Die Schule der Redner - Johann Seeger - E-Book
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Die Schule der Redner E-Book

Johann Seeger

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Beschreibung

Die Meister der Worte

Mitteleuropa im Jahr 1246. Der Junge Leon, ein in Ungnade gefallener Neffe des deutschen Fürsten Rudolf von Habsburg, wird mit einer gefährlichen Mission betraut: Er soll ein geheimnisvolles Buch in Sicherheit bringen, das dem, der es zu deuten weiß, zu großer Macht verhelfen wird. Unter Einsatz seines Lebens gelingt es Leon, die Schrift an einer rätselhaften Schule für Redekunst nahe St. Gallen abzuliefern. Leon wird als Schüler aufgenommen. Doch selbst hinter den Mauern des mächtigen Ordens sind er und seine neuen Freunde nicht sicher. Welches Geheimnis birgt die alte Schrift? Und wer ist offensichtlich bereit, dafür zu morden?

»Ein historischer Abenteuer-Roman mit allem, was dazu gehört: Kampf, Liebe, Verrat, Freundschaft, ein uraltes Geheimnis – und ganz nebenbei auch noch ein spannendes Rhetorik-Seminar. Klasse!« Oliver Pötzsch

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Seitenzahl: 966

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Das Buch

1246: Die Welt ist ohne Kaiser. Ritter, Fürsten und Könige herrschen mit Willkür und Gewalt. Sie verwüsten das Land, erschlagen Bauern und Vieh, verbrennen Felder und Wald. Kein Gericht gebietet ihnen Einhalt.

Die Brüder Richard und Leon leben in der Obhut ihres Onkels Rudolf. Während Richard der kampfbegabtere der beiden ist, zeigt Leon ein ausgesprochenes Talent für die Kunst der Rede. Sein Onkel lässt ihn daher durch den greisen Lehrer Albert von Breydenbach fördern und unterrichten. Durch ihn erfährt Leon von der Existenz eines geheimnisvollen Buches, das demjenigen, der es besitzt, die Macht über andere Menschen verleiht. Noch ahnt Leon nicht, wie eng sein eigenes Schicksal mit der alten Schrift verknüpft ist …

Der Autor

Johann Seeger wurde 1966 unter dem Namen Jürgen Schulze-Seeger in einer mittelalterlichen Kleinstadt in Hessen geboren. Seit über dreißig Jahren ist er Unternehmer, Autor und Trainer in der Welt der Rhetorik. Die Macht der Manipulation und die geheimen Gesetzmäßigkeiten der Beeinflussung – in diesem historischen Roman vereint er die Welt des Mittelalters und das Wissen um die dunkle Seite der menschlichen Sprache.

JOHANN SEEGER

Die

Schule

der Redner

HISTORISCHER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Jürgen Schulze-Seeger

Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Lars Zwickies

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung einer Illustration von: © Universitätsbibliothek Heidelberg »Herr Hartmann von Aue, Große Heidelberger Liederhandschrift, Codex Manesse (Cod. Pal. germ. 848); fol. 184v, Zürich, ca. 1300 bis ca. 1340«

(https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0364/image)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23196-5V004www.heyne.de

Für Inke, Finn und Ben

Dramatis Personae

Auf der Habsburg

Leon, ein Neffe Rudolfs von Habsburg. Entdeckt die Macht der Sprache und gerät hierdurch in enorme Schwierigkeiten.

Albert von Breydenbach, Zisterziensermönch und Leons Rhetoriklehrer. Ein Mann mit undurchsichtiger Vergangenheit.

Uther, Rudolfs Vogt und Gegenspieler Leons. Besessen von der Gier nach Macht.

Richard, Leons Bruder und (leider) eher ein Mann der Tat als der Worte.

Cecile, Fürstentochter Burgunds und versprochene Braut Rudolfs. Verliebt sich in Leon, nicht ganz ohne dessen Zutun.

Catherine und Mona, Ceciles Kammerzofen. Eine davon eine Verräterin.

Odo und Philipp, Ceciles Brüder und treue Freunde Richards.

Im Wald

Flint, junger Wilderer, vollkommen resistent gegen den Einfluss von Sprache und Stimme.

Anna und John, Flints Eltern.

An der Schule der Redner

Maraudon, Rektor, Meister im Haus des Willens, ein Greis von großem Einfluss.

Heraeus Sirlink, Meister im Haus des Weges (Strategie und List), verstrickt sich gern in eigenen Listen.

Hofmann, Meister im Haus des Krieges, Mentor Leons und Berater des Kaisers.

Borkas, Meister im Haus des Wissens, trinkfreudiger Denker mit Willen zur Aufklärung.

Jafira, Meisterin im Haus der Haltung, geheimnisvolle Orientalin, Hüterin der letzten Weisheit.

Berthold, der Cellerar der Schule.

Agnes, die Köchin und eigentliche Herrscherin über Schüler und Lehrerschaft.

Sally und Ezra, »Salz« und »Pfeffer«; Küchenmädchen, Agnes’ rechte und linke Hand.

Die Schüler

Ben, Sohn jüdischer Kaufleute aus Fulda, der Schlauste und Belesenste von allen.

Konni,kommt überall rein und überall raus. Birgt ein großes Geheimnis.

Hindrick,Widersacher Leons. Immer da, wenn man ihn gerade gar nicht gebrauchen kann.

Wolfger,Handlanger Hindricks, gefühllos und gefährlich.

Angus,schweigsamer Kelte mit Kraft in den Armen.

Die drei Peter, Drillinge.

Astrid,braucht keine Redekunst, um andere zu manipulieren.

Historische Personen

Bernhard von Clairvaux (1090–1153), einfacher Abt mit ungeheurem Einfluss, Meister der honigfließenden Rede.

Gottfried von Auxerre (1120–1188), Sekretär Bernhards und Hüter dunkler Geheimnisse.

Friedrich II. (1194–1250), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, auf der Suche nach der Ursprache Gottes.

Rudolf von Habsburg (1218–1291), unbedeutender Graf mit plötzlichem Aufstieg, Gründer der Habsburger Dynastie.

Einige weitere Kirchenlehrer und Gelehrte, welche in die Geschicke der geheimnisvollen Schrift verwickelt sind: Petrus Abaelard (1079–1142), Malachias (1094–1148), Franz von Assisi (1181–1226), Antonius von Padua (1193–1231), Albertus Magnus (1200–1280), Thomas von Aquin (1225–1274), Roger Bacon (1220–1292).

Antike Personen und Mythen

Hermes Trismegistos,dreifacher Meister, in der Mythologie Alchimist, Priester und Erfinder der Schrift. Bei den Griechen als Gott verehrt.

Hanifa,Diebin – die beste des ganzen Hafenviertels.

Der Bund der Erben,Behüter des Wissens um die Schriftrolle des Trismegistos und deren Abschriften.

Der Alte vom Berg,Anführer der Nizariten und Herr über eine Armee von Assassinen.

Johannes der Täufer,Lehrer Christi. Ermordet.

Jesus von Nazareth,Sohn Gottes. Redebegabt.

»Worte bedeuten Macht.

Sie vermögen es,

große Reiche zu schleifen

und das Antlitz der Welt

zu wandeln.

Wer die Worte beherrscht,

beherrscht die Welt.«

Aus den Aufzeichnungen des Gottfried von Auxerre,

Sekretär des heiligen Bernhard von Clairvaux,

Anno Domini 1196

Ich lege Dir ans Herz, mich zu vergessen. Denkst Du an mich, während Du dies liest, wird der Blick Dir verstellt sein. Ich erzähle Dir eine Geschichte. Ein Teil von Dir und mir ist in ihr verwoben. Sie fand ihren Ursprung vor sehr langer Zeit, ihren Ausgang erst vor wenigen Jahren.

Doch zuvor beschwöre ich Dich: Vergiss mein Antlitz. Vergiss den Klang meiner Stimme. Vergiss meinen Duft. Die Ereignisse, so wie sie waren und so wie sie sind, sie kämen Dir nicht vor Augen. Lösche alle Erinnerung an gemeinsame Tage, so wie Du das Licht der Kerze zur Nacht erlöschen lässt. Ich selbst bin nicht mehr von Bedeutung.

Was ich hingegen schildere, ist die Wahrheit. Sie verdient Deine Aufmerksamkeit. Jetzt, da ich dies berichte, ist ein Teil der Geschichte für immer vergangen und vergessen. Fortgetragen und verloren im Ganzen, wie ein Tropfen Tinte, gefallen in einen großen Fluss.

Ich aber habe – mehr als das – nie existiert.

Prolog

Deus vult! – Gott will es!

Vézelay, 31. März 1146, Ostersonntag

Tausende waren gekommen. Eine Heerschar von Leibern vor den Mauern der Stadt. Das Volk. Menschen aus allen Teilen des Landes, die Gesichter einem einzigen Punkte zugewandt: dem hölzernen Podium, das in aller Eile auf offenem Feld errichtet worden war. Sie waren gekommen, um den Heiligen zu sehen. Und mit ihm die Geistlichen, Kardinäle und Bischöfe in vollem Ornat. Selbst der König war hier.

Und alles Volk hoffte, der Heilige möge das Wort an sie richten und ein weiteres Wunder wirken. Erlösung aus dem Elend und das Ende der Gräuel, die sie einander zu Lebzeiten antaten. Sie ersehnten ein Zeichen der Gnade und die Vergebung ihrer Sünden. Denn es hieß, Gott selbst spreche und wirke durch ihn.

Auch Gottfried war gekommen. Es war ein gefährlicher Weg von Auxerre bis hierher. Drei Tage entlang des Flusses Yonne nach Süden. Er hatte in heruntergekommenen Herbergen genächtigt, dafür jedes Mal zu viel Geld gezahlt und war noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um rechtzeitig hier in Vézelay anzukommen. Der heutige Tag war ungewöhnlich warm. Gottfried drängte sich durch die Menge nach vorne. Schweiß lief ihm über den Nacken hinab und hinterließ dort kleine Rinnen im Staub. Um ihn herum stank es nach ungewaschenen Leibern. Zwiebel- und Knoblauchatem wehte ihn an. Hier und da stank es nach Erbrochenem und dort, wo jemand seine Notdurft achtlos inmitten der Menge verrichtet hatte, nach Exkrementen.

Gottfried sah angewidert auf Ekzeme, Geschwülste und schwärende Beulen an schmutzigen Hälsen. Münder mit faulenden Zähnen. Pack und Pöbel in dreckigen Lumpen. Das Ebenbild Gottes?, dachte Gottfried. Sie unterscheiden sich in Wahrheit nicht von dem Vieh. Er drängte weiter, schob Männer, Frauen und Kinder beiseite, um näher an das Podium zu gelangen. Gottfried war ein großer Mann und überragte die meisten Menschen hier. Sein dunkles, an vielen Stellen ergrautes Haar war lang und gewellt, doch man konnte auf seinem Scheitel die Reste einer Tonsur erkennen. Bis vor Kurzem war er ein Mönch gewesen. Sein Gesicht war hager und sein rechtes Auge weiß wie Milch.

Nun ging es nicht mehr weiter. Gottfried stand, eingezwängt in einer Gruppe von Bauern, am seitlichen Rand des Podiums. Über ihnen flatterten und knallten Banner im Wind. Einer der Kerle neben Gottfried brummte etwas, das wie ein Fluch klang. Ein anderer antwortete in einem Dialekt, den Gottfried nicht kannte und nicht verstand. Er verdrehte den Kopf, um die Menge zu überschauen. Das Gelände war riesig, und es mochten weit über zehntausend sein, die hier und an den sacht ansteigenden Hängen um die Felder herum dicht gedrängt standen. Noch immer strömten an den äußeren Rändern weitere Menschen hinzu. Man hatte von den Wundern gehört, die das bloße Vernehmen der Stimme Bernhards und seine Gegenwart bewirkten. Geschichten wurden erzählt. Von Verzagten und Schwachen, die mit einem Mal von Mut und Stärke erfasst sein würden, als habe man sie wie einen zuvor leeren Kelch damit angefüllt. Sieche und Gebrechliche, die geheilt wurden. Blinde, die mit einem Male sehen konnten. Ein Heiliger. Schon jetzt, dachte Gottfried. Er wusste um die Quelle, der Bernhards Überhöhung entsprang. Kannte sein Geheimnis. Seine Absicht. Und es graute Gottfried bei dem Gedanken daran.

Selbst auf dem Podium herrschte Gedränge. Als die Oberen der Stadt am Vortag erkannt hatten, dass der Platz in der Kathedrale von Vézelay nicht ausreichen würde, hatte man über Nacht Holz herangeschafft, in größter Eile eine Plattform gezimmert und einige Stühle sowie Bänke daraufgestellt. Von dort oben würde der Heilige zu ihnen allen sprechen. Und dort saßen auch die Edelsten. Königin Eleonore von Aquitanien, Ludwig, König von Frankreich. Umringt von Vasallen, Fürsten, Edeldamen, Geistlichen und Rittern. Die Großen des Reiches. Irgendwo dort musste auch Bernhard sein. Doch Gottfried konnte ihn von seinem Platz aus nicht erkennen.

Das Volk wartete. Es war nun beinahe Mittag, und die Sonne brannte immer heißer. Ein tausendstimmiges Lärmen lag über dem Gelände. Hier und da wurde es von lauten Rufen oder einem empörten Schrei durchbrochen. Etwa dann, wenn jemand bemerkte, dass ihm gerade der Beutel vom Gürtel geschnitten worden war. Das hier musste ein Paradies für Gauner und Taschendiebe sein, dachte Gottfried. Die Menschen standen teilweise so dicht gedrängt, dass man aufrecht hätte einschlafen können, ohne umzufallen. Wenn es nur nicht so heiß wäre. In diesem Augenblick begannen die Kirchenglocken der nahen Stadt zu läuten. Das Rufen verstummte, das allgemeine Lärmen erstarb. Eine Weile lang war nur das vielstimmige Dröhnen der Glocken zu hören. Dann verhallten sie eine nach der anderen, und eine große Stille senkte sich über das weite Feld.

Da erhob sich König Ludwig von seinem hohen Stuhl. Er sah in die Runde der anwesenden Granden und begann zu sprechen. Nur wer ganz nahe am Podium stand, konnte verstehen, was der König sagte. Im Volk machte sich Unruhe breit. Man wollte den Heiligen hören, nicht den König. Derweil tat Ludwig mit langen Sätzen und schwachen Gebärden kund, dass er gedenke, sich dem Kreuzzug nach Jerusalem anzuschließen.

Ein Bauer neben Gottfried gähnte und zeigte dabei ein paar wenige gelbschwarze Ruinen, die früher mal Zähne gewesen sein mochten. Doch Gottfried war überrascht. Ein Kreuzzug? Diese Nachricht verwunderte ihn sehr. Noch bis vor wenigen Wochen war der König ein strikter Gegner des päpstlichen Unterfangens gewesen. Wohl vor allem wegen der immensen Kosten, die damit verbunden sein würden. Ein halbwegs taugliches Kreuzfahrerheer bis nach Jerusalem zu führen würde ein Vermögen verschlingen. Ein Vermögen, das Ludwig nicht besaß. Aber noch aus einem weiteren Grund sollte Ludwig eigentlich gegen einen Kreuzzug gestimmt sein: Es war unklar, ob sich der englische König der Unternehmung ebenfalls anschließen würde. Zöge Frankreich mit seinen Rittern allein, ohne England, nach Osten, hieße das, eine empfindliche Blöße im ungeschützten Rücken des Landes zu hinterlassen. England und Frankreich befanden sich mehr oder weniger im Krieg miteinander. Was hatte Ludwig plötzlich dazu bewogen, der Entscheidung Englands zuvorzukommen?

Da plötzlich sah Gottfried das vertraute Gesicht Bernhards. Der kleine Abt stand auf dem Podium in einer der hinteren Reihen und schaute mit aufmerksamem Blick zu Ludwig und der Menge auf dem Feld. Bernhard! Natürlich steckt er dahinter! Bernhard hat den König zu dieser unsinnigen Entscheidung bewogen! Gottfried schluckte trocken. Wie weit würde Bernhard seinen Einfluss noch ausweiten?

König Ludwig hatte schließlich zu Ende gesprochen und warf mit einer einstudierten Geste seinen schweren, mit Goldfäden und Hermelin abgesetzten Umhang hinter sich. Auf seinem Wappenrock darunter prangte für jedermann sichtbar ein blutrotes Stoffkreuz. Die Insignie des Kreuzfahrers! Statt eines Jubels folgte vonseiten der Menge lediglich ein schwacher Applaus. Doch kurz darauf brandete frenetisches Geklatsche auf. Jubel und Gekreisch folgten, als die Menge den Heiligen erkannte. Ein kleiner Mann in einer schlichten Kutte, der an den vorderen Rand des Podiums trat. Dort blieb Bernhard stehen und richtete seinen Blick auf die Menge. Frauen schrien aus Verzückung. Kinder wurden in die Luft gehoben. Der kleine Abt am vorderen Rand des Podiums wartete. Doch Geschrei und Geklatsche wollten nicht nachlassen.

Da hob Bernhard die rechte Hand. Eine kleine Geste. Und sogleich senkte sich Stille über das weite Feld. Bis in die letzten, weit entfernten Reihen der dicht gedrängten Menge. Es war, als wären alle Geräusche einfach in sich zusammengebrochen. Erstickt. Und für diesen kurzen Moment kehrten darüber die Stimmen des Windes und der Natur zurück. Leises Zwitschern der Spatzen und Amseln. Schwalben hoch über ihnen, fiepend auf der Jagd nach Insekten, welche der Luft ihrerseits ein Summen hinzufügten. In weiter Ferne raschelten die Blätter hoher Pappeln sacht im Wind. All das dauerte nur ein paar Herzschläge. Doch alle Menschen auf dem weiten Feld hielten den Atem an, denn sie wollten keines der Worte, die der Heilige nun sprechen würde, verpassen.

Und Bernhard von Clairvaux, der Meister der honigfließenden Rede, begann:

»Modicus quidem sum, sed non modice cupio vos omnes in viceribus Christi Iesu.«

Es war, als würde die Stimme des unscheinbaren Mannes eins mit den Geräuschen der Natur. Sie war für jedermann klar und deutlich hörbar. Selbst am entferntesten Teil des Geländes, so als trüge der Wind sie selbst dorthin. Es wirkte beinah, als käme die Stimme Bernhards nicht vom Podium, sondern von irgendwo weiter oben. Wie stellt er das an?

»Ich bin ein geringer Mensch«, übersetzte Bernhard seine zuvor gesprochenen Worte. »Jedoch in keiner Weise gering ist meine tiefe, tiefe Zuneigung für euch alle hier und in dieser Welt. In der Liebe Jesu Christi.« Bernhards Miene war ernst, und er wandte den Blick beim Sprechen in die Menge. Jedem Mann und jeder Frau und auch Gottfried schien es so, als spräche der Heilige nur ihn, nur sie allein an. Das Gefühl, erkannt zu sein, kam so plötzlich, als habe jemand überraschend ein Fenster geöffnet. Das Gefühl strömte hinein, in jeden Menschen, der Bernhard zuhörte. Gottfried sah die Resonanz auf den Gesichtern. Es waren nicht die Worte allein, es war die Melodie seiner Stimme. Sein Gestus. Seine Praesentia. Und obgleich Gottfried die Wirkweise dieser Rezeptur verstand, sie durchschaute, so konnte er sich ihr in diesem Moment dennoch selbst nicht entziehen. Wie muss es dann erst den anderen ergehen? Den Ahnungslosen?

Bernhard sprach von der Bürde des Lebens in diesen schweren Zeiten. Von der Not und der Pein jedes Einzelnen. Von der Sorge um das tägliche Brot, von der Angst vor Krankheit, Gewalt und Tod. Er sprach in klaren, einfachen Sätzen. Von der Plackerei und dem kläglichen Kampf gegen den allgegenwärtigen Mangel. Und er sprach mit jedem Wort aus den Herzen dieser Menschen. Er erreichte damit Fürst, Bauer und Bettler. Frau und Mann und Kind. So kam es, dass die Menschen ihr Leid jäh vor Augen hatten und verzehnfacht spürten. Und sie fühlten schließlich auch das Leid ihrer Nachbarn zur Rechten und zur Linken. Wie eine heimliche ansteckende Krankheit verteilte sich das Leid aller, bis es überall zugleich ausbrechen und wüten würde. Das ganze Leid des Volkes. Die Gewalt, der Schmutz, die Grausamkeit dieser Welt, in der jeder Einzelne so sehr auf Erlösung hoffte. Schweigend hörten die Tausenden zu. Bis aus der Menge die ersten Schluchzer und leisen Wehklagen zu hören waren. Schmerzenslaute. Das Wimmern von Greisen und das Weinen von Kindern. Bernhard machte eine Pause und sah auf die Menschen.

Es schien Gottfried, als habe der Abt den Punkt erreicht, an dem er das Volk haben wollte. Im nächsten Moment ging Bernhard jäh dazu über, ein Bild unvorstellbaren Grauens zu malen. Ein Grauen, das erst noch kommen würde, wenn die Menschen nicht jetzt die Gnade Gottes erlangten. Wenn ihnen das Seelenheil und die Erlösung des Jenseits auf immer verwehrt würden. Er sprach von der ewigen Marter der Hölle. Er sprach von den Ungläubigen, die gerade dabei waren, die heiligen Stätten der Christenheit zu überrennen und alles abzuschlachten und zu entweihen, was sie dort vorfanden. Er nährte das aufsteigende Grauen, so wie man durch sachtes Pusten in eine zittrige Glut ein Feuer entfacht. Bis sich dieses Feuer am Ende lodernd und fauchend durch alles hindurchfressen würde. Fleisch und Knochen. Geist und Materie. Das Feuer blanken, unverstellten Grauens.

Als Gottfried das erkannte, fürchtete er sich. Das Feuer würde sich ausbreiten und wüten unter den Menschen. Zuerst hier auf diesem Feld. Und schon bald im Rest der Welt. Gottfried sah sich um und schien recht zu behalten. Die Menschen waren entflammt. Überall weit aufgerissene Augen, leidvolles Klagen und lautes Schreien. Die Menge wand sich unter Schmerzen. Die Rede Bernhards schwoll indes zu einem Inferno an und zeichnete ein immer brutaleres und gewalttätigeres Bild des Untergangs.

Gleich ist es so weit, dachte Gottfried, und Übelkeit stieg in ihm auf. Was hier auf den Feldern vor der Stadt geschah, hatte er zuvor schon viele Male gesehen. Er wusste, Bernhard würde nun zum entscheidenden Schlag ausholen. Die Stimme des kleinen Abtes tönte jetzt wie eine Glocke: »Bedenkt, wie viel Kunst euer Gott verwendet, um euch zu erlösen! Als könne er nicht selbst der Seuche des Unglaubens sich entledigen. Begreifet: Gott versucht euch! Er versucht uns alle! Um unserer aller Rettung willen! Nicht den Tod will er, sondern dass ihr euch bekehrt und … lebt!«

Das letzte Wort kam wie ein weiterer Glockenschlag und löste einen Aufschrei des Entzückens aus. Gottfried erschrak indes zu Tode. Bernhard benutzt ein Schattenwort! Die Menschen taumelten, schrien, klatschten wie Irre in die Hände und drängten weiter nach vorne, um noch näher an das Podium und den Heiligen zu gelangen. Es wurde geschoben und geschubst. Das Schreien wurde frenetisch. Schmerz und Verzückung lagen darin.

»Lebt!«, rief Bernhard.

»Lebt!«, kam es aus tausend Kehlen zurück. Immer und immer wieder: »Lebt!« Menschen umarmten einander, blickten unter Tränen hinauf zu dem kleinen Abt, dem Heiligen.

Gottfried sah, dass Bernhard lächelte. Der kleine Abt ließ die Massen toben, bevor er schließlich mit einer kleinen Geste der Hand ein weiteres Mal für Stille sorgte und nach einer kurzen Pause auf das Heilige Land zu sprechen kam: »Jetzt bewirken es unsere Sünden, dass dort die Feinde des Kreuzes ihr gottloses Haupt erhoben haben und mit der Schärfe ihrer krummen Schwerter das gesegnete Land, das Land Gottes und der Heiligen, verwüsten!« Ein Raunen ging durch die Menge. Bernhard sprach jetzt mit einer Stimme, die so klar und kraftvoll wie ein Fluss war, der einen hohen Berg herabfließt und alles an seinem Rande mit sich reißt. »Sie töten, schänden, freveln ungestraft! Soll dies das Ende sein?« Rufe und empörtes Schreien.

Mit einem Mal schien es, als verlangsamte sich die Zeit. Wie beim ersten Mal in Paris, vor mehr als zwölf Jahren. Gottfried hatte damals einige der Streitgespräche zwischen Bernhard und Petrus Abaelard mit angehört. Aber es war am Ende eine von Bernhards Predigten gewesen, die Gottfried dazu bewogen hatte, dem Zisterzienserorden beizutreten. Schon bald darauf wurde er, Gottfried, zu Bernhards persönlichem Sekretär. Von Anfang an war Gottfried zugleich fasziniert und beängstigt von Bernhards Sprachgewalt. Er hatte ihn aus nächster Nähe erlebt. Tagelang mit ihm in einer Kammer gehaust und an Manuskripten und Briefen gearbeitet. Er hatte die ungeheure Autorität und Gewalt, die von Bernhard ausging, auf der eigenen Seele gespürt. Selbst in einfachsten Unterredungen. Und auch im geschriebenen Wort hatte Gottfried mehr und mehr von der Kraft entdeckt, die von diesem Abt und Gelehrten ausging. Ein schwer zu beschreibendes Gewicht in allem.

Und Gottfried hatte schließlich selbst dazugelernt. Er näherte sich dem Geheimnis um Bernhards unheimliche Gabe. Er fand Muster und Zusammenhänge, würde aber allein durch das Studium der Schrift niemals alles Wissen darüber erlangen. In den vergangenen Jahren war er dennoch Zeuge geworden. Zeuge einer Entwicklung, einer Veränderung, die Bernhard von Clairvaux durchlief. Der einfache Abt war zum Berater der höchsten Herrscher der Christenheit aufgestiegen. Heute handelte selbst der Papst nach Bernhards Plan und Ratschlag. Ebenso der französische König. Und auch der deutsche König Konrad sowie dessen Gegenspieler Lothar. Fürstenhäuser, kirchliche Würdenträger und Handelshäuser standen mit Bernhard in Korrespondenz und zweifelsohne unter seinem Einfluss, dachte Gottfried. Eine ungeheure Macht für einen einfachen Abt aus Clairvaux. Ein Abt, der die ihm angetragene Bischofswürde fünfmal hintereinander abgelehnt hatte. In Châlon, in Genua, in Mailand sowie in Langres und in Reims. Alle wollten Bernhard und seine Führung. Doch Bernhard blieb der, der er war: ein einfacher Abt. »Doctor mellifluus«, nannte ihn das Volk, den Meister der honigfließenden Rede. Gottfried sah wieder zum Podium. Er selbst war in diesem Augenblick nur einer von zwei Menschen, die wussten, weshalb Bernhard kein Amt der Welt benötigte, um die Geschicke der Menschen dem Willen Gottes und seinem eigenen zu unterwerfen. Außer ihm selbst wusste nur Malachias von der alten, ketzerischen und gefährlichen Schrift. Von der Rezeptur und von dem »Äther«. Was immer auch damit gemeint sein sollte. Bernhard selbst schwieg sich darüber aus und hatte seinem engsten Vertrauten und Sekretär nie einen direkten Einblick in das alte Manuskript gewährt. Doch Bernhard selbst studierte es mit glühendem Eifer beinahe jede Nacht und sammelte das Saatgut für seine Reden. Er hatte seinem Studium Gesundheit und Sehkraft geopfert. Hier, auf dem Feld vor Vézelay, sah Gottfried die Frucht dieser Saat. Und erhielt eine Ahnung davon, was Bernhard noch erreichen würde, wenn er jenem gottlosen Pfad weiter folgte. Auch wenn in diesem Augenblick jeder Mann und jede Frau auf diesem Feld glaubte, es sei Gott, der aus dem kleinen Abt sprach, so wusste Gottfried von Auxerre es besser. Es war die Rezeptur. Sie war die Quelle. Gottfrieds Stirn legte sich in Falten. Kein einzelner Mensch sollte so viel Macht haben, dachte er. Diese Macht gebührt Gott allein! Eine Frage keimte in Gottfrieds Gedanken: Woher kam Bernhards plötzliches Bestreben, aufs Neue für einen Kreuzzug zu werben? Warum Jerusalem? Gottfried hatte den Abt zuletzt im Schlaf reden hören. Immer wieder fiel der Name der Heiligen Stadt. Jerusalem, dachte Gottfried. Vielleicht hängt ja wirklich das Heil der Welt davon ab. Aber eine andere Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass es irgendwie mit diesem verhängnisvollen Manuskript zusammenhängen musste.

Die Sarazenen hatten im vergangenen Jahr damit begonnen, sich gegen die Städte in Outremer zu erheben. Gegen Edessa, Antiochia, Tripolis – und schließlich auch gegen Jerusalem selbst. Jerusalem! Die heiligste Stadt der Christenheit war in die Hände der Ungläubigen gefallen. Papst Eugen hatte daraufhin zum Kreuzzug aufgerufen. Doch niemand war seinem Ruf gefolgt. Dann hatte Eugen Bernhard, seinen ehemaligen Lehrer am Kloster Clairvaux, zum Prediger des Kreuzzugs berufen. Seitdem wuchs die Begeisterung für das päpstliche Ansinnen überall dort, wo der kleine Abt predigte. So wie hier. Und selbst die Briefe, die Bernhard eigenhändig verfasste und in alle Lande sendete, taten diese Wirkung. Sie wurden allerorts in Kirchen und auf Marktplätzen verlesen. Und sie entflammten die Menschen auf gleiche Weise wie hier auf diesem Feld. Auf eine Art, die nicht natürlich sein konnte.

Das Versprechen, das Bernhard den Menschen vermittelte, war schlicht: Wer am Kreuzzug teilnähme, den erwartete reiche Belohnung im Diesseits und das ewige Seelenheil im Jenseits. Wer würde in diesen Zeiten nicht nach einer solchen Gelegenheit greifen? Auch diese Menschen hier würden sich anschließen. Gottfried sah es auf ihren Gesichtern. Er sah es in ihren Augen. Wie kann ein Redner – ein einzelner Mensch – so etwas bewirken? Und wie viel Tod wird von hier aus über die Welt im Osten kommen? Aus Worten werden Taten. Aus Taten wird die Welt, so wie sie ist. Gottfrieds Herz krampfte sich zusammen.

»Quid facitis, viri fortes? Quid facitis, servi crucis?«, donnerte es vom Podium. Bernhard hob die rechte Faust. »Was tut ihr, tapfere Männer? Was tut ihr, Diener des Kreuzes? Wollt ihr das Heilige Land den Hunden und die Perlen den Säuen preisgeben?« Zur Antwort machten sich Protestrufe und aufgebrachtes Geschrei breit. Männer und Frauen riefen laut: »Nein! Niemals!«

Schattenwort. Gottfried hatte diesen Begriff hier und da in Bernhards Aufzeichnungen vorgefunden, ohne wirklich zu begreifen, welches Konstrukt der Sprache dahintersteckte. Aber er hatte es schon mit angesehen. Eine einzelne Phrase, welche das Fass zum Überlaufen brachte.

Die Menge versuchte unterdessen wie von Sinnen, noch näher an das Podest heranzukommen. Dorthin, wo der Heilige stand und seine Worte wie Armeen über sie entließ. Und am Ende wollte jeder nur noch eines: das blutrote Stoffkreuz nehmen und nach Osten aufbrechen. Nach Jerusalem, um es zu befreien.

»Selig seid ihr, die ihr in dieser gnadenreichen Zeit lebt, die ihr ein solches Freudenjahr erleben dürft! Gott bietet euch einen Ausweg! Reicht eurem Schicksal die Hand!«

Die Menschen jubelten und lachten. Sie reckten die Hände und umarmten einander freudetaumelnd. Es schien so einfach. Alle Not würde ein Ende haben. Das Heil war greifbar nahe!

Noch ein letztes Mal hob Bernhard an: »Gürtet euch mannhaft und ergreift im Eifer für den christlichen Namen die glückbringenden Waffen! Deus vult! Gott WILL es!«, donnerte seine Stimme.

Nun gab es kein Halten mehr. Die Massen stürmten nach vorne zum Podium und rissen den dort wartenden Kirchenmännern die geweihten Stoffkreuze aus den Händen. Aber es waren nicht genug für alle da. Kerle rangen um jeden Fetzen Stoff miteinander und zerrissen sie dabei in Stücke, worauf sie mit Fäusten aufeinander losgingen. Kurz darauf begannen einige von denen, welche leer auszugehen drohten, damit, die Geistlichen zu bedrängen und an deren Kutten und Hemden zu zerren. Offenbar wollten sie aus dem Stoff weitere Kreuze reißen. Die Geistlichen wehrten sich entsetzt. Es wurde getreten, gestoßen und geschlagen. Einzelne Mönche gaben ihre Kutten bald darauf freiwillig her und rannten halb nackt davon. Ein Hauptmann gab seinen Bewaffneten Befehl einzugreifen, doch als sie sich näherten, wurden auch sie von der Menge überrannt. Gottfried sah sich in dem Tumult nach Bernhard um. Er wollte ihn ansprechen. Ihn zur Rede stellen. Ihn aufhalten. Aber Bernhard war bereits verschwunden. Ebenso der König. Wahrscheinlich hatte man sie sogleich fortgebracht. Weg von der tobenden Menge, die jetzt auch das Podium erobert hatte. Holz ächzte und splitterte unter ihrem Gewicht. Gottfried ahnte, was gleich geschehen würde, und versuchte durch das Gedränge an den Rand des Feldes zu gelangen. Auch er wurde gestoßen und geschlagen. Hinter Gottfried krachte es. Das Holzgerüst brach unter dem Gewicht der ekstatischen Menge zusammen. Zerquetschte Körper. Männer und Frauen schrien, Kinder weinten. Doch noch immer rief die Menge wie von Sinnen: »Deus vult! Gott will es!«

Als Gottfried den Rand des Feldes erreichte, stand sein Entschluss fest. Er würde Bernhard das Geheimnis entreißen. Es der Welt offenbaren. Damit nie wieder ein einzelner Mensch eine solche Macht ausüben konnte. Und während noch hinter ihm Menschen im Wahn zu Tode getrampelt wurden und der Hass gegen den Unglauben sich von hier aus über die halbe Welt bis nach Outremer und Jerusalem zu verbreiten begann, verschwand Gottfried von Auxerre. Und mit ihm seine Aufzeichnungen zu den Reden des Bernhard von Clairvaux, dem Meister der honigfließenden Rede.

Erster Teil

Winter

Habsburg, 14. Januar 1246

Gefrorene Welt. Das nächtliche Land um die Burg lag vom Winter weiß und entblößt unter einem schneidenden Wind. Am Himmel eine niedrige, rasch dahineilende Wolkendecke. Dann und wann trat der volle Mond hervor und übergoss Wälder und Berge mit seinem kalten Licht.

Seine Verfolger würden es leicht haben. Seine Spur im hohen Schnee würde noch tagelang sichtbar sein. Selbst wenn es, so wie jetzt, weiterschneien würde. Eine mit deutlichen Worten bis zum Horizont in die Landschaft geschriebene Einladung: Hier bin ich! Holt mich! Doch der Junge hatte keine Wahl.

In seinem Gefängnis, das einmal seine eigene Kammer gewesen war – hoch oben im südwestlichen Turm –, begann Leon damit, sich jedes Kleidungsstück anzuziehen, das sich in der einzig vorhandenen Truhe finden ließ. Viele waren es nicht. Ein zweites Paar Beinlinge, zusätzlich zu dem, das er schon trug. Ein Hemd aus leichtem Flachsleinen und ein weiteres, das sich fürs Erste mit einer Kordel um die Taille schnüren ließ. Als er sich das Hemd über den Kopf zog und der Stoff seinen Rücken berührte, zuckte er vor Schmerz zusammen. Er stand wie erstarrt, bis das Brennen verging und schließlich einem dumpfen Pochen wich. Danach mühte er sich, das Hemd weiter herunterzuziehen, ohne dass die halbwegs verheilten Wunden wieder aufbrechen würden. Sein Rücken, seine Schultern und sein Hals waren mit Schnitten übersät. Aufgeplatzte Striemen und rosafarbene, wie Dreiecke und Rauten geformte Stellen, an denen die Haut gerade erst in wildem Fleisch nachgewachsen war. Fünf Wochen war es her. Bei der Erinnerung stiegen ihm Tränen in die Augen. Unerträglicher als der körperliche Schmerz war das erlittene Unrecht. Die Demütigung, als er mit entblößtem Oberkörper an einem Strick vor die Versammlung im Hof gezerrt worden war. Zum Ort seiner Bestrafung. Leon hatte Entsetzen und Mitgefühl auf den Gesichtern seiner Freunde gesehen. Den unverhohlen schadenfrohen Ausdruck auf denen seiner Feinde. Allesamt Menschen, die er schon seine ganze Kindheit lang kannte. Menschen, denen er vertraut hatte.

Unter ihnen war sein Bruder Richard, der als Einziger einzuschreiten gewagt hatte. Er hatte sich zwischen Leon und seine Peiniger geworfen. Sein mutiger Bruder Richard. Den man schließlich mit drei starken Wachen fortschaffen musste, während er weiter schrie und um sich trat wie von Sinnen. In Furcht um ihn, seinen jüngeren Bruder, der jetzt vor seinen unerbittlichen Herrn gezerrt wurde. Rudolf, Graf von Habsburg, Kyburg und Löwenstein. Leons eigener Onkel hatte über ihn hinweggeschaut. Zorn lag in seinem Blick. Aber auch Schmerz. Daneben hatte der Vogt gestanden. Uther. Der Verhasste.

Und dann hatte es begonnen. Leon hatte zu seinem Onkel gesehen, der ihm dies alles antat. Und der zusah, wie sich die Haut auf dem Rücken des Jungen unter den Peitschenhieben in blutige Fetzen auflöste.

Und da waren die verweinten Augen eines Mädchens inmitten all der Männer. Cecile, die man gezwungen hatte zuzusehen.

Fünf Wochen. Die äußeren Wunden würden irgendwann heilen und ihre Narben nur noch gezeichnete Erinnerungen an das Erlittene sein. Leon war mit seinen sechzehn Jahren alt genug, um das zu wissen. Aber die Verletzung seiner Seele würde niemals heilen. Auch das wusste er.

Der Junge wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie an seinen Wangen festzufrieren drohten. Es war bitterkalt in seiner Kammer, seinem ehemaligen Zuhause, das nun seit Wochen sein Gefängnis war. Seine Sachen hatte man ihm gelassen. Immerhin war er ein Neffe des Grafen. In der Kammer befanden sich neben der Eichentruhe ein schwerer Tisch, ein hoher Stuhl und eine Bettstatt. Diese war nicht mehr als eine mit Stroh gefüllte Matratze auf einem Holzgestell. Die in der Mitte des Raumes aufgestellte spärlich leuchtende Kohlenpfanne konnte die Kälte nicht mildern. Doch immerhin wärmte sie die klammen Hände, wenn man sie ganz dicht darüberhielt. Jetzt glommen die letzten Kohlen darin. Man hatte Leon die Pfanne erst gestern Nacht gebracht. Bestimmt keine Geste der Barmherzigkeit. Wahrscheinlich fürchtete Uther einfach, dass Leon sonst nicht mehr lange genug am Leben bleiben würde. Lange genug, um ein Geständnis abzulegen. Um am Ende doch noch alles zu verraten. Sein Verhältnis zu Cecile. Albert. Zugeben, dass er im Besitz des Buches war, und den Ort preisgeben, an dem es sich befand.

Uther hatte sich bei seiner letzten Befragung darauf beschränkt, dem Jungen Holzsplitter unter die Fingernägel treiben zu lassen. Doch immerhin hatte er ihm die Nägel nicht gleich herausgerissen. Das würde aber noch kommen, dachte Leon. Er musste fliehen.

Er beeilte sich, in eine wollene Jacke zu schlüpfen. Bei dem Waffenrock mit dem aufgenähten Wappen Rudolfs zögerte er, zog ihn dann aber doch über. Vielleicht würde das Wappen des Grafen den späteren Teil seiner Flucht erleichtern. Wenn es denn einen späteren Teil geben sollte. Über den Rock zog Leon seinen eigenen Umhang aus dunklem Tuch. Das kostbare Stück würde wenig gegen Kälte und Wind ausrichten, in der Dunkelheit der Gänge jedoch ein gewisses Maß an Tarnung vor den Blicken der Wächter bieten. Für einen winzigen Moment hielten Leons durchfrorene Fingerspitzen auf dem feinen Gewebe inne, und er erinnerte sich an den Tag, an dem seine Mutter mit einem sauber gefalteten Bündel zu ihm gekommen war und den fließenden Stoff sanft und mit einem Lächeln um ihn gelegt hatte. Es war Leons zehnter Geburtstag gewesen. Und es war ein kostbares Geschenk. Der leichte Stoff, gewebt in einem fernen Land. Ein Tuch, für Könige geschaffen. Leon dachte an den Moment, als seine Mutter die silberne Schließe vor seinem Hals befestigt hatte, dabei seine Wange berührte und innehielt. Sie sah ihn lange an und sagte dann schließlich seufzend: »So ernst. So erwachsen.« Sie umarmte ihn so stark, als wolle sie ihn für immer festhalten. Leon hatte ihre Wärme gefühlt, ihren Duft nach Safran und einer Blüte, die im Sommer vereinzelt an den Flanken der nahen Berge zu finden war und deren Namen er nicht kannte. Dieser Moment in der Gegenwart seiner Mutter war die Essenz seiner Sehnsucht nach ihr. Sie fehlte ihm so sehr.

Er riss sich aus seinen Gedanken und beeilte sich damit, weitere Kleidungsstücke anzulegen. Er schlüpfte in ein abgelegtes Paar Stiefel seines Bruders, die er zuvor mit ein bisschen Stroh von der Bettstatt ausgestopft hatte, damit sie noch ein wenig mehr Schutz vor der Kälte bieten würden.

Er machte sich keine Illusionen, wie lange das anhielte. Er wusste, wenn er überleben wollte, musste er so schnell wie möglich Zuflucht bei anderen Menschen finden. Außerhalb der Reichweite seiner Verfolger. Und außerhalb des Machtbereiches seines Onkels. Falls bei seiner Flucht aus der Burg alles einigermaßen glatt verlaufen sollte, hoffte Leon auf einen Vorsprung von wenigstens vier bis fünf Stunden. Vielleicht sechs. Wenn er sich an Wege hielt, die für seine Verfolger zu Pferd nur schwer zugänglich waren, könnte er diesen Vorsprung vielleicht bis zum Einbruch der folgenden Nacht halten. Und dann würde er weitersehen.

Er nahm einen Ledergürtel, der so lang war, dass er ihn zweifach um seine Hüfte schlingen konnte, und befestigte einen schmalen Dolch mit klobigem Griff aus geschnitztem Ebenholz daran. Er hatte ihn vor einigen Jahren mithilfe des Hufschmiedes selbst gefertigt. Das Eisen war grob geschliffen und glich mehr einem Keil denn einer Klinge. Aber es war die einzige Waffe, die er besaß. Und er hatte sie gut vor den Wachen des Königs versteckt gehalten. In einem Spalt zwischen einem der Dachbalken und den darüberliegenden Brettern.

Leon zog den Dolch zur Hälfte aus der schwarzen Scheide und betrachtete ihn für einen Moment. Was für eine wahrlich gewaltige Waffe gegen die Schwerter und Lanzen der Wachen, dachte er bitter. Immerhin, die Klinge war scharf. Er schob den Dolch zurück. Ein neuer Gedanke schlich heran. Leon fragte sich, ob er ernsthaft bereit sein würde, für seine Freiheit zu töten. Einen Menschen. Eine der Wachen. Schnell wurde ihm klar, dass seine Vorstellungskraft hierfür nicht ausreichte. Die Schultern sackten ihm herab, und er fühlte sich, hier inmitten der drängenden Wände seiner kleinen Kammer, mit einem Mal so schutzlos wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch er musste unbedingt weg von diesem Ort! Nicht allein um seinetwillen. Sondern auch für Albert, seinen Lehrer. Und um das Buch vor dem verhassten Uther in Sicherheit zu bringen.

Er gab sich einen Ruck, beugte sich zur Truhe herunter und zerrte sie mit klammen Fingern und unter großer Anstrengung von der Wand weg und ein Stück zur Seite. Dann löste er einen großen Stein im Mauerwerk und zog ihn heraus. Dahinter befand sich eine flache Höhlung. Leon griff hinein und zerrte ein dunkles Bündel hervor. Ein lederner Beutel, in dem er in den letzten Tagen den größeren Teil seiner spärlichen Essensrationen versteckt hatte. Viel war es nicht. Selbst wenn er hungerte, würde es ihn bei dieser Kälte wohl kaum länger als vielleicht ein paar Tage bei Kräften halten. Drei verschrumpelte Winteräpfel. Ein Kanten gammeligen Brotes und ein wenig Hafergrütze, welche er zu einem schleimigen Kloß geformt und im eisigen Wind vor dem Kammerfenster getrocknet hatte. Ein trauriger, kleiner Klumpen, der jetzt gefroren war.

Außerdem enthielt der Beutel einige wenige Habseligkeiten, die leicht genug waren, damit Leon sie mitnehmen konnte. Einen Kamm seiner Mutter. Eine winzige Holzfigur, die Gestalt eines ruhenden Vogels, die sein Bruder für ihn geschnitzt hatte. Zwei Silbermünzen, von denen Leon nicht einmal wusste, wie viel sie wert waren und in welchen Gegenden der Welt man mit ihnen bezahlte. Eine kleine, leuchtend rote Feder, die seine Schwester Margret ihm geschenkt hatte. Am selben Tag, an dem er den Mantel von seiner Mutter bekommen hatte. Margret war damals vier Jahre alt gewesen und hatte steif und fest behauptet, dass es sich um eine Phönixfeder handele. Bei näherer Betrachtung hatte sich gezeigt, dass die Feder schlicht mit roter Farbe bemalt worden war. Eine einfache Gänsefeder. Was Margret vehement bestritten hatte. Bei dem Gedanken daran musste Leon trotz seiner hoffnungslosen Lage lächeln.

Doch damit war es vorbei, als er gleich darauf ein in Leder gewickeltes Päckchen aus dem Versteck zog. Er wog es für einen kurzen Augenblick in der Hand, als zögere er, es mitzunehmen. Was ist so bedeutsam an diesem Büchlein, dass Albert so viel dafür riskiert hat? Albert hatte Leon das Buch bei seinem allerletzten Besuch in der Zelle heimlich zugesteckt und gesagt: »Bring es sicher zu Maraudon, versprich es!« Warum hatte Albert es nicht selbst dorthin bringen lassen? Wenn es wirklich so wertvoll oder so gefährlich war, warum gab er es dann einem sechzehnjährigen Jungen? Nein, einem sechzehnjährigen eingesperrten Jungen? Leon seufzte und verstaute das eingewickelte Buch zwischen den anderen Sachen. Er würde es mitnehmen. Und er würde es diesem Maraudon bringen. Wenn seine Flucht gelang.

Er hatte kein Wasser. Nicht einmal einen Schlauch, um ihn zu füllen. Er musste darauf vertrauen, dass er unterwegs genug Bäche und Quellen finden würde, um direkt daraus trinken zu können. Schnee anstelle des Wassers im Mund zu schmelzen würde nicht helfen. Das wusste Leon von Albert. Der hatte ihm erzählt, dass Wanderer in den Bergen verdurstet waren, obwohl sie in ihrer Not jede Menge Schnee zu sich genommen hatten. Die Begründung, die Albert anschließend angeführt hatte, hatte Leon nicht verstanden. Da Albert jedoch in den meisten Dingen recht zu haben pflegte, glaubte er ihm trotzdem. Albert von Breydenbach war ein weiser Mann. Wo war er jetzt?

Nachdem Leon alle Gegenstände verstaut hatte, schnallte er sich den Lederbeutel mit zwei Riemen auf den schmerzenden Rücken. Sein Blick fiel auf sein Bett und die zusammengerollte Wolldecke darauf. Sie war schwer. Zu schwer. Auf der Flucht vor Uthers Männern würde alles von seiner Schnelligkeit abhängen. Jedes weitere Gewicht würde ihn nur langsamer machen. Nach einigem Zögern griff er dennoch nach der Decke und wickelte sie sich um Brust und Bauch. Er würde sie zur Not immer noch irgendwo zurücklassen können, sollte sie ihm bei seiner Flucht hinderlich sein.

Ein plötzliches Geräusch auf dem Gang vor der Tür ließ ihn zusammenfahren. Mit angehaltenem Atem stand er wie erstarrt in der Dunkelheit und lauschte. Stille. Wenn jetzt eine Wache die Kammer beträte, wäre sein Plan gescheitert. Doch nichts weiter geschah. Leon atmete aus. Die Wache, die Uther vor der Tür postiert hatte, sollte um diese nächtliche Zeit längst schlafen. Was hatte man von einem sechzehnjährigen, verzärtelten und schwachen Knaben auch zu befürchten? Leon war in der Tat alles andere als ein Kämpfer. Alle wussten das. Er wusste das. Zwar war auch Leon, wie es für Kinder adeliger Eltern üblich war, seit frühester Kindheit in der Handhabung verschiedenster Waffen unterwiesen worden. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Einzig im Bogenschießen hatte er hier und da halbwegs passable Leistungen erbracht. Irgendein steter innerer Skrupel schien seine Entschlossenheit im Umgang mit Waffen zu dämpfen. Seine Reflexe waren für einen wirklichen Kampf viel zu langsam. Es schien, als sei ihm einfach sein Verstand im Weg. Denn er dachte ständig nach. Und wer ständig nachdenkt, bevor er sich zu irgendwas entschließt, steckt unweigerlich viele Schläge ein und teilt infolgedessen nur wenige aus. Leons älterer Bruder war dagegen ein geborener Ritter.

Richard, drei Jahre älter als Leon, hatte eine kräftige Statur. Und seine Bewegungen waren im Kampf von erstaunlicher Schnelligkeit und Gewandtheit. Wenn Richard mit dem Schwert kämpfte, konnte von einem Augenblick zum nächsten ein vollkommen unerwarteter Schlaghagel aus ihm hervorbrechen, der durch keinen Gegner aufzuhalten war. Seinen Stößen wohnte dabei eine Kraft inne, die nicht aus dem Jungen selbst zu kommen schien. Die Richtung einer fließenden Bewegung konnte vollkommen unvorhersehbar in eine beliebige andere übergehen. Richard war eine Naturgewalt, so wie ein Gewittersturm, dem jeder schutzlos ausgeliefert war. Zuletzt war Richard deshalb der unangefochtene Turniermeister bei Hofe und darüber hinaus. Doch im Gegensatz zu anderen Männern neigte Richard trotzdem nicht zu Hochmut oder Eitelkeit. Er schien lediglich große Freude am Wettkampf zu empfinden und selbst am allermeisten erstaunt über die eigenen Kräfte.

Leon erwog bei der Erinnerung an seinen Bruder zum hundertsten Male, zuerst dessen Gefängnis in der Burg aufzusuchen und ihn zu befreien, bevor er sich selbst durch das Burgtor davonschleichen würde. Aber damit würde er seinen alles entscheidenden Vorsprung verspielen. Es konnte Stunden dauern, bis er ungesehen zu dem Ort gelangen würde, an dem man Richard gefangen hielt. Und er müsste dabei mit unendlicher Vorsicht all die Gefahren umgehen, die auf dem Weg dorthin auf ihn warteten. Sollte man ihn auf seiner Flucht fassen, so würde man ihn stehenden Fußes in das stinkendste Verlies stecken. Dort würde er dann jämmerlich verhungern oder im Schlaf von Ratten gefressen, sollte er nicht gnädigerweise zuvor erfrieren oder an Folter und Erschöpfung sterben. Nein, er konnte Richard im Augenblick nicht helfen. Sosehr er das auch wollte. Nicht jetzt. Leon tröstete sich mit dem Gedanken, dass ja gegen Richard nichts vorlag. Er würde sicher irgendwann freigelassen werden. Leon würde ihn wiedersehen, sollte ihm seine eigene Flucht gelingen, dessen war er sich gewiss. Er dachte an Richards Lachen, und wieder legte sich eine stumpfe Trauer auf sein Herz.

Leon sah sich ein letztes Mal in seiner Kammer um. Der Frosthauch seines Atems stand vor seinem Gesicht wie ein weißer Geist. Sein Blick fiel auf das mit einem schweren Fell verhängte Fenster. Der Gedanke an die weiße Welt dahinter, die eisigen Weiten, hohen Berge und tief verschneiten Wälder, die nächtliche Schwärze über allem … das Unerbittliche darin ließ ihn schaudern.

Endlich riss er sich los, prüfte den Sitz seines Beutels und machte die zwei Schritte zur Tür der Kammer. Vor dem eisernen Schloss kniete er sich auf den kalten Boden und zog den länglichen Haken hervor, den Albert ihm zusammen mit dem Büchlein zugesteckt hatte. Vorsichtig schob er ihn in das Schlüsselloch. Ein leises Schaben von Eisen auf Eisen. Kaum hörbar. Dennoch fuhr ihm das Geräusch durch Mark und Bein. Leise, mahnte er sich selbst.

Die Wache war der Grund gewesen, warum Leon lange nach einem anderen Plan gesucht hatte, hier herauszukommen. Doch die einzige Alternative war der Weg durch das Fenster hinunter zum zugefrorenen Burggraben. Aber der lag sechzig Fuß unter ihm, und dieses Hindernis war selbst für geübte Kletterer im Winter unüberwindbar. Die grob gefügten Steine der Burgmauer hatten zwar Ritzen und winzige Vorsprünge, waren jetzt jedoch fingerdick mit Eis überzogen. Der Westwind hatte die Feuchtigkeit in eine Wand aus Glas verwandelt. Dort hinabzusteigen verhieß den sicheren Tod. Nein, es blieb nur die Tür. Und die Wache dahinter.

Leon presste Wange und Ohr an die eiskalte Tür und horchte. Der rasselnde Atem eines Mannes. Er schläft! Leon war erleichtert.

Vorsichtig bewegte er den eisernen Haken im Schloss. Er suchte nach dem winzigen Widerstand, der ihm verraten würde, dass er die Sperrfeder gefunden hatte. Da war sie. Vorsichtig drehte er den Haken, während sein Atem am Holz des Türblattes allmählich zu einer dünnen weißen Schicht gefror. Er fühlte, wie sich der eiserne Mechanismus bewegte. Bis zu einer Stelle, an der es plötzlich nicht mehr weiterging. Leon drückte fester. Es knirschte leise. Aber das Schloss bewegte sich kein Stück.

Die Tür zu dieser Kammer war lange vor Leons Geburt eingefügt worden. Sie war, wie fast alles hier auf der Burg seines Onkels, aus stabilem Eichenholz gefertigt. Vorher hatte sie offenbar zu einem anderen Durchgang der Burg gehört. Jedenfalls passte sie nicht richtig, und Leon vermutete, dass aus diesem Grund auch das Schloss so schwer zu betätigen war. Er hatte eine Idee. Er packte den Türgriff und zog die Tür vorsichtig zu sich heran. Gleichzeitig erhöhte er den Druck auf den Haken, und tatsächlich: Jetzt bewegte sich der Mechanismus. Mit einem kratzenden Geräusch drehte sich der Haken. Es klickte leise. Das Schloss war offen. Leon hielt den Atem an und wartete einen Moment. Als sich draußen nichts rührte, drückte er die Tür vorsichtig einen Spaltbreit auf. Der tanzende Lichtschein einer Fackel drang herein. Wieder zögerte Leon.

Angestrengt lauschte er und bemerkte, dass der rasselnde Atem des Mannes einer völligen Stille gewichen war. Einer dunklen, beinahe fühlbaren Stille.

Plötzlich krachte es, und die Tür wurde nach außen aufgerissen. Von irgendwoher kam ein gewaltiger Tritt, und Leon wurde zurück in das Innere der Kammer geschleudert.

»Was hast du da zu schaffen!?«, bellte eine Gestalt, die jetzt beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllte. Leon versuchte sich aufzurichten. Aber die Gestalt rückte nun vor. Leon wurde von einem Faustschlag, härter als der Tritt eines Pferdes, zu Boden geworfen. Der Mann trug eisenbeschlagene Handschuhe, und Leons aufgeplatzte Lippen bluteten. Jetzt beugte sich der Mann über den Jungen, und kurz darauf kam der nächste Schlag. Diesmal traf die behandschuhte Faust Leons Magen, sodass ihm der Atem wegblieb. »Das Fürstensöhnchen will wohl ausfliegen, wie?« Der schwere Stiefel des Mannes traf Leon seitlich in die Rippen. Etwas knackte. Der Schmerz war unerträglich. »Das wird dich was lehren, Jüngelchen!« Und jetzt erkannte Leon den Mann als einen der Leibwächter Uthers. Der Kerl trat erneut zu, doch diesmal konnte Leon ausweichen. Der wuchtige Tritt verfehlte ihn knapp und traf nur den Beutel auf seinem Rücken. Leon spürte, wie einige seiner Wunden aufbrachen. »Bitte …«, flehte er, als er wieder zu Atem gekommen war.

Der Wächter hielt inne und sah sich in der Kammer um. Sein misstrauischer Blick fiel auf die Nische hinter der abgerückten Truhe. Er schnaubte wütend und ging erneut auf Leon los. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne und schien für einen Moment zu überlegen. Er grinste und nestelte jetzt an seinem Hosenbund herum. »Na, dann werden wir dem Bürschlein mal eine kleine Lektion erteilen«, flüsterte er heiser und grinste jetzt noch feister. Sein weingeschwängerter Atem drang bis zu Leon. Erst jetzt erkannte der Junge, wie betrunken der Mann war. Unfähig, sich zu rühren, sah Leon zu, wie der Mann die Eisenschnalle seines schweren Waffengurtes löste und diesen nun wie einen Ochsenziemer neben sich hielt. Was immer der Kerl vorhatte, es durfte nicht geschehen!

Leon rutschte rückwärts und tastete den Boden nach etwas Brauchbarem ab, um sich zu verteidigen. Ein Stein. Ein Stück Holz. Irgendetwas! Wie wild fuhr er mit frostbetäubten Fingern über den eiskalten Stein. Seine Zunge schmerzte, weil er bei dem letzten Tritt des Mannes offenbar darauf gebissen hatte.

Dann schlug der Kerl zu. Die eiserne Schnalle des Gürtels traf Leon im Gesicht. Er schrie auf vor Schmerz, doch im selben Moment fanden Leons Finger den eisernen Fuß der Kohlenpfanne. Leon packte zu. Der Mann grunzte unterdessen und holte erneut mit dem Gürtel aus.

Leon aber richtete sich auf, umfasste den Fuß fester und riss die Kohlenpfanne mit aller Kraft nach vorne gegen seinen Angreifer. Funken stoben, als sich die Glut mit einem Zischen und Knistern über Gesicht und Brust des Mannes ergoss. Die eiserne Pfanne fiel krachend zu Boden. Der Mann brüllte vor Schmerz und versuchte im gleichen Moment, sich von den glühenden Kohlen zu befreien, die über den Halsausschnitt in sein Wams gedrungen waren. Er schien nichts mehr sehen zu können, ging auf die Knie und schlug wie wild auf seine Brust und die Glut. Währenddessen brüllte er wie von Sinnen. So laut, dass es bis in die letzten Winkel der Burg zu hören sein würde. Das muss sofort aufhören! In Panik sprang Leon auf und warf den Mann mit seinem ganzen Gewicht nach hinten. Unter der dicken Wolldecke, die immer noch um Leons Leib gewunden war und die sich nun auf das Gesicht des Angreifers presste, erstickte das Brüllen zu einem dumpfen Stöhnen. Aber der Mann wehrte sich nach Kräften.

Leons Hände griffen nach dem wild um sich schlagenden rechten Arm des Mannes und umklammerten ihn fest. Gleichzeitig versuchte er mit seinen Beinen, den anderen Arm des Mannes zu Boden zu drücken. Er presste sein rechtes Knie, so gut es ging, in dessen Armbeuge. Der Mann war offenbar zu betrunken, um überlegt zu handeln, und strampelte stattdessen unkontrolliert herum.

Unterdessen fraßen sich die glühenden Kohlen weiter durch dessen Haut, und der Schmerz trieb ihn in pure Raserei. Leon drohte jeden Augenblick angehoben oder zur Seite geschleudert zu werden. Ein ums andere Mal traf ein Schlag der behandschuhten Faust Leon ins Gesicht. Tränen schossen ihm in die Augen. Als die Faust des Mannes unmittelbar danach erneut traf, knackte Leons Nase. Vor Schmerz halb blind, packte der Junge den frei geworden Arm des Mannes am Handgelenk und versuchte mit anschwellender Panik, ihn zu Boden zu drücken, während sich seine beiden Beine um den anderen Arm des Mannes klemmten wie ein Schraubstock.

Der stämmige Mann röchelte unter Leons Bauch. Die Raserei verebbte. Dann brüllte er wieder in den Stoff der Decke. Er bekam offenbar immer weniger Luft. Ein ersticktes, panisches und luftloses Husten folgte. Plötzlich überkam den Jungen ein jäher Schwall von Mitgefühl, und beinahe hätte er losgelassen. Aber dann wäre es um ihn und seine Flucht geschehen gewesen. Und damit um seine letzte Chance, weiteren Strafen und dem sicheren Tod zu entgehen. Und wichtiger noch war das Buch. Es musste unbedingt an den Ort seiner Bestimmung gelangen. Er hatte es Albert geschworen.

Bei diesen Gedanken nahm die Kraft des Jungen wieder zu. Er klammerte sich jetzt wie besessen fest, Schweiß stand ihm auf Stirn und Nacken. Von irgendwo weiter unten drang der Gestank verkohlten Fleisches herauf. Leon musste würgen, so beißend war der Brodem der sterbenden Haut. Krampfartig verstärkte Leon seinen Griff zum letzten Mal. Schmerz schoss durch Arme und Schultern des Jungen. Bald erschien es ihm, als könne er diese Anstrengung keinen Lidschlag länger aufrechterhalten. Die Zeit verlangsamte sich und gerann zu einer Ewigkeit, während die Bewegungen des Mannes immer schwächer wurden. Erst jetzt bemerkte Leon, dass er weinte. Lautlos wie ein kleines Kind in einem schrecklichen Albtraum weinte er vor Angst und Wut, während unter ihm ein betrunkener Mann erstickte. Ein Mann, der sich einem verlorenen Jungen und dessen Willen zu überleben in den Weg gestellt hatte.

Uther von Barkville trat an das brennende Kaminfeuer und stemmte sich mit der behandschuhten linken Faust gegen den Sims darüber. Er war groß, vornehm gekleidet, und sein ganzer Habitus drückte Einfluss und gesellschaftlichen Status aus. Der rote Schein der Flammen glänzte schwach auf seinem kahl geschorenen Schädel. Er schien nachzudenken, während seine grauen Augen in die Glut sahen und sich jetzt zu Schlitzen verengten. Alles war schiefgegangen.

Aus der Dunkelheit hinter ihm drang eine kalte Stimme.

»Wo ist das Buch, Uther?«

Uther spürte einen Schauder im Nacken und wandte sich zu der Gestalt um.

»Ich habe es nicht!«, antwortete er.

Als die Stimme daraufhin schwieg, fuhr Uther fort.

»Albert hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.« Zynismus tropfte aus seinen Worten, als er hinzufügte: »Wenn man ihm denn eines gegraben hätte.«

»Was ist geschehen? Redet«, sagte die Stimme unverhohlen missbilligend. Vor dem nächtlichen Winterhimmel hinter dem Fenster war die Gestalt nur ein schemenhafter Umriss. Ebenso schemenhaft schien die Stimme selbst. In ihr lag eine kalte Ablehnung. Und noch etwas anderes, seltsam Alarmierendes. So wie ein leiser Brandgeruch.

»Wir haben ihn verhört. Wie Ihr es befohlen hattet«, sagte Uther. Eine Eigenart der anschließenden Stille drängte ihn dazu, weiterzusprechen.

»Nichts!«, sagte Uther und beantwortete damit die unausgesprochene Frage. »Der Alte verfügte über eine Macht, die ihn gegen all meine Versuche verwahrt hat. Am Anfang hat er einfach nur geschwiegen. Später fing er an, mich und meine Leute zu verhöhnen. Meine Männer haben ihn am Ende fertiggemacht.«

Die Erinnerung daran erzeugte eine Übelkeit in Uther, die er sonst angesichts solcher Behandlungen selten empfand. In der Vergangenheit hatte er die Gefolterten eher mit einer Mischung aus Berauschtheit und kühler Wissbegierde leiden sehen. Die Übelkeit musste daher rühren, dass sowohl Uther als auch sein Meister sich so nahe am Ziel wähnten und nun mit leeren Händen dastanden. Ratloser denn je.

Nachdem Alberts Schüler, die Neffen des Grafen, verhaftet waren, hatte Uther Albert von Breydenbach zum Schein gewährt, die Burg zu verlassen. Albert war daraufhin allein aufgebrochen. Wahrscheinlich mit dem geheimen Ziel, die Schule Maraudons zu erreichen. Uther hatte Albert verfolgen lassen. In der nächsten Ortschaft hatten sie ihn dann aufgegriffen, befragt, später bedroht und schließlich brutal gefoltert. Drei Tage dauerte der Todeskampf des alten Mannes. Sie hatten seine Knochen und Gelenke gebrochen und ihm schließlich mit glühenden Zangen die Haut Streifen für Streifen vom Leib gerissen. Uther empfand Abscheu und Wut bei der Erinnerung an Alberts gefasstes Antlitz während dieser gründlichen Tortur. Es schien, als habe der alte Mann sich an einen weit entfernten Ort zurückgezogen. Einen Ort, an dem ihn offenbar kein Schmerz erreichen konnte.

Als der Körper des alten Mannes am Ende der Folter erlag, hatte dieser keine Silbe über Gottfrieds Buch und dessen Versteck verraten. Er hatte nur noch wenig gesprochen. Flüsternd, sodass Uther sich mit dem Ohr Alberts zertrümmertem Gesicht nähern musste: »Verborgen ist, wonach Ihr trachtet …Nicht … für Euch und Euresgleichen … sagt das Eurem Meister …«

»Ihr habt einen unverzeihlichen Fehler begangen«, sagte jetzt die Gestalt am Fenster. »Ihr hättet ihn nicht sterben lassen dürfen!«

Uther nickte schuldbewusst. Albert war im Besitz von Gottfrieds Buch und deshalb der Einzige, der damit über einen Zugang zum Schattenwort-Manuskript verfügte. Der letzte Hinweis darauf, wo es sich befand, war in Gottfrieds Buch versteckt. Gottfried von Auxerre musste in seinen letzten Tagen beinahe ununterbrochen daran gearbeitet haben. Auf seinem Sterbebett, zu dem niemand anderer Zugang hatte als sein persönlicher Sekretär. Dieser Sekretär war Albert gewesen – Albert von Breydenbach, der sich hier bei Rudolfs Vater als Hauslehrer eingeschlichen hatte.

Die Stimme am Fenster flüsterte nun mit drohendem Unterton: »Ich habe nicht zwei Jahrzehnte nach ihm gesucht, nur um jetzt das Geheimnis einfach so mit ihm gehen zu lassen. Ihr wisst, was das bedeutet.«

Uther schluckte. Er wusste es sehr wohl, erwiderte aber nichts.

»Solltet Ihr Gottfrieds Buch nicht finden, werdet Ihr Albert dahin folgen, wo er jetzt ist, und ihn in der Hölle befragen.«

Uther wusste nicht, was er noch tun sollte. Er hatte sämtliche Räume, in denen Albert sich je aufgehalten hatte und in denen er das Buch hätte verstecken können, mehrmals durchsuchen lassen. Der alte Hundsfott musste es rechtzeitig verborgen haben. Aber Uther konnte ja schlecht Rudolfs Burg Stein für Stein auseinandernehmen.

»Also strengt Euch an.« Es war, als kröchen die Worte des fremden Schattens am Fenster durch den Raum herüber wie Getier. Nun kamen sie wie Faustschläge: »Und … bringt … es … mir!«

Uthers kahl geschorener Schädel färbte sich rot. Furcht erfasste seinen Körper, und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, dass die Stimme seines Meisters noch immer eine solche Macht über ihn besaß. Heute, da Uther selbst ein einflussreicher, gelehrter Mann und persönlicher Ratgeber Rudolfs war, konnte er es sich nicht erklären, warum er noch immer vor dieser Stimme zitterte. Etwas darin schien nicht über den Weg der Ohren zu ihm zu dringen. Schleichend und unmerklich, wie ein Schemen oder ein leises Gift, konnte sie sich in seinen Gedanken ausbreiten und ihn mit unsäglicher Angst anfüllen. Darum erschrak Uther, als sie erneut erklang.

»Denkt nach, Uther. Hatte Albert Vertraute an diesem Hof?«

»Nein. Er war derselbe Einzelgänger, den Ihr seinerzeit kanntet. Gewiss, er beriet den Grafen und seine Familie. Doch zu keinem pflegte er ein so enges Verhältnis, dass man von einem Vertrauten hätte sprechen können. Ich selbst versuchte in den vergangenen zwei Jahren, Zugang zu ihm zu erlangen. Doch Albert misstraute mir von Anfang an. Obwohl wir einst an derselben Schule lehrten. Er misstraute mir, so wie er jedem anderen in seinem Umfeld zu misstrauen schien. Er kannte zudem Teile meiner Vergangenheit. Nicht alles. Aber einen Teil, der wohl Grund genug war, seinen Argwohn mir gegenüber in Vorsicht zu wandeln. Mein Amt an der Schule. Meine Verbindungen zu Euch und zu Friedrich. Und wenn Albert sich mir gegenüber auch bemühte, freundlich und aufmerksam zu wirken, so hielt er doch sein Herz und seine Gedanken fester verschlossen als eine Jungfer ihren Schoß.«

»Was ist mit seinen Schülern?«

»Albert hat Rudolfs Neffen unterrichtet. Leon und Richard sind die Kinder seines Bruders Hartmann. Aber Richard, der Ältere der beiden, ist nicht recht begabt für Philosophie und Redekunst. Leon dagegen schien ein echter Musterschüler zu sein. Albert und er verbrachten viel Zeit miteinander. Ich meine, bevor das alles passierte. Ich fand Mittel und Wege, ihren Unterricht zu überwachen. Aber außer dem üblichen Geschwafel um Wort, Einfluss und Gedanke hörte ich nichts von Verdacht. Albert sprach in seinen Unterweisungen weder von seiner Vergangenheit noch von den Aufzeichnungen Gottfrieds oder dem Bund der Erben selbst.«

»Kommt es dennoch in Betracht, dass Albert dem Jungen die Aufzeichnungen anvertraute? Vielleicht ohne ihn über den wahren Gehalt aufzuklären?«

»Unwahrscheinlich. Aber ich habe auch das überprüfen lassen. Leon sitzt seit mehr als fünf Wochen in Haft. Wir haben ihn … befragt.« Er schüttelte den Kopf. »Er weiß von nichts und hatte seit seiner Verhaftung keinen Kontakt zu Albert. Das heißt …« Uther brach ab.

»Das heißt?«, lauerte die Stimme.

Uther lächelte gequält. Er wusste, dass er seine Gedanken seinem Meister gegenüber nicht verbergen konnte. Ein einziges Wort von ihm genügte, und Uther würde sein Inneres nach außen kehren. Uther sog hörbar Luft ein und sprach weiter.

»Bevor ich Albert zum Schein abreisen ließ, wollte er den Jungen noch einmal sehen. Er wollte sich von ihm verabschieden. Ich war dagegen, doch Rudolf hat dem Drängen des Alten nachgegeben und ihm einen letzten Besuch gestattet. Eine meiner Wachen war bei dieser Zusammenkunft zugegen, und ich habe meinen Männern befohlen, die Kammer danach von oben bis unten zu durchsuchen.«

Die Gestalt am Fenster stieß einen leisen Fluch aus.

»Durchsucht die Kammer erneut. Aber tut es diesmal gründlicher, wenn ich Euch das raten darf. Durchsucht den Jungen! Stellt die Kammer auf den Kopf, oder reißt sie meinetwegen ab! Das Buch muss sich in der Burg befinden. Es kann nicht anders sein.« Wieder dieses Kriechen in der Stimme, das Uthers Eingeweide wie mit Raureif überzog.

»Wie Ihr wünscht, Meister. Ich werde …«

»Jetzt!«, schnitt ihm die Stimme das Wort ab. Und nur wenige Lebende auf der Welt vermochten es, sich dem Einfluss dieser Stimme zu widersetzen.

Uther eilte zur Tür und rief nach den Wachen. Wenn er das Buch nicht in der Kammer fände, würde er den Jungen erneut befragen. Jetzt gleich. Ein letztes Mal. Und wenn es sein musste … bis zu dessen Ende.

Leon konnte nicht sagen, wie lange er nach dem letzten schwachen Zucken des Körpers unter ihm einfach nur dagelegen hatte. In der Mitte seiner Kammer. Quer über dem erstickten Wachmann. Seine vor Verkrampfung steifen Arme umklammerten ihn noch immer. Noch ein paar Atemzüge lang lag der Junge so da. Als er sich schließlich von dem Toten herabrollte, fürchtete er noch immer, der massige Kerl könnte sich gleich wieder erheben und ihn erneut angreifen. Leon richtete sich mühsam auf und wich langsam rückwärts, fort von dem Leblosen, bis er das Holz der Truhe hart in seinem Rücken spürte. Dabei starrte er unentwegt auf den toten Körper. Seine gebrochene Nase pochte heftig, und Blut floss ihm daraus über das Kinn. Doch weder Schmerz noch das Rasen seines Herzens durchdrangen die dumpfe Taubheit, die Leon in diesem Moment empfand.