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Das Buch ist gleichzeitig Roman und Pilgerbericht. Sophie trauert um ihren verstorbenen Mann und findet rätselhafte Unterlagen in seinem Nachlass. Enttäuschung und Zweifel quälen sie. Wie gut kannte sie eigentlich den Mann, den sie liebte? Sie will diese Frage hinter sich lassen und macht sich mit ihrer Schwester auf die Wanderschaft über den Jakobsweg entlang der spanischen Küste. In beiden Rucksäcken schlummert eine Menge Unausgesprochenes. Jedoch fordern das Unterwegssein, das ständige Bergauf und Bergab, die sengende Sonne und die heftigen Regengüsse, genauso wie die atemberaubenden Landschaften, erst einmal ihre ganze Aufmerksamkeit. Dann macht Manu ihrer Schwester ein Geständnis. Ihre Wege trennen sich. Ab Gijón pilgert Sophie allein weiter. Eine Herausforderung, die sie am Ende mit der Erkenntnis belohnt, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint. Im Frühjahr 2016 ist die Autorin als Rucksackreisende den achthundertfünfunddreißig Kilometer langen Jakobsweg von Donostia-San Sebastián nach Santiago de Compostela gepilgert. Die Etappen ihrer Wanderung sind genau beschrieben und zum Pilgerweg der beiden Schwestern Sophie und Manu geworden.
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Seitenzahl: 405
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Das Buch ist gleichzeitig Roman und Pilgerbericht. Im Frühjahr 2016 bin ich als Rucksackreisende den achthundertfünfunddreißig Kilometer langen Jakobsweg entlang der spanischen Atlantikküste von Donostia-San Sebastián bis Santiago de Compostela gepilgert. Die Etappen meiner Wanderung sind genau beschrieben und zum Pilgerweg der beiden Schwestern Sophie und Manu geworden.
Sophie trauert um ihren verstorbenen Mann und findet rätselhafte Unterlagen in seinem Nachlass. Enttäuschung und Zweifel quälen sie. Wie gut kannte sie eigentlich den Mann, den sie liebte? Sie will diese Frage hinter sich lassen und macht sich mit ihrer Schwester auf die Wanderschaft. In beiden Rucksäcken schlummert eine Menge Unausgesprochenes. Jedoch fordern das Unterwegssein, das ständige Bergauf und Bergab, die sengende Sonne und die kalten Regengüsse, genauso wie die atemberaubenden Landschaften, erst einmal ihre ganze Aufmerksamkeit.
Dann macht Manu ihrer Schwester ein Geständnis. Ihre Wege trennen sich. Ab Gijón pilgert Sophie allein weiter. Eine Herausforderung, die sie am Ende mit der Erkenntnis belohnt, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint.
Monika Beer, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern war Standesbeamtin und lebt in der Nähe von Mainz. Als Rucksackpilgerin ist sie immer wieder auf den Jakobswegen in Deutschland und Spanien unterwegs.
Ihr erstes Buch "Eine Socke voller Liebe“ ist ebenfalls bei Books on Demand erschienen.
Roman und Pilgerbericht über den spanischen Küstenweg von Donostia-San Sebastián nach Santiago de Compostela
Immer wenn wir uns
am Ende glauben, stehen wir
in Wahrheit vor einem neuen Anfang.
Thomas Romanus
Für Silvia
Das Unglück
Wiedersehen
Erinnerungen
Kleine Schwester
Große Schwester
Martins Geheimnis
Aufbruch
Auf dem Weg
Parasiten
Stadt des Friedens
Glücksmomente im Regen
Zweifel
Atemberaubend
Fesseln fallen
Küstenimpressionen
Niemand ist allein
Naturgewalten
Traumtänzerin
Glück und Glas
Ein Sonntag
Das Meer
Dankbarkeit
Verlängerung
Schlammpfade
Loslassen
Allein unterwegs
Sehnsüchte
Zufälle
Vogelfrei
Gastfreundschaft
Abschied vom Meer
Das grüne Land
Grenzerfahrung
Spurensuche
Aus alt wird neu
Freunde
Erkenntnisse
Pilgerweg und Partymeile
Der Weg ist das Ziel
Das Leben der anderen
Am Ende der Welt
Epilog
Hier gehörte sie nicht hin. Grelle Lichtblitze brannten in ihren Augen. Unförmige Konturen verschwammen im feuchten Dunst.
In ihrem Kopf dröhnte das schrille Kreischen einer Säge. Zerberstendes Metall. Unerträglich laut. Sie wollte sich die Ohren zuhalten. Unmöglich. Das kalte Blech an ihrer Seite ließ keine Bewegung zu. Überall Glassplitter. Bruchstücke.
Der Lärm verebbte.
„Sophie?“
Ganz leise, wie von weit her, hörte sie seine Stimme.
„Sophie?“
„Martin?“
Sie wollte sich zu ihm drehen. Aussichtslos. Angstvolle Stille breitete sich aus.
„Martin!“
Sie lauschte angestrengt.
Ein Röcheln.
Dann zwei Silben. Leise und schwerfällig: „So – phie.“
Ein langer Atemzug. „Du!“ Stille. Nur das Prasseln des Regens auf dem Autodach.
Plötzlich spürte sie die Nässe, alles durchdringend. Ihr war kalt.
Sie nahm Schatten wahr. Dunkle Gestalten, die sich eilig hin und her bewegten. Rettende Engel? Das Auto vibrierte.
„Martin?“
Keine Antwort. Sie zitterte.
Die Erinnerung kam in Fetzen: Eine Kolonne von Lastwagen und ein Transporter, der ausscherte. Er hatte ihr Auto abgedrängt und sie ins Dunkle geschickt.
Sie schrie seinen Namen in die Düsternis: „Martin! - Martin?“ Stille.
Sie wollte die Autotür öffnen. Erfolglos.
Ihr Kopf sank auf das Lenkrad.
Drei Monate waren seitdem vergangen. Die düsteren Bilder aber waren geblieben. Es war das letzte Mal, dass sie ihren Mann gehört hatte. Gesehen hat sie ihn nicht mehr.
Wegen seiner schweren Kopfverletzungen sei es besser so, hatte der Arzt gemeint.
Martin war aus ihrem Leben verschwunden. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ohne Abschied. Er hatte sie verlassen. Für immer! Diese traurige Gewissheit traf sie wieder und wieder mit schmerzhafter Wucht.
Wenn sie mit ihm reden wollte, ging sie in den Friedwald. Allein. Die Buche, die sie für seine Asche ausgesucht hatte, gedieh prächtig. Er hatte Buchen sehr gemocht. Sie lauschte dem Gesang der Vögel. Ihr Gezwitscher stimmte sie friedlich.
Manchmal.
Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen, Krankenhaus für sie selbst:
Damit war sie klar gekommen. Ihre Prellungen und Schnittwunden waren schmerzhaft gewesen, verheilten aber innerhalb weniger Wochen.
Feuerwehr, Polizei, Leichenwagen für Martin: Damit kam sie nicht klar.
Die Schuldgefühle redeten ihr ein, sie hätte den Unfall verhindern können, wäre sie nicht ständig auf der linken Fahrspur gefahren. Und wenn es nicht so stark geregnet hätte, dann...
Hätte, wäre, wenn, dann! - Martin war tot!
Manchmal träumte sie, sie könnte alles ungeschehen machen. Sie war die gute Fee, die den Wolkenbruch stoppte und das Lenkrad des Transporters steuerte, so dass er nicht zum Überholen ansetzte. Sie konnte die Zeit vor dem Unfall anhalten und fuhr mit Martin zum Flughafen. Sie flogen nach Bilbao. So, wie sie es geplant hatten.
Sie stellte sich vor, wie sie mit Martin von Irún nach Santiago de Compostela pilgerte. Mit Rucksäcken bepackt wanderten sie auf steinigen Pfaden an Steilküsten entlang, stiegen hinunter zu verträumten Sandbuchten, legten sich in weißen, warmen Sand und schwammen ins Meer hinaus. Gemeinsam genossen sie die Landschaft zwischen Bergen und Meer, das Grün der Wälder und das Blau des Wassers, die Sonne und den Regen, die Dörfer und Städte, die Einsamkeit und das gemeinsame Unterwegssein.
Sie blieb im Bett liegen und träumte sich in eine andere Wirklichkeit. Im Halbdunkel ertastete sie das Kopfkissen auf der leeren Matratze neben sich und zog es an die Nase. Es roch immer noch nach Martin. Sie würde es niemals waschen.
„Guten Morgen, Sophie. Gut geschlafen?“ Seit Ewigkeiten hatte sie niemand mehr danach gefragt. Jetzt tat sie es selbst.
Immer öfter ertappte sie sich bei Selbstgesprächen.
„Sophie, jetzt reiß dich zusammen und steh auf!“
Das Gefühl des Verlassenseins war nach solchen Wunschträumen stärker als vorher. Am schlimmsten war es an einem verregneten Wochenende wie diesem, an dem auch der Himmel Trübsal blies. Paare konnten gemeinsam kochen und es sich zu Hause gemütlich machen. Aber allein? In ihrem Freundeskreis fühlte sie sich wie das fünfte Rad am Wagen. Alle bestätigten ihr, dass das nicht so sei, aber… Lustlos schlurfte sie in die Küche, betätigte den Kaffeeautomaten und den Toaster. Am Frühstückstisch wartete die Einsamkeit auf sie. Sonntags hatte Martin meistens das Frühstück gemacht, während sie die Brötchen holte. Er hatte Obst geschnitten und Apfelsinen ausgepresst. Sie hatten lange und ausgiebig gefrühstückt und sich dabei die Wochenendausgabe der Zeitung geteilt.
Sophie setzte sich an den Tisch und bestrich das Brot mit Marmelade. Der Stuhl gegenüber blieb leer. Sie schluckte ihre Tränen mit dem Kaffee hinunter.
Vielleicht konnte sie ja wieder mit den Enkelkindern in die Trampolinhalle gehen. Charlotte und Fabian hatten am vergangenen Sonntag so viel Spaß beim Trampolinspringen gehabt.
Sie holte das Telefon und wählte die Nummer ihres Sohnes.
Heiko meldete sich. Nein, sie seien gerade im Aufbruch, träfen sich mit Freunden im Rebstockbad in Frankfurt. „Du weißt doch, Fabian will bald sein Seepferdchen machen.“
Ja, sie wusste, und sie kannte die Freunde. Es waren die Eltern von Charlottes Freundin. Die beiden Mädchen waren vor zwei Monaten in die Schule gekommen. Sie saßen nebeneinander in der Schulbank und waren unzertrennlich. Freundinnen waren wichtiger als Omas.
„Wir sehen uns doch am Dienstag, oder?“ Heikos Stimme klang ungeduldig.
„Ja, ja. Ich dachte nur….“
„Okay. Es reicht, wenn du um sechs Uhr kommst.“
„Ich könnte auch schon eine Stunde früher kommen und mit Fabian spielen, damit er die Mädchen nicht...“
„Fabian ist doch bis um fünf bei der Musikalischen Früherziehung!“, unterbrach Heiko sie genervt.
„Ach ja, daran hab ich gar nicht mehr gedacht.“
„Also gut! Schönen Sonntag noch, und mach es dir gemütlich bei dem scheußlichen Wetter. Tschüss Mama!“
„Mach es dir gemütlich, Mama“, ahmte sie die Stimme ihres Sohnes nach und goss sich noch einen Kaffee ein. Geht doch alles ganz einfach! Du darfst dich nicht so hängen lassen!
Trauern ist ja gut und wichtig, aber das Leben geht doch weiter! Und denk dran, deine Ehe war nicht nur glücklich!
All die schlauen Ratschläge! Nein, ihre Ehe war nicht nur glücklich! Wirklich nicht! Aber wir haben uns geliebt. Verdammt noch mal! Es war gut, so wie es war! Einunddreißig Jahre mit Martin! Glückliche und schwere Jahre! Wir haben unsere Krisen gemeistert! Gemeinsam waren wir stark! Versteht das denn niemand? - Er fehlt mir!
Sie leerte ihre Kaffeetasse und räumte sie in die Spülmaschine.
Dann ging sie ins Bad. Martins Rasierwasser stand noch im Schrank neben dem Rasierapparat. Sie schraubte den Deckel ab und inhalierte den Duft.
Dann stellte sie sich unter die Dusche und hielt ihr Gesicht in den warmen Wasserstrahl. Das heulende Elend vermischte sich mit dem Duschwasser. Aber ihre tiefe Traurigkeit ließ sich nicht wegspülen.
„Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Ohne ihn?“
„Du musst lernen, deine Traurigkeit zu akzeptieren und mit ihr zu leben“, hatte die Therapeutin gesagt. „Der Kampf gegen den Schmerz mag dir manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheinen. Aber du musst dich ihm stellen. Denk an Martin, an das Schöne, an das, was dich glücklich gemacht hat. Würdest du das alles missen wollen?“
Nein, niemals würde sie all die Jahre mit Martin missen wollen. Sie hüllte sich in ein großes Badelaken und stellte sich ans Fenster. Der Wind wirbelte welke Blätter über die Straße.
Sophie schloss die Augen. Sie wünschte, er würde hinter sie treten und sie umarmen. So, wie er es oft getan hatte. Sie wollte seinen Körper spüren und seine Hände auf ihrer Haut. Sie wollte ihn bei sich haben! Jetzt und sofort! Die Erinnerung reichte ihr nicht!
Sie verfluchte ihre Sehnsucht.
Hinter den Nachbarhäusern leuchteten herbstlich noch bunt gefärbte Weinberge in der Sonne. Bald schon würde die farbige Pracht aus dem Rheinhessischen Hügelland verschwinden. Der Winter war nicht mehr weit.
Sie fröstelte.
So konnte es nicht weitergehen! Irgendwie musste sie sich aus dieser Lähmung befreien. Wahrscheinlich brauchte sie mehr Ablenkung. Dann würde es ihr schon gelingen. Sie musste sich einfach dazu zwingen!
Und das tat sie. Ab sofort joggte sie jeden Morgen eine halbe Stunde durch die Weinberge. Das Duschen danach ging schnell, und das Marmeladenbrot aß sie während des Anziehens. Mit dem Fahrrad fuhr sie in den kleinen Buchladen ihrer Freundin Karin, den sie seit mehr als zehn Jahren gemeinsam betrieben.
Wie in jedem Jahr kamen im Oktober, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, die Neuerscheinungen kistenweise. Sie war froh, wenn sie nach Feierabend allein im Laden sitzen und die Bücher etikettieren und einsortieren konnte. Allein im Buchladen war etwas anderes als allein zu Hause.
Sie klapperte die Grundschulen der Verbandsgemeinde ab und organisierte eine wöchentliche Vorlesestunde für die neuen Erstklässler. Sie ließ sich viel Zeit beim Auswählen der Bücher. Es war ihr wichtig, wenigstens einige der Kinder für das Lesen zu begeistern.
Karin staunte nicht schlecht und freute sich, dass Sophie an diesen Nachmittagen aufblühte.
Ihren freien Dienstagnachmittag verbrachte sie mit den Enkelkindern.
Außerdem meldete sie sich bei der Volkshochschule in Mainz zu einem Spanischkurs an. Es kostete sie viel Überwindung, nicht mit dem Fahrrad oder Zug, sondern mit dem Auto zu den wöchentlichen Unterrichtsstunden zu fahren.
Abends fiel sie todmüde ins Bett.
Manchmal ließ ein immer wiederkehrender Traum sie trotzdem nicht zur Ruhe kommen.
Sie rennt durch die Weinberge. Aber so viel sie sich auch anstrengt, sie kommt kaum von der Stelle. Starker Wind schlägt ihr entgegen. Atemlos steht sie plötzlich vor einer hohen Mauer. Sie sieht sich um. Ringsum bröckelt der Putz von den alten Steinen. Sie ist eingekerkert in einem Brunnenschacht. Moos und Kletterpflanzen quetschen sich durch die offenen Fugen.
Das Wasser reicht ihr bis zu den Knien. Ihr ist kalt. Feuchte Blätter fallen von oben herab und hüllen sie ein, werden immer dichter. Efeu wächst in Windeseile um sie herum. Sie kann sich nicht mehr bewegen, ist eingeklemmt zwischen nassem Laub, rankenden Pflanzen und Mauerwerk. Es wird dunkel. Sie hat Angst. Ein Lichtstrahl weckt sie auf.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich schwach, ohnmächtig und furchtbar allein. An solchen Tagen nutzten die besten Vorsätze nichts. Ohne Martin war sie einfach nur ein halber Mensch, fühlte sich wie amputiert. Ihr fehlte seine Energie.
Nach einer verregneten Woche ohne Lauftraining gab sie das tägliche Joggen wieder auf und beschränkte es auf ihre freien Tage.
Vor den Weihnachtsferien saß sie zum letzten Mal im Spanischkurs. Erstens gab es keinen Grund für sie, spanisch zu lernen und zweitens hatte sie weder Zeit noch Lust, Vokabeln zu pauken. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, als sie sich angemeldet hatte? Martin war tot und allein würde sie nicht nach Spanien fahren. Ja, vor einem Jahr hätte sie einen Grund gehabt. Aber da Martin die spanische Sprache perfekt beherrschte, hatte sie für sich keine Notwendigkeit gesehen. Er hätte alles Nötige mit den Einheimischen geklärt – für sie beide. Da wäre sie mit ihren paar Vokabeln sowieso nicht zu Wort gekommen. Sie hätte sich nur blamiert.
So war es doch immer gewesen. In jedem Urlaub, den sie in Spanien verbracht hatten und auch bei ihrer Wanderung von Porto nach Santiago de Compostela. Vor vier Jahren waren sie diese zweihundertvierzig Kilometer gemeinsam gelaufen. Sie hatte sich anstecken lassen von seiner Begeisterung für das Pilgern auf dem Jakobsweg. Wehmütig dachte sie an die zwei Wochen, in denen sie nebeneinander, den Rucksack auf dem Rücken, von Pilgerherberge zu Pilgerherberge gewandert waren.
Zwei Jahre zuvor war Martin allein über achthundert Kilometer auf dem Camino Francés gepilgert. Grund hierfür war sein Burnout gewesen. Als er nach fünf Wochen zurückkam, war er die Gelassenheit in Person. Ausgeglichen und glücklich.
Leider war er viel zu schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurückgefallen. Sie wusste nicht einmal, ob es an seinem Pflichtbewusstsein oder seinem Ehrgeiz lag, dass er sich ständig überforderte. Er hatte einen Hang zum Perfektionismus und immer ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter. Er kümmerte sich um alles und jeden. Keiner konnte und wusste über die Dinge so gut Bescheid wie er. Er wollte gar nicht, dass ihm jemand „das Wasser reichen konnte“. Weder zu Hause noch in der Firma.
Ja, mein Lieber, so warst du. Es war nicht immer einfach mit uns beiden. Wenn ich anderer Meinung war als du, hast du das als Angriff oder Vorwurf empfunden. Ich musste sie immer ganz geschickt verpacken, meine Ansichten! Am besten so, dass du sie dann als deine eigenen annehmen konntest. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ach Schatz, du fehlst mir so sehr! Auch deine Macken, für die ich dich früher manchmal gerne auf den Mond geschossen hätte.
Am dritten Adventswochenende reiste sie mit dem Zug nach Hamburg und besuchte ihre Tochter. Anna erwartete sie bereits am Bahnsteig. Ein eisiger Wind blies ihnen ins Gesicht, als sie das Bahnhofsgebäude verließen und zur U-Bahn-Station gingen.
„Schön, dass du dir Zeit für mich genommen hast“, sagte Sophie und zog ihren Koffer hinter sich her. Mit dem anderen Arm hängte sie sich bei ihrer Tochter ein.
„Ja, ich freu mich auch. In meiner Wohnung wartet übrigens jemand auf dich!“
„Hast du einen neuen Freund?“
„Nein! Den könnte ich momentan auch nicht gebrauchen. Stell dir vor, unser Architekturbüro nimmt an einem Wettbewerb zum Neubau eines Freizeitbades in Mainz teil. Ich werde gemeinsammit einem Kollegen Vorschläge erarbeiten.“
„Super! Sehe ich dich dann öfter?“
„Vielleicht. Auf jeden Fall komme ich über die Feiertage zu dir, wie versprochen.“
„Ja, darauf freue ich mich.“
Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen auf die U-Bahn in Richtung Schanzenviertel. Gestresste Hausfrauen, bepackt mit Einkaufstüten und Weihnachtspaketen, Berufstätige und Studenten, die ständig über ihr iPhone wischten. Sie alle strebten nach Hause, dem Wochenende entgegen.
Mitten im Gewühl entdeckte sie einen großen, grauhaarigen Mann. Sie kannte seine Körperhaltung. Ihr Herz klopfte. Martin? Er drehte sich um. Nein! Natürlich nicht!
Als der Zug hielt, begann das übliche Schubsen und Drängeln. Sekunden nur bis zur Abfahrt. Eine Viertelstunde ungewollte menschliche Nähe bis zur Ankunft. Nikotin, Alkohol, Schweiß, Knoblauch, Mundgeruch. Ekelhaft! Sie hasste diese Tuchfühlung mit Unbekannten. Es gab bestimmt genug Mitfahrer, die nicht stanken. Aber die standen heute nicht in ihrer Nähe.
Annas Wohnung befand sich in einem der renovierten alten Häuser, dritter Stock, im Schanzenviertel. Im Erdgeschoss war eine spanische Tapasbar. Sophie mochte diesen kunterbunten Hamburger Stadtteil sehr. Die vielen spanischen, griechischen und italienischen Lokale luden zum genüsslichen Verweilen ein, vor allem in den Sommermonaten, wenn das Leben sich draußen auf den Gassen abspielte. Jetzt waren die Straßen und Häuser weihnachtlich geschmückt. Das hässliche Graffiti-Geschmier an einigen Wänden verblasste zwischen Tannenbäumen und Kerzenschein.
„Bin gespannt, wer mich jetzt erwartet“, sagte sie und stieg die frisch gebohnerten Treppenstufen hinauf.
Anna schloss die Wohnungstür auf. Ein angenehmer Bratenduft kam ihnen entgegen.
„Hm, das riecht aber lecker!“ Sophie sog die Luft ein. „Ich hab einen Riesenhunger!“
„Das trifft sich ja guhuhut!“, tönte ein fröhlicher Singsang aus der Küche.
„Manu???“ Sophie ließ ihren Koffer fallen und eilte durch den Korridor.
Als sie ihre Schwester am Herd stehen sah, blieb sie eine Sekunde lang unschlüssig in der Tür stehen.
„Hallo, Schwesterchen!“
Sie musterte Manu von oben bis unten. Ihre langen, schlanken Beine steckten in einer engen Jeans, die Farben der modischen Bluse spiegelten sich in ihren dunkelbraunen Augen wieder.
„Gut siehst du aus! Die kurzen Haare stehen dir.“
„Tja, man tut was man kann“, lachte Manu selbstgefällig, legte den Rührlöffel beiseite und nahm ihre Schwester fest in die Arme. Sie beugte sich dabei etwas zu demonstrativ nach unten, fand Sophie. Wie immer!
„Ich freue mich auch, dich endlich mal wieder zu sehen!“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und ignorierte Manus Frage, ob sie bereits geschrumpft sei.
„Na, die Überraschung ist uns gelungen, oder?“, freute sich Anna.
„Das kannst du wohl sagen!“ Sophie drückte ihrer Tochter den Wintermantel in die Hand. „Hängst du den bitte auf?“
Manu machte sich wieder an den Kochtöpfen zu schaffen. Sophie runzelte die Stirn. „Ich überlege gerade, wann wir uns zum letzten Mal gesehen haben. War das bei Mamas Beerdigung?“
„Ja! Und die ist im April zwei Jahre her.“
„Mein Gott, so lange schon!“ Vor Sophies Augen stieg das Bild der mit dem Tod kämpfenden, abgemagerten Frau hoch, die einst ihre Mutter gewesen war. Sie schob es zur Seite und erinnerte sich lieber an die mollige, lebensfrohe Mama, die ihr den ewigen Kampf mit dem Hüftspeck vererbt hatte.
„Denkst du oft an sie?“, fragte sie.
Manus Stimme klang vorwurfsvoll: „Zwangsläufig! Schließlich pflege ich das Grab unserer Eltern, falls du das vergessen hast!“
„Entschuldigung!“, beeilte Sophie sich zu sagen und wechselte das Thema. „Warum bist du jetzt hier in Hamburg?“
„Ich besuche ein Fortbildungsseminar über Osteopathie.“
Manu war vor drei Jahren von Lindau in die alte Hansestadt Lemgo gezogen. Sophie und sie hatten in diesem geschichtsträchtigen, ostwestfälischen Städtchen, das inmitten des lippischen Hügellandes liegt, ihre Kindheit verbracht. Die Eltern waren dort auf dem Friedhof begraben.
Manu hatte in Lemgo eine Praxis für Osteopathie und Physiotherapie übernommen, nachdem der Inhaber sich zur Ruhe gesetzt hatte. Endgültig war der Übergabevertrag vor einem halben Jahr unterzeichnet worden. Wegen der vielen damit verbundenen Arbeiten war sie nicht zu Martins Trauerfeier gekommen. Außerdem war ihr sein plötzlicher Tod auf den Magen geschlagen. Den Tag seiner Beisetzung verbrachte sie in Bett und Bad.
Auch in den darauffolgenden Monaten hatte sie ihre vierzehn Jahre ältere Schwester nicht besucht. Ab und zu ein Telefonat oder eine E-Mail mussten reichen! Sie eignete sich nicht als Seelentröster.
Sie war jetzt vierundvierzig und fand, dass das Leben ihr noch etwas schuldete.
Ihre Schwester war da anders gepolt. Aber was wusste die schon! Sie hatte ja Martin – gehabt.
Manu hatte ihre Probleme immer allein bewältigt. Sie brauchte niemanden.
Bereits mit neunzehn war sie schwanger geworden und hatte ihren damaligen Freund Bastian Siegl geheiratet. Er war Assistenzarzt an der Orthopädischen Rehaklinik in Konstanz und gab Unterricht an der Schule für Krankengymnastik, die sie damals besuchte. Sie zogen in das Haus der Schwiegereltern ein, was ein großer Fehler war. Aber das merkte sie erst, als es zu spät war…
Sie hatte so vieles falsch gemacht in ihrem Leben. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken. Ihr Leben war mit ebenso vielen falschen Hoffnungen wie Männern bespickt gewesen. Sie wollte endlich etwas richtig machen. Deshalb nahm sie das Angebot in ihrem Heimatort an, als ihre Mutter krank wurde. Ein Jahr lang war sie fast täglich bei ihr gewesen und hatte die Pflegerin bei ihrer Arbeit unterstützt. Niemand hatte geglaubt, dass Mama so schnell sterben würde.
Es war ihr schwer gefallen, den Bodensee und die Alpen gegen das ostwestfälische Bergland zu tauschen. Die Städte Lindau und Lemgo ähnelten sich nur durch die schön renovierten, alten Gebäude. Die kleinen Försterteiche im Lemgoer Wald konnten den Bodensee nicht ersetzen.
„Das Seminar geht von Sonntag bis Dienstag“, erklärte Manu.
„Ich will nach Möglichkeit noch am Dienstagabend wieder zurückfahren. Will meine drei Mitarbeiter nicht länger als nötig allein lassen.“
Sieh an, sieh an, dachte Sophie, meine kleine, verwöhnte Schwester hat wohl doch gelernt, Verantwortung zu übernehmen.
„Schön, dann haben wir ja den ganzen Samstag für uns!“, sagte sie.
„So war es geplant“, mischte Anna sich ein. „Und jetzt setzt ihr beide euch bitte an den Tisch, damit ihr mir nicht im Weg steht.“ Sie holte den Bratentopf aus dem Backofen und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. Mit einem Fleischermesser löste sie das zarte Lammfleisch vom Knochen und richtete es auf einer Platte an.
Sophie beobachtete ihre Tochter. Sie hielt das Messer genauso wie Martin, mit ausgestrecktem Zeigefinger… Ostern, ja am Ostersonntag hatten sie auch Lammbraten gegessen… niemand ahnte damals, dass Martin nur noch ein Vierteljahr leben würde…
„Stürzen wir uns morgen ins Weihnachtsgetümmel oder flüchten wir in die Natur?“, unterbrach Manu ihre trüben Gedanken.
„Ich bin fürs Getümmel. Da weht nicht so ein kalter Wind“, meldete sich Anna. „Außerdem muss ich noch ein paar Kleinigkeiten besorgen.“ Sie schickte einen fragenden Blick in die Runde. „Ihr braucht doch bestimmt auch noch das ein oder andere Geschenk, oder?“
„Oh ja, Shoppen ist gut. Und wenn wir genug Geld ausgegeben haben, gehen wir lecker essen“, meinte Manu.
„Und anschließend besuchen wir ein Weihnachtskonzert in der Michaeliskirche. Habt ihr Lust? Wäre doch ein schöner Abschluss unseres Frauentages“, schlug Anna vor.
„Hört sich gut an!“ Sophie erhob ihr Glas und prostete Manu zu. „Auf unser Wiedersehen und auf Anna!“
Am späten Samstagabend stapelten sich die Einkaufstüten im Korridor, und die Füße wollten hoch gelegt werden. Manu trällerte fröhlich ein Lied aus Kindertagen: „In der Weihnachtsbäckerei gibt’s so manche Kleckerei…“, während sie ihre Straßenkleidung gegen den Schlafanzug tauschte.
Anna zog eine Flasche Rotwein auf. Die Schwestern saßen bereits auf dem Sofa. Ihre Füße ruhten friedlich nebeneinander auf dem Couchtisch.
„Pyjama-Party, wie früher“, erinnerte sich Anna, „wenn wir Familienfernsehabend gemacht haben.“
„Dann musst du aber auch Fanta trinken und Chips essen!“,
meinte Sophie und grinste ihre Tochter an.
„Damit kann ich leider nicht dienen. Aber ich hab eine bessere Idee.“ Anna stand auf und verschwand in der Küche. Kurz danach kam sie mit einem Teller zurück, auf dem Käsewürfel und Schinkenstreifen neben Oliven und Minitomaten lagen.
Sophie langte gleich zu. „Hm, ist das Serranoschinken?“, fragte sie noch kauend.
„Ja, den isst du doch gerne. Das ist auch spanischer Käse.
Manchego.“
„Bist ein Schatz!“
Die spanischen Spezialitäten lösten eine ausgiebige Unterhaltung über Urlaubserlebnisse in Spanien und anderswo aus.
Irgendwann tippte Manu mit ihrem Fuß gegen den von Sophie:
„Sag mal, was ist eigentlich aus deinem Plan geworden, den spanischen Küstenweg zu gehen?“
Sophie war überrascht. „Das war Martins Plan! Er wollte zum Auftakt in seinen Ruhestand den Jakobsweg laufen! Nicht ich!“
Sie steckte sich ein Stückchen Käse in den Mund und kaute langsam darauf herum.
„Aber du wolltest doch mit ihm gehen!“
„Naja, das schon.“
„Was heißt hier ‚das schon‘?“ Manu wurde neugierig.
Sophie zögerte. Irgendwie hatte sie sich vergaloppiert. Es ging ihre kleine Schwester einen feuchten Kehricht an, dass Martin ursprünglich allein laufen wollte. Er war nicht begeistert gewesen von ihrer Idee, fünf Wochen gemeinsam zu pilgern. Wochenlang hatte sie ihn bearbeiten müssen, bis er „meinetwegen“ gesagt hatte und „…aber wenigstens ein paar Tage möchte ich ganz allein unterwegs sein. Da wirst du dann auch allein pilgern müssen. Schaffst du das?“ - „Wird schon gehen“, hatte sie geantwortet, obwohl sie es sich nicht vorstellen konnte.
„Allein würde ich so eine Tour nicht machen“, beantwortete sie wahrheitsgemäß Manus Frage.
Martin hatte sich minutiös auf diese Reise vorbereitet. Jede Etappe war genauestens nach Höhenmetern und Entfernung berechnet, jede in Frage kommende Unterkunft markiert und jeder Wandertag geplant. So war er. Nichts konnte er dem Zufall überlassen.
Vielleicht hatte sein Beruf das mit sich gebracht. Er war Ingenieur der Verfahrenstechnik und hatte Produktionsanlagen geplant. Penetrant genaue Berechnungen waren seine tägliche Herausforderung. Es machte ihn wütend, wenn jemand seine Anweisungen nicht befolgte. Allerdings brachte ihn auch etwas Unvorhergesehenes in der Regel nur kurz aus dem Gleichgewicht. Fast immer hatte er schnell eine neue Lösung parat.
Auch in der Familie. Er glaubte immer, zu wissen, wie alles ablaufen musste, damit es gut war.
Manchmal hatte sie ihn wegen seiner Rechthaberei zum Teufel gewünscht. Irgendwann hatte sie aufgehört, eigene Vorschläge zu machen. Streit war ihr zuwider.
Und jetzt fehlten ihr seine Ideen.
Allein nach Martins Plänen am Meer entlang wandern? Ohne seine Nähe, die ihr Sicherheit gab? Ohne seinen Enthusiasmus, von dem sie sich so gerne anstecken ließ? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
„Wie lang ist denn die Strecke, die ihr pilgern wolltet?“, unterbrach Manu ihre Gedanken.
„Von Irún nach Santiago de Compostela sind es so etwa achthundertsechzig Kilometer.“
„Oho, alle Achtung!“ Manu war überrascht.
„Martin und ich hatten sechs Wochen dafür eingeplant“, sagte sie, nicht ohne Stolz.
Manu runzelte die Stirn. „Irgendwie würde mich so etwas auch mal reizen, aber…“, sie traf ihre Schwester mit einem skeptischen Blick, „könntest du dir vorstellen, so lange Zeit mit mir zu verbringen?“
Sophie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung! Du mit mir?“
„Weiß nicht! – Aber das geht sowieso nicht. Ich kann nicht sechs Wochen Urlaub machen.“
Sophie musterte Manu eindringlich. Eigentlich war die Vorstellung, mit ihr einen Teil des Küstenweges zu erwandern, doch gar nicht so schlecht. „Wir müssen ja nicht bis Santiago laufen“, sagte sie. „Wir könnten uns ein schönes Teilstück aussuchen und vielleicht zwei oder drei Wochen unterwegs sein.“
„Vielleicht, ja. Ich muss mir das mal durch den Kopf gehen lassen. Es wäre immerhin eine Möglichkeit, unsere schwesterliche Beziehung ein bisschen aufzupeppen.“ Manu grinste herausfordernd.
Sophie hielt ihrem Blick stand. „Eben! – Schlafen wir erst mal drüber“, antwortete sie.
Manu blickte auf die Uhr. „O Gott, schon gleich ein Uhr!“ Sie löste sich aus dem Lotussitz und leerte ihr Glas. „Um halb acht will ich aufstehen.“
„Frühstück um viertel nach acht“, kündigte Anna an.
„Okay!“ Manu gähnte herzhaft und verschwand im Bad.
Endlich! Die Weihnachtstage waren vorbei. Sophie lag todmüde im Bett, konnte aber nicht einschlafen. Das erste Weihnachtsfest ohne Martin!
Der Heilige Abend bei Heiko und Silke war turbulent. Die Enkelkinder hatten ihr keine Zeit zum Traurigsein gelassen, und die Kinderchristmette war so kindgerecht, dass kein Platz für ihre eigenen Befindlichkeiten blieb.
Den Weihnachtsbraten für den ersten Feiertag hatte sie vorbereitet. Wie immer, saß sie mit ihren Kindern am späten Nachmittag gemeinsam am Tisch. Auf Martins Platz brannte eine dicke Kerze zwischen grünen Tannenzweigen.
Vorher hatte sie mit Anna an einem Hochamt in der Mainzer Barockkirche St. Peter teilgenommen. Mit Martin war sie oft hier gewesen. Sie liebten diese Kirche mit der herrlichen Orgel, die eine Herzensangelegenheit des Organisten war. Er spielte so göttlich darauf, dass sich allein deswegen ein Besuch lohnte.
Beim „Gloria“ stellten sich die Härchen auf ihren Armen hoch. Sie sang aus vollem Herzen „Adeste fideles“ und „In dulci jubilo“. Es war nicht schlimm, dass ihre Augen feucht wurden.
Es war Weihnachten! Das Fest der Liebe. Sie hatte gesunde Kinder und Enkel, eine Schwester, gute Freunde und einen wunderbaren Beruf. Sie war nicht allein!
Jetzt lag Anna neben ihr in Martins Bett und schlief.
Morgen wollten sie gemeinsam Martins Schränke ausräumen.
Sie stand auf und ging ins Bad, um eine Schlaftablette zu schlucken.
In Martins Kleiderschrank warteten genähte und gestrickte Erinnerungen.
Den dicken Pullover mit dem Norwegermuster hatten sie sich beide von einem Segelurlaub in Schweden mitgebracht. Ihrer war nur in Nuancen anders gemustert. Kratzig und leicht verfilzt, aber herrlich warm waren sie beide. Liebevoll strich sie über die dicken Maschen und steckte ihn in die Tüte für die Obdachlosen.
Die neue Radlerhose, die sie Martin zum Geburtstag geschenkt hatte, konnte Heiko vielleicht noch gebrauchen.
Den grauen Anzug hatte er sich zur Silberhochzeit gekauft. Mit den Kindern und ehemaligen Trauzeugen waren sie zum Essen in ein Sternerestaurant gegangen und danach verreist. Wanderurlaub in den Dolomiten.
Die dunkelblaue Krawatte mit hellblauem Strichkaro hatte er zu Fabians Taufe getragen.
Sein kariertes Lieblingshemd und die dunkelblaue Fleecejacke, die selbst im Hochsommer immer dabei sein musste, waren an den Kanten schon ausgefranst. Also, nicht lange überlegen und ab in die Tonne!
Sie war froh, dass Heiko sich bereits einige Pullover und Hemden ausgesucht hatte, die er weitertragen wollte.
Jede Hosen- und Jackentasche krempelte sie auf links, entlud Kleingeld, Notizzettel und Tempotücher.
Was ihr Mann alles in seinen Taschen sammelte, war für sie schon immer ein Abenteuer gewesen, und sie wunderte sich, was da noch zutage kam. Hatte sie die Taschen nicht immer geleert, bevor sie die Sachen wieder in den Schrank gehängt hatte?
Neugierig faltete sie einen Notizzettel auseinander. Eine Telefonnummer, die ihr bekannt vorkam, die sie aber nicht zuordnen konnte. „Dringend anrufen!“ stand daneben. War bestimmt etwas Geschäftliches. Sie knüllte ihn zusammen und warf ihn in die Mülltüte.
Anna stand auf einer Leiter und hievte einen Textilkoffer aus dem obersten Regal. „Nimm mal an, bitte! Was ist denn da drin?“
„Sein ganzer Fastnachtskram. Jacken, Kostüme und so was.
Das war ihm heilig. Da durfte ich nicht dran!“
„Darf ich mal reingucken?“
„Na klar!“
Ordentlich gefaltet lag die Jacke mit den lachenden Gesichtern von fünf Schwellköppen oben drauf. Anna hob sie an und beäugte vorsichtig die darunter liegenden Sachen. Weiße Hosen und Shirts, die er als „Schwellkoppträscher bei de Meenzer Fastnacht“ getragen hatte, kamen zum Vorschein. Darunter Kostüme vom Männerballett: Knallige Shirts, bunte Röcke, eine Korsage, ein rosa Seidenkleid, Netzstrumpfhosen und allerlei Plüschiges.
„Was machst du damit?“, fragte Anna und zog einen dicken Umschlag unter den Kostümen hervor.
„Ich frag unseren Vereinsvorsitzenden. Nach Weihnachten geht die Kampagne ja erst richtig los. Da gibt es bestimmt genug Leute, die sich freuen, ein originelles Kostüm zu bekommen.
Stell den Koffer in sein Zimmer. Nach den Feiertagen bringe ich ihn weg. - Was hast du denn da? Gib mal her!“
Der Umschlag war nicht zugeklebt. Sophie zog ein Foto heraus. Es zeigte Martin, sie selbst, Manu und deren beste Freundin Petra, Arm in Arm. Sie hatten sich alle als Piraten kostümiert und blickten lachend in die Kamera.
„Ach, schau mal! Da ist Manu höchstens siebzehn oder achtzehn.“
„Wow! Sieht scharf aus, der Fetzen, den sie da anhat!“
„Sie hatte auch viele Verehrer an dem Abend, aber sie hat nur mit ihrer Freundin und mit Papa getanzt! Hat ihn den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen und ihn angehimmelt. Ist ihm ganz schön lästig geworden, die Kleine. Wir sind dann mit Freunden in der Sektbar untergetaucht und haben ihn so gerettet. Natürlich nicht, ohne ihn gehörig damit aufzuziehen, dass er bei seiner zwanzig Jahre jüngeren Schwägerin solche Chancen hat.“
„Papa war ja auch ein guter Tänzer.“
„War er“, seufzte Sophie und steckte das Foto wieder zurück zu den anderen. „Lauter Fastnachtsfotos. Aber wenn wir uns die jetzt alle ansehen, werden wir nicht fertig!“ Abrupt legte sie den Umschlag auf den Nachttisch.
Plötzlich hatte sie es eilig. In Windeseile stopfte sie T-Shirts, Unterwäsche, Socken und Schlafanzüge in blaue Mülltüten, und wenige Minuten später waren Schrank und Kommode leer geräumt. Annas verwunderten Blick sah sie nicht.
„Die kommen in den Container. Kannst sie gleich mitnehmen.“
„Okay!“
„Die Heimwerkerutensilien aus dem Keller hat Heiko zum Teil schon mitgenommen. Kannst ja mal unten nachsehen, ob du noch was gebrauchen kannst. Papas Arbeitszimmer nehme ich mir in den nächsten Tagen vor. Jetzt habe ich keine Lust mehr. Kannst du noch Zirkel und anderen Zeichenkram gebrauchen?
Ich pack ihn dir dann zusammen.“
„Ja! Ich kann doch grad selbst mal nachsehen, was er so alles im Schreibtisch hat.“
„Nein! Das mache ich! Jetzt hören wir auf!“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.
Sein Arbeitszimmer lag ihr wie ein fettes Essen im Magen. Sie fühlte sich noch nicht stark genug dafür. Es war, als würde sie in sein ganz persönliches Ich eindringen, wenn sie seinen Schreibtisch durchwühlte. Sie hatten persönliche Notizen immer gegenseitig respektiert. Tagebuch- oder Kalendereintragungen des anderen waren ein Tabu. Das war für beide selbstverständlich gewesen.
Sie musste sich Zeit lassen. Irgendwann würde sie bereit sein. Aber nicht heute und nicht mit ihrer Tochter.
Zum Jahreswechsel fuhr Sophie nach Lemgo. Sie hatte Manus Einladung gerne angenommen. So konnte sie die seit vielen Jahren übliche Silvesterfeier mit den Freunden ruhigen Gewissens absagen. Ohne Martin hätte sie sich nicht stark genug in der Gruppe gefühlt. Wie würde sie um Mitternacht dastehen, wenn alle Paare sich küssen! Der Gedanke allein löste eine Gänsehaut bei ihr aus. Sie freute sich, wegfahren zu können und mit mehr oder weniger fremden Menschen ins neue Jahr zu rutschen.
Am Zugfenster glitt das Hessische Bergland vorbei. Sanfte, bewaldete Hügel, weite Wiesen und Felder. Kindheitserinnerungen an die wenigen gemeinsamen Jahre mit Manu stiegen auf.
Als Mama ihr erzählte, dass sie ein Geschwisterchen bekommen würde, war sie dreizehn Jahre alt. Mamas Menstruation war ausgeblieben, und Sophie hatte ihre zum ersten Mal bekommen.
Sie lag auf dem Sofa, die Wärmflasche auf dem Bauch. Mama hatte sich daneben gesetzt. Ihr dicker Popo drückte gegen Sophies Beine. In der Hand hielt sie eine Tasse mit heißem Kräutertee. Mamas Mixtur aus Salbei, Ingwer, Baldrian, Minze und Melisse half nicht nur bei Bauchschmerzen, sondern mit einem dicken Löffel Honig auch bei Erkältungen und Wehwehchen aller Art.
Mama streichelte ihr über den Kopf und erzählte von dem kleinen Wesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.
Alles war schrecklich aufregend! Ein Baby! Im ersten Moment war sie so verdattert über diese Neuigkeit, dass sie sich nicht einmal freuen konnte. Aber Mama schaffte es, sie mit ihrer Freude anzustecken. Gemeinsam schmiedeten sie Pläne, wie das Baby wohl heißen könnte, was es brauchen würde, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden sollte und vieles mehr.
Mama verstand es, ihr das Frau-Werden und das Frau-Sein genauso wie das spätere Mutter-Werden und Mutter-Sein als die schönste Sache der Welt zu erklären.
Sophies Pubertät und Mamas Schwangerschaft waren eine ganz wichtige, wunderschöne Gemeinsamkeit. Papa fragte manchmal, mit einem schelmischen Lachen im Gesicht, ob in ihren Herzen für ihn auch noch ein Plätzchen frei sei.
Und dann war sie da: Manuela Birgitta! Natürlich war sie das süßeste Baby in ganz Ostwestfalen-Lippe. Die Besucher gaben sich die Tür in die Hand. Jeder wollte den Winzling sehen und auf den Arm nehmen.
Klar, war sie stolz auf ihre kleine Schwester. Aber nach den ersten Wochen gingen ihr das nächtliche Geschrei und das ganze Getue um dieses kleine Wesen tüchtig auf den Wecker.
Dazu kam das nervige Spazierenfahren mit dem Kinderwagen, damit Mama in Ruhe die Kundschaft bedienen konnte. Mama stand für ihr Leben gerne im Laden und verkaufte Schuhe, während Papa meistens am Schreibtisch saß und die kaufmännischen Arbeiten erledigte.
Mein Gott, war ihr das Kinderwagenschieben peinlich gewesen! Die Vorstellung, dass jemand sie für die Mutter halten könnte, war entsetzlich. Wäre ja theoretisch möglich gewesen!
Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag weigerte sie sich zum ersten Mal, mit der einjährigen Manu auf den Spielplatz zu gehen. Sie hatte sich nach der Schule mit Freunden verabredet.
Nach einem riesigen Krach hatte Mama sie gezwungen, Manu mitzunehmen. Der Treffpunkt war im Park, der ehemaligen Wallanlage, die rund um den historischen Stadtkern führte.
Manu lag angeschnallt im Buggy und schlief. Sophie stellte ihn unter einen Baum und ging zu den anderen.
Irgendwann wachte die Kleine jedoch auf und schrie wie am Spieß. Sophie überhörte das Schreien. Sie lag bäuchlings auf der Picknickdecke und trank Cola. In der Mitte stand ein Kofferradio, aus dem laute Musik dröhnte. Den Refrain von „Yellow submarine“ grölten sie alle mit.
Plötzlich schrie jemand: „Deine Schwester!“
Eine Frau hatte sich den Kinderwagen gegriffen und entfernte sich mit schnellen Schritten. Gefolgt von sämtlichen Freundinnen und Freunden war Sophie hinter ihr hergerannt. Als sie sie schweißgebadet eingeholt hatte, wollte ihr die Frau den Kinderwagen nicht geben, sondern ihn mitsamt der schreienden Manu zur Polizei bringen. Sie beschimpfte Sophie auf übelste Weise. Sie drohte mit dem Jugendamt, damit ihre Eltern erführen, welch verantwortungslose Tochter sie hätten. Erst als ihre Freundinnen und Freunde für sie Partei ergriffen, überließ sie ihr die kleine Schwester wieder.
Manu stank fürchterlich und brüllte, bis sie zu Hause waren.
Nächtelang hatte Sophie kaum geschlafen. Das schlechte Gewissen und die Angst vor dem Jugendamt ließen ihr keine Ruhe. Wie enttäuscht würden Mama und Papa sein, wenn sie davon erführen, und das Jugendamt würde sie bestimmt in ein Heim für schwer erziehbare Kinder stecken. Hoffentlich verpetzte diese blöde Kuh sie nicht!
Zum Glück tat sie es nicht.
Eines Tages war ihre anfängliche Begeisterung für die kleine Schwester dann ganz verschwunden. Neid und Eifersucht machten sich breit.
Die süße Kleine wurde von allen nur verwöhnt. Total ungerecht!
Sophie musste den Tisch decken, spülen und einkaufen gehen, Manu durfte spielen.
Während sie Manus Spielsachen aufräumte, räumte die ihre Schubladen aus.
Hatte Sophie das Essen gekocht, spuckte die Kleine es über den Tisch: „Schmeckt nicht! Die Mama soll kochen!“
Saß Sophie mit Freundin oder Freund in ihrem Zimmer, bollerte die kleine Hexe so lange gegen die Tür, bis jemand sie rein ließ.
Wollte sie in Ruhe Musik hören, ertönte aus dem Nachbarzimmer das „Törööö“ von Benjamin Blümchen in voller Lautstärke.
Einfach nervig!!!
Manu war fünf, als Sophie das Abitur machte. Sie zog von Lemgo nach Mainz, um Germanistik und Literaturwissenschaften zu studieren. Mama heulte, Sophie auch. Die Telefondrähte zwischen Mainz und Lemgo liefen nur in den ersten Monaten heiß. Dann hatte sie neue Freundschaften geschlossen. Sie stürzte sich mit Macht in das aufregende Studentenleben und genoss die Freiheit der eigenen Entscheidungen.
Gesehen haben sich die Schwestern danach nur noch selten. Vielleicht ein- bis zweimal im Jahr, wenn Sophie in den Semesterferien zu Besuch in Lemgo war. Lange hielt sie es allerdings nie zu Hause aus. Alles war ihr zu eng und zu spießbürgerlich geworden.
Manu hatte zwar die gleichen Eltern, aber ansonsten nichts mit ihr gemeinsam, fand Sophie.
Manu war dreizehn, als Martin und Sophie heirateten.
Nach der mittleren Reife und einem Praktikum bekam Manu einen Platz auf einer privaten Krankenpflegeschule in Konstanz. Dort lernte sie den jungen Assistenzarzt Bastian kennen, den sie zwei Jahre später heiratete. Wenige Monate später wurde Tim geboren. Obwohl Tim und Sophies Tochter Anna nur ein halbes Jahr auseinander waren, haben sich die Schwestern auch damals nicht häufig getroffen. Wer verreist schon gern mit kleinen Kindern!
Sophie erinnerte sich allerdings, dass Manu nach Tims Geburt häufig angerufen hatte, um sich mit ihr auszutauschen. Scheinbar wollte sie mehr Kontakt haben. Die Babys waren immerhin ein gemeinsames Gesprächsthema. Aber weder sie noch Martin hatten das Bedürfnis, Manu und ihren Mann häufiger zu sehen. Die Eltern in Lemgo, Schwester und Schwager in Konstanz, sie selbst in Mainz: Die Entfernungen waren ein guter Grund, sich nur selten zu besuchen.
Ihre Mutter hatte sich immer wieder bemüht, sie alle gemeinsam um den Tisch zu bekommen. Aber das war ihr nicht oft gelungen.
Es war jetzt fünf Jahre her, dass die Eltern das Schuhgeschäft verkauft und die große Wohnung gegen eine kleine eingetauscht hatten. Ein Jahr später war Vater an einem plötzlichen Herztod gestorben. Kurz darauf wurde Mutter krank und Manu zog nach Lemgo. Sophie fand das vollkommen unnötig. Schließlich hatten sie eine Pflegerin für Mutter eingestellt. Aber das war Manu nicht gut genug. Sie hatte schon immer einen engeren Draht zu Mama gehabt. Naja, Mama wohl auch zu ihr. Schließlich war Manu das Nesthäkchen, das sich so gut einschleimen konnte.
Sie selbst war, so oft es ihr möglich war, nach Lemgo gefahren, um Mutter zu besuchen. Höchstens vier- oder fünfmal hatte sie sie im Pflegeheim besucht. Frühmorgens hin, am Spätnachmittag wieder zurück. Vier Stunden bei Mama, zwischendurch ein Kaffee mit Manu. Die Gespräche mit ihrer Schwester waren meistens kurz und knapp, um Formalitäten wegen der Pflegestufe, Kosten und Zuschüssen zu besprechen. Über persönliche Dinge haben sie fast nie geredet.
Martin war nie mitgefahren.
Dass Manu allein bei der Mutter war, als diese starb, machte Sophie immer noch zu schaffen. Sie selbst hatte das Krankenzimmer nur für kurze Zeit verlassen. Aber konnte sie Manu dafür verantwortlich machen?
Vielleicht hatten sie ja bald Zeit, über all das zu sprechen. Sie wussten einfach zu wenig voneinander.
Jetzt freute sie sich erst einmal auf die Silvesterfeier.
Manu hatte acht Gäste eingeladen. Die Vorstellungsrunde beim Aperitif verlief recht lustig, und die Unterhaltung beim Essen war interessant.
Sophie ignorierte ihren Alkoholpegel und trank viel zu viel Wein und Sekt. Sie redete, lachte und tanzte. War aufgekratzt bis zum Geht-nicht-mehr!
Bloß nicht zu den beiden turtelnden Pärchen gucken! Das ungute Bauchgefühl musste weggespült werden, bevor es sich breit machen konnte. Nur nicht rührselig werden! Dann lieber betrunken!
Gegen vier Uhr sah sie zum letzten Mal auf die Uhr. Keine Ahnung, wann und wie sie ins Bett gefallen war.
Am späten Vormittag wurde sie von Kaffeeduft geweckt. Ihr Kopf hämmerte und ihre Fußsohlen brannten.
„Mir geht es gar nicht gut“, jammerte sie und ließ sich auf das Sofa fallen.
Manu löste Alka-Selzer in Wasser auf und reichte ihrer Schwester das Glas.
„Hier, trink das und setz dich an den Frühstückstisch. Wenn du was gegessen hast, wird es dir besser gehen. Später machen wir einen Spaziergang.“
„Sag mal, wann bist du denn aufgestanden?“
„So gegen neun. Keine Sorge, bei mir kommt die Müdigkeit immer erst einen Tag später.“
Manu hatte die Küche bereits aufgeräumt und den Frühstückstisch gedeckt.
Sophie schlurfte ins Bad. Der Blick in den Spiegel verbesserte ihr Befinden nicht. Sie trank das Glas leer und ließ kaltes Wasser in ihre geöffneten Handflächen laufen. Dann tauchte sie ihr Gesicht hinein. Mit den Lebensgeistern erwachten auch ihre negativen Gedanken zu neuem Leben.
Meine kleine, verwöhnte Schwester! Irgendwie habe ich sie total unterschätzt! Sie scheint ihr Leben voll im Griff zu haben, auch ohne Mann. Hat eine Eigentumswohnung vom Feinsten, eine eigene Praxis und ein schickes Auto. Bestimmt hat sie jahrelang fette Unterhaltszahlungen für Tim kassiert. Ich muss sie unbedingt mal fragen, warum sie damals mit ihrem kleinen Sohn abgehauen ist. Der müsste jetzt auch schon Mitte zwanzig sein. Ja klar, ein halbes Jahr jünger als Anna! Sie hatte doch bestimmt nichts auszustehen - bei den netten Schwiegereltern!
War eine sympathische Frau, ihre Schwiegermutter. Ich hätte gerne so eine Oma gehabt, als die Kinder klein waren! Na ja, Schnee von gestern. Was Tim wohl macht? Seit der mit sechzehn zu seinem Vater gezogen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Seine Mutter scheint ihn ja nicht groß zu vermissen. Jedenfalls redet sie nie von ihm. Vielleicht reichen ihr die Freunde. Waren ja alle sehr nett gestern Abend. Schöne Party!
Und Schwesterchen eine perfekte Gastgeberin. Das muss der Neid ihr lassen! Hatte wirklich alles im Griff! Und ich? Ohne Martin bin ich nichts. Eine Niete! - Und jetzt fällt mir nicht mal der richtige Name meines tollen Tänzers ein. Furchtbar! Ob das erste Alterserscheinungen sind? Immerhin gehe ich stramm auf die sechzig zu. Ich muss Manu fragen.
Sie setzte sich an den Tisch. „Wie heißt eigentlich dein Nachbar richtig?“
„Du meinst Bolle?“
„Ja, aber das ist doch nicht sein richtiger Name, oder? Ich meine, er hätte sich anders vorgestellt.“
„Burkhard.“
Burkhard. Sympathisch, gebildet, humorvoll, alleinlebend, guter Tänzer. Fast so gut wie Martin.
Ach ja, Martin. Hast du mir zugesehen von da oben, mein Lieber? Ich habe an dich gedacht, den ganzen Abend. Manchmal hab ich mir eingebildet, ich läge in deinen Armen beim Tanzen. Es ist alles so anders ohne dich. – Was meinst du: Soll ich mit Manu nach Spanien fahren? Soll ich mit ihr nach deinen Plänen pilgern gehen? Ob das wohl gut gehen würde? Meine kleine Schwester und ich. Eigentlich ist sie ganz anders, als ich immer gedacht habe. - Wäre eine gute Gelegenheit für uns, sich besser kennenzulernen. Wir hatten früher einfach keinen Draht zueinander. Ich weiß gar nicht mal, ob das nur am Altersunterschied lag. - Du fehlst mir!
„Hallo Sophie! – Kaffee oder Tee? Was ist los? Träumst du?
Jetzt frag ich dich schon zum dritten Mal!“ Manu hielt die Kaffeekanne vor ihre Nase.
„O, Entschuldigung!“
„Hast wohl von Bolle geträumt, wie?“ Manu lachte aus vollem Hals.
„Nee, ich hab überlegt, ob das wohl gut geht, wenn wir beide gemeinsam unterwegs sind. – Kaffee bitte!“ Sophie reichte ihr die Tasse.
„Und? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“
„Ich meine, wir sollten es versuchen!“
„Finde ich auch! Schließlich haben wir viel nachzuholen.“
„Das glaub ich auch.“
„Außerdem sind wir seit dem Tod unserer Eltern unsere einzigen Blutsverwandten!“
„Das stimmt nicht! Du vergisst unsere Kinder! Apropos Kinder. Was macht Tim eigentlich?“ „Studiert Medizin.“
„Wo?“
„In Konstanz.“
„Wie geht es ihm?“
„Gut!“ Manu reichte ihr den Brotkorb und verfiel in einen Redeschwall. „Hier, probiere mal diese Hörnchen. Die sind wahnsinnig lecker! Der Bäcker hat von der Innung einen Preis dafür bekommen. Das Rezept ist streng geheim. Er macht alles noch selbst. Benutzt keine fertigen Backmischungen. Auch seine Kuchen sind einsame Spitze. Da kann man alle guten Vorsätze vergessen. Die sind eine Sünde wert! Vor allem die Donauwellen. Da könnt ich mich reinsetzen!“ Sie schnappte nach Luft, um dann gleich fortzufahren: „In Spanien gibt es übrigens auch gute Kuchen! Die dünnen Tartas mit Erdbeeren oder Äpfeln sind ein Traum. In Madrid habe ich mal eine Vanilletorte gegessen, die war umwerfend. Und nicht zu vergessen: Mandelkuchen! Tarta de Santiago! - Womit wir wieder beim Thema wären: Sollen wir nach dem Spaziergang mal nach Flugverbindungen sehen? Frankfurt – Bilbao?“
„Ja, das sollten wir.“
„Hast du eine Liste, was alles in den Rucksack gehört und was man Zuhause lassen kann, damit er nicht zu schwer wird?“
„Ja, ich schicke sie dir. Du kannst auch selbst mal auf den Webseiten der großen Pilgergesellschaften nachlesen. Entweder bei den Jakobusfreunden Paderborn oder bei der Fränkischen St. Jakobusgesellschaft Würzburg. Da stehen gute Infos.
Was da allerdings nicht steht, ist ein leichtes, knitterfreies Sommerkleid. Glaub mir, es ist ein wunderbares Gefühl, nach dem abendlichen Duschen mal keine Wanderhose anzuziehen.“ „Aha!“ Manu grinste ihre Schwester an. „Wieviel hat dein Rucksack gewogen?“
„Ungefähr sieben Kilo.“
„Oh, das ist aber wenig. Da habe ich schon ganz andere Zahlen gehört.“
„Wasser und Proviant kommen ja noch dazu. Man muss schon genau abwägen, was man wirklich unbedingt braucht“, sagte Sophie. „Glaubst du, dass du das schaffst?“
„Wieso nicht?“, fragte Manu empört.
„Ach, vergiss es!“, winkte Sophie ihre Frage wieder weg.
Sophie war wieder abgereist. Manu schob Bettwäsche und Handtücher in die Waschmaschine. Wahrscheinlich saß ihre Schwester jetzt im Zug und dachte darüber nach, ob es richtig gewesen war, die Flüge nach Bilbao zu buchen und gemeinsam den Jakobsweg zu pilgern.
Manu schüttelte den Kopf. „Manchmal ist sie schon ein bisschen komisch“, dachte sie. „Sie zweifelt an sich selbst und sieht überall Probleme. Na ja, vielleicht ist ja ihr plötzliches Witwendasein Schuld daran.“
Als Kind hatte sie ihre Schwester bewundert. Sophie war ihr Vorbild und ihre Ersatzmama, jedenfalls im Kleinkindalter.
Wenn Mama nicht da war, dann war es Sophie. Und wenn Mama ihr einen Wunsch nicht erfüllte, dann tat es Sophie.
In der Grundschule hatte sie mächtig mit ihrer großen Schwester geprahlt: „Die studiert schon! In Mainz!“
Ihre Schwester hatte das Abitur schon geschafft, als sie anfing, das Einmaleins zu lernen.
Wenn Sophie nach Lemgo kam, war Mama total aus dem Häuschen. Sie kaufte ein wie verrückt, um genug im Haus zu haben, damit auch Sophies Freundinnen nicht hungern mussten. Dabei war sie kaum daheim. Meistens traf sie sich mit den Freundinnen und Freunden irgendwo in einer Pizzeria, oder sie fuhren in eine Disco.
Und wenn sie daheim war, schwätzte sie ununterbrochen mit Mama. Dann war Manu absolut überflüssig. Wie Luft! Mama hatte ihr sowieso häufig das Gefühl gegeben, lästig zu sein.
Nur selten hatte sie Zeit für ihre jüngste Tochter. Sie stand ihr im Weg. Bei Papa hatte sie dieses Gefühl nie gehabt. Mit ihm ging sie ins Kino oder ins Schwimmbad.
Anders war es nur, wenn Sophie einen Freund mitbrachte. Das war aufregend! Am liebsten wäre sie dann den ganzen Tag hinter den beiden hergeschlichen und hätte beobachtet, wie sie Händchen hielten und sich küssten.
Manus Gedanken rankten sich weiter durch ihre Kindheit, während sie zu einem Lappen griff und das Bad putzte.
Der Erste, den Sophie aus Mainz anschleppte, war Friedrich. Ein lustiger Typ mit einem Pferdeschwanz. Student der Archäologie. Er hatte mit Manu im Sandkasten gebuddelt, obwohl sie damals bestimmt schon acht Jahre alt war. Und sie haben einen alten Knochen (bestimmt von einem Dino!) und einen Stein mit Muschelabdruck gefunden. Wahnsinn! Sie hat damals wirklich geglaubt, dass das dort in der Erde gesteckt hatte!