Die Schwestern vom Stachus - Lena Pauli - E-Book

Die Schwestern vom Stachus E-Book

Lena Pauli

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Beschreibung

»Die Liebe ist das Wichtigste. Ohne sie werden die Semmeln nichts.« München, 1948: Drei Jahre ist es her, dass die Schwestern Anita und Emmi beschlossen haben, die im Krieg zerstörte Großbäckerei ihres Vaters wieder aufzubauen. Einst gehörten die Simmerl-Semmeln zu den beliebtesten der Stadt, und daran wollen die beiden jungen Frauen wieder anknüpfen. Doch das ist leichter gesagt als getan: Das Geld ist knapp, Rohstoffe sind Mangelware und auch das Privatleben kommt den beiden immer wieder in die Quere. Während Emmi mit ihrer Tochter Annemarie auf die Rückkehr ihres Mannes wartet und immer wieder zum Bahnhof fährt, um den Heimkehrer abzuholen, kämpft die Witwe Anita mit einem neuen Verehrer und weiß nicht, was sie mit ihren Gefühlen anfangen soll. Doch so schwierig alles auch scheint, auf eines können sich die Schwestern verlassen: auf ihre Familienbande.

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Seitenzahl: 452

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Originalausgabe

© 2024 by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von www.buerosued.de

unter Verwendung von Shutterstock,

United Archives GmbH / Bridgeman Images und Joanna Czogala / Arcangel

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749906581

www.harpercollins.de

Prolog

München, 10. September 1945

Anita betrachtete die Fotografie in ihren Händen voller Wehmut. Sie zeigte ihren Vater, wie er in der Backstube stand. Es war ein sonniger Tag, was sogar auf der Schwarz-Weiß-Fotografie zu erkennen war. Er blickte nicht in die Kamera, sondern war mit dem Kneten eines Teiges beschäftigt. Anita konnte nicht sagen, wie oft sie ihn so gesehen hatte. In seiner täglichen Arbeitskleidung: dem grauen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, die braune Hose dazu, darüber seine Schürze. Auf seinem bereits ergrauten und schütter gewordenen Haar saß die Bäckermütze. Sie hatte die alte Backstube in den Sommermonaten immer besonders gerngehabt, wenn die Sonne bereits ganz früh ihre goldenen Strahlen in den Raum gesandt und die unzähligen, in der Luft umherschwirrenden Mehlpartikel zum Funkeln gebracht hatte. Sie war für sie in diesen Momenten immer wie ein verzauberter Wunderort gewesen, ausgefüllt von dem besten Duft überhaupt. Die Welt war dort draußen gewesen, und hier drinnen hatte ihr Papa die großartigsten Semmeln gebacken, die die Welt jemals gegessen hatte.

»So werde ich ihn mein Leben lang in Erinnerung behalten«, sagte Emmi und riss Anita aus ihren Gedanken. Emmi, ihre kleine Schwester, die neben ihr auf der Steinstufe vor der in Trümmern liegenden Backstube saß. Die mit ihr gemeinsam das alte Fotoalbum ansah und vermutlich dieselbe Wehmut in ihrem Inneren verspürte wie Anita selbst. Der Bäcker Anton Simmerl war in den Zwanzigerjahren nach München gekommen und hatte davon geträumt, die ganze Stadt mit den besten Semmeln zu versorgen. Ihr Vater, ein Träumer, wie ihn ihre Mutter immer mit einem Lächeln auf den Lippen genannt hatte. Bäcker gab es viele, besonders in einer solch großen Stadt wie München. Doch der junge Mann hatte sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen, und er hatte es mit harter Arbeit und Beharrlichkeit tatsächlich geschafft, aus der kleinen Bäckerei eine Großbäckerei zu erschaffen. Ihre Simmerl-Semmeln kannte schon bald in München jedes Kind. Heute war sein Geburtstag. Anton Simmerl wäre heute siebenundsechzig Jahre alt geworden. Den Krieg und die Zerstörung seines Lebenstraums hatte er zum Glück nicht mehr miterleben müssen. Es war auch so schon schwer genug für ihn gewesen. Die letzten Jahre seines Lebens hatte er alles um sich herum vergessen. Er hatte vergessen, wie man die besten Semmeln der Welt backte, war still geworden, und das von Anita so sehr geliebte Leuchten in seinen Augen war erloschen.

»Ich wünschte, ich könnte ihn noch einmal so sehen«, sagte sie und berührte mit den Fingerspitzen die Fotografie. »Oder mit ihm gemeinsam backen. Weißt du noch?« Sie hob den Blick und sah Emmi an. »Wie er uns gezeigt hat, wie man die Semmeln backt? Wie er immer die Hand gehoben und so getan hat, als würde er eine Zutat aus der Luft holen und sie dem Teig hinzufügen? ›Das ist die Liebe‹, hat er immer gesagt. Ohne sie würden die Semmeln nie richtig gut werden. Das dürften wir niemals im Leben vergessen.«

Emmi nickte, in ihren Augen schimmerten nun Tränen. »Ja, die Liebe ist das Wichtigste. Ohne sie werden die Semmeln nichts.«

Beide Schwestern blickten einen Moment lang schweigend auf die Fotografie. Es war Emmi, die sich als Erste wieder zu Wort meldete.

»Wir müssen es schaffen«, sagte sie. »Wir müssen Simmerl-Semmeln wiederaufbauen. Das sind wir ihm schuldig.«

»Ich weiß«, antwortete Anita und spürte Beklommenheit in sich aufsteigen. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir die Kraft dazu haben. Sei uns nicht böse, Papa, wenn wir es nicht schaffen. Wir versprechen dir aber: Wir werden es versuchen.«

1. Kapitel

10. Mai 1948

Anita mochte die fliegende Händlerin Stanzi Lechner, weshalb sie ihr immer mehr Ramsch abkaufte, als sie benötigte. Heute war sie in der Nähe des Sendlinger-Tor-Platzes auf Stanzi gestoßen und hatte bei ihr zusätzlich zu den Hosenträgern, Schürsenkeln, Kämmen und einigen Seifenstücken noch Rasierklingen von bester Qualität erworben.

Stanzi Lechner hatte die siebzig bereits überschritten, war hager und ähnelte etwas einem kleinen Hutzelweib. Doch sie war agiler als so manch junges Mädchen und wanderte mit ihrem Leiterwagen Tag für Tag durch die Gegend, stets auf der Suche nach neuen Waren, die sie, wie so viele fliegende Händler in der Stadt, möglichst gewinnbringend weiterverkaufen konnte. Stanzis Mann war schon vor dem Krieg an einem Herzinfarkt gestorben. Sie hatte gemeint, dass es so hatte kommen müssen, denn er sei ein rechter Wusler gewesen, und einen hohen Blutdruck habe er auch gehabt. Ihre drei Söhne hatte sie im Krieg verloren, und die Schwiegertöchter hatten allesamt mit Kind und Kegel die Stadt verlassen, was ihnen Stanzi nicht verübeln konnte. Auch sie hatte, als es besonders schlimm gewesen war, darüber nachgedacht, München den Rücken zu kehren, hatte es dann jedoch aus Nostalgiegründen gelassen. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr«, hatte sie einmal zu Anita gesagt und abgewunken. So war sie geblieben und hatte, wie sie alle, den tagtäglichen Bombenhagel ertragen. Den Krieg, der im September ’39 über sie hereingebrochen war und ihre Leben auf grausame Weise für immer verändert hatte. Der Anita die Liebe ihres Lebens, ihren Theo, genommen hatte. Im Osten war er gefallen, ’42 hatte sein Name auf einer der Gefallenenlisten gestanden. Ehrenhaft fürs Vaterland gestorben, und Anita hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen. Drei Jahre später war es vorbei gewesen, Kapitulation, und ein zerstörtes Land, eine zerstörte Stadt, eine zerstörte Lebenswelt waren geblieben, die bis heute von Nachbeben erschüttert wurden. Das vertraute München gab es nicht mehr, und sie überlebten irgendwie in den Trümmern. Inzwischen wich die Trostlosigkeit jedoch mit jedem Tag etwas mehr der Hoffnung auf ein besseres Leben. Auch wollte Anita, trotz des täglichen Überlebenskampfes, den Glauben daran nicht verlieren, dass sie schon bald ihre Großbäckerei Simmerl zu neuem Leben erwecken und die Münchner bald wieder in den Genuss ihrer Simmerl-Semmeln kommen würden. Ihr Vater hatte mit viel Herzblut aus einer winzigen Bäckerei etwas Großes erschaffen, und nach seinem Tod hatten sie und ihre Schwester Emmi gemeinsam mit ihren Ehemännern das Unternehmen erfolgreich weitergeführt, bis September ’39, dann hatte die Welt kopfgestanden – und alles war mit einem Schlag verändert gewesen.

»Wo hast du denn die großartigen Klingen aufgestöbert?«, fragte Anita.

»Weißt doch, dass ich dir nicht sag, wo ich meine Sachen herhab«, meinte Stanzi. »Sonst kaufst ja nicht mehr bei mir, sondern gleich bei meinem Dantler. Obwohl ich die Klingen gar nicht von dem kriegt hab, sondern von einem andern. So einem alten Hausierer, dem ein Auge fehlt. Ausgeschaut hat der wie ein Pirat, und seine Klamotten waren auch ganz schlampig. Ich hab erst gar nicht mit dem reden wollen, aber dann hat er mir doch leidgetan. Ist halt auch eine von den armen Seelen, die sich irgendwie über Wasser halten.« Sie stieß einen Seufzer aus, und Anita nickte. »Wie geht’s denn der Emmi?«, erkundigte sich Stanzi nach Anitas jüngerer Schwester. »Hat sie schon was von ihrem Jacob gehört?«

»Bedauerlicherweise nicht«, berichtete Anita. »Sie geht auch immer zum Bahnhof, wenn neue Heimkehrer aus dem Osten angekündigt sind. Aber bisher ist er noch nicht aus einem der Züge gestiegen. Was sie zusätzlich beunruhigt, ist die fehlende Post. Andere Männer schreiben regelmäßig, doch von Jacob haben wir seit über zwei Jahren keinen Brief mehr erhalten. Seine letzte Nachricht hat uns aus irgendeinem Ort in Sibirien erreicht, ich hab den Namen vergessen.«

»Ja, das ist schon schlimm.« Stanzis Blick war mitleidig. »So geht es meiner Nachbarin auch. Die sitzt mit ihren drei Buben in dem notdürftig zusammengezimmerten Kabuff, anders kann man die Kammer im Hinterhaus nicht nennen, und hofft jeden Tag drauf, dass ihr Zacherl wiederkommt. Manchmal bring ich ihnen ein paar Lebensmittel, an den guten Tagen, wenn mein Geschäft anständig gelaufen ist und ich über meine Quellen noch was organisieren konnte.« Sie zwinkerte Anita schelmisch grinsend zu. Anita kam nicht umhin zu schmunzeln. Wenn jemand sich in dieser Stadt nicht unterkriegen lassen würde, dann war es Stanzi.

Im nächsten Moment wurde es schlagartig lauter. Trommelschläge waren zu hören und laute Protestrufe. Beide blickten in die Richtung, aus der der Lärm kam. Eine große Menschengruppe kam auf sie zu.

»Herrje, das hab ich ganz vergessen!«, rief Stanzi aus. »Heut wird ja wieder gestreikt. Jetzt aber flott.« Hastig begann sie ihre auf einem alten Klapptisch ausgelegten Waren einzusammeln. Sie war noch nicht ganz fertig, da waren sie bereits von dem protestierenden Mob umringt. Auch Anita verfluchte sich dafür, die gestern in der Zeitung bekannt gegebene Streikankündigung vergessen zu haben. Soweit sie sich erinnern konnte, waren bis zu vierzigtausend Arbeiter zum Streik aufgerufen worden. Männer der Reichsbahn-Ausbesserungswerke, von metallverarbeitenden Betrieben, Straßenbahner und auch die Mitarbeiter der Straßenreinigung liefen mit. Hinzu noch viele andere, alles hatte sie sich nicht merken können. Es wurde für die Verbesserung der Ernährungslage gestreikt. Doch ob die Arbeitsniederlegung dafür hilfreich wäre, wagte Anita zu bezweifeln. Am Ende schadeten die Menschen mit ihrem Protest noch dem Wiederaufbau.

Stanzi hatte ihre Waren im Eiltempo wieder in ihrem Leiterwagen verstaut, den Tisch zusammengeklappt, und noch ehe Anita sichs versah, verabschiedete sie sich von ihr mit einem knappen »Pfiadi« und verschwand in der Menge. Anita, die mit großen Menschenansammlungen schon immer ein Problem gehabt hatte, spürte, wie in ihr Panik aufstieg. Sie taumelte nun regelrecht durch die Protestierenden. Verzweifelt versuchte sie, irgendwie die Menschenmassen hinter sich zu lassen, doch es wollte ihr nicht gelingen, und sie geriet immer mehr in den Demonstrationszug hinein. Ihre Panik wurde immer größer, und sie glaubte plötzlich, keine Luft mehr zu bekommen. Nach Atem ringend blieb sie stehen. Sie wurde angerempelt und angepöbelt, kam ins Straucheln und wäre beinahe gefallen, hätte sie nicht plötzlich jemand aufgefangen.

»Hoppala!«, drang eine Männerstimme an ihr Ohr. »Ich hab dich.«

Seltsamerweise kam Anita die Stimme bekannt vor. Doch in ihrer Angst wollte ihr nicht gleich einfallen, mit wem sie es zu tun hatte. Der Mann legte den Arm um sie und führte sie seitlich aus dem Demonstrationszug. Als sie endlich wieder mehr Raum hatte, atmete Anita erleichtert auf. Nun wusste sie auch, wer ihr Retter war. Es war Rudolf Bruckner, ein Cousin von Theo, der seit seinem Tod bereits häufiger ihre Nähe gesucht hatte.

»Geht es wieder?«, fragte er und sah sie mit besorgter Miene an. »Demonstrationen scheinen nicht deins zu sein. Wieso nimmst du dann daran teil?«

»Hab ich gar nicht«, verteidigte sich Anita sogleich. »Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Danke fürs Retten.« Sie strich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte.

»Gern geschehen«, antwortete er und schenkte ihr ein Lächeln. »Ich muss gestehen, mir erging es ähnlich wie dir. Ich hatte geschäftlich in der Nähe zu tun, und plötzlich war ich mittendrin. So kann es gehen.«

Anita erwiderte sein Lächeln, und plötzlich verspürte sie ein Gefühl in ihrem Inneren, das sie zu deuten wusste und von dem sie geglaubt hatte, dass sie es niemals wieder würde empfinden können. Ein warmes Kribbeln, das sie schaudern ließ. Sollte es tatsächlich sein, dass sie wieder lieben könnte? So recht wollte sie diesen Gedanken noch nicht zulassen, zu schwer nagte an ihr noch immer der Verlust von Theo. Doch er würde niemals wiederkehren. Dieser bitteren Realität musste sie ins Auge blicken. Sie hatte im letzten Jahr ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, längst war sie kein junges Mädchen mehr, doch auch noch nicht zu alt, um ein neues Glück zu finden. Guter Gott, schalt sie sich selbst in Gedanken. Wo dachte sie nur hin? Sie hatte im Moment wahrlich andere Dinge zu tun, als auf die Suche nach einem Bräutigam zu gehen. Obwohl Rudolf mit seinem dunkelbraunen Haar, seinen leuchtend blauen Augen und seinen breiten Schultern durchaus attraktiv war. Das musste sie zugeben. So manche Kriegerwitwe wäre vermutlich froh darüber, von einem Mann wie ihm umgarnt zu werden.

»Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht etwas aufdringlich«, sagte Rudolf plötzlich. »Aber hättest du vielleicht Lust, mir beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten? Ich lade dich auch ein. Es wäre nicht weit von hier. Bestimmt kennst du die Gaststätte Zum Tannenbaum in der Kreuzstraße?« Er sah sie erwartungsvoll an, und Anita brachte es nicht fertig, seine Einladung abzulehnen. Sie stimmte zu.

Bald darauf betraten die beiden die Behelfsgaststätte Zum Tannenbaum, wie auf der Hauswand des schlichten Baus geschrieben stand, in dem die Eheleute Fahrngruber ihre von der Tante geerbte Wirtschaft weiterführten. Anita war ein bekanntes Gesicht, denn auch die Fahrngrubers hatten früher ihre Semmeln bei ihnen bestellt.

»Jessas, wer kommt uns denn da mal wieder besuchen?«, wurde Anita von der Inhaberin, Luise Fahrngruber, freudig begrüßt. »Die Frau Simmerl. Dich hab ich ja ewig nicht gesehen. Wie geht’s euch denn? Gibt’s bald wieder eure Semmeln? Die waren immer die besten.« Die rundliche Mittfünfzigerin sah Anita erwartungsfroh an.

»Grüß Gott, Luise«, grüßte Anita und beantwortete Luises Fragen. »Bisher liefern wir noch nicht aus, aber wir arbeiten an einem Wiederaufbau«, blieb sie mit ihrer Aussage vage.

»So reden viele.« Luise winkte seufzend ab. »Ist eben alles nicht so leicht in diesen Zeiten. Wir sitzen ja auch noch immer in dieser Bude.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Wann wir die alte Gaststätte und das Hotel wiederaufbauen können, steht in den Sternen. Aber das wird schon alles irgendwie wieder werden. Mein Ludwig sagt immer, das Schlimmste haben wir überstanden. Der Rest wird sich schon finden.« Ihr Blick fiel auf Rudolf. »Da sind wir am Ratschen. Derweil seid’s ihr zwei bestimmt zum Essen da. Ich kenn meine Stammkundschaft. Heut gibt’s eins deiner Lieblingsessen, Rudi. Eine deftige Leberknödelsuppe mit Salat.«

Luise musste schmunzeln, denn sie wusste noch von Theo, wie sehr sein Cousin die Abkürzung Rudi verabscheute. Aber so war das nun einmal in Bayern. Es gab nur wenige Namen, die nicht auf irgendeine Art verändert wurden. Immerhin in dieser Hinsicht hatten sie und ihre Schwester Glück. Mit den Namen Anita und Emmi konnte man nicht viel Unsinn anstellen.

Die Aussicht auf eine Leberknödelsuppe war verlockend. Anita konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt in den Genuss einer solchen gekommen war, denn bei ihnen zu Hause war noch immer Schmalhans-Küchenkost angesagt.

Rudolf und sie setzten sich an einen der Tische, und Luise brachte gut gefüllte Teller. Dazu stellte sie ihnen zwei Krüge des von den Münchnern verteufelten Hefesuds hin.

»Mei, was würden wir uns freuen, wenn wir bald wieder anständiges Bier an unsere Gäste ausschenken könnten«, meinte sie. »Aber das wird wohl noch länger dauern. Soll ja kein Getreide verschwendet werden. Aber Armee-Bier können’s brauen, und dann landet’s für teuer Geld auf dem Schwarzmarkt. Und unser feiner Herr Oberbürgermeister hat auch nix Besseres zu tun und verabschiedet feinstes Export-Bier vom Thomasbräu nach Amerika. Eine Schande ist das.« Sie schüttelte den Kopf und begrüßte einen weiteren Gast, der just in diesem Moment eintrat.

»Also überlegt ihr tatsächlich, eure Großbäckerei weiterzuführen?«, griff Rudolf die eben von Anita getätigte Aussage auf.

»Darüber denken wir nach«, antwortete sie. »Aber im Moment ist alles noch unsicher.« Sie schenkte Rudolf ein verbindliches Lächeln. Immer wieder erreichten sie solche oder ähnliche Anfragen. Doch ihre Pläne standen auf wackeligen Beinen, und der Untergrund war sumpfig. Am Ende funktionierte es nicht, wie sie es sich dachten. Da wollte sie lieber zurückhaltend bleiben und nicht so viel darüber reden. Auch empfand sie Scham, denn sie gab sich eine Mitschuld daran, dass sie im Moment so schlecht dastanden. Anstatt unternehmerische Rücklagen zu schaffen, hatten sie zu Beginn des Krieges in einen weiteren Ausbau der Fabrik investiert. Andererseits hatte damals ja niemand geahnt, dass es so schlimm enden würde.

Zu ihrer Verwunderung tat Rudolf ihr den Gefallen und bohrte nicht weiter nach, wofür sie ihm in diesem Augenblick mehr als dankbar war.

»Ich denke, wir sollten die geschäftlichen Themen besser außen vor lassen. Wie schmeckt dir die Suppe?«, erkundigte er sich.

Erneut verspürte Anita dieses kribbelige Gefühl in ihrem Magen, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. So viel Feingefühl hätte sie ihm gar nicht zugetraut.

»Sie ist großartig«, lobte sie die Küche.

»Das freut mich. Und weißt du, was mich noch freut?«, fügte er hinzu und nahm plötzlich ihre Hand. »Dass wir beide uns getroffen haben.«

Das Kribbeln in ihrem Inneren verwandelte sich in ein Beben. Sie schluckte.

»Ich würde mich freuen, wenn wir uns in Zukunft öfter sehen könnten. Was meinst du dazu? Vielleicht könnten wir die Tage ja mal ins Kino gehen. Was siehst du gern? Vermutlich Komödien oder Filme mit Romantik. So wie alle Frauen.«

»Kino wäre schön«, erwiderte Anita, die sich in diesem Moment plötzlich bedrängt fühlte. Theo kam ihr wieder in den Sinn. Hätte er gewollt, dass sie sich mit Rudolf traf? Sie wusste, dass er ihn nicht sonderlich gemocht hatte. Den Grund dafür hatte er ihr nie genannt. Andererseits hatten die beiden auch wenig Kontakt gehabt. So richtig schien sie noch nicht für etwas Neues bereit zu sein. Da half auch das kribbelige Gefühl in ihrem Inneren nicht.

»Wir können ja mal sehen, ob wir bald einen passenden Termin finden«, vermied sie eine feste Zusage und senkte den Blick. Zu ihrem Glück trat nun ein Mann mittleren Alters ein, der Rudolf kannte, ihn freudig begrüßte und sich ohne zu fragen an ihren Tisch setzte. Somit ergab sich für sie die Gelegenheit, sich nach wenigen Minuten mit einer Ausrede zu verabschieden.

Mit klopfendem Herzen lief sie danach die Straße hinunter und verfluchte sich selbst mal wieder für ihre Zweifel. So würde sie nie einen neuen Mann finden. Ihr dummes Herz musste die Realität endlich akzeptieren. Ihr Theo kam nicht wieder.

2. Kapitel

20. Juni 1948

Emmi reckte den Hals und blickte nach vorn. Doch es waren nur Menschenköpfe, Hüte und Schirme, die sie sah, und die Schlange schien sich kaum fortzubewegen. Wenn das in diesem Schneckentempo weiterging, würde es eine Ewigkeit dauern, bis sie den Eingang der Schule überhaupt zu sehen bekamen.

»Jetzt stehen wir hier schon fünf Stunden an«, maulte sie. »Und dazu dieses abscheuliche Wetter. Ich weiß ja, dass es im Juni wegen der Schafskälte meistens etwas kühler ist, aber so übertreiben muss Petrus es auch nicht gleich mit dem Wasser von oben.«

»Ja, der ständige Regen kann einem schon aufs Gemüt schlagen«, gab ihr Anita missmutig dreinblickend recht.

Die beiden befanden sich in der Menschenschlange vor der Herrnschule, die als Ausgabestelle für die neue D-Mark genutzt wurde. Beim Frühstück hatten sie der Rundfunkansprache des Ministerpräsidenten Ehard gelauscht, der betont hatte, dass die Währungsreform eine grausame, aber notwendige Bilanz ihrer Armut sei. Doch der, der arbeiten könne, brauche auch jetzt nicht zu bangen. So hatte er gesprochen. Der Mann hatte leicht reden. Er hatte ja keine Ahnung davon, wie sich das Überleben in dieser aus Trümmern bestehenden Welt gestaltete. Anita kämpfte noch immer mit ihrer Trauer um ihren Mann Theo. Emmi, sie war Mutter einer zehnjährigen Tochter, durfte noch auf die Heimkehr ihres Jacob hoffen. Anfangs hatte keiner geglaubt, dass die Liebe der beiden Bestand haben würde, denn sie hatten sich sehr jung verlobt. Damals war Emmi gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen. Doch sie hatten alle Zweifler eines Besseren belehrt. Jedes Mal, wenn ein neuer Zug mit Heimkehrern angekündigt wurde, ging sie voller Hoffnung und mit klopfendem Herzen gemeinsam mit ihrer Tochter Annemarie zum Bahnhof, um ihren geliebten Mann freudig in Empfang nehmen zu können. Doch bisher war er aus keinem der Züge gestiegen, und die beiden waren jedes Mal mit traurigen Mienen zurückgekommen.

Doch trotz all der erdrückenden Sorgen hatten die Schwestern es tatsächlich mit viel Geschäftssinn geschafft, sich eine kleine Existenz aufzubauen. Aktuell hielten sie sich noch mit dem Verkauf von Kurzwaren und allerlei anderem Bedarf für den täglichen Gebrauch über Wasser. Sogar zum Lumpen- und Blechdosensammeln war sich Emmi nicht zu schade. Anfangs hatten sie, wie Tausende andere Frauen der Stadt auch, geholfen, die Trümmer zu entfernen. Rama dama war ausgerufen worden, und selbst der Münchner Oberbürgermeister Scharnagel hatte zur Schaufel gegriffen. Die vielen Trümmer wurden von Bockerlbahnen, von den Münchnern auch Trümmer-Expresse genannt, aus der zerstörten Stadt hinaus und nach Oberwiesenfeld gebracht, wo riesige Schuttberge entstanden. Es waren schwierige Zeiten, doch über allem lagen auch die Hoffnung und die frohe Erwartung darauf, dass es besser werden würde. Hauptsache, es herrschte Frieden, und die tägliche Angst vor den fallenden Bomben war endgültig vorüber. Eine aus der Familie hatte den Albtraum des Krieges jedoch nicht überlebt: Anitas und Emmis Mutter war bei einem Angriff der Engländer 1944 ums Leben gekommen, was sie bis ins Mark getroffen hatte. Doch der unbedingte Wille, des Vaters Großbäckerei wiederauferstehen zu lassen, hatte die beiden Schwestern niemals verlassen, und sie kämpften für das Erbe ihrer Eltern. Schon bald wollten sie, wenn auch nur in kleinem Rahmen, wieder mit der Produktion und dem Verkauf von Backwaren beginnen. Hoffentlich konnten sie dann auch bald ihren aus der Not geborenen und ungeliebten Ramschladen für immer hinter sich lassen.

»Also wenn ihr mich fragt, dann wird das neue Geld schon bald keinen Pfifferling mehr wert sein«, sagte ein älterer Mann hinter Anita und Emmi in der Schlange und fasste damit die Befürchtungen vieler Wartender in Worte. In den letzten Tagen war es in der Stadt aufgrund der Währungsreform recht chaotisch zugegangen. Vor den Kleinhandelsgeschäften hatten sich endlose Schlangen gebildet, Läden waren leer, und viele Handwerksbetriebe versuchten, ihre Aufträge oder zur Bearbeitung gegebenen Waren noch einige Tage zurückzuhalten. Auch Anita und Emmi hatten ihr Geschäft vor drei Tagen geschlossen und sich über Wucherpreise gewundert. Ein Pfund Kaffee kostete auf dem Schwarzmarkt nun schwindelerregende siebenhundert Mark. Wer sollte das bezahlen? Wann sie zuletzt richtigen Bohnenkaffee getrunken hatten, konnten sie gar nicht mehr sagen, denn er war schon vorher unerschwinglich gewesen. Sie begnügten sich mit dem weitaus günstigeren Ersatzkaffee, der nach Anitas Meinung wie Spülwasser schmeckte.

Langsam, aber sicher ging es in der Schlange voran, und irgendwann, es war bereits nach sechs Uhr abends, erreichten auch Emmi und Anita die Ausgabestelle. Sie erhielten jede ihre vierzig D-Mark. Bis zu sechzig Reichsmark konnten eins zu eins umgetauscht werden, die fehlenden zwanzig Mark sollten allerdings zu einem späteren Zeitpunkt ausgegeben werden, was bei vielen in der Schlange für Unmut sorgte. Wann genau dies möglich sein würde, sollte noch bekannt gemacht werden. Darüber hinausgehendes Vermögen wurde im Verhältnis 1:10 umgetauscht.

Das neue Geld in den Taschen, machten sie sich, mit ihren Regenschirmen bewaffnet, auf den Heimweg in die Neuhauser Straße. Das alte Haus, das ihre Eltern Mitte der Dreißigerjahre durch ihren unternehmerischen Erfolg sogar käuflich erwerben konnten, war von den Bomben stark in Mitleidenschaft gezogen worden, es stand nur noch die Fassade. Immerhin konnten sie im Untergeschoss ihr Ladengeschäft weiter betreiben. Das Dach war repariert, wenn auch nur provisorisch. Es galt zu improvisieren, und Not machte erfinderisch.

»Ich hoffe, der Rest der Familie war auf dem Viktualienmarkt erfolgreich beim Einkaufen, und es gibt eine schöne heiße Suppe. Mir ist so kalt, meine Füße fühlen sich wie Eisblöcke an«, jammerte Emmi, während sie den im grauen Licht des regnerischen Abends liegenden Marienplatz überquerten, auf dem nur noch wenige Passanten unterwegs waren. Das Neue Rathaus hatte wie durch ein Wunder nur leichte Schäden davongetragen und war bereits wieder instand gesetzt worden. Die meisten anderen Häuser der Innenstadt ähnelten dem ihrigen, manch eines war komplett dem Erdboden gleichgemacht. Doch in die häufig erhaltenen Erdgeschosse war das Leben in den letzten Jahren zurückgekehrt, und das eine oder andere Haus befand sich bereits im Wiederaufbau. Trotzdem gab es all die vertrauten Läden und Geschäfte nicht mehr, und viele von ihnen würden wohl für immer verschwunden bleiben.

Die beiden erreichten ihr Zuhause und liefen durch das erhalten gebliebene vertraute Tor in den Hinterhof. Von dem zweistöckigen kleinen Hinterhaus war ebenfalls nur noch das Erdgeschoss geblieben, das ihnen heute als Wohnung diente. Nicht weit entfernt erhoben sich die beschädigten Türme der Frauenkirche. Ihr Glockengeläut hatte Emmi früher oft gestört, weil dann in der Wohnung und im Ladengeschäft die Wände gewackelt hatten. Jetzt wünschte sie sich, sie könnte es wieder hören und es wäre ihr egal, was dann wackelte. Ihre derzeitige Bleibe bestand aus einem großen Raum, in dem sich das Leben abspielte. In der danebenliegenden Kammer schliefen sie alle zusammen in einem großen Bett. Der Abort befand sich auf dem Hof. Gebadet wurde einmal die Woche im Waschzuber, und wenn alle sauber waren, wurde mit dem restlichen Wasser der Boden geschrubbt. Anita und Emmi empfingen wohlige Wärme und der Duft von Gemüsesuppe. Annemarie stand, eine Schürze umgebunden, an einem alten Kohlenofen und rührte kräftig in dem großen Kochtopf, den Anita kurz nach Kriegsende auf einem der Trümmergrundstücke gefunden und sogleich mitgenommen hatte.

»Hallo, Mami, Tante Anita. Da seid ihr ja endlich. Wir dachten schon, ihr kommt heut gar nicht mehr heim. Hat es denn mit dem Geld geklappt?«

Annemaries liebevolle Begrüßung sorgte dafür, dass Emmi das Herz aufging. In all dem Elend und Kummer war ihr Mädchen ihr Sonnenschein. Annemarie, die wie eine kleine Kopie von Emmi aussah – dasselbe kastanienbraune Haar, dieselben rehbraunen Augen –, hatte auch durch die schlimmsten Bombennächte hindurch ihr fröhliches Gemüt nicht verloren. Selbst der stets an ihnen nagende Hunger schien ihrer guten Laune keinen Abbruch zu tun. Anzusehen war ihr der Mangel jedoch, so wie ihnen allen. Ihr kariertes, wadenlanges Kleid war ihr viel zu groß, ihre Wangenknochen traten hervor, und für ihr Alter war sie ein ganzes Stück zu klein. Die zugeteilten Essensrationen waren immer noch zu wenig. Aber immerhin erhielt Annemarie in der Schule täglich ein warmes Mittagessen. Es galt zu hoffen, dass sich die Ernährungslage durch das neue Geld verbessern würde. Doch so recht wollte Emmi daran noch nicht glauben.

»Ich hab mir schon gedacht, dass das heute länger dauern könnte«, sagte Franzi, die gerade den Tisch deckte. »Deswegen hab ich ja gleich gesagt, dass ich erst morgen zur Bank gehe. Wie steht es denn? Habt’s das neue Geld bekommen? Wie schaut das denn aus?«

Anita und Emmi legten ihre Mäntel ab und setzten sich an den Tisch, auf dem eine rot-weiß karierte Tischdecke lag. Emmi holte die vierzig Mark hervor. Es waren zwei Zwanzigmarkscheine, die sie erhalten hatte.

Mit großen Augen bestaunten sowohl Annemarie als auch Franzi das neue Geld.

»Na, dann schauen wir mal, wie viel wir dafür jetzt bekommen. Am Ende war das ganze Anstehen für die Katz«, meinte Franzi, winkte ab und legte den Geldschein zurück auf den Tisch. »Jetzt gibt’s erst einmal eine warme Suppe. Ich hab auf dem Viktualienmarkt sogar zwei Wiener als Einlage günstig erobert. Also gibt das heut passend zum Geldereignis schon fast ein Festessen.«

Sie nahm Suppenteller aus dem weiß gestrichenen Küchenbuffet und wies Annemarie an, Löffel aus der Schublade im Küchentisch zu holen. Emmi wechselte einen kurzen Blick mit Anita. Sie lächelten beide. Ihre Franzi war viel mehr als nur eine Angestellte. Über Umwege hatte sie zu ihnen gefunden. Zuvor war sie nicht in einem Haushalt tätig gewesen, sondern hatte ihr Auskommen als Wäscherin in einer Fabrik in Neufahrn verdient, die es heute jedoch nicht mehr gab. Sie war auf Empfehlung der alten Wimmer bei ihnen vorstellig geworden, einer geschwätzigen Nachbarin, einer Ratschkattl, wie Emmi häufig betonte, vor der es sich in Acht zu nehmen galt. Doch mit ihrer Franzi, die aufgrund ihrer mageren Witwenrente dringend eine Anstellung benötigte, hatte sie ihnen einen Gefallen getan. Anita und Emmi hatten die leicht untersetzte Frau mit dem aschblonden Haar, das sie stets zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengebunden trug, sogleich ins Herz geschlossen, und sie war mit den Jahren zu einem Familienmitglied geworden, das niemals daran denken würde, sie zu verlassen. Franzi hatte sich auch als Naturtalent für den Ladenverkauf erwiesen, den sie nur noch aus Traditionsgründen am Leben erhalten hatten, denn das große Geschäft hatten sie mit der Belieferung der Läden, Geschäfte und Gaststätten mit ihren Semmeln gemacht. In Laim hatte sich ihre Backwarenfabrik befunden. Von dort waren tagtäglich ihre drei hübschen, mit der Aufschrift Simmerl-Semmeln versehenen Lieferwagen gestartet, um die Sehnsucht nach frischen Semmeln der Münchner und später auch der Dachauer und Bewohner anderer Ortschaften in der Umgebung Münchens zu stillen. Irgendwann würde es wieder so sein. Den Glauben daran wollten Anita und Emmi nicht verlieren.

Bald darauf saßen sie gemütlich beim Essen zusammen, und zur Feier des großen Tages gab es Hefesud und für Annemarie eine Zitronenlimo.

»Ich bin ja mal gespannt, ob man das morgen schon merken wird, dass es jetzt das neue Geld gibt«, meinte Franzi. »Habt’s ihr euch eigentlich schon überlegt, wie viel ihr für die Semmeln und anderen Backwaren nehmen wollt?«, erkundigte sie sich im Hinblick auf die geplante Neueröffnung ihres Ladens.

»Über den Preis werden wir als Letztes nachdenken«, antwortete Anita und stieß einen Seufzer aus. »Jetzt muss erst einmal die geplante Organisation klappen. Ich hoffe, der Wastl lässt uns nicht hängen und hält den vereinbarten Termin wegen der Elektrik ein. Ohne Strom können wir die Inbetriebnahme unserer neuen Backstube im Schuppen vergessen, und den Ladenverkauf gleich mit.«

»Also, so schwer kann das nicht sein«, meinte Franzi. »Heute hat er den ganzen Tag bei der Lalinger im Geschäft nebenan rumbastelt. Sie ist so aufgeregt gewesen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn ist sie durch die Gegend gelaufen. Und sie hat auch schon mit dem Einrichten angefangen. Also, ich find ihre Trachtenkleider gar nicht so schlecht. Ich frag mich halt, wer die schicken Fummel bezahlen kann. Aber irgendwelche Geldigen finden sich ja immer.« Sie winkte ab.

»So ist es wohl«, sagte Anita. Ihr gefielen die von Agatha Lalinger selbst geschneiderten Trachtenkleider ausgesprochen gut, aber sie war weit davon entfernt, sich eines davon leisten zu können.

»Also ich find es ja schon ein wenig ungerecht, dass der Wastl bei der Lalinger die Elektrik zuerst gemacht hat und wir warten müssen«, meckerte Emmi.

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass der was von ihr will«, warf Franzi ein, die sich erneut ihr Glas mit Bier füllte und schon ganz rosige Wangen vom Alkohol hatte. Wie würde sie erst aussehen, wenn sie richtiges Bier trank, kam es Emmi in den Sinn. »Hast mal gesehen, mit welchen Kalbsaugen der die Lalinger anstarrt? Ich mein, greislig ist die ja nicht, obwohl sie schon Anfang fünfzig ist, also nicht mehr ganz frisch. Aber das ist unser Wastl ja auch nicht mehr.« Sie winkte ab.

Anita rollte die Augen. Wenn es um das Thema Klatsch aus der Nachbarschaft ging, konnte ihre Franzi durchaus mit den Ratschkatteln mithalten, die, man wollte es in diesen Zeiten kaum glauben, den ganzen Tag anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als sich über andere Leute das Maul zu zerreißen. Aber immerhin waren sie so immer über die neuesten Vorgänge informiert.

Mit Wastl war der Elektriker Sebastian Großlechner gemeint, der sich vor Aufträgen aktuell nicht retten konnte und Anita und Emmi bereits mehrfach vertröstet hatte. Aber jetzt sollten auch sie endlich ihre neuen Stromleitungen bekommen. Bereits in drei Tagen wollte er mit einem Gesellen und seinem Lehrbuben, dem Ludwig, loslegen. Ihre neues Arbeitsreich befand sich in ihrem alten Schuppen, den sie in den letzten Wochen mit viel Herzblut entrümpelt hatten. Wenn alles nach Plan laufen würde, dann würden sie schon ganz bald in ihrem kleinen Verkaufsladen wieder Backwaren anbieten und vielleicht ganz bald auch wieder Läden und Geschäfte mit ihren Simmerl-Semmeln beliefern können. An diesem Plan galt es festzuhalten.

»Gibt es sonst noch Dinge, die wir heute verpasst haben?«, erkundigte sich Emmi.

Ihre Frage war scherzhaft gemeint, mit der folgenden Antwort von Franzi hatte sie nicht gerechnet: »Ja, die gibt’s tatsächlich. Mei, dass ich das vergessen hab. Das war ja heute eigentlich das Wichtigste, was passiert ist: Dieser aufgeblasene Möchtegern war wieder da. Dieser Rudolf Irgendwas. Er hat nach dir gefragt, Anita. Der Bursche scharwenzelt hier neuerdings ganz schön oft herum. Wo kommt der gleich noch mal her?«

»Er ist ein Cousin von Theo. Wieso er jetzt ständig hier auftaucht, weiß ich ehrlich gesagt nicht«, suchte Anita Zuflucht in einer Ausrede.

»Ich kann dir sagen, weshalb er ständig ankommt«, meinte Emmi, die sich ihren Teller zum zweiten Mal mit Suppe füllte. »Er will was von dir. Ich hab dir damals schon gesagt, dass er ein Auge auf dich geworfen hat. So wie der dich immer angesehen hat. Der gute Rudolf wäre gerne an Theos Stelle gewesen. Das kannst du mir glauben.« Sie traf den Nagel auf den Kopf.

»So seh ich das auch«, befand Franzi. »In dieser Hinsicht sind die Mannsbilder so durchschaubar. Es ist bloß schade, dass wegen mir keiner mehr kommt. Aber wer will so eine alte Schachtel wie mich schon noch haben?« Sie winkte ab.

Sowohl Emmi als auch Anita verkniffen sich eine Antwort, da sie selbst nicht mehr die Jüngsten waren. Doch sie gaben sich, trotz des Kriegsalltags, stets Mühe, auf ihr Äußeres zu achten. Arm kann man sein, es muss einem nur nicht jeder ansehen. Diesen Spruch ihrer Großmutter Irmi hatten beide verinnerlicht.

Rudolf Bruckner war durchaus als gut aussehender Mann zu bezeichnen. Auch stammte er aus einem wohlhabenden Haus, sein Vater war Inhaber einer großen Schneiderei in Augsburg gewesen. Was genau aus dem Textilunternehmen geworden war, wussten weder Emmi noch Anita.

»Also, ich hätt noch Apfelkompott als Nachtisch«, meinte Franzi und beendete damit für den Moment das leidige Thema Mannsbilder.

Annemarie stimmte freudig zu, und sie begannen, die Suppenteller abzuräumen.

Einige Stunden später war Ruhe eingekehrt. Franzi schlief auf dem Kanapee in der Stube. Anita, Emmi und Annemarie lagen wie gewohnt in ihrem Bett. Emmi konnte jedoch nicht einschlafen und blickte an die Zimmerdecke. Der helle Schein des Vollmonds fiel durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge. Somit hatte Emmi den Übeltäter ausgemacht, der sie um den Schlaf brachte. Aber vielleicht bedeutete sein Strahlen am Nachthimmel auch, dass sich endlich das Wetter bessern und wenigstens der ständige Regen ein Ende finden würde. Sonnenschein und mildere Temperaturen waren in diesem Jahr überfällig und würden die Laune der Münchner um einiges heben. Und wenn alles nach Plan lief, dann konnten sie ganz bald wieder den Betrieb ihrer Bäckerei aufnehmen, erst im Kleinen, aber vielleicht auch bald wieder im Großen. Den Kampf für das Geschäft waren sie ihren Eltern schuldig, und sie als Jüngere sah sich in der Verantwortung, alles dafür zu tun, damit das Vorhaben gelang.

3. Kapitel

München, 24. Juni 1948

Also ich glaub es ja nicht«, kommentierte Emmi den Aufruf des Bürgermeisters Scharnagel, der eben im Radio gesendet worden war. Teilbeträge für Gas, Strom und Wasser mussten erhoben werden, da die Stadt nicht mehr zahlungsfähig war. »Jetzt werden wir erneut zur Kasse gebeten. Fragt sich, welcher Amtsschimmel das verbockt hat. Und wenn wir nicht zahlen, dann drehen die uns das Wasser, den Strom und das Gas ab.« Sie biss von ihrem Marmeladenbrot ab und stieß einen Seufzer aus.

»Ich hab doch gleich gesagt, dass das mit dem neuen Geld noch Probleme geben wird«, konstatierte Franzi. »Das hat vorgestern auch alles viel zu schön ausgesehen, um wahr zu sein. Überall die vollen Schaufenster in den Läden und Geschäften. Das hat ja nicht gut gehen können. Die Ingeborg von gegenüber hat sich gleich ein neues Kleid gekauft, und beim Friseur war sie auch. Na, die hat’s ja. Ich hab gehört, dass sie Ende des Monats mit der Sanierung vom Haus anfangen wollen. Angeblich soll in die Geschäftsräume unten ein Drogeriemarkt einziehen.« Sie füllte ihre angeschlagene Kaffeetasse erneut mit Ersatzkaffee und kippte einen guten Schluck Dosenmilch hinein. Ohne diese Zutat war die Plörre ihrer Meinung nach ungenießbar.

»Also, ein Drogeriemarkt in der Nachbarschaft wäre keine schlechte Sache«, befand Anita, die im Gegensatz zu Franzi Ingeborg Moser von gegenüber ganz gernhatte. Ihr Mann Gustl war zu alt gewesen, um noch in den Krieg zu ziehen. Die Mosers waren nie arm gewesen, in ihrem Besitz befanden sich mehrere Immobilien der Stadt. Es ging das Gerücht um, dass Gustl Moser kräftig auf dem Schwarzmarkt mitgemischt hatte, aber so recht wollte Anita daran nicht glauben. Sie wünschte sich, sie hätten ebenfalls die finanziellen Mittel, um ihr Haus wiederaufbauen zu können. Ein weit entfernter Traum.

»Ich muss jetzt zur Schule«, meldete sich Annemarie zu Wort und erhob sich. »Obwohl ich gar keine Lust habe, weil wir heute eine Mathearbeit schreiben.« Sie zog eine Schnute.

»Ich weiß, die Zahlen sind nicht deins«, sagte Emmi. »Aber als zukünftige Unternehmerin musst du rechnen können, ob es dir nun gefällt oder nicht.«

»Und wenn ich gar keine Unternehmerin werden will?«, gab Annemarie zurück. »Ich heirate einfach einen gut aussehenden Mann, der das kann. Dann muss ich nur hübsch neben dem ausschauen, und für die Kinder gibt’s eine Gouvernante. So will das die Klara auch machen.«

Emmi sah Hilfe suchend zu Anita, die ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Annemarie war ein herzensgutes und fleißiges Mädchen, doch Anita bezweifelte, dass aus ihr eines Tages eine fähige Unternehmerin werden würde. Die Kleine war eine Träumerin, die selbst in der sie umgebenden Trümmerwelt Luftschlösser baute. Aber vielleicht veränderte sie sich ja noch, wenn sie älter wurde, obwohl Anita daran nicht so recht glauben wollte.

»Also, ein bisschen Zahlenverständnis, das hat noch niemandem geschadet«, meinte Franzi. »Sonst wirst du ständig über den Tisch zogen, auch wenn du keine Unternehmerin werden magst.« Sie zwinkerte Annemarie zu. »Das wird schon werden. Du hast doch gestern mit dem Peter so gut geübt.«

Peter war Annemaries bester Freund aus der Nachbarschaft, die beiden waren unzertrennlich. Bedauerlicherweise stiftete er Annemarie gerne zum Unsinnmachen an, aber so war das eben mit zehnjährigen Buben. Die hatten meist nur Schmarrn im Kopf, wie sich Franzi einmal ausgedrückt hatte.

Murrend fügte sich Annemarie in ihr Schicksal, holte ihren abgewetzten Schulranzen aus hellbraunem Leder hervor und schlüpfte in ihren Regenmantel, den sie aufgrund des weiterhin anhaltenden greisligen Wetters noch immer tragen musste. Rasch die Kapuze auf den Kopf, es folgten kurze Küsschen zum Abschied und ermunternde Sprüche für die Mathearbeit, dann verließ Annemarie das Haus.

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, erhob sich Anita und begann den Tisch abzuräumen.

»Wir müssen jetzt auch los«, wandte sie sich an Emmi. »Die Trambahnen sind noch immer so unzuverlässig, und der Sepp mag Unpünktlichkeit so gar nicht. Hoffentlich klappt mit dem Transport der Öfen auch alles.«

»Das wird schon gut gehen«, nuschelte Franzi, die sich gerade den Rest ihres Marmeladenbrots in den Mund geschoben hatte. »Wie abgesprochen bleib ich hier und pass auf, dass der Wastl seine Arbeit anständig macht. Ich geb ihm und seinem Lehrbuben auch eine deftige Brotzeit, damit sie motiviert bleiben. Gibt ja nix Schlimmeres als einen Elektriker, der wegen einem knurrenden Magen seine Arbeit nicht anständig macht.«

Anita grinste. Als ob Franzi wüsste, wie man Elektroleitungen richtig verlegte. Sie verkniff sich jedoch einen Kommentar dazu, denn gegen Franzi würde sie sowieso den Kürzeren ziehen.

Eine Stunde später standen Anita und Emmi mit einer Gruppe anderer Wartender an der Haltestelle der Straßenbahn, und so langsam wurden sie ungeduldig. Jetzt könnte die nach Laim fahrende Tram endlich kommen.

»Was ist denn heute wieder los?«, schimpfte Anita. »Wie sehr ich diese Unzuverlässigkeit verabscheue. Inzwischen müssen die das mit der Pünktlichkeit doch endlich wieder hinbekommen. So schwer kann das doch nicht sein.«

»Mei, es fehlen halt immer noch die Trambahnfahrer«, kommentierte eine ältere, auf einen Gehstock gestützte Frau. »Ich hab gehört, dass neuerdings auch Studenten als Fahrer ausgebildet werden. Aber ich weiß nicht, ob die jungen Akademikerköpf das dann auch richtig machen. Aber es hilft ja nix. Es herrscht eben überall Männermangel.«

Emmi antwortete nichts auf das Gerede der alten Frau und blickte hoffnungsvoll in die Richtung, aus der die Straßenbahn kommen würde, und zu ihrem Glück kam jetzt tatsächlich ihre Tram in Sicht. Nachdem sie an der Haltestellte stehen geblieben war, zwängten sie sich in einen der überfüllten Waggons. Die Fahrt nach Laim ging über den Hauptbahnhof, wo sich jedes Mal weitere Menschen in die Waggons drängten. Anita stand eingezwängt zwischen einem dicklichen, nach Schnupftabak und Schweiß riechenden Mann und einer Frau in ihrem Alter, die in Kölnisch Wasser gebadet zu haben schien. Emmi sah sie nicht. Hoffentlich würde die Fahrt bald vorüber sein. Da sie sich aber erst an der Haltestelle Holzkirchner Bahnhof befanden, würde sie sich noch eine ganze Weile gedulden müssen.

Irgendwann war es geschafft, und sie traten an der Haltestelle im Stadtteil Laim erleichtert auf die Straße. Selbst die Tatsache, dass es in Strömen regnete, machte ihnen in diesem Moment nichts aus. Hauptsache, sie konnten wieder durchatmen.

»Jetzt weiß ich wieder, weshalb ich zur Fußgängerin geworden bin«, konstatierte Emmi, während sie mit ihrem klapprigen Regenschirm kämpfte, der mal wieder nicht offen bleiben wollte. »Neben mir stand ein alter Mann, der irgendwie modrig gerochen hat. Als käme er vom Friedhof.« Sie schüttelte sich und schaffte es tatsächlich, ihren störrischen Schirm zu öffnen.

»Zurück geht es ja anders«, antwortete Anita, die ihren Regenmantel einem Schirm vorgezogen hatte und ihre Kapuze über den Kopf zog. »Petrus scheint dieses Jahr besonders viel Freude am Regen zu haben. Es ist ein Trauerspiel.«

Die beiden überquerten die Landsberger Straße und erreichten nur wenig später ihr ehemaliges Firmengelände. Von ihrer Produktionshalle und ihren Lagerhäusern war nicht mehr viel übrig. Hier hatte noch niemand die Trümmer beseitigt. Immerhin der hintere Teil eines Lagerhauses hatte überlebt, und in dem sich darin befindlichen Keller lagerten noch zwei große Industriebacköfen, die heute zu ihnen in die Neuhauser Straße umziehen sollten. Sie gehörten noch zu den ersten Öfen, die ihr Vater damals angeschafft hatte, und waren eigentlich veraltet. Hoffentlich würden sie noch funktionieren.

Als sie auf das Gelände traten, schwante ihnen jedoch Übles, denn ihr ehemaliger Hausmeister Sepp Hofmeister, der noch immer ein Auge auf alles hatte, kam ihnen aufgeregt winkend entgegengelaufen und blieb nach Luft japsend vor ihnen stehen.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, ohne Gruß. »Das ist eine Katastrophe, das sag ich euch. Die Saububen, wenn ich die erwische, die können was erleben.« Er machte eine eindeutige Handbewegung.

Es war Emmi, die mit klopfendem Herzen fragte: »Was ist geschehen?«

»Irgendwelche Gratler haben den Schuppen aufgebrochen, und sämtliche Sachen daraus sind weg«, entgegnete Hofmeister, und in seinem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht zeigte sich Hilflosigkeit. »Wir müssen die Polizei rufen.«

Am späten Nachmittag desselben Tages saßen Anita, Emmi und Franzi in ihrem Ladengeschäft auf alten Kaffeehausstühlen hinter ihrem Verkaufstresen, umgeben von all dem Ramsch, der sie in den letzten Jahren über Wasser gehalten hatte. Vor den Fenstern prasselte der Regen noch immer in große Pfützen, und düsteres Licht drang in den Raum. Die Stimmung war den Lichtverhältnissen angepasst. Keine von ihnen schien so recht zu wissen, was sie sagen sollte. Nachdem Anita und Emmi Franzi berichtet hatten, was geschehen war, hatte diese fassungslos reagiert und sogleich ganz fürchterlich zu schimpfen begonnen. »Solche Verbrecher, das darf doch wohl nicht wahr sein«, hatte sie gewettert und im selben Atemzug den Elektriker Wastl einen unzuverlässigen Hundsbuben genannt, weil dieser nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschienen war. Ob und wann er bei ihnen auftauchen würde, wusste sie nicht zu sagen. Aber die Lalinger hatte gemeint, dass der Wastl ihr schon gestern von einem Großauftrag erzählt habe. Irgendein Hotel mit achtzig Zimmern. »Da ist so eine kleine Bäckerei wie die unsrige natürlich nix mehr wert«, moserte Franzi. »Wenn wir Pech haben, müssen wir uns einen neuen Elektriker suchen. Und das wird nicht leicht werden. Die haben ja alle so schrecklich viel zu tun.«

Anita fragte sich, ob sie so schnell überhaupt noch einen Elektriker benötigten. Ihr Traum von der Wiedereröffnung ihres Bäckerladens war durch den Diebstahl der Gerätschaften in weite Ferne gerückt. Wo sollten sie denn jetzt auf die Stelle einen bezahlbaren Industriebackofen herbekommen? Und sie hatten doch alles andere bereits so hübsch eingerichtet, einen passenden Arbeitstisch hatten sie schon, Regalbretter an den Wänden angebracht, Backschüsseln, ein Backwagen, Backbleche und andere Utensilien standen schon bereit. Sogar ihre Ausstechförmchen für Weihnachtsplätzchen hatten sich wiedergefunden. Die Niederlage schmeckte so verdammt bitter. Anita hätte losheulen können.

»Unser verbliebenes Geld reicht bei Weitem nicht aus, um neue Backöfen zu kaufen«, sagte Emmi mit trauriger Miene. »Wir haben ja auch noch andere Ausgaben. Ich hab vorhin noch mal alles durchgerechnet. Wenn die uns unser Bankguthaben im selben Verhältnis umtauschen würden wie die ersten sechzig Mark, dann wäre es vermutlich kein Problem. Aber bei dem Verhältnis 1:10 geht das natürlich nicht.«

»Hm«, gab Franzi nur zur Antwort. Ihre Sprachlosigkeit verdüsterte die Situation zusätzlich. Wenn jemand für jedes Problem eine Lösung hatte, dann war sie es. Doch nun schien auch ihr Kampfgeist ins Wanken geraten zu sein.

Wieder herrschte Stille im Raum. Ihre Nachbarin Agatha Lalinger durchbrach diese durch ihr Eintreten. Die Glocke über der Ladentür bimmelte. Sie brachte den Geruch von Regen mit, der sich mit dem Duft ihres Parfüms mischte, von dem sie mal wieder viel zu viel aufgetragen hatte. Irgendetwas Blumig-Süßliches, das Anita noch nie hatte leiden können.

»Grüß Gott miteinander«, grüßte sie. Ihre Stimme klang, wie gewohnt, etwas hochnäsig. Sie trug eines ihrer selbst geschneiderten Trachtenkleider, das ihr, so musste Anita neidlos anerkennen, ausgezeichnet stand. Die Lalinger sah bedeutend jünger aus, als sie tatsächlich war. Nur wenige Falten lagen um ihre Augen, und ihr kastanienbraunes Haar durchzogen noch keine grauen Strähnen.

»Was hockt ihr denn alle hier rum und schaut’s drein, als hätte euch einer die Butter vom Brot geklaut? Ist was passiert?«

Emmi setzte Agatha ins Bild.

»Also so was Blödes«, entgegnete sie entrüstet. »Solche Hundsbuben. Nix ist in unserer Stadt mehr sicher.«

»Habt’s Anzeige erstattet?«

»Natürlich«, erwiderte Emmi. »Aber der Wachtmeister hat uns gleich gesagt, dass wir uns darauf einstellen sollen, dass sie nix finden werden. Solche Langfinger sind blitzgescheit. Vermutlich haben sie ihre heiße Ware bereits flott gewinnbringend an irgendeinen pfiffigen Händler weiterverkauft.«

»Verstehe. Und was macht’s jetzt?«, fragte die Lalinger.

»Vermutlich weiter wie bisher«, antwortete Anita mit trauriger Miene. »Unsere Rücklagen reichen nicht für den Kauf neuer Öfen. So wie es aussieht, war es das fürs Erste mit unserem Traum von der Wiedereröffnung der Bäckerei.« In ihrem Hals breitete sich ein dicker Kloß aus, und sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Ihr Vater kam ihr plötzlich in den Sinn, Anton Simmerl, der tatkräftigste Mann, den sie jemals im Leben gesehen hatte. Ein gelernter Bäckermeister, der es sich nicht hatten nehmen lassen, in der Großbäckerei selbst noch mit anzupacken, und mit dem das Backen jedes Mal zu einem Ereignis geworden war. Hätte es noch einen königlichen Hof in München gegeben, ihr Vater hätte alles darangesetzt, dessen Lieferant zu werden. Er würde jetzt bestimmt nicht so ratlos hier sitzen, nicht wissend, wie es weiterging. Wäre er jetzt hier, würden vermutlich schon längst wieder die Lieferwagen morgens von Laim aus aufbrechen, um ihre Kundschaft zu beliefern. In den letzten Jahren hatten sie daran festgehalten, den Betrieb wiederaufzubauen, doch nun fühlten sie sich müde vom Kämpfen, und ihr Traum schien endgültig ausgeträumt. So wie es aussah, hatte der Krieg den berühmten Simmerl-Semmeln endgültig den Garaus gemacht.

»Also, so schnell würd ich nicht aufgeben«, entgegnete Agatha in einem resolut klingenden Tonfall. »Ihr habt’s doch was zum Bieten. Eure Bäckerei ist in München und Umgebung eine bekannte Marke, und so etwas ist bares Geld wert.« Eindeutig kam nun die Geschäftsfrau in ihr durch. »So etwas darf man nicht unterschätzen. Ich an eurer Stelle würde zur Bank gehen und einen Kredit aufnehmen. Dann kauft’s die benötigten Gerätschaften und eine anständige Ausstattung für die Bäckerei. Die Öfen aus dem Lager waren doch eh total veraltet. Und dann legt’s los. Und ich bin gleich eure beste Kundin. Eure Semmeln haben immer schon am besten geschmeckt, die sind nicht so knatschig wie die vom Lederer, bei dem ich aktuell immer kaufen muss.«

Verdutzt sahen die drei Frauen Agatha an. So hilfsbereit kannten sie ihre Nachbarin gar nicht.

Daran, einen Kredit aufzunehmen, hatte Anita noch gar nicht gedacht. Aber wieso nicht? Durch das neue Geld war so etwas bestimmt möglich. Agatha hatte recht. Simmerl-Semmeln war nach wie vor eine bekannt Marke. Einen Versuch war es wert.

Sie erhob sich, und der Kloß in ihrem Hals löste sich. Plötzlich hatte sie das Gefühl, wieder freier atmen zu können. Agatha Lalinger hatte es tatsächlich geschafft, ihr neuen Mut zu machen.

4. Kapitel

10. Juli 1948

Anita saß auf einer Bank im Englischen Garten und starrte auf den vor ihr liegenden Kleinhesseloher See, der an diesem trüben Nachmittag so trostlos aussah, wie sie sich fühlte. Einige Enten tummelten sich am nicht weit von ihr entfernten Ufer, und ein altes Ehepaar schlurfte, sich an den Händen haltend, an ihr vorüber. Anita sah ihnen nach, und ihr wurde das Herz schwer. Ihre Gedanken wanderten mal wieder zu Theo. Sie erinnerte sich daran, wie er beim Anblick eines ähnlichen Ehepaars einmal zu ihr gesagt hatte, er würde sie in vielen Jahren genauso sehen. Zwei einander liebende Menschen, die noch immer gemeinsam durchs Leben gingen und auf erfolgreiche Jahre und eine große Kinderschar zurückblickten. Die Erinnerung an diesen Sommer zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen, das jedoch sogleich wieder von dem Gefühl der Traurigkeit vertrieben wurde. Diese Wochen des unbändigen Glücks waren für immer verloren, die Luftschlösser, die sie in diesen Zeiten gebaut hatten, waren wie Kartenhäuser im Bombenhagel in sich zusammengestürzt. Damals war ihr Geschäft im Aufschwung gewesen, und Theo, der nach dem Tod ihres Vaters die Geschäftsführung übernommen hatte, hatte davon geträumt, ihren Verkauf auf den gesamten süddeutschen Raum auszuweiten. Von Reichenhall bis zum Bodensee sollte jeder die guten Simmerl-Semmeln kennen. Und nun saß sie allein auf dieser Bank und trauerte um einen Traum, der sich nicht erfüllt hatte. Sie würde niemals mit Theo Arm in Arm in gebückter Haltung und schlurfend durch den Englischen Garten laufen. Auch das große Glück, Eltern zu werden, war ihnen verwehrt geblieben. An ihrem Hochzeitstag hatte sie ein Kind unter ihrem Herzen getragen, es dann jedoch tragischerweise nur wenige Wochen später verloren. Danach hatte es mit einer Schwangerschaft nicht mehr klappen wollen. Vielleicht war es im Nachhinein besser so. So gab es jetzt nicht auch noch ein Kind, das um seinen Vater trauern musste. Auch der Traum des Erfolges war verflogen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, mit wie vielen Hoffnungen ihr Vater damals die Fabrik in Laim eröffnet hatte. Wie sie voller Begeisterung die ersten Werbezettel auf dem Marienplatz verteilt hatten. Doch wenn jetzt nicht noch ein Wunder geschah, dann würde diese herrlich knusprigen Semmeln, die am besten schmeckten, wenn sie noch warm waren, niemals wieder jemand essen. Eben hatte ihr auch die letzte Bank die Zusage eines Kredits verweigert. Längerfristige Kredite wurden aufgrund der Währungsreform aktuell nicht vergeben, zu unsicher sei die aktuelle Lage. Überall hatte sie dasselbe gehört. Sogar in der Zeitung hatte neulich ein Bericht zu der Einstellung von Krediten gestanden. Dadurch war auch die Baubranche ins Wanken geraten, und viele Arbeitsplätze waren nun gefährdet. Aber das konnte doch nicht sein. Gerade jetzt mussten sie anpacken und wieder bauen dürfen. Vom Wegräumen des Schutts würde ihre Stadt nicht wiederauferstehen. Es war zum Verzweifeln. Was sollten sie denn jetzt nur tun? Sie konnten doch nicht für immer einen Ramschladen betreiben.

»Anita?«, wurde sie plötzlich angesprochen, und sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

»Rudolf«, sagte sie erstaunt. »Was führt dich denn an diesem grauen Tag hierher?«

»Etwas frische Luft hat noch nie geschadet«, erwiderte er mit einem Augenzwinkern und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Anita fiel auf, wie gut er gekleidet war. Sein dunkelbrauner Anzug und sein helles Hemd passten ausgezeichnet zu seinem weinroten Schlips.

»Und was führt dich an diesem kühlen Tag auf eine Bank in den Englischen Garten?«, fragte er und musterte sie genauer. »Entschuldige, wenn ich mir diese Bemerkung erlaube, aber du siehst niedergeschlagen aus. Ist etwas geschehen?«

Seine Feinfühligkeit streichelte in diesem Moment Anitas Seele, und sie bat ihn, sich neben sie zu setzen. Als er dies tat, stieg ihr sein Geruch in die Nase. Eine Mischung aus Rasierwasser und Zigarettenrauch.

Sie schilderte, was in den letzten Wochen geschehen war.

»Die Banken vergeben im Augenblick keine längerfristigen Kredite«, kam sie zum Schluss. »Der letzte Bankangestellte hat mir einen Kleinkredit angeboten, doch das Geld würde nicht reichen. Dazu verlangen sie einen hohen Zinsbetrag. Der reinste Wucher ist das. Somit scheint unsere Großbäckerei endgültig Geschichte zu sein.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Nun hatte sie die bittere Realität zum ersten Mal in Worte gefasst. Sie fühlte sich so hilflos und klein wie lange nicht. »Manchmal wünschte ich, Theo wäre noch hier. Er hätte bestimmt einen Ausweg gefunden. Er war so ein wunderbarer Geschäftsmann. Ihm gegenüber hätten sich diese dummen Bankangestellten mit Sicherheit anders verhalten.«

»Davon ist auszugehen«, antwortete Rudolf. »Theo war in dieser Hinsicht wie sein Vater, ein großartiger Geschäftsmann.«

»Ja, das war er«, pflichtete ihm Anita mit trauriger Miene bei und seufzte erneut.

»Wie viel Geld benötigt ihr denn?«, erkundigte sich Rudolf, was Anita irritierte.

»Wieso fragst du?«, hakte sie nach. Sie wusste, dass die Bruckners vor dem Krieg nicht unvermögend gewesen waren, und auch während des Krieges hatte die Schneiderei durch ihre Arbeit für die Nazis gutes Geld verdient. Wie viele andere Fabriken auch, hatte der alte Bruckner Ost-Arbeiter beschäftigt. 1945 war er dann bei einem der letzten Bombenangriffe der Amerikaner ums Leben gekommen. Somit war Rudolf als einziger Sohn der Alleinerbe.

»Weil ich mir Gedanken über meine unternehmerische Zukunft mache«, verriet er zu ihrer Überraschung. »Wie du ja weißt, existiert unsere Textilfabrik nicht mehr. Auch ist der Ruf meiner Familie durch die Machenschaften meines Vaters nicht der beste. Wäre er nicht im Bombenhagel ums Leben gekommen, hätten sie ihn vermutlich nicht so einfach davonkommen lassen. Er ging nicht gerade zimperlich mit den Ost-Arbeitern um, ich habe es selbst erlebt. Und wer gegen den Patriarchen der Familie aufbegehrte, der musste sich in Acht nehmen, also habe ich nichts unternommen, damit es den Arbeitern besser geht, was mir heute leidtut.« Er warf Anita einen kurzen Seitenblick zu, der in ihr erneut das vertraute kribbelige Gefühl von neulich auslöste, das sich verheißungsvoll anfühlte. Flirtete er etwa mit ihr?

»Lange Rede, kurzer Sinn«, sagte er, »ich gedenke nicht, die Textilfabrik wiederaufzubauen, und überlege, was ich nun tun möchte. Ich hab mich schon etwas umgehört, aber bisher war noch nichts Passendes dabei. Die Idee, eurer Großbäckerei unter die Arme zu greifen, gefällt mir. Mir hat euer Betrieb schon immer imponiert.«

»Du würdest uns helfen?«, hakte Anita ungläubig nach.