ich … ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, aber wären Sie vielleicht so freundlich, mir dieses Buch zu signieren?«
»Aber natürlich. Haben Sie einen Stift?« Elizabeth hob eine Augenbraue.
»Ich habe es schon oft gelesen.« Colleen suchte in ihrer Tasche. »Ich habe fast alle Rezepte nachgekocht.«
»Wirklich?« Elizabeth betrachtete sie kühl. »Was ist Ihr Lieblingsrezept?«
Colleen strahlte. »Wahrscheinlich ist es ein bisschen simpel, aber ich liebe die Spaghetti all aglio e olio. Mein Mann kann Knoblauch nicht ausstehen, aber ich finde es fantastisch.«
»Er weiß nicht, was ihm da entgeht. Die Neapolitaner schwören darauf und ich ebenso. Für jeden Profikoch, den ich kenne, ist das sogar ein Grundnahrungsmittel, wenn er für sich selbst kocht.« Elizabeth betrachtete sie mit Katzenaugen und nickte. Colleen schien einen Test bestanden zu haben.
»Es tut mir leid«, sagte Colleen und errötete noch mehr. »Ich habe keinen Stift.«
»Na gut.« Elizabeth nahm den Korb vom Ladentisch und ging Richtung Treppe. Als Colleen ihr nicht folgte, blieb sie stehen. »Wenn Sie möchten, dass ich Ihr Buch signiere, müssen Sie mit nach unten kommen.«
Colleen warf einen kurzen Blick zum Kinderwagen und folgte ihr. Sie fand den Laden wunderschön. Jeder Gegenstand hatte etwas Wahrhaftiges. Die Inneneinrichtung strahlte eine Einfachheit und Eleganz aus, die sie ansprach – die schwarz-weißen Kacheln, das ruhige Graublau der Wände. Sie dachte an Dr. Smith’ schmuddelige, vollgestopfte Küche in Battersea mit dem einen Kochfeld und wünschte, sie könnte irgendwo mit einer solchen Ordnung, mit dem Frieden dieser Marmorregale und den Stapeln von weißem Porzellan leben. Irgendwo, wo es sauber war und hell und sicher.
Elizabeth stellte den Korb auf die marmorne Tischplatte und packte eine in Pergamentpapier gewickelte Pastete aus, einen frischen Laib Brot und eine dicke Scheibe Butter. »Geben Sie mir doch bitte diese Tonschüssel, ja?« Sie zeigte auf einen Tellerstapel am Ende des Tisches. Colleen griff hinüber und reichte ihn ihr, und Elizabeth ließ leuchtende Radieschen aus einer Papiertüte in die Schüssel rollen. Dann nahm sie die Schüssel in die Hände und atmete mit geschlossenen Augen ein. »Göttlich, dieser Duft, so frisch.« Sprachlos vor Nervosität sah Colleen zu, wie die Leute an den Tisch kamen und wieder gingen, kurz mit Elizabeth plauderten, ein Stück Brot und ein paar Oliven zum Mittagessen nahmen, sich ein Glas Wein einschenkten. Sie beneidete sie um ihre Gelassenheit. Sie wollte so gerne zu einem Ort wie diesem gehören.
Elizabeth schwenkte die Weinflasche. »Kann ich Sie mit einem Glas Flaming Carthage verlocken, meine Liebe? Ich muss sagen, Sie sehen aus, als könnten Sie es gut gebrauchen.«
»Aber ich … danke.« Colleen nahm das ihr angebotene Weinglas.
»Nicht der beste von Asher Storey, aber zum Lunch ist er gut genug.« Elizabeth suchte und entdeckte schließlich einen Stift auf dem Tisch. »So, dann will ich Ihnen mal etwas in dieses Buch schreiben.«
»Danke schön.« Colleen nahm das Buch aus dem Umschlag und reichte es ihr.
Elizabeth sah die blauen Flecken, die Verbrennung an Colleens Handgelenk. Colleen bedeckte rasch die dunkelrote Narbe. »Das war ein Unfall«, sagte sie.
»Das ist es immer«, sagte Elizabeth ruhig und blickte zu Colleen auf.
»Es tut mir leid, Mrs David«, rief eines der Mädchen von der Treppe, »das Kind schreit Zeter und Mordio. Es gibt schon einen kleinen Auflauf.«
»Ich muss los«, sagte Colleen.
»Wem soll ich es widmen?«, fragte Elizabeth.
»Coll…«, begann sie, dann unterbrach sie sich. »Nein. Keinen Namen. Würden Sie es einfach signieren?«
»Natürlich.« Elizabeth David schrieb ihren Namen schwungvoll auf das Frontispiz und reichte ihr das eselsohrige Exemplar von Italian Food. »Häufig in Gebrauch, wie ich sehe?«
»Es gehörte meiner Mutter.« Colleen strich über den eingerissenen und fleckigen Einband. Die Illustration, Artischocken, eine Korbflasche mit Rotwein, im Hintergrund ein tiefblaues Meer und ein warmer Sonnenuntergang, verhieß viel – das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Sie sah zu Mrs David auf, der Frau, die alles war, was sie sein wollte – selbstsicher, elegant, reserviert. Colleen wäre am liebsten genau wie sie. »Sie hat es geliebt, genau wie ich.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Elizabeth. »Viel Spaß beim Kochen.«
Darcy rollte die kurvige Straße hinunter, den Wind in den Haaren, und nur das Surren ihrer Reifen durchbrach die Stille. Es war ein gutes Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Die Fahrradtour über die ihr vertrauten Wege hatte den letzten Rest ihres Jetlags vertrieben, und ihre Wangen glänzten. Auf ihrem gestreiften Baumwoll-T-Shirt und den ausgewaschenen Jeans funkelten frische Regentropfen. Sie schüttelte die Haare aus, als sie bei dem breiten Steinbogen am Eingang des Hotels vom Fahrrad sprang, wo zwei Arbeiter gerade ein Banner aufhängten: Willkommen bei »Irland sucht den Superkoch«.
»Guten Morgen«, begrüßte sie Conor, der am Empfang die Buchungen für diesen Tag überprüfte. Sein Windhund kam herbeigetrottet und stupste sie schwanzwedelnd mit der Schnauze an der Hand. »Wir haben wohl viel zu tun?«
»Es ist zu ruhig, um sich entspannt zurückzulehnen. Aber seit sie Werbung für die neue Serie machen, kommen wieder mehr Reservierungen herein.« Conor steckte sich einen Bleistift hinters Ohr und ging hinaus. Er blickte an Darcy vorbei auf einen pinkfarbenen Käfer, der direkt hinter ihr gehalten hatte.
»Wenn du Hilfe brauchst …«, begann Darcy.
»Lassen Sie mich raten«, unterbrach eine Frauenstimme. Als Darcy sich umdrehte, sah sie einen roten Ballerinaschuh aus der Autotür ragen, gefolgt von dem ausgestellten Rock eines pastellblauen Teekleids. »Conor Ricci?« Die Frau schreckte zurück, als der Hund die Ohren anlegte und sie anknurrte.
»Weg mit dir, Jake.« Der Hund zog sich hinter Conor zurück und legte sich auf den Boden. Die Frau streckte Conor die Hand entgegen. Ihre langen, wasserstoffblonden Haare waren im Nacken mit einer mit Rosenknospen getupften Samtspange zusammengesteckt, ihre Augen verbargen sich hinter einer Cat-Eye-Sonnenbrille. Sie nahm sie ab und warf einen kurzen Blick auf Darcy, während sie sich eine weiße Kaschmirstrickjacke über den Schultern zurechtzog. Ihre Augen waren blassblau, genau wie ihr Kleid, wie das Fell eines Huskys, umrahmt von rußschwarzen Wimpern und einem mit flüssigem Eyeliner perfekt gezogenen Lidstrich. »Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen. Ich bin Bea Lavender.«
»Guten Tag«, sagte Darcy.
»Ich bin gerade mit dem Auto aus London gekommen. Wahrscheinlich brauche ich erst einmal ein paar Paracetamol – mein Rücken!«
»Das tut mir leid«, sagte Conor.
»Das ist offenbar eine Berufskrankheit, nicht wahr?« Bea lächelte zu ihm auf.
»Kommen Sie erst mal rein, dann holen wir den Erste-Hilfe-Kasten«, sagte Darcy.
»Wären Sie so nett, mir zu helfen, diese Körbe zum Empfang zu tragen?« Der Duft von frisch gebackenem Kuchen wehte Darcy entgegen, als Bea die Kofferraumhaube öffnete – Muskatnuss, Zimt, köstlich und warm.
»Aber natürlich«, sagte Darcy und spannte die Muskeln an, als Bea sie mit schweren Korbtabletts belud. »Das riecht ja wundervoll.«
»Ach, gut. Dann sehen wir mal, ob ich Sie in Versuchung führen kann.« Bea schloss den Wagen ab. Dann schlenderte sie voraus und plauderte mit Conor, ein baumelndes Körbchen an der Hand.
»Guten Morgen.« Diana betrat die gelbe Küche. »Ist die neue Konditorin schon da? Beatrice?«
»Ist sie das?«, sagte Darcy. Sie spürte Conors Blick auf sich ruhen. »Dieses kleine Retrofräulein hat dich ja voll und ganz in Besitz genommen – wie ein Ausschlag.«
»So ein Unsinn.« Conor lächelte, sodass seine dunklen, stoppeligen Wangen Grübchen bekamen.
»Ich bin in der Restaurantküche auf sie gestoßen und habe ihr gesagt, sie soll herkommen«, sagte Diana mit einer leichten Handbewegung. Zwei verblichene eintätowierte Schwalben umkränzten ihr Handgelenk.
»Was hast du dir denn dabei gedacht, noch Leute einzustellen?«, fragte Conor und angelte sich eine Scheibe Toast aus dem abgenutzten silbernen Dualit-Toaster, ließ sie auf einen Teller fallen und wedelte mit den Fingern. »Ernsthaft, sie macht sich furchtbare Sorgen wegen der Zahlen«, sagte er zu Darcy. »Was sollen wir jetzt mit einer neuen Konditorin?«
»Wir brauchen sie für die Sendung.« Diana presste die Lippen zusammen.
»Gibt es Kaffee?«, fragte Darcy.
Diana zeigte auf den Gastronomiebehälter Nescafé neben dem Wasserkessel.
»Wenn der für Elizabeth gut genug war, mein Schatz …«, sagte Diana, als Darcy das Gesicht verzog.
»Die geheiligte Elizabeth David«, sagte Darcy und suchte im Küchenschrank nach einer Cafetière.
»Wer ist dieses Mädchen?«, fragte Conor.
»Sie hat für Jonny gearbeitet«, sagte Diana.
»Für Jonny Fish oder für den toten Jonny?«
»Jetzt heißt es Daffyd Fish. Ist dir heute Morgen nicht der kleine Waliser aufgefallen, der die Bestellung vorbeigebracht hat?«, fragte Diana. »Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, einen neuen Fischhändler zu finden. Jonny Fish hat verkauft. Ich spreche von dem toten Jonny.«
»Also JJ? Meinem besten Freund?« Conor blickte auf, als es am Küchenschrank krachte.
»Pass auf, Darcy«, sagte Diana. Sie verzog verärgert die Stirn. »Du warst schon als Kind immer tollpatschig.«
»War ich nicht«, widersprach Darcy entrüstet. Sie sammelte die Glasscherben auf. »Das war nur ein Werbegeschenk von der Tankstelle, noch verpackt. Warum hortest du dieses Zeug, das du nie benutzt? Hier drinnen findet man ja überhaupt nichts.« Sie zuckte zusammen, als sie die Scherben in den Mülleimer warf, und saugte an ihrem Finger.
Conor winkte sie zur Spüle.
»Du solltest mal sehen, wie es in den Zimmern deiner Mutter aussieht …«, sagte er.
»Halte mir keine Vorträge, Conor«, sagte Diana.
»Stapelweise Bücher und Zeitungen, jede Steckdose ist besetzt mit Lampen und Handyladegeräten, die Schränke sind voll mit Zeugs.« Er zeigte auf Diana. »Ich sage ihr ständig, sie muss mal richtig entrümpeln.«
»Danke.« Darcy blickte zu Conor auf, der ihr ein blaues Pflaster aufklebte. »Ich war wirklich nicht tollpatschig. Aber ich habe es jahrelang geglaubt, weil sie es mir eingeredet hat …«
»Ich glaube nicht, dass Jonny Fish echte Freunde hat«, unterbrach Diana sie, und Darcy widmete sich wieder dem Küchenschrank. »Er hat irgendwas Kaltblütiges an sich. Fischhändler haben irgendwie nie Glück in der Liebe, was meint ihr? Fleischer hingegen …«
»Da ist er«, sagte Darcy und hielt triumphierend den Kaffeebereiter hoch. »Ich wusste doch, ich habe dir einen zu Weihnachten geschickt. Was macht der denn im Schrank bei dem ganzen Ramsch?«
»Ach ja. Im Kühlschrank ist vielleicht noch ein bisschen Blue Mountain.« Diana zeigte hin.
»Blue Mountain?«, fragte Darcy überrascht.
»Der Vertreter hat uns ein paar Bohnen zum Probieren dagelassen.« Conor verschränkte die Arme. »Es war nicht so, dass deine Ma im Großmarkt plötzlich durchgedreht wäre.« Mit einem Lächeln lehnte er sich an die Theke und spannte geschmeidig die Unterarmmuskeln an. Diana sah zu Darcy hin. Irgendetwas war an der Art, wie sie Conor anblickte. O Gott, das könnte Probleme bedeuten. Sie erinnerte sich, wie er Darcy als Kind in die Arme genommen hatte. Damals hatte sie gespürt, dass Darcy sich bei ihm sicher fühlte. Rasch blickte sie von Darcy zu Conor. Er hatte es nicht bemerkt. »Also, wegen dieser Konditorin. Ich weiß, sie tut dir leid, aber ich finde, wir sollten sie auf Probe einstellen, okay? Erst mal sehen, ob sie reinpasst. Du bist doch einverstanden, oder?«
»Wie bitte?«
»Ich meine, was wissen wir denn schon über sie? Sie sagt, ihre Bäckerei hätte Jonnys Restaurant beliefert, aber er kann ihr nun mal kein Zeugnis ausstellen, möge seine Seele in Frieden ruhen.« Er nahm ein schmales, scharfes Messer zur Hand, holte eine Zitrone aus der blau-weißen marokkanischen Schüssel auf der Theke und schnitt sie flink durch, sodass ihr Duft den Raum erfüllte, während er die dünnen Scheibchen auf dem Schneidbrett auffächerte. Er gab eines in eine Porzellantasse.
»Wenn sie für Jonny gut genug war, dann ist das gut genug für mich«, sagte Diana.
»Tja, da hilft nur die Puddingprobe.«
»Genau – Probieren geht über Studieren.« Beatrice stand in der Tür. Sie trug eine strahlend weiße Schürze über ihrem Sommerkleid, die in der Sonne hell strahlte, und ihre blonden Haarschwänzchen glänzten. Sie hatte einen Weidenkorb dabei, der mit einem Stofftuch bedeckt war.
»Und wo ist denn das rote Mäntelchen dazu?«, fragte Conor.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich nicht der Wolf bin?« Sie hielt den Blick lange genug auf Conor gerichtet, um sich seiner vollen Aufmerksamkeit gewiss zu sein, dann wandte sie sich Darcy zu. »Es tut mir leid, dass ich Sie gerade eben nicht erkannt habe. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich liebe Ihre Posts auf Appetite, Darcy«, sagte sie. »Darf ich Darcy zu Ihnen sagen?«
»Klar«, meinte sie.
»Machen Sie gerade Tee?« Beatrice warf einen Blick auf den orangefarbenen Wasserkessel auf dem Herd, der schrill pfiff. »Perfektes Timing.«
»Darcy will lieber Kaffee, Di und ich trinken Tee. Was hätten Sie gerne?«, fragte Conor.
»Kamillentee, wenn Sie welchen haben. Koffein vertrage ich nicht, da werde ich immer so aufgedreht.« Beatrice kicherte und imitierte mit aufgerissenen Augen eine Explosion.
»Faszinierend. Setzen Sie sich doch.« Diana zeigte auf einen leeren Stuhl. »Wie war die Reise?«
»Ich bin direkt aus London gekommen, mit der Fähre von Fishguard aus. Die Überfahrt war ganz in Ordnung, eigentlich sogar ziemlich ruhig. Danke.« Beatrice betrachtete ihre Hände. »Verzeihen Sie. Ich rede zu viel. Ich bin einfach nervös. Ich freue mich so, Sie beide endlich kennenzulernen.« Sie blinzelte. »Ich bin nämlich ein großer Fan. Ich bin in der Küche meiner Mutter mit Ihren Büchern, Mr Ricci, und Ihren, Mrs Hughes, groß geworden. Sie hat ständig von Ihnen geredet.«
»Wie reizend.« Diana fasste sich an die Haare. Wie immer, wenn sie von einem Fan, der Lob über sie ausschüttete, in die Enge getrieben wurde, war sie verlegen.
»Cooles Tattoo.« Beatrice zeigte auf Dianas Handgelenk. »Willow Pattern, stimmt’s?«
»Ja.« Warum sind die jungen Leute so unhöflich, so persönlich?, dachte Diana. »Damals war das etwas ganz Besonderes. Heute hat jeder eines.« Sie rieb über die Vögel. »Es ist schon ziemlich verblichen. Ein Überbleibsel aus einem anderen Leben.« Sie zog sich den Ärmel herunter. »So, wollen wir?«
Plötzlich wurde die Hintertür aufgerissen, und ein braun gebrannter, blonder kleiner Junge kam barfuß in die Küche gerannt. »Hallo, Dad. Didi.« Er ließ seinen Matchbeutel neben die Hintertür fallen und umarmte Diana, bevor er zu seinem Vater ging. »Gibt es was zu essen? Ich hab so einen Hunger.«
»Chris? Ich hatte erst heute Abend mit dir gerechnet.« Conor fuhr ihm durch die Haare.
»Mami hatte Gäste. Sie meinte, du hättest bestimmt nichts dagegen.«
»Hallo, Chris«, sagte Darcy und drehte sich auf ihrem Stuhl, sodass sie auf Augenhöhe mit dem Jungen war.
»Hey«, sagte er. »Hast du uns vermisst?«
»Sooo sehr«, erwiderte sie und breitete die Arme aus.
»Wer bist du denn?« Der Junge sah Beatrice mit zusammengekniffenen Augen an.
»Jetzt sei nicht unhöflich.« Conor legte ihm die Hand auf die Schulter. »Entschuldigung.«
»Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Beatrice beugte sich zu dem Jungen hinunter und lächelte. »Ich bin Bea.«
»Also, ich hab Hunger«, sagte Chris.
»Dann komm doch mal her und schau dir an, was ich hier habe.« Beatrice öffnete ihren Korb.
»Oder soll ich ihm Toast machen?«, sagte Darcy zu Conor. Sie sprang auf, schob zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster und stellte die Zeituhr ein. »Es tut mir leid«, sagte sie leise zu ihm. »Ich habe von deiner Scheidung gelesen.«
»Hast mich wohl nicht aus den Augen gelassen?«
»An dir kommt man ja kaum vorbei.« Darcy lächelte, ohne ihn anzusehen. »Du stehst ständig in allen Zeitungen.«
»Das gehört nun mal leider dazu«, sagte Conor schulterzuckend.
»Du und Alannah seid zu jung zusammengekommen«, mischte sich Diana ein, »und ihr wurde es langweilig, jeden Abend zu warten, bis du aus der Küche nach Hause kommst.«
»Kein Wunder, dass sie sich einen anderen gesucht hat«, sagte Conor leise.
»Wirklich?«, fragte Darcy.
»Davon hast du nichts in der Zeitung gelesen, wie?« Conor warf einen kurzen Blick zum Tisch, wo sich Chris lebhaft mit Bea unterhielt. »Ich kann Alannah das nicht zum Vorwurf machen, und ich wollte unsere schmutzige Wäsche nicht von den Boulevardzeitungen waschen lassen.«
»Das war nett von dir«, sagte Diana.
»Findest du?« Der Toaster klingelte. Darcy nahm den heißen Toast heraus, strich Butter darauf und reichte Chris den Teller.
»So. Jetzt haben Sie die Familie kennengelernt«, sagte Diana zu Beatrice und bedeutete ihr, sich an den Tisch zu setzen. »Wie am Telefon bereits erwähnt, möchte ich Ihnen ein geschäftliches Angebot machen.«
»Ich würde wahnsinnig gerne mit Ihnen zusammenarbeiten.« Beatrice errötete. »Hoffentlich bin ich jetzt nicht voreilig. Ich bewundere Sie sehr. Ich bin Ihr größter Fan.« Mit klarem Blick sah sie Diana unverwandt an. »Es gehört zu meinen frühesten Erinnerungen, wie wir einmal einen Vortrag von Ihnen besucht haben, meine Mutter und ich. Sie haben ihr danach das Buch signiert, das seitdem zu Mums größten Schätzen gehört …«
»Wie rührend.« Diana versuchte, ihr ins Wort zu fallen.
»Sie … sie ist gestorben, vor Kurzem erst.« Beatrice senkte den Kopf.
»Herzliches Beileid.« Conor trank einen Schluck Tee. »Haben Sie Geschwister?«
»Nein.« Beatrice faltete die Hände. »Ich bin ein Einzelkind«, sagte sie mit zitternder Stimme. Alle schwiegen betreten, und Diana blickte Conor mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hasste Dramen und öffentliche Szenen.
»Wo wurden Sie ausgebildet?«, fragte er Beatrice.
»Ich habe mir erlaubt, meinen Lebenslauf auszudrucken.« Sie zog ein Blatt Papier aus ihrem Korb. »Ich habe auch ein paar Kostproben von meiner Arbeit dabei.«
»Bea Lavender?« Diana fuhr mit dem Daumen über die geprägte helllila Biene auf dem Briefkopf.
»Meine Freunde nennen mich Hummelchen.«
»Sie haben eine Cordon-bleu-Ausbildung?«, fragte Conor. »Warum dann Cupcakes?«
»Ich liebe das Backen, so einfach ist das«, sagte Beatrice. »Für mich war es eine Berufung, als Konditorin zu arbeiten.« Sie sah Conor in die Augen. »Es ist eine Kunst, eine schöne Speise zu erschaffen, und ich liebe das. Ich leite gerne ein Team. Sie könnten mich in der Küche sicherlich vielseitig einsetzen.«
»Ma hat gesagt, Sie haben mit Jonny zusammengearbeitet?«, sagte Darcy.
»Ja, meine Firma hat alle Kuchen und Desserts für seine Cafés geliefert. Die High-End-Kreationen für seine Restaurants hat natürlich sein Team hergestellt, aber für die alltäglichen Backwaren hat er Lavender Cupcakes beauftragt. Zumindest, bis …« Beatrice sah auf ihre Hände. »Hören Sie, ich möchte Sie nicht anlügen. Ich habe meine Firma so richtig in den Sand gesetzt. Ich habe darauf vertraut, dass Jonnys Unternehmen uns bezahlt, weil ich ihn mochte. Ich meine – jeder mochte ihn doch.« Sie sah Darcy an, die in ihre Kaffeetasse starrte und den Bodensatz schwenkte. »Sie haben uns viel Geld geschuldet, und ich ging pleite. Normalerweise stelle ich mich klüger an, aber Mums Tod hat mich sehr mitgenommen, sodass ich nicht darauf geachtet habe, was unter dem Strich übrig blieb.« Sie atmete tief durch. »Aber man kann nicht in der Vergangenheit leben. Ich hoffe auf einen neuen Anfang.«
Diana musterte sie aufmerksam. »Das haben wir alle gelegentlich einmal nötig.« Sie griff nach einer Gabel und bedeutete Beatrice, die Zellophanschachtel zu öffnen. »Was haben wir denn da?«
»Nichts Ausgefallenes. Ich dachte, ich demonstriere Ihnen ein paar Klassiker, aber ich backe Ihnen gerne alles, was Sie wollen. Ich habe mir erlaubt, ein paar Bleche Kuchen mitzubringen, den Sie den Gästen vorsetzen können, die zum Nachmittagstee kommen.«
»Sie stehen in der Restaurantküche«, sagte Darcy.
»Und hier haben wir einen Devil’s Food Cake, einen New York Cheesecake und einen Black Velvet Cupcake.«
»Black Velvet?«, fragte Darcy.
»Versuchen Sie mal«, sagte Beatrice. »Guinness, sündhaft dunkle Schokolade, Champagnerglasur und essbares Blattgold. Das ist sozusagen meine Spezialität.«
»Cupcakes, das ist ja wirklich ein Phänomen«, meinte Conor.
»Es dreht sich alles ums Begehren.« Beatrice hielt ihm eine Gabel hin.
»Unsinn. Das ist doch nur ein Kuchen, ein kleines Törtchen.«
»Das ist nicht nur ein Kuchen.« Sie fuchtelte mit der Gabel herum. »Was fällt Ihnen ein!«
»Es geht um Menschen, die nicht erwachsen werden wollen«, sagte Diana. »Und wenn sie das hier haben wollen, dann bekommen sie es von uns.«
Beatrice lachte leise. »Vielleicht haben Sie recht. Die Menschen brauchen ein bisschen Trost in dieser unsicheren Welt. Jeder darf sich ab und an etwas gönnen. Die Leute kommen zu uns, weil sie ein Stück Kuchen wollen, und gehen mit einem Teil ihrer Kindheit hinaus.« Conor nahm eine Gabel und brach den Black Velvet Cake auseinander. »Das sind vielleicht nur kleine Cupcakes, aber wir schenken den Menschen ein Gefühl der Sicherheit, Freude …« Beatrice’ zischelnde Stimme war hypnotisch, sie nahm Diana gefangen. »Die Menschen assoziieren das Backen mit einer einfacheren, leichteren, schöneren Zeit.«
Diana beobachtete Conors Reaktion. Er hob die Augenbrauen, betrachtete die Konsistenz, die Textur, hielt ihn sich an die Nase und schnüffelte mit geblähten Nasenflügeln. Mit geschlossenen Augen schob er sich die Gabel in den Mund. Diana wartete. Schließlich spitzte er die Lippen und nickte.
»Herrgott«, sagte Darcy. Sie verdrehte die Augen, während sie ein Stückchen von dem Black Velvet Cake kaute. Beatrice wartete, die Hände vor sich gefaltet. Diana stocherte in dem Kuchen herum und probierte wortlos von dem Biskuit und dem Topping.
»Und?«, fragte Beatrice in die Runde.
»Nicht schlecht.« Conor legte seine Gabel weg. »Sie verstehen auf jeden Fall etwas von Ihrem Handwerk.«
»Das ist auch meine Meinung. Mehr als hinreichend«, fügte Diana hinzu. Sie widerstand der Versuchung, noch einen weiteren Bissen zu essen.
»Gut.« Beatrice lächelte alle nacheinander an und legte die Hände auf den makellosen Rock ihres Sommerkleids. »Aber jetzt sagen Sie mir doch einmal, was Sie genau brauchen.«
Diana lehnte sich zurück. »Ich nehme an, Sie haben die letzte Fernsehserie gesehen?«
»Meisterbäcker«, sagte Conor.
»So heißt sie doch nicht.« Darcy lachte lauthals.
»Die Jungs und ich nennen sie so.« Conor sah Beatrice an. »Irland sucht den Superkoch. Wir suchen einen Amateurkoch mit echtem Potenzial, einen Mann oder eine Frau, der oder die für sein oder ihr Gericht die besten regionalen Produkte verwendet. Jemand, dessen Küche Charakter hat und heimatliche Gefühle weckt.«
»Also, ich habe alle Folgen von Diana Hughes – ganz privat verschlungen, und mir gefällt das aufpolierte Image der Fernsehsendung«, sagte sie zu Diana. »Sehr natürlich.«
»Genau darauf haben wir auch mit dem Contest abgezielt«, unterbrach Diana. »Etwas Frisches. Und da kommen Darcy und Sie zum Zug. Zwischen den Aufnahmen von den Amateurköchen, die sich für den Preis von Irland sucht den Superkoch bewerben, möchten wir Einspielfilme mit uns vieren zeigen, in denen wir bestimmte Gerichte präsentieren. Jeder von uns soll mit einem Menü aufwarten und seine Talente präsentieren.«
»Ich soll im Fernsehen auftreten?«, fragte Beatrice mit großen Augen.
»Das wird nichts allzu Förmliches. Conor wird im Restaurant gefilmt. Darcy, ich dachte, du könntest dich auf frische, regionale Produkte spezialisieren – dabei kannst du gut deine Kenntnisse aus dem Chez Panisse anwenden.« Darcy nickte. »Beatrice, Sie würden das Backen übernehmen, und ich gebe Tipps zum entspannten Empfang von Gästen zu Hause.«
»Das klingt aufregend«, sagte Beatrice.
»Das Filmteam kommt hierher, um im Lauf der nächsten Wochen unsere Einspielfilme und die letzten Folgen des Contests zu drehen. Sie sind sicher schon darauf gekommen, dass hier alles gerade ein bisschen … schwierig ist.« Diana zeigte auf ihren Arm.
»Wie kann ich helfen?« Beatrice blickte sie durchdringend an. Dianas Magen verkrampfte sich. Da war etwas in ihrem Blick. Sie konnte es nicht ganz festmachen. Sei nicht albern, redete sich Diana ein. Das Mädchen ist einfach nur nervös. Schau sie dir doch an, das ist eine nette junge Frau, die einen Job sucht und einen neuen Anfang wagen will. Jeder muss einmal eine zweite Chance bekommen.
»Eigentlich brauche ich jemanden, der ich ist.« Diana blickte zwischen Darcy und Beatrice hin und her. »Also wirklich, was die sozialen Medien betrifft – ich habe keine Ahnung, wie ich online mit Leuten in Kontakt kommen soll, um für die Sendung zu werben, und ich habe auch kein Interesse daran, es zu lernen. Was meinen Sie?«, fragte Diana.
»Wann kann ich anfangen?«, sagte Beatrice.
»Moment mal«, sagte Conor. »Wir stellen Sie auf Probe ein. Wir müssen uns erst einmal Ihre Referenzen ansehen …«
»Ach komm«, sagte Diana, »wir haben sie auf Jonnys Beerdigung kennengelernt, sie hat mit ihm zusammengearbeitet, was brauchst du denn noch?« Diana zeigte auf den Tisch. »Du hast das hier probiert.« Conor trommelte mit den Fingern auf seinen Arm und runzelte die Stirn. »Miss Lavender schickt der Himmel. Willkommen auf Castle Dromquinna, Beatrice.«
Ende der Leseprobe