Die Schwingen der Isis - Birgit Furrer-Linse - E-Book

Die Schwingen der Isis E-Book

Birgit Furrer-Linse

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Beschreibung

Als ungewollte Tochter eines nubischen Sklaven und einer ägyptischen Adligen soll Anuket gleich nach der Geburt im Nil ertränkt werden. Doch die Hebamme, die das Kind verschwinden lassen soll, erbarmt sich der Kleinen und übergibt das Kind ihrer Schwester, die das Mädchen als ihres annimmt und großzieht. Von einer inneren Zerrissenheit gepeinigt, deren Ursache sie nicht kennt, wächst Anuket heran. Als sie im Tempel der Isis zur Priesterin geweiht wird, gerät sie zwischen die Fronten eines Machtkampfs um die Thronfolge, der in einem Attentat auf Pharao Ramses III. endet. Auch Anuket gerät unter Verdacht.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

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1.

Die Geschichte der Götter

Als die Erde noch Urgewässer war und es kein Leben auf der Welt gab, erschuf Atum sich selbst aus der Urflut. Seine Schöpfungskraft brachte sodann den Urhügel hervor, das erste Land auf der Erde, welches der Gott betrat.

Doch schon bald plagte den Gott die Einsamkeit auf dem Urhügel. So beschloss er, neue Lebewesen zu schaffen, indem er sich seinen Samen selbst einpflanzte. Aus diesem gingen seine zwei Kinder, Schu, der Gott der Luft, und Tefnut, die Göttin des Feuers, hervor. Diese beiden wiederum brachten Geb, den Gott der Erde, und Nut, die Göttin des Himmels, auf die Welt. Auch Geb und Nut pflanzten sich fort und wurden Eltern der Gottheiten Osiris, Isis, Seth und Nephthys.

Osiris erhielt von seinem Vater das Niltal als Herrschaftsgebiet und vermählte sich mit seiner Schwester Isis. Seth erwählte seine Schwester Nephthys zur Gemahlin und wurde von Geb als Herr über die Wüste eingesetzt.

Doch Seth gefiel diese Aufteilung nicht, und schon bald schlich sich Eifersucht auf den Bruder Osiris bei Seth ein. Er beschloss, seinen Bruder aus dem Weg zu räumen und so Alleinherrscher der Welt zu werden.

Während Isis schwanger war, lud Seth seinen Bruder zu einem Fest ein, auf dem er eine Holztruhe präsentierte, die dem gehören sollte, der genau in die Truhe passte. Da er vorher von Osiris Maß genommen hatte, wusste er, dass nur dieser perfekt in die Truhe passen würde. Als Osiris sich in die Truhe legte, um sie auszuprobieren, verschloss Seth diese augenblicklich, versiegelte die Rillen mit Blei und warf die Truhe ins Meer. In Byblos wurde sie an Land gespült und von König Melkart in einem Baumstamm verschlossen, den er als einen der Pfeiler für seinen Palast wählte.

Währenddessen hatte Isis einem gesunden Sohn das Leben geschenkt, den sie Horus taufte. Diesen versteckte sie vor Seth im Nildelta bei den Menschen und machte sich dann auf die Suche nach ihrem Gemahl. Mit viel Überredungskunst konnte sie den König von Byblos davon überzeugen, Osiris´ Leib aus dem Pfeiler zu befreien und freizugeben. Mit ihrem Zauber erweckte Isis Osiris Körper dann wieder zum Leben.

Doch Seth blieb die Wiedererweckung des Osiris nicht verborgen. Er tötete seinen Bruder erneut, zerstückelte seinen Leichnam und verteilte diesen im ganzen Land. Abermals machte Isis sich auf die Suche nach den Teilen ihres Mannes, um sie zusammenzusetzen und zu neuem Leben zu erwecken. Doch den Phallus des Osiris konnte sie nicht finden. Alle ihre Zaubersprüche verfehlten wegen der Unvollständigkeit des Körpers ihre Wirkung. So wurde Osiris zum Gott der Aminte, des Westlands, dem Reich der Toten.

Horus, der bei den Menschen aufgewachsen war, erfuhr von Isis von seiner göttlichen Herkunft und machte sich auf, um seinen Vater zu rächen. Es kam zu einem fürchterlichen Zweikampf zwischen Seth und Horus. Doch keiner konnte den Kampf für sich entscheiden.

Da endlich mischte Re sich in den Kampf der beiden Streitenden ein. Er rief den Rat der Götter zusammen. Diese riefen Neith, die Göttin der Weisheit an, eine Entscheidung zwischen den beiden Kontrahenten zu treffen. Und Neith bestimmte, dass Horus fortan Herrscher über das schwarze Land Ägypten, das einst sein Vater Osiris beherrscht hatte, und Seth Herrscher über das rote Land der Wüste sein sollten.

So erzählen seit ewigen Zeiten die Priester in den Tempeln dem Volk der Ägypter die Geschichte von der Entstehung der Welt und dem nicht endenden Streit der beiden Götter Horus und Seth um die Macht im schwarzen Land. Doch auch wenn Horus letztendlich Sieger blieb, der Groll Seths, des Zerstörers, wird nie enden. Mit Seths Groll zogen Neid, Hass und Missgunst auch bei den Menschen des Landes ein.

Warum ich diese Dinge zu Anfang meiner Lebensbeichte erwähne? Ganz einfach. Weil dieser nicht endende Kampf der Götter mein Leben bestimmt. Zwei Bas wohnen in meinem Körper, wie sie verschiedener nicht sein können. Doch nur einem Ba können wir wirklich dienen, jedes weitere zerreißt uns über kurz oder lang in Stücke. Manche behaupten, ich sei von Dämonen besessen. Andere wiederum finden, ich sei von den Göttern gesegnet, weil zwei ganz verschiedene Gottheiten in mir Platz gefunden hätten und sich durch mich äußern könnten. Wieder andere halten mich für von den Göttern verflucht, da niemals die eine oder andere Gottheit in mir die Oberhand gewinnen konnte. Immer wieder sprach und handelte auch die andere Gottheit durch mich. Wahr ist, dass meine Seele zerrissen ist, ich mich hilflos fühle und oftmals nicht verstehe, was mit mir geschieht, auch wenn ich dem Warum im Laufe meines Lebens immer nähergekommen bin. Das hilft mir vielleicht zu verstehen, aber nicht das Böse in mir zu besiegen. Es ist ebenso Teil von mir wie das Gute, das ich tat. Ich gestehe, ich habe Angst vor mir selbst, vor meinen Träumen, meinen Visionen, meinen Taten. Was bleibt, ist ein verwirrter Geist, der heimatlos ist und keinen Frieden findet.

2.

Seit mehr als zwei Tagen lag Teje in den Wehen. Doch das Kind, das sie trug, wollte einfach nicht kommen. Wie sehr wünschte sich das Mädchen jetzt ihre Mutter Heket herbei, damit sie ihr in diesen schweren Stunden beistand. Doch diese war in Pi-Ramses geblieben, hatte die Tochter lediglich mit zwei Dienerinnen auf das Landgut der Familie bei Memphis gesandt, um die ungewollte Frucht fern der Öffentlichkeit auszutragen und dann verschwinden zu lassen.

Teje, die Tochter des Ta, Wesirs des Südens, war dem Pharao vor einem Jahr als Nebenfrau vor dessen Abreise in den Norden, wo er wieder einmal die Libyer aus dem Nildelta vertreiben musste, versprochen worden. Nun würde der Pharao bald aus dem Norden zurückkehren und die nun Dreizehnjährige zu sich rufen, um die Ehe zu vollziehen. Nicht auszudenken, wenn er von der Schande erführe, die Teje der Familie in der Zwischenzeit bereitet hatte. Wider aller Vernunft hatte sie sich in einen nubischen Sklaven, Sohn eines Schamanen, der als Teil einer Tributzahlung aus Nubien nach Theben gesandt worden war, verliebt, ihn verführt und war schwanger geworden.

Den Zorn der Eltern fürchtend, als sie bemerkte, dass ihre Liebschaft nicht ohne Folgen geblieben war, hatte sie sich in die Lüge geflüchtet, der junge Nubier habe ihr Gewalt angetan und ihre Ehre befleckt. Den Beteuerungen des Nubiers, dass er unschuldig sei, dem Mädchen lediglich zu Willen gewesen war, prallten an den erzürnten Eltern ab. Vor den Augen des Mädchens und deren Mutter hatte der Vater dem jungen Nubier den Kopf mit dem Schwert vom Rumpf getrennt. Doch zuvor hatte dieser Teje, deren Familie, Kinder und Kindeskinder für ihre Lüge für alle Zeit verflucht.

„Seth, du Zerstörer, Herr der Wüste und des Chaos, der Gewalt, der Verwirrung und des Verderbens, räche meinen Tod an dieser Familie und ihren Nachkommen. Lass meine Frucht wachsen und Vergeltung üben. Ich weihe dir meinen Samen, der in diesem arglistigen Mädchen heranwächst. Lass dieses Kind das Böse auf die Welt bringen. Ich bitte dich. Räche meinen Tod.“

Dann war sein Kopf gefallen. Zutiefst erschrocken hatte Teje Isis, die Schutzherrin der Kinder und Gebärenden, um Hilfe angefleht und deren Schutz erbeten. Sie wusste, dass der junge Nubier von seinem Vater schon in jungen Jahren in die Welt der Magie und Zauberei eingeführt worden war. Darum jagte sein Fluch ihr kaltes Grauen ein.

Nun lag sie in den Wehen und die Hebamme, nach der die Dienerin geschickt hatte, wusste nicht mehr weiter. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würden Mutter und Kind sterben.

Teje fand nicht mehr die Kraft zu schreien. Lediglich ein klägliches Wimmern entrang sich ihrer Kehle. Und wieder musste sie an den Fluch denken, den der Nubier ausgesprochen hatte. Sollte er schon so schnell in Erfüllung gehen? Sollten sie und das Kind hier und jetzt sterben? Hilfesuchend betete sie zu Isis: „Oh Isis, du Göttin der Wöchnerinnen in Not. Bitte hilf mir. Dieses Kind soll dir geweiht sein, wenn du uns beide schonst. Bitte hilf! Ich weiß, ich habe Unrecht getan. Verzeih mir. Ich tat es aus Angst vor den Folgen. Bitte sieh mir meine Schuld nach und vergib mir. Nimm dieses Kind als Sühne.“

Weitere Stunden vergingen, bis Isis das Flehen des Mädchens erhörte. Endlich gelang es der Hebamme, das Kind so zu drehen, dass der Kopf in den Geburtskanal gelangte. Danach ging alles sehr schnell. Wenige Minuten später war das Kind geboren, ein Mädchen mit schwarzem Flaum auf dem Kopf, tiefschwarzen Augen und einer dunkelbraunen, fast schwarzen Hautfarbe, der Hautfarbe von ägyptisch-nubischen Mischlingen. Die Hebamme gab das Kind an die beiden Dienerinnen weiter, um es waschen zu lassen, während sie die Nachgeburt Tejes versorgte.

Da plötzlich stieß eine der Dienerinnen, die das Kind gebadet hatte, einen spitzen Schrei aus.

„Die Schwingen der Isis. Seht her! Das Kind trägt auf dem Schulterblatt das Zeichen der Göttin.“

Zitternd reichte sie das Kind an die Hebamme zurück, die ebenfalls ungläubig das Muttermal des Säuglings betrachtete.

„Tatsächlich,“ meinte diese erstaunt, sich an die Mutter wendend. „Seht her, Herrin. Dieses Kind gehört unzweifelhaft Isis. Sie hat es als das ihre erkannt.“ Im Stillen dachte sie weiter: „Auch wenn der Vater dieses Mädchens mir befohlen hat, das Kind nach der Geburt dem Nil zu übergeben, das werde ich nicht tun. Die Göttin würde mir ewig zürnen. Ich werde es mit mir nehmen und es zu meiner Schwester nach Theben bringen. Die sehnt sich schon so lange nach einem Kind. Doch die Götter haben ihr bis jetzt diese Freude verwehrt. Sie und ihr Mann werden dem Kind gute Eltern sein, bis zu dem Tag, an dem die Göttin das Kind ruft.“

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass es der Mutter gutging, packte sie das Mädchen in das bereitgestellte Binsenkörbchen, das sie dem Nil samt Inhalt übergeben sollten, steckte ihren Lohn ein und verließ das Landhaus.

Schon am Morgen des darauffolgenden Tags stellte sie eine Amme an und brach mit dieser auf einem der vielen Schiffe Richtung Theben auf. Je schneller sie das Kind fortbrachte, umso besser. Niemand sollte seine Spur verfolgen können.

Für Teje war der Zwischenfall mit dem ungewollten Kind bald vergessen. Sie kehrte kurz nach der Geburt nach Pi-Ramses zurück und fragte nie mehr nach dem Verbleib des Säuglings. Bald schon hatte sie vergessen, dass es dieses Kind überhaupt jemals gegeben hatte.

Nach Pharaos siegreicher Rückkehr aus dem Krieg zog sie in seinen Harem ein und wurde eine der Nebenfrauen Pharao Ramses III.

So wurde ich im 3. Regierungsjahr des Pharaos Ramses III. geboren mit zwei Seelen in meiner Brust, gezeichnet als Mischling, der weder ägyptische noch nubische Wurzeln hatte. Lange Zeit verstand ich nicht, was an mir so anders war, dass ich weder zu dem einen noch zu dem anderen Volk wirklich gehörte. Nur dass ich vom ersten Tag meines Lebens an innerlich zerrissen war, dass in mir zwei Mächte miteinander stritten, das fühlte ich schon sehr bald.

3.

Ich wuchs bei Rem auf, einem Steinmetz, der am Tempelbau von Medinet Habu im Westtal Thebens Arbeit gefunden hatte, und Sita, seiner Frau, einer Heilerin und Geburtshelferin wie ihre Schwester. Sie nannten mich nach einer nubischen Göttin Anuket. Beide liebten und umsorgten mich sehr, war ich doch das, was ihnen all die Jahre gefehlt hatte, ein Kind, dem sie ihre ganze Fürsorge schenken konnten. Dass meine Haut dunkler war, als die der anderen Kinder, kümmerte sie nicht. Und wenn andere Kinder mich deshalb neckten, tröstete mich meine Mutter damit, dass ich trotzdem viel schöner sei als all die anderen Mädchen mit ihrer zwar helleren Haut, aber gebogenen Nasen, fliehenden Kinns und farblosen Augen. Meine Nase war klein und schmal, mein Kinn wohlgeformt und meine schwarzen Augen brannten wie Feuer. Wenn ich jemanden längere Zeit damit anblickte, musste dieser den Blick senken oder zur Seite ausweichen. Niemand konnte mir längere Zeit in die Augen schauen, selbst meine Eltern nicht, meinten sie dann in meinem Blick zu verbrennen.

Die ersten Jahre meiner Kindheit kann ich eigentlich als glücklich betrachten. Außer dem gelegentlichen Gehänsel der anderen Dorfkinder wegen meiner Hautfarbe war ich mit meinem Schicksal zufrieden. Ich kannte nichts anderes als diese kleine Welt und fühlte mich darin aufgehoben und geborgen. Schon früh durfte ich meine Mutter auf ihren Gängen zu Patienten begleiten. Sie zeigte mir, wie offene Wunden versorgt, gebrochene Glieder verbunden wurden und Salben und Tränke hergestellt werden konnten. Selbst zu Geburten durfte ich gelegentlich mitgehen und zuschauen, wie meine Mutter und Helferinnen des Dorfs neues Leben auf die Welt brachten. Wie immer, wenn alles gut gegangen war, wurde der Göttin Isis ein Opfer gebracht. Gab es Komplikationen, schickte meine Mutter mich sofort hinaus, denn sie wollte nicht, dass ich in jungen Jahren mit dem Tod konfrontiert wurde. Diese Seite des Lebens würde ich noch früh genug kennenlernen. Immer, wenn Osiris die Oberhand gewann und Kind oder Mutter oder beide vor sein Gericht gerufen wurden, wurde diesem Gott ein Opfer gebracht, bevor die Wächter der Totenstadt den Leichnam abholten, um diesen im Haus der Einbalsamierer auf die Beisetzung vorzubereiten.

Für uns kleine Leute war diese Prozedur der Einbalsamierung schnell geschehen. Der Verstorbene wurde ein paar Tage in Natronlauge gelegt und dann mit Binden umwickelt. Je nach den finanziellen Möglichkeiten der Hinterbliebenen lag er länger in der Lauge und war die Qualität der Binden besser oder nicht. Dann wurde er in einer Holzkiste den Angehörigen übergeben, die ihn entweder in der Wüste verscharrten oder, je nach Vermögen, in einem Familiengrab beisetzten. Damit hatten die Hinterbliebenen ihre Pflicht dem Toten gegenüber erfüllt und sein Weiterleben nach dem Tod gewährleistet. Doch natürlich gab es auch Fälle, wo die Toten einfach in der Wüste vergraben wurden, da die Familie über keinerlei Mittel verfügte, um dem Verstorbenen ein Weiterleben nach dem Tod zu ermöglichen. Dieses Versagen beschäftigte die Angehörigen dann noch viele Jahre, da es für einen Ägypter zeit seines Lebens nichts Wichtigeres und Dringlicheres gab, als ein Leben nach dem Tod zu gewährleisten.

Ich war gerade sieben Jahre alt geworden, als sich bei mir zum ersten Mal eine jener Besonderheiten zeigte, die mein ganzes späteres Leben beherrschen sollten. Wieder einmal wartete ich vor einer der Lehmhütten eines Dorfbewohners auf meine Mutter, die in der Hütte um das Leben einer werdenden Mutter kämpfte. Die Dörflerinnen im Innern riefen Isis an und beteten, während sie ihre schutzbringenden Amulette von der Flügel ausbreitenden Isis beschwörend emporhoben. Gelangweilt saß ich auf dem Boden vor der Hütte und schaute den Hühnern beim Picken im Sand zu. Wie lange würde es wohl noch dauern? Allmählich verlor ich die Geduld, und das Geschrei im Inneren der Hütte zerrte an meinen Nerven. Bald wollte ich nur noch eins, diesem entsetzlichen Geschrei ein Ende bereiten. Zornentbrannt sprang ich auf und näherte mich dem Eingang, fest entschlossen der Schreienden so lange die Kehle zuzudrücken, bis endlich Ruhe herrschte. Wutausbrüche hatte ich bis dahin schon oft gehabt. Wenn mir etwas nicht gefiel, wurde es nicht nur laut, sondern gelegentlich ging auch Geschirr zu Bruch oder eine unserer Ziegen erhielt einen Tritt. Doch eine derartige Wut, die in Mordlust ausartete, war mir bisher unbekannt.

Zitternd stand ich im Türbogen und schaute auf die schmerzgeplagte Frau herab, bereit, jeden Augenblick zum Angriff überzugehen. Doch dann brannte plötzlich das Mal auf meiner Schulter. Ich wurde innerlich ruhig, ging auf die Leidende zu, nahm einer der Dörflerinnen ein Amulett aus der Hand, legte es der Frau auf die Stirn und meine Hand auf den geschwollenen Leib: „Sieh mich an. Sieh mir in die Augen. Du wirst jetzt ruhig. Du hast keine Schmerzen mehr. Isis, die mächtige Magierin, ist bei dir. Dein Kind wird jetzt ohne weitere Zwischenfälle zur Welt kommen. Hast du es gehört? Hast du mich verstanden? Alles wird jetzt gut.“

Wie unter Zwang sah die Frau mir in die Augen, konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Körper entspannte sich. Die Wehen, die jetzt in immer kürzeren Abständen kamen, schienen ihr keinen Schmerz mehr zu verursachen, und nach einer weiteren halben Stunde brachte die Frau ein gesundes Mädchen zur Welt.

Mehr weiß ich nicht mehr, denn kurz darauf packte mich ein Schwindel, und ich fiel zuckend zu Boden. Als ich zuhause auf meinem Lager wiedererwachte, waren viele Stunden vergangen. Dies war der erster Krampfanfall meines Lebens gewesen. Nachdem er vorüber war, die Zuckungen nachgelassen hatten, war ich in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem mich niemand zu wecken vermochte. Als ich endlich zu mir kam, saß meine Mutter an meinem Lager und schaute mich mit großen Augen forschend an.

„Bei der Neunheit der Götter, Anuket. Du hast die heilige Krankheit der Fallsucht. Ich habe dieses Phänomen im Laufe meiner Zeit als Heilerin schon zwei Mal gesehen, doch niemals so ausgeprägt wie bei dir. Du bist nach dem Krampfanfall lange völlig ohne Bewusstsein gewesen. Das Handauflegen bei der Frau muss dich unendlich viel Kraft gekostet haben. Aber noch viel erstaunlicher ist, dass du solche Kräfte in dir hast, dass durch deine Hand die Göttin Isis zu wirken vermag.“

„Ich kann mich an nichts mehr erinnern, Mutter. Ich weiß nur noch, dass mich etwas unglaublich zornig gemacht hat. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“

„Schon gut, mein Kind. Vermutlich hat dich der Schmerz der Frau gequält und zornig gemacht. Du hast Isis gerufen, und alles Weitere hat diese dann bewirkt.“

Einen Augenblick lang wollte ich meiner Mutter widersprechen, denn ich wusste genau, dass dieser Zorn in mir durch die nicht mehr erträglichen Schreie der Frau ausgelöst worden war, dass ich für die Frau kein Mitleid empfunden, sondern ihr den Tod gewünscht hatte. Isis´ Eingreifen hatte diese Wut in mir besänftigt, hatte mich davor bewahrt, handgreiflich zu werden. So beschloss ich zu schweigen, denn es war besser, wenn meine Mutter hiervon nichts wusste. Sollte sie glauben, was gut für sie war.

„Alle Anwesenden haben gesehen, welches Wunder Isis durch dich bewirkt hat. Du wirst sehen, das wird sich schnell herumsprechen. Schon bald werden sie aus der ganzen Umgebung kommen, um sich von dir die Hand auflegen zu lassen. Du bist begnadet, Anuket. Du bist etwas ganz Besonderes. Das habe ich sofort gespürt, als ich dich zum ersten Mal im Arm hielt.“

Mein Vater war von dem Vorfall weit weniger begeistert.

„Wir sollten jedes weitere Aufsehen vermeiden, sonst kommen ganz schnell die Priester vorbei, um uns Anuket wegzunehmen. Lehne jede weitere Behandlung durch sie ab, und dann können wir nur hoffen, dass all das schnell in Vergessenheit gerät.“

Doch es geriet nicht in Vergessenheit. Immer wieder kamen Menschen in verzweifelten, aussichtlosen Situationen bei uns vorbei und erbaten unsere Hilfe. Mein Vater schickte sie ausnahmslos fort. Doch wenn meine Mutter mit mir allein war, ließ sie den einen oder anderen doch eintreten und mich mein Glück durch Handauflegen versuchen. Bei manchen wirkte Isis durch mich, bei anderen nicht. Ich glaube, dies hing häufig vor allem von meiner Stimmung ab, ob Mitleid oder Wut in mir obsiegten. Doch jedes Mal danach erlitt ich einen Anfall, der mich für mindestens einen Tag in eine traumlose Bewusstlosigkeit versetzte. Und jedes Mal, wenn mein Vater mich in diesem Zustand zuhause vorfand, wurde er auf meine Mutter sehr zornig.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du das Kind mit diesen Dingen in Ruhe lassen sollst. Es wird uns allen kein Glück bringen, wenn du sie weiter in dieser Art benutzt. Sieh sie dir an. Ein jedes Mal ist sie völlig erschöpft. Irgendwann wird es sie vielleicht das Leben kosten. Oder wir bekommen Ärger mit der Obrigkeit oder Priesterschaft.“

Meine Mutter nickte. Doch, sobald mein Vater nicht hinsah, forderte sie mich auf, erneut zu helfen, wenn sie mit ihren Künsten am Ende war. Bald drang mein Ruf als Heilerin weit über unser Dorf hinaus. Menschen kamen von immer weiter her, um bei uns Hilfe zu finden.

So wunderte es niemanden, als eines Tages eine Sänfte vor unserer Tür hielt und eine Palastfrau sich Zutritt zu unserer Hütte erbat.

„Ich habe von dir und deiner Tochter und deren Fähigkeiten gehört. Ihr müsst mit in den Palast kommen. Eine der Nebenfrauen Pharaos, die nach Theben gekommen ist, um im Tempel von Karnak für einen glücklichen Ausgang ihrer Schwangerschaft zu beten, liegt seit Tagen in den Wehen, und das Kind will einfach nicht kommen. Ihr seid unsere letzte Hoffnung. Kommt mit. Rettet Königin Teje und ihr Kind. Der Pharao wird euch dafür reich belohnen.“

„Oder aber den Kopf vor die Füße legen, wenn etwas schief geht“, meinte mein Vater abwehrend. „Es tut uns aufrichtig leid, aber Wunder können weder meine Frau noch meine Tochter bewirken. Ihr solltet jetzt besser gehen.“

Auch meine Mutter wirkte skeptisch. So viel Vertrauen hatte sie in meine Fähigkeiten dann doch wieder nicht, dass sie es gewagt hätte, an den Hof zu gehen.

„Gewiss“, meinte sie zurückhaltend, „meine Tochter hat schon bei manchem aussichtslosen Fall helfen können. Doch genauso oft haben die Götter kein Einsehen gehabt. Darum sollte niemand zu sehr auf ihre Fähigkeiten vertrauen.“

„Keiner wird euch etwas zuleide tun, wenn ihr nicht helfen könnt. Aber außer euch gibt es keine Hoffnung mehr. Alle Ärzte Pharaos haben Teje und das Kind aufgegeben. Ihr habt also nichts zu befürchten. Kommt mit. Ich bitte euch.“

Fragend blickte meine Mutter zwischen mir und meinem Vater hin und her.

„Wenn ihr nicht mitkommt, könnte man euch allerdings vorwerfen, der Gemahlin Pharaos, meiner Herrin, die Hilfe versagt zu haben. Das könnte euch schwer zu stehen kommen“, drohte die Dienerin Tejes.

Seufzend willigte meine Mutter ein.

„Wir werden mit Euch gehen. Aber gebt uns Euer Wort, dass meiner Tochter und mir kein Leid geschieht, wenn wir versagen und wir hinterher auf jeden Fall unbehelligt nach Hause gehen können.“

„Darauf hast du mein Wort.“

Also packte meine Mutter ihren Korb zusammen, nahm mich an die Hand, und gemeinsam folgten wir der Sänfte zu Fuß.

Vor den Toren des Palasts angekommen, verschlug es mir fast die Sprache angesichts der hohen, mit bunt bemalten Figuren versehenen Außenmauern, die den Palast umgaben. Doch das Innere übertraf bei Weitem den Außenbereich. Überall waren Götterfiguren zu sehen. Bunte, in die Mauern eingemeißelte Szenen von Feldzügen der Pharaonen, wie sie ihre Feinde niederwerfen oder den Göttern opfern, zierten die Wände. Interessiert wollte ich meine Mutter nach der Bedeutung einzelner Figuren fragen. Doch meine Mutter bedeutete mir, still zu sein und weiter der Dienerin zu folgen. Durch mit Elektrum verzierte Ebenholztüren kommend, erreichten wir schließlich eine große Bronzetür, die uns Zutritt zum Haremsbereich gewährte. Hier führte uns die Dienerin in einen abgeschiedenen Raum, in der eine Frau leise wimmernd auf einem Polsterbett lag. Diener fächelten ihr Luft zu. Zwei Ärzte standen ratlos neben dem Bett. Ihre Gesichter zeigten, dass sie die Frau bereits aufgegeben hatten. In der Ecke, auf einem thronähnlichen Sessel, saß Isettahemdjert, die erste Frau Pharaos und große königliche Gemahlin sowie Herrin des Harems, die Königin Teje nach Theben begleitet hatte, um ebenfalls den Tempel von Karnak zu besuchen. Auch auf ihren Gesichtszügen war nichts als Hoffnungslosigkeit zu finden.

Die Dienerin Tejes verneigte sich vor der großen Königsgemahlin: „Ich habe die Frau und ihre Tochter mitgebracht. Ich musste ihnen versprechen, dass man ihnen keine Schuld geben wird, wenn sie nicht helfen können.“

Isettahemdjert nickte zustimmend. „Selbstverständlich nicht. Wo selbst die besten Ärzte Pharaos versagen, wie sollte da eine einfache Heilerin Schuld tragen. Tretet näher. Habt keine Furcht. Niemand wird euch etwas zuleide tun. Ich selbst sehe es als hoffnungslos an. Osiris hat bereits seinen Boten geschickt, um Teje vor sein Gericht zu rufen. Aber zuweilen ist der Wille der Götter doch unbegreiflich. Deshalb versucht euer Glück.“

Meine Mutter trat vorsichtig näher, berührte den Bauch der Schwangeren, die bereits alle Farbe im Gesicht verloren hatte. Nachdem sie den Bauch und den Geburtskanal abgetastet hatte, schüttelte sie traurig ihren Kopf.

„Verzeiht mir, Hoheit. Aber ich sehe hier keine Möglichkeit, Leben zu retten. Diese Frau ist verloren.“

„Ich dachte es mir“, meinte die große königliche Gemahlin. „Den Versuch war es wert. Habt trotzdem Dank. Ihr dürft gehen.“

Ohne mich um die anderen zu kümmern, die mich ebenfalls nicht beachteten, war ich auf die Schwangere zugetreten. Etwas zog mich magisch zu dieser Frau hin. Doch was es war, konnte ich nicht sagen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, obwohl ich sie nie zuvor gesehen hatte. Es war wie ein Zwang, der mich nicht losließ. Wortlos legte ich meine Hand auf ihren Leib und versengte meine Augen in ihre geschlossenen. Langsam öffnete sie diese und erwiderte meinen Blick. Ich hielt sie mit meinen Augen fest, während ich spürte, wie meine Hand wärmer wurde, eine Wärme, die in ihren Körper überging und ihr Schmerzen und Angst nahmen.

In mir klang eine ferne, mir bis dahin unbekannte Stimme. „Dieses Kind muss leben. Du kannst es retten. Halte ihren Blick fest. Halte deine Hand weiter bei ihr. Schenke ihr deine Kraft.“

Was war das? Was geschah mit mir? Ich zitterte. Und dann zeigte er mir zum ersten Mal sein Angesicht. Es war Seth, der Gott des Verderbens, der mich aufforderte, dieses Leben zu retten.

„Ich brauche dieses Kind und seine Mutter. Rette sie.“

Plötzlich mischte sich eine andere, mir seit langem vertraute Stimme, die Stimme der Göttin Isis, in meine Zwiesprache mit dem Gott ein: „Tu es nicht, Anuket. Sieh sie nicht länger an. Zieh deine Hand von ihrem Leib zurück. Er und seine Frucht sind verflucht. Lass los, damit sie ins Totenreich gleiten. Nur so können sie in dieser Welt keinen Schaden anrichten.“

Ich wollte auf Isis hören, meine Hand zurückziehen. Doch es gelang mir nicht. Fest mit dem Bauch der Schwangeren verwurzelt lag sie auf ihm. Dann kann ich mich an nichts mehr erinnern, denn ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Bett im Palast, und meine Mutter saß weinend neben mir.

„Ich glaubte schon, dich für immer verloren zu haben, mein Kind. Für einige Augenblicke hast du nicht mehr geatmet. Alles Leben war aus dir gewichen. Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht.“

„Die Frau und das Kind?“, fragte ich meine Mutter aufgewühlt.

„Sie leben, beide, die Mutter und ihr Sohn. Es ist ein wahres Wunder, das du vollbracht hast. Aber es hätte dich beinahe dein Leben gekostet. Dein Vater hat recht. Ich sollte dich nie wieder mitnehmen und die Hand auflegen lassen. Das ist zu gefährlich.“

Kopfschüttelnd schaute ich meine Mutter an. „Wie ist das nur möglich? Ich habe auf Befehl Seths das Böse in die Welt gelassen. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Selbst Isis´ Kraft hat nicht gereicht, den Zerstörer zu bezwingen.“

„Was redest du, mein Kind? Du warst so gut wie tot. Vermutlich hast du in diesem Augenblick Bilder gesehen, die nicht real waren. Was ist Böses an einem Neugeborenen, einem neuen Sohn für unseren Pharao?“

Ich sagte nichts mehr. Ich war mir sicher, meine Mutter würde mich nicht verstehen. Aber ich wusste, dass Seth zum ersten Mal über meine Schutzgöttin Isis gesiegt hatte. Er hatte mir seinen Willen aufgezwungen, mich zu seinem Werkzeug gemacht und Isis in die Knie gerungen.

Am frühen Abend betrat die große Königsgemahlin Isettahemdjert das Zimmer, in dem ich ruhte. Besorgt schaute sie mich an.