Die Seherin des Amun - Birgit Furrer-Linse - E-Book

Die Seherin des Amun E-Book

Birgit Furrer-Linse

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Beschreibung

Von Geburt an in die hinterste Ecke des Harems verdammt, wächst Prinzessin Nenefer, Tochter Pharao Thutmosis I., auf. Dennoch gerät ihr Leben in Gefahr, als auf die Erbprinzessin Neferubity ein Mordanschlag ausgeführt wird. Allein ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten helfen ihr, dem Mordbefehl Pharaos zu entgehen. Doch dadurch wird auch Nenefers Geheimnis bekannt. Sie ist von den Göttern gesegnet. Sie kennt die Gedanken ihrer Mitmenschen, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Aber erst durch zwei schwere persönliche Schicksalsschläge wird die Prinzessin zur wahren Seherin des Gottes Amun. Fern von eigenen selbstsüchtigen Wünschen, weiht sie ihr Leben Ägypten und seinen Göttern. Sie erlebt, wie ihr Vater Thutmosis I. stirbt und ihre Schwester Hatschepsut ihren verhassten Halbbruder Thutmosis II. heiraten muss. Als dieser ebenfalls stirbt, übernimmt Hatschepsut die Macht. Unter ihr erblüht Ägypten zu alter Größe. Doch am Ende ihrer Regierungszeit ist ein Machtwechsel dringend erforderlich, denn fremde Mächte bedrohen das Land. So greift die Priesterin des Amun noch einmal in die Geschicke Ägyptens ein und verhilft dem jungen Thutmosis III. zur Macht.

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Steppenbrand

Inhaltsverzeichnis

Epilog

Der Thronfolger

Thutmosis II

Die Herrscherin

Thutmosis III

Zu den Personen

Epilog

Der Wille der Götter geschieht, denn Maat herrscht wieder in Ägypten, seit das Fremdvolk der Hyksos aus dem Land vertrieben wurde.

Und was auch immer böse Zungen jetzt sagen mögen, es entsprach dem Willen der Götter, dass die vollkommene Göttin zum lebenden Horus wurde. Sie war die Tochter des Gottes Amun. Wie kein Pharao vor ihr versuchte sie den Willen Amuns zu ergründen, seine Vollkommenheit zu preisen und seine Gebote zu erfüllen. Sie tat ihre Pflicht den Göttern gegenüber und wurde deshalb von ihnen gesegnet. Unter ihr erblühte das Land, die Menschen lebten in Frieden und ohne Not, denn Amuns Hand lenkte sie. Sie baute wieder auf, was durch die Hyksos zerstört worden war. Ihr Name soll deshalb voll Achtung genannt, ihr Körper für die Ewigkeit bewahrt werden.

Sie schenkte ihre Liebe Ägypten und tat für das Land, was getan werden musste, ohne dabei auf die Qualen ihres Herzens zu achten. Ihre wahre Größe zeigte sich in dem Opfer, das sie Ägypten brachte.

Und deshalb bete ich zu Amun, er möge die strafen, die nun, da seine Tochter zu Osiris geworden ist, versuchen, schlecht von ihr zu sprechen und ihren Namen in den Schmutz zu ziehen, um dem neuen Horus zu schmeicheln. Mein Fluch soll jeden treffen, der es wagt, an ihr Andenken Hand zu legen, ihren Namen zu löschen oder ihre Statuen zu zerstören.

Solange ich lebe, werde ich nicht ruhen, dafür zu sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt in Ägypten, wie ihr Gerechtigkeit widerfahren ist vor den Göttern, ihr, meiner geliebten Schwester Makare Hatschepsut.

Dies schwöre ich, und ich weiß, der neue Horus wird es nicht wagen, sich meinem Willen zu widersetzen, solange ein Hauch Leben in meinem Körper ist. Er bringt mir all die Achtung und Ehrfurcht entgegen, die der greisen Tante gebühren. Doch die Achtung allein könnte ihn nicht davon abbringen, seinen so lange mühsam gezähmten Hass walten zu lassen. Nur die Furcht vor mir hält seine Rache an dir auf, geliebte Schwester. Thutmosis, der große Feldherr, dem es bestimmt ist, alle seine Vorgänger an Ruhm und Glanz zu übertreffen, fürchtet meinen Fluch. Denn noch immer ist Amun mit mir, sein Licht umgibt mich, lässt mich in den Gedanken der Menschen lesen und in ihre Zukunft blicken. Wie kein anderer am Hof kenne ich die heiligen Mysterien und verstehe den Willen der Götter zu deuten. Dies gibt mir die Macht, den Pharao zu lenken, denn Thutmosis ist nicht vom Licht Amuns erleuchtet. Er vollzieht die Riten, wie es in den alten Schriften vorgeschrieben ist, bringt den Göttern die Opfer dar. Doch die Götter schweigen. Sie verschließen sich ihm.

Thutmosis wagt es nicht mit den Priestern darüber zu sprechen, denn ein Pharao, dem sich die Götter nicht offenbaren, ist ein falscher Pharao, unfähig das Land im Sinne der Maat zu regieren. Nur ich kenne dieses Geheimnis, denn ich vermag in seinen Gedanken zu lesen wie in einem Buch, und dies weiß Thutmosis. Er ahnt nicht, dass es mein Zauber ist, der zwischen ihm und den Göttern steht. Doch in der Stunde meines Todes wird dieser Bann von ihm genommen werden.

An diesem Tag wird Thutmosis wissen, dass er nach dem Willen der Götter rechtmäßiger Pharao Ägyptens ist. Und dann wird er nicht mehr zögern, deinen Namen und deine Bildnisse auszulöschen, deine Statuen zu zerschlagen und dich aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen. Sein Hass wird über seine Ehrfurcht vor dir siegen, und selbst der Fluch Amuns wird ihn nicht davon abhalten können.

Ja, geliebte Schwester, ich spüre, wie die Lebenskraft langsam aus meinem Körper rinnt. Mein Körper leidet unter der Gebrechlichkeit des Alters, doch mein Geist hat nichts von seiner Kraft eingebüßt. Im Gegenteil, heute fühle ich mich dem Willen der Götter näher als je zuvor, denn ich habe jenen Punkt erreicht, an dem ich dem eigenen Schicksal gegenüber gleichgültig geworden bin. Mich leitet kein persönliches Interesse mehr, sondern nur noch der Wunsch, Amun zu dienen.

Umso trauriger stimmt es mich, aus diesem Leben zu scheiden, ohne Thutmosis vor dem großen Fehler bewahren zu können, den Zorn Amuns auf sich zu laden. Doch damit muss ich mich wohl abfinden, denn jeder Mensch wandelt auf dieser Erde, um selbst zu ergründen, was Recht und was Unrecht ist. Die Götter können nur raten, entscheiden muss jeder selbst. Am Tag des Göttergerichts, in der Halle der Maat, wird das Handeln des Menschen gerichtet, seine Seele in die Waagschale gelegt und das Urteil der Götter durch Thot verkündet.

Ich werde nun bald vor dieses Gericht treten, und darum schreibe ich mit den letzten mir noch verbliebenen Kräften mein Totenbuch, um meine Taten vor Osiris Gericht zu rechtfertigen.

Wie viel leichter würde es mir fallen, einem Schreiber diesen Bericht meines Lebens zu diktieren, als mit meinen alten, zittrigen Fingern selbst die Hieroglyphen auf den Papyrus zu bringen. Aber ich weiß, dies darf ich nicht tun, denn die Vergangenheit birgt zu viele Geheimnisse, die mir für immer ins Grab folgen müssen und keinem, außer den Göttern, zu Ohren kommen dürfen. Und so sitze ich hier und schreibe in der Hoffnung, dass meine Hände nicht versagen, meine Augen mir keinen Streich spielen und mein Atem noch lange genug reicht, um mein Werk zu vollenden.

Ich schreibe, und mit jeder Zeile fühle ich mich zurückversetzt in die Tage meiner Jugend, in denen noch kein Schatten meinen Frohsinn trübte, mein Glaube unerschüttert war und ich mir keine Schuld, noch schlechte Gedanken vorwerfen musste.

Ich, Nenefer, Tochter Pharaos Thutmosis I, Halbschwester Pharaos Thutmosis II., Halbschwester Pharaos Hatschepsut, Tante Pharaos Thutmosis III., Seherin des Amun, erleuchtet von den Göttern, schreibe, um vor Osiris Gerechtigkeit zu finden.

Nachdenklich senkte Thutmosis die Papyrusrolle in seiner Hand. Sein Blick wanderte hinüber zu dem zierlichen, eingefallenen Körper mit dem unscheinbaren Gesicht, aus dem vor wenigen Minuten alles Leben gewichen war. Doch obwohl sie tot war, spürte er noch immer ihre Gegenwart im Raum, fühlte ihre großen, leuchtenden Augen auf sich gerichtet. Sie war tot und doch anwesend, schien ihn aus ihrer neu gewonnenen Freiheit drohend zu beobachten. Eine Stimme wurde in ihm laut. Warnend gebot sie ihm, die Papyrusrolle zu schließen, den Willen der Verstorbenen zu achten, ihr ihre Geheimnisse und ihr Wissen mit ins Grab zu geben. Aber gleich darauf verscheuchte er seine Furcht vor dem Unbekannten, welche ihn zaudern ließ. Hier in seiner Hand lag die Wahrheit, die ganze Wahrheit, die sich ihm bis zum heutigen Tag verschlossen hatte. Endlich bot sich ihm die Möglichkeit, zu erfahren, was wirklich geschehen war, als er noch ein Kind war, das nicht verstand, nichts begriff. Nein, er musste diesen Papyrus lesen, auch wenn er damit gegen ein heiliges Gesetz verstieß. War er schließlich nicht der Pharao, der lebende Horus auf Erden, der alles wissen musste? Nur so konnte er Gerechtigkeit üben.

„Majestät!“

Der Befehlshaber seiner Leibgarde schreckte Thutmosis aus seinen Gedanken. Unwirsch blickte der Pharao auf. Erst jetzt wurde er sich wieder der Tatsache bewusst, dass er nicht allein gekommen war. Als man ihm die Nachricht brachte, seine Tante läge im Sterben und wünsche ihn noch einmal zu sehen, hatte er die Soldaten seiner Leibgarde mitgenommen, denn obwohl Nenefer dem Tode nahe war, konnte er die Furcht, die er stets in ihrer Gegenwart empfunden hatte, nicht abschütteln. Außerdem waren der Leibarzt seiner Tante und deren Bedienstete im Raum. Alle blickten nun auf ihn und erwarteten seine Befehle.

„Wünschen Eure Majestät, dass ich einen Boten in das Haus des Todes sende?“, fragte der Offizier.

Einen Augenblick lang zögerte Thutmosis. Vielleicht wäre es das Beste, den Leichnam sofort den Einbalsamieren zu übergeben und die Räume Nenefers verschließen zu lassen, um ihr Habe für das Begräbnis sicherzustellen?

Aber nein! Das Dokument in seiner Hand war zu aufschlussreich, um es ungelesen den Grabbeigaben hinzuzufügen.

„Lass die Einbalsamierer verständigen, dass sie den Leichnam morgen früh ins Haus des Todes überführen sollen. Heute Nacht jedoch soll die Verstorbene hier aufgebahrt bleiben. Ich persönlich werde die Totenwache halten – allein!“

Der Offizier verneigte sich, wandte sich um und ging. Die Leibwache des Pharaos folgte, ebenso der Arzt und die Bediensteten Nenefers. Nur Teje, die erste Dienerin Nenefers, blieb zurück.

„Majestät“, begann sie zögernd. „Verzeiht, aber die edle Nenefer hat mich beauftragt, nach ihrem Tod persönlich dafür Sorge zu tragen, dass die wichtigsten Dinge ihrer Habe sichergestellt werden, damit sie unversehrt in ihr Grab gelangen.“

„Dann such die Dinge zusammen. Ich werde sie bis zur Beisetzung verschließen lassen“, erwiderte Thutmosis gereizt.

Gehorsam verneigte Teje sich vor dem Pharao und begann dann unter den Augen von Thutmosis aus den verschiedensten Truhen Dinge zusammenzusuchen. Kämme, Bürsten, Schmuck und Gewänder sowie Geschirr häuften sich bald vor den Augen des Pharaos. Schließlich kam Teje auf Thutmosis zu, der die ganze Zeit über ungeduldig dem Treiben der Dienerin zugesehen hatte. Sie griff nach der Schreibpalette ihrer verstorbenen Herrin und wandte sich dann entschlossen an den Pharao.

„Vergebt mir, Majestät, aber das, was Ihr da in Euren Händen haltet, legte mir meine Herrin besonders ans Herz. Diese Zeilen sind nur für die Götter bestimmt, nicht für die Menschen!“

Einen Augenblick schwankte Thutmosis zwischen Erstaunen und Zorn, dann siegte sein Zorn.

„Es ist jetzt gut, Teje! Du hast den Willen deiner Herrin erfüllt. Um alles Weitere werde ich mich kümmern. Geh jetzt!“, herrschte er die Dienerin an.

Doch Teje blieb unbeeindruckt. Ruhig entgegnete sie: „Majestät, Ihr habt das erste Siegel aufgebrochen und die Zeilen gelesen, die Nenefer den Göttern schrieb. Das entsprach nicht dem Wunsch meiner Herrin. Ich flehe Euch an, Herr. Legt den Papyrus in die Truhe zurück und schließt sie. Ich bitte Euch, stört die Ruhe der Toten und Eure eigene nicht durch diesen Frevel!“

Einen Augenblick lang war Thutmosis von den Worten Tejes so beeindruckt, dass er willens war, sich zu beugen. Doch gleich darauf glomm der Zorn erneut in ihm auf. Er, der Pharao Ägyptens, musste sich von niemandem sagen lassen, was er zu tun und zu lassen hatte.

„Geh jetzt, Teje, oder ich lasse dich in Ketten legen!“, herrschte er die Dienerin an.

Ehrfürchtig verneigte Teje sich vor dem Pharao und wandte sich zum Gehen, blieb an der Tür aber noch einmal stehen und sagte: „Ich bin nur eine einfache Sklavin und muss gehorchen, Majestät. Ihr seid der Pharao und entscheidet. Trotzdem muss ich Euch warnen. In der Rolle, deren Siegel Ihr aufgebrochen habt, liegt eine zweite Rolle, die ebenfalls versiegelt ist. Dieses Siegel hat die edle Nenefer mit einem Fluch belegt. Wenn Ihr es brecht, wird es Euch kein Glück bringen.“

Teje verneigte sich noch einmal und verließ den Raum.

Nachdenklich schaute Thutmosis ihr nach. Die letzten Worte Nenefers kamen ungerufen in sein Gedächtnis zurück.

„Majestät“, hatte sie mit gebrochener Stimme geflüstert. „Wägt gut ab, was Recht und was Unrecht ist. Die Götter können mit Euch sein oder gegen Euch. Es liegt ganz bei Euch.“

Es war Thutmosis plötzlich, als seien in diese letzten Worte die ganze Weisheit eines langen Lebens eingeflossen.

Dann war sie gestorben, und während die anderen den Leichnam reinigten und aufbahrten, war Thutmosis unruhig im Raum herumgelaufen, von dem Drang getrieben, so schnell wie möglich das Zimmer wieder verlassen zu können. Durch Zufall war dabei sein Blick auf die versiegelte, dicke Papyrusrolle gefallen, die in einem offenen Kästchen lag. Er hatte sie herausgenommen, ohne sich etwas dabei zu denken, nur, um etwas zu tun, damit die Zeit schneller verging. Beiläufig hatte er die Aufschrift der Rolle gelesen - „Mein Totenbuch“ -. Plötzlich war in ihm das Interesse erwacht. Alle waren noch immer mit der Toten beschäftigt gewesen, keiner hatte ihn beachtet. Von einem unbändigen Verlangen getrieben, hatte Thutmosis das erste Siegel aufgebrochen und zu lesen begonnen.

„Verzeih mir, Nenefer, aber ich kann nicht anders“, flüsterte er.

Dann legte er die erste Rolle beiseite, nahm die zweite an sich und öffnete das Siegel.

Während er die Papyrusrolle vor sich auszubreiten begann, um die zierlichen, mit zittriger Hand geschriebenen Hieroglyphen zu entziffern, lief ein Schauer über seinen Rücken. Erschreckt fragte er sich, ob das Siegel, das er eben aufgebrochen hatte, wirklich mit einem Fluch belegt war, wie die alte Nubierin Teje es behauptet hatte. Jeder am Hof, so musste er sich eingestehen, wusste, dass seine Tante eine große Zauberin und Magierin gewesen war, die über göttliche Kräfte verfügte. Könnte es sein, dass ihr Zauber auch über ihren Tod hinauswirkte?

Ärgerlich über sich selbst verscheuchte Thutmosis seine Furcht. Er, der große Feldherr, Bezwinger der Feindlande, Pharao von Ägypten, durfte vor nichts Angst haben.

Und doch, so ging es ihm durch den Sinn, war Nenefer zu ihren Lebzeiten der einzige Mensch gewesen, vor dem er Furcht empfunden hatte. Allein ihre Gegenwart übte eine Macht auf ihn aus, der er sich nie hatte entziehen können. Ja, diese Frau hatte er ebenso sehr gefürchtet wie bewundert. Nun war sie tot und doch lag noch immer ihr Bann auf ihm, erfüllte ihn mit tiefer Ehrfurcht.

Aber sein Entschluss stand fest.

„Nein, Nenefer“, flüsterte er. „Du kannst mich nicht davon abhalten. Ich werde erfahren, was ich immer wissen wollte. Du warst mein einziger Freund in der Not. Du warst mein einziger Widersacher, als ich den Gipfel der Macht erreicht hatte. Und immer warst du stärker als ich. Wenn es mir heute, nach deinem Tod, nicht gelingt, deinen Willen zu brechen, werde ich für den Rest meines Lebens in deinem Schatten stehen. Doch der Pharao Ägyptens muss seinem eigenen Willen folgen“.

Thutmosis wandte sich erneut dem Papyrus zu und begann zu lesen. Schon nach wenigen Augenblicken versank er in den Bericht, verließ die Gegenwart und gab sich ganz dem Zauber der Vergangenheit hin. Für Stunden wurde er ein anderer Mensch, lebte ein anderes Leben, dachte andere Gedanken und erlebte die Kräfte des Göttlichen.

Der Thronfolger

Es ist nicht immer leicht, nach dem Willen der Götter zu handeln. Die eigenen Gefühle, Interessen und Wünsche stehen oft im Weg, und es kostet unendlich viel Kraft, dennoch den richtigen Weg nicht zu verlassen.

Wenn ich es trotzdem manchmal tat, so flehe ich die Götter an, mir dies zu vergeben, denn ich wurde als Mensch geboren, mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten eines Menschen. Dass die Götter mir die besondere Gabe verliehen, ihrer Größe näher zu sein als andere Menschen, war mein Schicksal. Ich habe versucht, meiner Aufgabe gerecht zu werden, was mir jedoch nicht immer gelang.

Oft habe ich das Wissen, das ich anderen Menschen voraushatte, nicht als Glück, sondern als Fluch empfunden. Ich hätte gerne gehandelt, wie es meine Gefühle geboten. Aber es sollte mir versagt bleiben, Liebe, Hass, Eifersucht und Kummer auszuleben, denn die Macht des Göttlichen lastete auf meinem Gewissen, beschrieb mir stets klar die Aufgabe, die ich zu erfüllen hatte.

Darum sehe ich meinem Tod dankbar entgegen, denn er wird mir den lang ersehnten Frieden schenken.

Doch ich will nicht klagen. Es gab auch glückliche Tage in diesem zurückliegenden Leben, um derentwillen allein es sich bereits gelohnt hat, die Last zu tragen.

Und so beginne ich von diesem Leben zu erzählen. Und ich werde versuchen, den Pfad der einzigen Wahrheit nicht zu verlassen. Doch wenn mein Gedächtnis mir manchmal vielleicht einen Streich spielen wird, bitte ich die Götter, mir dies nachzusehen. Ich bin alt, und es fällt mir immer schwerer, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen. Manche Ereignisse verschwimmen bereits im Nebel der Vergangenheit, während andere noch so lebendig vor mir stehen, als hätte sich alles erst vor ein paar Minuten zugetragen.

Unser Leben ist nicht nur das Ergebnis unseres eigenen Handelns, sondern wird zu einem Großteil von den Ereignissen bestimmt, die an uns herantreten. Weil dies so ist, muss man oft weiter zurückblicken, als man glaubt, um den ganzen Zusammenhang zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Darum werde ich meine Geschichte in jener Zeit beginnen, die für das Land Ägypten wohl die Dunkelste seiner ganzen Vergangenheit ist. Es ist die Zeit, in der Ägypten nicht von Ägyptern regiert wurde, sondern von einem Barbarenvolk, das über das Land herfiel, unsere Götter stürzte, unsere Tempel zerstörte und uns seinen Willen aufzwang. Dieses Volk waren die Hyksos, und sie herrschten fast einhundert Jahre über unser Land, bis es endlich einem thebanischen Fürsten namens Ahmose gelang, die Barbaren zu vertreiben und der Maat, der Weltordnung der Götter, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Jener Ahmose war mein Urgroßvater und der Begründer einer neuen, ägyptischen Dynastie, einer Dynastie der Wiederherstellung des Altbewährten, ebenso wie der notwendigen Erneuerung.

Mein Urgroßvater Ahmose wie auch mein Großvater Amenophis lebten ständig im Krieg. Ihnen war zeit ihres Lebens nichts anderes vergönnt, als die Grenzen Ägyptens zu verteidigen, um dem Reich zu alter Macht und Größe zurück zu verhelfen. Und auch mein Vater, Pharao Thutmosis I., musste einen Großteil seiner Jugend dieser Aufgabe widmen, bis endlich der lang ersehnte Frieden einkehrte.

Pharao Thutmosis I. war ein ebenso großer wie geschickter Feldherr, wie er auch in allen innenpolitischen Angelegenheiten eine glückliche Hand zeigte. Er festigte das Reich von innen und außen und begann das vom Feind zerstörte wiederaufzubauen. Er hätte mit seinem Werk zufrieden sein können, doch mit zunehmendem Alter lastete eine große Sorge auf ihm. Seine Jugend hatte er durch Krieg weit entfernt von Theben an den Grenzen Ägyptens verbringen müssen und nun, daheim, im Alter, schien es ihm nicht vergönnt zu sein, einen Erben für das Reich zu bekommen. Aber gerade diesen Erben brauchte Ägypten zu jener Zeit dringend, denn ein nach Thutmosis Tod ausbrechender Kampf um die Nachfolge hätte das Reich erneut geschwächt und alles Erreichte in Frage gestellt.

Thutmosis und seine Gemahlin Ahmose beteten zu den Göttern und brachten viele Opfer dar, bis es der großen königlichen Gemahlin schließlich doch vergönnt war, von Pharao zu empfangen.

Die Königin kam nach einer schweren Geburt, die sie fast das Leben gekostet hätte, mit einem Mädchen nieder, das den Namen Neferubity erhielt. Die Hoffnung des Reichs auf einen gesunden Thronfolger sank. Verzweifelt griff Thutmosis zu der letzten noch bleibenden Möglichkeit und nahm sich eine zweite, jüngere Frau namens Mutnofret. Und Mutnofret gelang es tatsächlich, dem Pharao einen Sohn zu schenken, der nach seinem Vater ebenfalls Thutmosis genannt wurde. Zwar starb Mutnofret wenige Tage nach der Geburt im Kindbett, doch Ägypten atmete auf, denn die Sorge um einen Thronfolger schien erledigt. Oberflächlich betrachtet war dies auch so, doch je älter Thutmosis wurde, umso deutlicher zeigte sich, dass er nicht die Veranlagungen besaß, die von einem Pharao erwartet wurden. Das Kind war kränklich, fettleibig und verweichlicht. Immer öfter fragte sich Pharao Thutmosis, ob er seinen Sohn am Ende nicht sogar noch überleben würde.

Da endlich wendete sich noch einmal das Geschick, denn Königin Ahmose verkündete vor Glück strahlend, dass sie wieder guter Hoffnung sei. Bestärkt wurde das neue Hochgefühl von einem Traum, den Ahmose kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes hatte.

Amun selbst kam in diesem Traum zur Königin und gab ihr zu verstehen, dass er der Vater ihres Kindes sei. Er nahm den Säugling auf den Arm als Zeichen dafür, dass er das Kind zum neuen Horus erhob.

Pharao und Oberpriester waren sich bei der Deutung des Traums einig, das Kind, das geboren werden würde, sollte nach dem Willen der Götter den Thron besteigen.

Die Stunde der Geburt rückte näher, und Ahmose schenkte einem Mädchen das Leben, das den Namen Hatschepsut erhielt. Und wieder waren König und Königin einer Hoffnung beraubt. Ein Mädchen konnte den Thron nicht besteigen. Der Traum der Königin musste falsch gedeutet worden sein.

Pharao Thutmosis war bereit, sich mit seinem Nachfolger, dem Sohn Mutnofrets, abzufinden. Doch da wurde das Kind ernstlich krank, sodass die Ärzte um sein Leben fürchteten. Darum gab Thutmosis schließlich dem Drängen seiner Berater nach, noch einmal zu versuchen, einem gesunden Thronfolger das Leben zu schenken, und er vermählte sich auf Rat der Priester mit der zweiten Priesterin der Hathor, einer Frau namens Meryet. Die Ehe wurde im Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin vollzogen und durch die Schwangerschaft Meryets gekrönt. Diesmal waren sich alle Priester einig. Die Schwangerschaft stand unter einem guten Stern. Der ersehnte Thronfolger würde geboren werden. Umso größer war die Enttäuschung, als der Pharao hören musste, dass es wieder ein Mädchen war, das das Licht der Welt erblickt hatte.

Da Thutmosis an Meryet nie ein besonderes Interesse gehabt hatte, sondern sie einzig auf Rat der Priesterschaft zu seiner Gemahlin gewählt hatte, wurde die einstige Priesterin der Hathor in die hinterste Ecke des Harems verband, wo sie ihre Tochter großziehen sollte. Der Pharao kam nicht einmal, um das ihm geborene Kind in Augenschein zu nehmen. Er ließ Meryet durch einen Boten ein unbedeutendes Geschenk überbringen und ihr den Namen für das Mädchen mitteilen – Nenefer.

Mutnofrets Sohn erholte sich, und Thutmosis war nun endgültig davon überzeugt, dass er keinen anderen Sohn haben würde. Deshalb ernannte er Mutnofrets Sohn zu seinem Nachfolger und versprach ihm die Erbprinzessin Neferubity zur Frau, damit ihm niemand den Anspruch auf den Thron streitig machen konnte.

Die Frage der Nachfolge schien damit unwiderruflich geregelt. Nach menschlichem Ermessen war dies auch so, doch die Götter wollten es anders. Sie hatten andere Pläne, und ihr Wille geschieht.

Auch meine Geburt, die auf den ersten Blick völlig überflüssig erschien und niemanden besonders erfreute, war ein Teil dieser höheren Fügung. Dies ahnte damals allerdings noch niemand.

Ich wuchs unbeschwert in den Gemächern meiner Mutter auf, weit weg von den kritischen Blicken, die jeden Schritt der anderen beiden Prinzessinnen und des Prinzen verfolgten. Ihre Erziehung unterlag einer strengen Disziplin, die darauf ausgerichtet war, sie zu würdigen Nachfolgern des Horusthrons auszubilden. Für mich hingegen war in diesem Erziehungsplan kein Platz vorgesehen, und so war ich in den ersten neun Jahren meines Lebens allein der Aufsicht meiner Amme und der meiner Mutter unterstellt.

Neun Jahre. Ja, ich erinnere mich noch genau daran, dass es neun Jahre waren, in denen mein Vater meine Existenz und die meiner Mutter einfach übersah. Für mich bedeutete dies wenig, denn da ich meinen Vater nie zu Gesicht bekommen hatte, vermisste ich ihn auch nicht. Doch für meine Mutter waren es neun schwere Jahre. Ihr anfänglicher Gram verwandelte sich langsam in Zorn, und aus ihrem Zorn wuchs ein überwältigender Hass auf den Mann, der ihre Unterwerfung unter seinen Willen mit ihrer Verbannung belohnt hatte. Sie, die stolze Priesterin der Hathor, früher stets im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, schien dazu verurteilt, den Rest ihres Daseins in der Abgeschiedenheit ihrer Gemächer fristen zu müssen. Wie anders wäre es ihr doch ergangen, hätte sie dem Pharao den Sohn geboren, der von ihr erwartet worden war. Dies hielt sie sich gewiss oft vor Augen, und eigentlich wäre es nur natürlich gewesen, wenn sie die Schuld für ihr Unglück bei mir gesucht hätte. Doch dies tat sie nicht – im Gegenteil. Sie brachte mir all die Liebe entgegen, die eine Mutter zu geben in der Lage ist. Ich wurde der Mittelpunkt ihres Lebens, ihr einziger Trost und mit der Zeit auch ihre Hoffnung.

Meine Mutter war keine schöne, doch eine sehr kluge Frau, die durch ihre Ausbildung und Arbeit im Tempel der Göttin Hathor nicht nur umfangreiches Wissen erworben, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstdisziplin und zum Warten erlernt hatte.

Nachdem ihr klar geworden war, dass der Pharao nach meiner Geburt von ihr nichts weiter erwartete, als ihm in Zukunft nicht mehr unter die Augen zu treten, nahm sie dies schweigend zur Kenntnis. Eine andere Frau hätte zornentbrannt nach Gerechtigkeit gerufen. Doch meine Mutter war zu klug, um eine solche Dummheit zu begehen. Eine Auflehnung gegen den Willen Pharaos hätte bei Thutmosis nur noch härtere Maßnahmen gegen sie und mich zur Folge gehabt. So akzeptierte meine Mutter die unausgesprochenen Bedingungen des Pharaos. Sie lebte zurückgezogen in ihrer Ecke des Palasts und wartete ab, was die Zukunft bringen würde. Denn wenn meine Mutter auch nicht, so wie ich, die Gabe besaß, in die Zukunft zu blicken oder anderer Leute Gedanken lesen zu können, so spürte sie doch, dass dies nur eine vorübergehende Gefangenschaft war, dass der Tag kommen würde, an dem sich ihre Situation verändern und sie sich für die zugefügte Schmach und Ungerechtigkeit rächen würde. Nie kam ein Wort des Unwillens oder des Zorns über ihre Lippen. Nach außen hin trug sie Gleichgültigkeit zur Schau. Doch im Innern wuchs ihr Hass gegen meinen Vater ins Unermessliche.

So wuchs ich umsorgt von meiner Mutter und meiner Amme Nut heran, und wenn meine Welt sich auch auf die Gemächer meiner Mutter und den dazugehörigen Garten beschränkte, so empfand ich doch weitaus mehr Zufriedenheit als meine Geschwister. Meine Mutter schenkte mir ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe und versuchte stets, ihren eigenen Kummer vor mir zu verbergen. Anfänglich gelang ihr dies auch gut, doch mit zunehmendem Alter spürte ich immer häufiger, dass ihr Herz in einem seltsamen Widerspruch zu ihrem Erscheinen stand. Da meine Mutter die Hauptperson in meinem Leben war, bereitete mir dies bald meine ersten Sorgen. Ich wollte nicht, dass sie unglücklich war, und wusste doch nicht, was ich dagegen tun konnte. Hilflos bewahrte ich mein Wissen in meinem Innern und hoffte auf eine Wende. Doch die Zeit verging und der Zustand meiner Mutter verschlimmerte sich, ohne dass ich den Grund dafür erfuhr.

So rückte mein neunter Geburtstag heran und damit der Tag, an dem es mir gelingen sollte, das Geheimnis meiner Mutter zu lüften.

Der Tag verlief zuerst wie jeder andere Geburtstag vorher. Meine Mutter verwöhnte mich, indem sie mich reich beschenkte, mir meine Lieblingsspeisen kommen ließ und sich den ganzen Tag über Zeit für mich nahm. Doch die Harmonie des Tages litt unter dem verborgenen Kummer meiner Mutter. Äußerlich merkte niemand etwas davon. Doch mir gelang es wie nie zuvor, hinter ihre Maske zu blicken. Was ich dort entdeckte, erschreckte und verwirrte mich gleichermaßen. Eine Hoffnung glomm in ihrem Herzen, die mit fortschreitendem Tagesverlauf immer mehr grenzenloser Wut und Enttäuschung wich. Und dann bemerkte ich plötzlich, was mir vorher nie aufgefallen war – der Blick meiner Mutter, der häufig auf die in der Nische stehende Statue fiel, die Statue des Pharaos, meines Vaters. Mit einem Mal war mir klar, dass er die Ursache für die merkwürdigen Gefühle meiner Mutter war.

Aber warum?

Meine Mutter hatte mir schon früh erzählt, dass mein Vater, der Pharao, der Herrscher über unser Land Ägypten war. Sie hatte mir auch gesagt, dass ich auf diesen Vater stolz sein könne. Auf meine Frage, warum er uns nie besuchen komme, erhielt ich die Antwort, dass der Pharao ein viel zu beschäftigter Mann sei, um sich um die Erziehung seiner Kinder zu kümmern. Dies glaubte ich auch, denn über ein so großes Land wie Ägypten zu herrschen, war gewiss mit viel Arbeit verbunden. Darum hatte ich nie weiter nach meinem Vater gefragt und mich damit abgefunden, dass er für mich unerreichbar war.

Doch in jenem Augenblick wurde mir bewusst, dass etwas zwischen meinem Vater und meiner Mutter nicht stimmte. Dieser Vater, den ich nie gesehen hatte, trug Schuld am Kummer meiner Mutter.

Diese Feststellung überraschte mich nicht nur, sondern sie weckte auch meine Neugier. Ich beschloss, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, und dabei weckte ich zum ersten Mal gezielt jene außergewöhnlichen Kräfte, die mir die Götter bei meiner Geburt geschenkt hatten.

Es ist nicht einfach, über das zu sprechen, was sich dem menschlichen Verstand entzieht. Die Macht der Götter ist für uns Menschen zu geheimnisvoll, um sie zu beschreiben. Und doch will ich versuchen, es zu erklären.

Die Gabe des Gesichts war das Erste, das sich bei mir einstellte, auch wenn ich es damals noch nicht bewusst wahrnahm. Doch seit frühester Kindheit wusste ich bereits, wer sich mir näherte, lange bevor ich ihn sehen konnte. Nie stellte ich eine Frage nach dem Essen. Ich wusste, was es geben würde, lange bevor die Köchin ihre Töpfe über das Feuer hängte. Von den Überraschungen, die meine Mutter mir kaufen ließ, hatte ich bereits vorher gewusst. Sie überraschten mich nicht, auch wenn ich die Überraschte spielte, weil ich spürte, dass das von mir erwartet wurde.

Dies alles waren nur Kleinigkeiten gewesen und waren nie jemandem aufgefallen. Und so schien auch mir nichts Besonderes daran zu sein. Doch an diesem Tag wurde das anders. Ich kann nicht behaupten, dass in jenem Augenblick eine Energie, die bis dahin in mir geruht hatte, freigesetzt wurde und mir die Macht gab, Dinge zu vollbringen, die anderen unmöglich sind. Nein, so war es ganz und gar nicht. Trotzdem spürte ich plötzlich in mir die Kraft, die mich befähigte, in Geschehnisse einzugreifen und sie nach meinem Willen zu verändern. Diese Kraft war noch nicht ausgereift, nicht geschult. Ja, eigentlich entsprang mein erster Versuch, die Dinge zu beeinflussen, mehr meinem Instinkt als irgendeinem Wissen. Es sollte noch Jahre brauchen, mir darüber klar zu werden, was für Kräfte in mir ruhten, warum die Götter mir diese verliehen hatten und wie ich damit richtig umgehen musste.

Doch will ich nichts vorwegnehmen und zu meinem neunten Geburtstag zurückkehren. Er endete mit jener Entdeckung, die ich bereits erwähnte. Ich wusste jetzt, worum es ging, und in meinem kindlichen Eifer reifte in mir der Entschluss, etwas zu unternehmen. Die zunehmende Traurigkeit und der sich immer stärker anstauende Hass meiner Mutter ließen mich über ihr Problem einfach nicht hinwegsehen. Ich liebte meine Mutter zu sehr, um nicht unter ihrem in sich vergrabenen Kummer mit zu leiden. Aber was konnte ich tun?

Im ersten Augenblick des Erkennens war ich versucht, meine Mutter einfach zu fragen. Aber im nächsten Moment verwarf ich diesen Einfall wieder. Meine Mutter würde sicher alles abstreiten, denn sonst hätte sie nicht versucht, das, was sie bewegte, vor allen, sogar vor mir, verborgen zu halten. Darum schwieg auch ich und wartete, bis alle schlafen gegangen waren. Was dann geschah, lässt sich nicht erklären. Ich folgte einfach einem Impuls, der mir sagte, was ich zu tun hatte.

Leise, um niemanden zu wecken, stand ich aus meinem Bett auf und schlich in den Raum, in dem die Statue meines Vaters stand. Vor ihr ließ ich mich nieder und betrachtete das vom Mondschein erleuchtete Gesicht. Es war ein ebenmäßiges, harmonisch geschnittenes Gesicht, das der Bildhauer in den schwarzen Granit gemeißelt hatte. Ich hatte es schon oft betrachtet und immer schön gefunden. Doch in dieser Nacht fielen mir zum ersten Mal zwei Dinge auf, die ich vorher nie beachtet hatte. Zum einen war da die Nase meines Vaters, die überdimensional aus dem Gesicht hervortrat, und zum andern ein harter, energischer Zug um den Mund. Beides zusammen gab dem Ganzen einen Ausdruck von Willensstärke, die mir im ersten Moment Furcht einflößte. Trotzdem blieb ich vor dem Bildnis sitzen und starrte es weiter an.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort saß, aber irgendwann in dieser Nacht nahm die Statue für mich menschliche Gestalt an, und es gelang mir, das wahre Gesicht meines Vaters vor mir zu sehen. Ich erblickte ihn vor mir, wie er wirklich war, und auch er sah mich in jener Nacht zum ersten Mal, denn ohne zu ahnen, was ich tat, drängte ich mein Bild in seinen Geist und raubte ihm damit die Ruhe dieser Nacht.

Manche mögen dies bezweifeln und mir mit meinen neun Jahren die Fähigkeit, auf diese Weise mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen, abstreiten. Trotzdem sage ich, dass es so war. Mein Vater selbst erzählte mir später, dass sich in der Nacht, die meinem neunten Geburtstag folgte, in seinen Geist plötzlich das Bild eines kleinen Mädchens drängte, das er nie vorher gesehen hatte und von dem er auch nicht wusste, wer es war. Aber es war da und sollte ihn von da an geraume Zeit verfolgen.

Erst in der Morgendämmerung riss ich mich von dem Bildnis los. Frierend und zitternd ging ich zurück in mein Bett und begann zu fiebern. Nut ließ sofort meine Mutter rufen, und diese schickte nach dem Arzt.

Der Arzt kam, besah den Fall und wirkte recht ratlos. Weder er noch andere fanden eine Erklärung für diese Krankheit, die mich so plötzlich befallen hatte.

Eine Woche lang lag ich mit hohem Fieber nieder, und meine Mutter befürchtete bereits das Schlimmste. Doch dann besserte sich mein Zustand langsam, und schließlich genas ich völlig.

Heute weiß ich, wie gefährlich das gewesen ist, was ich damals tat. Eigentlich war ich noch zu jung, zu ungeübt und nicht kräftig genug, eine solch starke, geistige Verbindung herzustellen. Es hätte mich das Leben kosten können. Ich hatte aus Unerfahrenheit zu viel Energie darauf verwandt, meinen Willen durchzusetzen. Dadurch war mein Körper völlig erschöpft worden. Dass ich trotzdem überlebte, verdankte ich vielleicht allein der Tatsache, dass ich ein Kind der Götter war. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Vermutlich gab mir das die Kraft, die Krise zu überstehen.

In dieser einen Woche meiner Krankheit, in der jeder glaubte, ich würde den Verstand verlieren, weil ich, von Bildern geplagt, laut fantasierte und für jeden anderen zusammenhangloses Zeug redete, riss der Kontakt zu meinem Vater nie ab. Ich hatte seinen Geist zu stark heraufbeschworen, und erst als die Verbindung langsam abflachte, die freigesetzte Energie verebbte, sank auch das Fieber. Doch davon ahnte niemand etwas. Ich sprach auch später mit keinem Menschen über das, was ich in dieser Zeit erlebt hatte, sondern bewahrte dies tief in meinem Herzen. Mein Instinkt riet mir, mich niemandem anzuvertrauen, niemandem zu erzählen, dass ich während jener Krankheit die erste Schwelle zu einer höheren Ebene überschritten hatte. Aber mir war es bewusst geworden, und diese neue Erkenntnis erfüllte mich zugleich mit Stolz und Furcht.

Wie ich bereits erwähnt hatte, bestand während der ganzen Zeit meiner Krankheit die geistige Verbindung zu meinem Vater weiter. Mein Geist war in seinen eingedrungen, hatte ihn beobachtet und gesehen, wie ihn sonst kein Mensch sehen konnte. Ich erkannte seine Fehler und Schwächen, seine Stärken, seine Größe und auch seine Ängste. Ich erblickte sein Herz, seine Gefühle und vor allem seine tiefe Einsamkeit. Nur deshalb konnte ihn später kein Mensch so gut verstehen wie ich, mit einer Ausnahme – Hatschepsut. Was ich durch meine Fähigkeiten erkundete, fühlte sie durch ihre starke Liebe zu ihm im Herzen.

Ja, ich lernte meinen Vater in jener Zeit wirklich gut kennen, auch wenn ich mein erworbenes Wissen damals noch nicht voll erfassen und auswerten konnte, denn dazu war ich einfach noch zu jung. Zwar war ich schon damals Gleichaltrigen von meinen Fähigkeiten her weit voraus, ein frühreifes Kind, wie man sagte, was wohl daherkam, dass ich nie mit anderen Kindern zusammengekommen war, sondern von klein auf in die Welt der Erwachsenen hineingewachsen war. Trotzdem verstand ich keinesfalls alles, was ich damals in Erfahrung brachte. Nur an so viel erinnere ich mich heute noch genau. Nachdem ich meine Krankheit überwunden hatte und das Erlebte zu verarbeiten begann, empfand ich trotz all der widersprüchlichen Gefühle tiefe Ehrfurcht vor dem Mann, der mein Vater war, auch wenn ich es nicht fertigbringen konnte, ihn zu mögen oder gar zu lieben, wie Hatschepsut dies tat. Dies war mir schon deshalb unmöglich geworden, weil ich mehr über ihn und sein Verhältnis zu meiner Mutter in Erfahrung gebracht hatte, als eigentlich gut für mich war.

Auch er hatte an meinem Geburtstag an meine Mutter und mich gedacht. Er hatte keinesfalls vergessen, dass wir existierten. An meine Mutter verschwendete er nur wenige Gedanken. Ihr gegenüber empfand er nichts als Gleichgültigkeit. Doch mir gegenüber hegte er ein anderes Gefühl. Ich verstand damals nicht warum, aber Thutmosis betrachtete meine Existenz als eine Bedrohung. Und das wiederum, das ahnte ich schon damals, konnte für mich gefährlich werden. Ich versuchte verzweifelt zu verstehen, warum mein Vater mir so feindlich gegenüberstand. Doch alles, was als Antwort vor meinem geistigen Auge erschien, waren drei Kinder, meine Geschwister. Ja, auch sie lernte ich damals kennen, ohne sie jemals zuvor gesehen zu haben.

Da war Neferubity, ein sehr schönes, blasses, feingliedriges Mädchen von fünfzehn Jahren, welches sich ihrer Schönheit und Stellung bei Hof nur allzu bewusst war. Schon jetzt ließ sich erkennen, dass sie einmal eine selbstsüchtige, arrogante und eingebildete Königsgemahlin werden würde. Sie würde stets ihr eigenes Wohl über das Ägyptens stellen. Dazu kam, dass sie keinen allzu großen Weitblick besaß. Ich konnte weder Achtung noch Sympathie für sie empfinden, und ich stellte bald fest, dass mein Vater sie ebenfalls nicht sehr schätzte.

Dann war da der dreizehnjährige Thutmosis, dick, schlaff und verweichlicht. Seine große Leidenschaft war es, sich mit Süßigkeiten vollzustopfen, während er die täglichen militärischen Übungen, die zu seiner Ausbildung gehörten, verabscheute. Für ihn empfand ich nicht Verachtung, wie mein Vater, sondern tiefes Mitleid. Er würde nie werden, wie Pharao es wünschte. Dessen war Thutmosis sich auch bewusst, und er litt darunter.

Schließlich gab es da noch ein kleines, zierliches elfjähriges Mädchen von außerordentlicher Intelligenz, großer Schönheit und einer wilden Entschlossenheit. Sie war der Sonnenschein des Pharaos, sein auserkorener Liebling. Überhaupt gab es für Pharao nur zwei Dinge, die ihm wirklich wichtig waren – Ägypten und Hatschepsut.

Auch ich muss gestehen, dass Hatschepsut die einzige von meinen drei Geschwistern war, die ich aufrichtig mochte. Doch was hatten diese drei Kinder mit mir und der Einstellung meines Vaters mir gegenüber zu tun? Auf diese Frage fand ich damals noch keine Antwort.

Was geschah nun nach meiner Genesung? Äußerlich änderte sich im ersten Augenblick eigentlich nichts, und doch war für mich vieles anders geworden. Ich wusste jetzt, dass ich Fähigkeiten besaß, die mir ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Aber ich hatte auch erfahren, dass es gefährlich sein konnte, diese Fähigkeiten zu gebrauchen. Darum dauerte es einige Zeit, bis ich erneut den Mut fand, wieder mit Pharao in Verbindung zu treten. Doch als ich es schließlich versuchte, fiel es mir viel leichter als beim ersten Mal, und mit der Zeit benötigte ich nicht einmal mehr die Statue, um mich zu stimulieren. Wann und wo immer ich es wollte, gelang es mir, in den Geist von Thutmosis einzudringen, seine Gedanken zu lesen und mein Bild in seinen Kopf zu drängen. Ich wusste, ich beunruhigte ihn damit, denn er spürte nur zu deutlich die Kraft, die sich seiner immer wieder bemächtigte. Doch so sehr er sich auch bemühte, er schaffte es nicht, mich aus seinem Kopf zu drängen. Und so plagte ihn immer häufiger die Frage, wer oder was es war, das von seinem Geist Besitz ergriff. Doch diese Frage beantwortete ich ihm nicht. Für mich wurde es fast zu einem Spiel, Thutmosis durch meine Macht zu beunruhigen. Es war meine kindliche Art, an meinem Vater Rache zu nehmen.

Bald beobachtete ich nicht nur meinen Vater und meine Geschwister aus der Ferne, sondern auch alle, von denen sie umgeben waren, kannte ich genau. In der Mittagshitze, in der jedes Leben im Palast erlosch und Ruhe in die Räume einkehrte, erkundete ich die entlegensten Ecken und Nischen darin, sodass ich mich bald besser als irgendjemand sonst in dem Labyrinth der Gänge auskannte, obwohl ich bis dahin nie einen Schritt über die Schwelle unserer Gemächer gesetzt hatte. Dabei beachtete ich jedoch nicht, dass die anderen mein Verhalten mit der Zeit seltsam fanden. Im Gegensatz zu früher war ich ruhig, verschlossen, oft in meine Gedanken versunken und merkwürdig abwesend.

Es dauerte nicht lange, und man führte die Veränderung in meinem Wesen auf meine Krankheit zurück. Ich wurde als schwachsinnig bezeichnet. Nur meine Mutter und Nut glaubten nicht, dass ich verrückt geworden sei. Doch dass ich mich verändert hatte, mussten auch sie sich eingestehen, und eine Erklärung dafür ließ sich nicht finden.

Meine Mutter versuchte durch lange Gespräche mit mir herauszufinden, was diesen Wandel meines Wesens bewirkt haben könnte, doch ich wich ihren Fragen aus und ließ sie ratlos zurück. Niemand, nicht einmal sie, sollte wissen, was ich wusste. Warum, das kann ich nicht erklären. Ich spürte einfach, dass ich mein Geheimnis noch einige Zeit bewahren musste. Sollten sie mich ruhig für schwachsinnig halten, mich störte das nicht.

Das Rad der Zeit dreht sich. Jeden Tag umrundet Re in seiner Barke die Welt und bringt uns dadurch am Tag das Licht. Und mit jedem neuen Tag treten Veränderungen in unser Leben, gewünschte und ungewünschte, erwartete und unerwartete, gute sowie schlechte. Auch mir standen Veränderungen bevor, das ahnte ich. Doch das Wie überraschte mich dann doch.

Es war der dritte Monat des Schemu. Die drückende Mittagshitze hatte alles Leben zum Erliegen gebracht. Jeder im Palast döste vor sich hin und wartete auf die angenehmeren Abendstunden, um die verbliebene Arbeit zu erledigen. Auch ich hatte mich hingelegt, um die heißesten Stunden des Tages zu verschlafen. Aber ich fand keine Ruhe, und so ließ ich meine Gedanken durch den Palast schweifen. Doch auch hier konnte ich nichts entdecken, das mein Interesse weckte. Jeder gab sich der erquickenden Mittagsruhe hin. So landete ich schließlich in dem Arbeitszimmer meines Vaters, der, in eine Papyrusrolle vertieft, an seinem Schreibtisch saß. Amüsiert stellte ich fest, dass er wahrscheinlich der Einzige war, der zu dieser Stunde arbeitete, und wollte mich gerade unbemerkt davonschleichen, damit er meine geistige Anwesenheit nicht bemerkte. Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und Imhotep, der Wesir Oberägyptens und erste Erzieher der Prinzessinnen und des Prinzen, trat ein.

Thutmosis blickte kurz auf. Als er Imhotep erkannte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und wartete, bis dieser die Tür geschlossen hatte und zu ihm getreten war.

Niemand hatte Imhotep beim Eintreten gehindert, also hatte der Pharao ihn erwartet, schoss es mir durch den Kopf. Auch fiel mir jetzt auf, dass niemand, kein Leibwächter, nicht einmal ein Sklave, in dem Raum war, was mir mehr als ungewöhnlich erschien. Etwas Geheimnisvolles lag in der Luft, und so verblieb mein Geist in dem Zimmer, gespannt darauf zu erfahren, was hier beraten und beschlossen werden sollte.

„Nun“, fragte Thutmosis, nachdem Imhotep sich vor ihm verneigt hatte. „Was hast du in Erfahrung gebracht?“

Mir fiel jetzt auf, dass der Pharao müde und abgespannt wirkte. Etwas bedrückte ihn, doch ich wagte in diesem Moment nicht, in seine Gedanken einzudringen, denn dies hätte er sofort bemerkt. Deshalb wartete ich ab in der Hoffnung, mehr zu erfahren. Imhotep ließ sich auf einen Wink Pharaos auf einem Stuhl nieder. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder das Wort ergriff. Man sah ihm an, dass er nach den passenden Worten suchte.

„Eure erste Befürchtung betreffend, Majestät, kann ich Euch beruhigen. Es gibt nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Meryet an dem Mordversuch beteiligt war. Es kann sogar mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sie etwas davon wusste. Sie lebt unter völligem Verschluss, gut bewacht von treuen Dienern, die ihre gesamten Verbindungen kontrollieren.“

„Bist du dir da ganz sicher?“, fragte Thutmosis gereizt.

„Ja, Majestät“, erwiderte Imhotep. „Doch“, fuhr er dann zögernd fort, „wenn Ihr wünscht, Ihr wisst, dass das Untersuchungsergebnis auch anders ausfallen kann. Es lassen sich leicht Zeugen finden, die etwas anderes aussagen.“

„Ich begreife es nicht“, sagte Thutmosis grübelnd und überging damit Imhoteps letzte Bemerkung. „Warum erträgt sie alles? Warum unternimmt sie nicht irgendetwas? Es kann doch nicht sein, dass sie sich damit abgefunden hat, für den Rest ihres Lebens eingesperrt zu bleiben?“

Fragend blickte er Imhotep an. Dieser antwortete ernst: „Nein, sie hat sich bestimmt nicht damit abgefunden. Aber Meryet ist viel zu klug, um eine Unüberlegtheit zu begehen. Sie weiß genau, dass jeder ihrer Schritte von Euch überwacht wird. Ich glaube, sie wartet ganz einfach ab und hofft.“

„Worauf?“, fuhr Thutmosis ärgerlich auf. „Dass ich sterbe? Noch heute verfluche ich den Tag, an dem ich mich von den Priestern zu dieser Torheit habe überreden lassen.“

Eine Weile herrschte Schweigen. Der Pharao hing seinen Gedanken nach, und Imhotep wagte nicht, ihn zu stören.

„Und das Kind?“, fragte Thutmosis schließlich.

Imhotep zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Es scheint sich tatsächlich so zu verhalten, wie die Diener es behaupten. Die Kleine ist schwachsinnig.“