Die Sommerpostille - Wilhelm Löhe - E-Book

Die Sommerpostille E-Book

Wilhelm Löhe

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Beschreibung

Der evangelisch-lutherische Theologe Wilhelm Löhe veröffentlichte im Jahre 1858 seine aus zwei Teilen bestehende Epistelpostille mit Predigten für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Die Sommerpostille umfasst dabei Predigten vom Trinitatisfest bis zum siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis, nebst einigen kurzen Lektionen dazu.

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Seitenzahl: 663

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Die Sommerpostille

 

Trinitatisfest bis zum siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis

 

Episteln für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 

WILHELM LÖHE

 

 

 

 

 

 

Die Sommerpostille, W. Löhe

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661724

 

Quelle:https://de.wikisource.org/wiki/Epistel-Postille_(Wilhelm_L%C3%B6he)

 

Der Text dieser Ausgabe folgt dem Original aus dem Jahre 1858 und wurde in der damaligen Rechtschreibung belassen.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

INHALT:

Am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit.1

Am ersten Sonntage nach Trinitatis.9

Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.18

Am dritten Sonntage nach Trinitatis.26

Am vierten Sonntage nach Trinitatis.39

Am fünften Sonntage nach Trinitatis.49

Am sechsten Sonntage nach Trinitatis.61

Am siebenten Sonntage nach Trinitatis.70

Am achten Sonntage nach Trinitatis.80

Am neunten Sonntage nach Trinitatis.92

Am zehnten Sonntage nach Trinitatis.102

Am elften Sonntage nach Trinitatis.114

Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.126

Am dreizehnten Sonntage nach Trinitatis.136

Am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis.145

Am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis.154

Am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis.167

Am siebenzehnten Sonntage nach Trinitatis.177

Am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis.188

Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.199

Am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.209

Am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.219

Am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.228

Am dreiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.237

Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.247

Am fünfundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.257

Am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.267

Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.276

Kurze Lectionen zu den sonn- und festtäglichen Evangelien des Kirchenjahres.282

 

 

Am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit.

 

Römer 11, 33–36.

 

33. O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte, und unerforschlich Seine Wege! 34. Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer ist Sein Rathgeber gewesen? 35. Oder, wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm werde wieder vergolten? 36. Denn von Ihm, und durch Ihn, und in (zu) Ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

 

 Geheimnisse in der Religion oder keine? Eine oft aufgeworfene Frage, die wir nicht anders beantworten können, als mit den Worten: Ja, es gibt Geheimnisse. Eine Religion, die keine Geheimnisse hätte, die in allen ihren Gebieten von dem menschlichen Verstande durchdrungen werden könnte, nichts in sich hätte und nichts übrig ließe, was uns unbegreiflich wäre, würde nur ein Beweis ihres geringen dunklen menschlichen Ursprungs und ihres Unwerthes sein. Eben weil die christliche Religion eine Offenbarung Gottes ist, die sich über alles erstreckt, über Gott und Welt, über die Schöpfung und Erlösung des Menschen, über seinen Beruf hier und dort, eben deshalb ergeht sie sich in Höhen und Tiefen, Fernen und Weiten, welche weit über alle unsere Faßungskraft hinausgehen, von denen auch zum Theil zu vermuthen, ja zu wißen ist, daß unser Geist auch in den fernsten Fernen der Ewigkeiten sie zu durchforschen Kraft und Vermögen nicht besitzen wird. Zwar sind nicht alle Geheimnisse von der Art, daß sie für alle Ewigkeit unserer Faßungskraft spotten, es gibt auch Geheimnisse, die, wenn wir sie gleich nimmermehr von uns selbst ahnen oder finden konnten, dennoch, nachdem sie einmal offenbart sind, sich tief in die Erkenntnis der menschlichen Seele legen. Aber von diesen Geheimnissen, welche aufhören, Geheimnisse zu sein, sobald sie kund gegeben sind, reden wir heute nicht, sondern nur von denen, die, wie bereits gesagt, auch nach der Offenbarung bleiben, ja ewig bleiben, was sie sind. Insonderheit rechnen wir dahin das Geheimnis der allerheiligsten Dreieinigkeit oder des göttlichen Wesens, und die Geheimnisse des göttlichen Thuns und Waltens unter den Menschenkindern, die Wahl und Verstoßung der Juden und die Wiedergeburt des Menschen. An jenes erste Geheimnis des göttlichen Wesens erinnert der Tag, den wir feiern und sein Name. Von dem erstgenannten Geheimnisse des göttlichen Thuns, der Wahl und Verwerfung der Juden, redet die Epistel. Von dem Geheimnis der Wiedergeburt aber das heutige Evangelium, so daß man also an diesem Tage an eitel Geheimnisse erinnert wird. Verwunderlich könnte es dabei nur scheinen, daß am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit das Evangelium von der Wiedergeburt, die Epistel von Wahl und Verwerfung der Juden handelt, da man doch vielmehr einen Text erwartet, welcher vom Geheimnis der allerheiligsten Dreieinigkeit selbst handelte. Allein, das Fest der allerheiligsten Dreieinigkeit ist ein junges Fest, die Wahl unserer Texte ist älter und da man also eigentlich für die Octave des Pfingstfestes Lectionen auszusuchen hatte, konnte man auf der Schwelle des Winter- und Sommerhalbjahres acht Tage nach Ostern nichts beßeres thun, als von den großen Werken des Geistes, der Wiedergeburt und dem Schicksal der Juden lesen. Es bleibt jedoch immerhin leicht genug, von den Geheimnissen des göttlichen Thuns auf die des göttlichen Wesens den Schluß zu machen, und während man jener gedenkt, innerlich in beständigem Andenken das Geheimnis des göttlichen Wesens zu tragen und in anbetender Ferne, der eigenen Gnadenwahl und Wiedergeburt versichert, vor dem Gotte niederzufallen, deßen Wesen ein unausforschliches Meer und ein unergründlicher Abgrund, ist.

In dem vorausgehenden Kapitel hat der heilige Paulus jenes wunderbare Gegentheil seines Lieblingsgedankens abgehandelt. Sein Lieblingsgedanke ist die Vereinigung Israels und der Heiden zu Einem Glauben und zu Einer Kirche, die Vereinigung der beiden Mauern des ewigen Tempels durch Einen Eckstein. Das Gegentheil davon ist der Gedanke von der Verwerfung Israels auf eine Zeit lang und der Blüthe des Heidenchristentums für dieselbe Zeit, das kräftige Wachstum der eingepfropften Zweige auf dem alten Stamm, während die natürlichen Zweige verdorren, bis auf den Tag, wo es anders wird und Gott nach Seiner unwandelbaren Gnade und Treue aus dem Stamme auch wieder natürlicher Zweige die Fülle und aus ihnen unzählige Früchte erwecken wird. So wie die Vereinigung der Juden und Heiden zu Einer Kirche die heilige Absicht Gottes in der Geschichte ist, so ist umgekehrt das zeitweilige Verderben Israels und das einseitige mächtige Vorwiegen der Heidenchristen die Nachtseite der Geschichte. In beiden aber erfüllt sich das Geschick der Menschheit; in beiden vollenden sich alle Wege Gottes, wie der Geschichte. Bei der Betrachtung beider Seiten der Geschichte wird man, je tiefer man erkennt, desto mehr zu den bewundernden Worten des heiligen Paulus in unserm Texte hingerißen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unerforschlich Seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist Sein Rathgeber gewesen? Oder wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm werde wieder vergolten?“ Außerordentliche Worte sind es, welche ich so eben aus unsrem Texte wiederholt habe, Worte, für deren Deutung meine Einsicht vielfach zu kurz und klein ist. Es ist ja überhaupt so mit den Worten der heiligen Schrift, daß auch die klarsten unter ihnen von Menschen nicht ergründet werden können, manche überhaupt für jede menschliche Deutung zu groß und tief sind, eine große Anzahl aber zwar der Deutung fähig, auch vielfach gedeutet sind, für den bescheidenen Leser aber dennoch bei all ihrem Lichte so viel göttliches Dunkel enthalten, daß man sich schwer für diese oder jene Deutung entscheidet. So mags euch auch zuweilen mit meinem Deuten gehen und ich würde euch vielfach mit demselben gar nicht behelligen, wenn ich nicht doch die Ueberzeugung hätte, daß auch bloße Deutungsversuche, wenn sie dem Glauben ähnlich sind, der aufmerksam betrachtenden Seele zur Förderung gedeihen und die geistlichen Sinne stärken können, und wenn es nicht süß und friedlich wäre, sich gemeinschaftlich mit Gottes Worten zu beschäftigen, selbst wenn man am Ende weiter gar keinen Eindruck bekäme, als den, daß Gottes Wort sehr groß, wir aber sehr arm und klein seien vor Ihm. Darum wollen auch wir es getrost wagen, von den drei Textesversen, die ich zuletzt angeführt habe, die Deutung zu versuchen. Es ist die Rede von einer Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Die Weisheit Gottes ist, denke ich, jedenfalls die Weisheit, die Gott selbst hat, und von welcher Er, menschlich zu reden, bei allen Seinen Wegen und großen Thaten geleitet wird. Die Erkenntnis Gottes ist aber nicht eine Erkenntnis, die Gott hat, sondern die wir von Ihm und Seinen Wegen besitzen und durch Ihn Selbst empfangen. Die beiden bereits angegebenen großen Gedanken der Geschichte vom Bau der Kirche aus Juden und Heiden, so wie von der zeitweiligen Verwerfung Israels und dem Ueberwiegen des Heidenchristentums bis zu jener Zeit, wo das Reich Israel aufgerichtet wird, enthalten in sich eine Tiefe des Reichtums, beides der göttlichen Weisheit und der menschlichen Erkenntnis Gottes. Wer Gott will erkennen, muß Seiner Weisheit nachgehen, wer aber die Weisheit sucht, der findet sie in demjenigen, was uns die Schrift von den Wegen Gottes, von dem Schicksal der Juden und Heiden offenbart. Je tiefer ihm das Meer der göttlichen Weisheit erscheint, desto tiefer wird seine Erkenntnis Gottes. Der Weg aller Heiden von den Tagen Babels an bis zum ersten christlichen Pfingsten und von da bis zum Ziele, an dem sich der Heiden Zeit erfüllt, ebenso aber auch der Weg Israels vor Christo, in der Zeit vor und nach der babylonischen Verbannung und nach Christo während der Zeit der Heiden und am Ende ist ein Weg voll Gericht und Gerechtigkeit, voll wunderbarer Führungen des Herrn. Der Apostel Paulus, welcher die Geschichte der Vergangenheit und die Zukunft der Geschichte weißagend und lehrend durchdrungen hat, sieht eben in den Geschicken der Juden und Heiden eine Offenbarung der gerechten Gerichte und der gnädigen Führungen Gottes und ruft, während sein Blick dabei verweilt, voll Bewunderung die Worte aus: „Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unausforschlich Seine Wege.“ „Unbegreiflich“ ist hier nicht in dem Sinne gebraucht, in welchem dies Wort unter uns gebraucht zu werden pflegt; es ist nicht damit angedeutet, daß wir die Gerichte Gottes gar nicht faßen oder erkennen könnten, sondern es sagt uns in ähnlicher Weise, wie das gebrauchte Wort „unausforschlich“ nichts anders, als daß wir die Gerichte und Wege Gottes mit unserer Vernunft nicht hätten ausfindig machen, sie weder hätten ahnen noch entdecken können. Die Weisheit, die Gerichte, die Wege Gottes sind den Menschen verborgen, und so ganz die Geschichte Israels und der Heiden ihrer voll ist, so würden doch selbst apostolische Geister ohne Offenbarung dies nicht erkannt und die Geschichte der Welt und der Zukunft eben so wenig im klaren Lichte geschaut haben, als die ungläubigen Geschichtsforscher unserer Tage, die, je reicher ihre Kenntnis der geschichtlichen Thatsachen wird, doch desto weniger den Sinn der Geschichte faßen und je länger, je weniger aus dem wallenden und brausenden Meere der Völker klug werden können. St. Paulus, des göttlichen Lichtes voll, rühmt und preist Weisheit, Gerichte und Wege Gottes nach dem Maße des tiefen Reichtums seiner Erkenntnis. Dabei ist ihm das alle menschlichen Gedanken und Kräfte überragende Licht, das er in die Geschichte der Juden und Heiden bekommen hat, so groß, so alle menschliche Kraft und Gabe verspottend, daß er des Gedankens nicht los werden, sondern seine tiefe Verwunderung und Anbetung aussprechen muß. Er thut es in den Worten: „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist Sein Rathgeber gewesen, oder wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm wieder vergolten würde?“ Er spricht in dreien Fragen, deren eine immer stärker ist, als die andere. Alle drei sind verneinend zu beantworten, und die Verneinung der einen schließt die Bejahung der nachfolgenden aus. Kein Mensch hat des Herrn Sinn erkannt, den Er bei der Führung aller Völker hatte; wieviel weniger ist irgend jemand Sein Rathgeber gewesen, als Er den Plan der Geschichte machte; am allerwenigsten aber sind Gottes unaussprechliche Wohlthaten und wunderbare Führungen in Berücksichtigung irgend eines menschlichen Verdienstes ins Werk gesetzt worden, sondern wenn auch alle Seine Gerichte vollkommen gerecht sind und den Menschen nach Verdienst bezahlen, so ist doch keiner Seiner Gnadenwege eine Vergeltung des Wohlverhaltens, sondern es bleibt jede treue selige Führung Gottes in der Zeit und am Ende der Zeit Gnade und nichts als Gnade. Das erkennt der Apostel und in solcher Erkenntnis lobt, preist und anbetet er den Herrn. Ja er ist so durchdrungen vom Lobe Gottes und von der Nichtigkeit des Verdienstes aller Völker und Menschen, daß er den Schluß, im engsten Zusammenhang mit den vorausgegangenen Gedanken, mit einem prächtigen Lobe Gottes macht, indem er Vers 36 spricht: „Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge, Ihm sei Ehre in die Ewigkeiten. Amen.“ Von Ihm sind alle Dinge, denn Er hat alles geschaffen. Durch Ihn bestehet alles, denn Er ist es, der die abfällige Welt trotz ihres Abfalls und ihrer Sünde erhält. Zu Ihm sind alle Dinge, denn es ist Sein heiliger Wille, daß alles wieder zu Ihm kehre. Was durch den Schöpfer ins Dasein gerufen, durch den Erlöser erhalten ist und vor dem Zorne Gottes bewahrt, das soll durch den Geist der Gnaden und seine selige Wirkung wieder zu Ihm kommen und in den uranfänglichen Zustand zurückkehren. So ist also Gott der Herr und Seine heilige dreieinige Wirkung in allen Perioden der Welt alles in allem, und weil Er und Sein Thun alles in allem ist, in der Schöpfung, Erhaltung und Erlösung, so bringt Ihm der Apostel die Ehre und will dieselbige Ehre Gottes in alle Ewigkeiten ausgedehnt haben.

Wenn nun auch, meine lieben Brüder, dieser ganze Text sich auf den Bau der heiligen Kirche, das große Werk des heiligen Geistes in der Welt bezieht, und ebenso wie die Epistel die Pfingstbetrachtung und die Pfingstgedanken fortsetzt, so eignet sich doch so Evangelium wie Epistel ganz wohl auch für das Trinitatisfest. Nicht bloß finden wir die undurchdringlichen Geheimnisse der Gerichte und Wege Gottes gleichsam wie lichte Wolken vor den Pforten des allerhöchsten Geheimnisses, der allerheiligsten Dreifaltigkeit gelagert, sondern es schließt die apostolische Betrachtung geradezu mit Preis und Lob der allerheiligsten Dreieinigkeit selbst. Das „von Ihm, durch Ihn, zu Ihm“ redet ja nicht bloß von drei unterschiedenen Werken Gottes, sondern es weist auch auf die drei unterschiedenen Personen in der Einen Gottheit. Die Lobpreisung aber: „Ihm sei Ehre in die Ewigkeiten“ faßt nicht bloß alle Ehre der Werke Gottes zusammen, sondern auch die drei Personen zu Einem Wesen, dem alle Ehre gebührt. So geht man also durch die lichten Wolken, das ist durch die Geheimnisse des göttlichen Thuns, wie durch Vorhöfe anbetend hinein in den Tempel, in welchem das persönliche Geheimnis des göttlichen Wesens sich offenbart, und die Pfingstbetrachtung leitet also zur Betrachtung des Dreinigkeitsfestes.

 Wenn man nicht wüßte, meine lieben Brüder, daß die heutigen Texte älter sind, als die Feier eines besonderen Trinitatisfestes, so könnte man die heutige Textwahl für das Fest, das man feiert, völlig zu rechtfertigen suchen. Es gibt einen griechischen Dichter, welcher Lieder zu Ehren von ihm groß und hochgeachteter Menschen verfertigte; diese Lieder aber handeln nicht von diesen Menschen selbst, sondern zu Ehren derselben von andern Dingen, die man allenfalls in eine ehrende Beziehung auf die Helden sehen kann, denen das Lied gewidmet ist. Man hat diese Verfahrungsweise des Dichters sehr schicklich gefunden. So könnte man es auch schön und schicklich finden, daß an dem heutigen Tage nicht Lectionen gelesen werden, welche geradezu von den dreien Personen, oder der einen Gottheit handeln, sondern solche Texte, die von dem allerhöchsten Geheimnis ehrerbietig schweigen, zu Seinen Ehren aber von andern großen Geheimnissen, von den Geheimnissen der Wiedergeburt und des göttlichen Baues der Kirche in einer solchen Weise handeln, daß man alle Augenblicke an das allerhöchste Geheimnis des göttlichen Wesens zu denken sich veranlaßt sieht, zumal wenn man es bereits in anbetendem und feierndem Andenken trägt. Da liest man: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und der Erkenntnis Gottes,“ und es erwacht an dem Gedanken der andere: O welch eine Tiefe des Wesens, der Offenbarung und der Erkenntnis des dreieinigen Gottes! Man liest: „Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unausforschlich Seine Wege“, und neben diesem Ausruf dringt aus der Seele ein anderer: Und wie unbegreiflich bist Du selbst, Du ewiger, heiliger, dreieiniger Richter, und Du ewiger, barmherziger, dreieiniger Hirte und Führer Deines Volkes und Deiner Kirche. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt,“ liest man weiter, „oder wer ist Sein Rathgeber gewesen, oder wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm wiedervergolten würde?“ Aus diesen Worten hebt sich alsbald die andere Rede: Und wer hat nicht Deinen Sinn, o Herr, sondern Dein Wesen erkannt, wer ist nicht Dein Rathgeber, nicht Dein Wohlthäter, nein, wer ist Dein Schüler, wer ist, Du ewiger Wohlthäter, Dein Kind und Mündel gewesen, der nur recht verstanden und gefaßt hätte, was Du bist, wer Du bist? Ist denn ein Mensch, ja ist denn ein Engel nur werth, genannt zu werden ein Auge, ein Ohr für Dich und Deine Offenbarung? Von Dir und durch Dich und zu Dir sind alle Dinge: das hören, das wißen wir und wißen es doch auch wieder nicht. Wie unbegreiflich, wie unausforschlich bist Du für uns arme Menschen! Dir sei Ehre in Ewigkeit!

Nachdem wir unsern Text zu verstehen gesucht haben, sind wir an der Handleitung desselben bei dem Feste angekommen, das wir heute feiern. Dies Fest feiert nicht eine That des lebendigen Gottes, sondern das Geheimnis Seines Wesens und ist insofern das einzige in seiner Art. Es ist für die vergangene Festzeit, für die geschloßene Hälfte des Kirchenjahres wie ein mächtiges Siegel, welches in den Umrissen des Wappens, das es in sich hält, in den drei großen Namen: Vater, Sohn und Geist die Erinnerung an alles zusammenfaßt, was man von Advent bis Pfingsten gefeiert hat. Es ist aber auch nicht bloß ein Siegel für die vergangene Hälfte des Jahres, sondern auch ein herrlicher Anfang der zweiten Hälfte. Hindurchgedrungen bis zur Erkenntnis und dem Bekenntnis der göttlichen Dreieinigkeit, gestärkt durch so viel Feier in Furcht und Scheu vor dem Dreieinigen geht man der zweiten Hälfte des Kirchenjahres entgegen, bereit, durch eigene gute Werke die Zeit zu weihen, wie man sie im ersten halben Jahre vorzugsweise durch die Erinnerung an Gottes große Werke geweiht und geheiligt hat. Der dreieinige Name des Herrn geleitet uns zur seligen Uebung jeder gottwohlgefälligen Tugend. Mag nun aber das Fest der allerheiligsten Dreieinigkeit in seinem Verhältnis zu den beiden Hälften des Jahres so oder anders gefaßt werden, so bleibt es doch an und für sich selbst ein Ausdruck der bewundernden Anbetung, welche alle wahren Kinder der Kirche des Herrn durchdringt. – Worüber sinnt die Menschenseele mehr, als über die Gottheit? Wie ein Mensch auch beschaffen sei, immerhin wird er sich doch vor Gottes Augen stellen und über das große Du der geschaffenen Welt, den Ursprung aller Dinge seine Gedanken haben. Je weiser und verständiger, je aufrichtiger und offener ein Mensch ist, desto willkommener wird ihm die Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit sein, denn sie kommt einem jeden Bedürfnis entgegen, das wir beim Forschen über Gott und Sein Wesen haben können. Wäre Gott nur Einer, so wäre Er nicht vollkommen, weil Er die Liebe nicht sein könnte. Wie könnte Er die Liebe sein, wenn nichts da wäre, was Er lieben sollte, wenn Er Sich das erst durch die Schöpfung verschaffen müßte, und wie könnte Er der allein Selige sein, wenn Er nicht liebte. Ein einziges göttliches Wesen, einsam und selbstgenügsam, könnte auch für die Creatur nicht der Ursprung jener heiligen Lehre sein, welche in die Bruderliebe und überhaupt in die Liebe des Gesetzes Erfüllung verlegte. Es muß eine Mannigfaltigkeit in dem einigen göttlichen Wesen sein, damit es die Liebe sein und die Liebe einen Gegenstand haben und sich zu demselben bewegen könne. Diese Mannigfaltigkeit aber ist vollendet in der Dreiheit, die allein weder zu arm, noch zu reich ist für das göttliche Wesen. Auch eine Zweiheit wäre zu arm und eine Zahl, die über die Dreiheit hinausläge, wäre zu mannigfaltig, zu vielfach für Gottes Wesen. Wie aber eine Dreiheit in Gott nothwendig ist, so ist auch nöthig, daß die Einheit sei und ewig bleibe. Eine Dreiheit ohne Wesenseinheit wäre ebenso wenig vollkommen, als eine Einheit ohne Dreiheit der Personen. Drei gleiche göttliche Wesen sind so undenkbar, als drei, die zu einander im Verhältnis der Ueber- und Unterordnung stehen. Gäbe es drei gleiche, so könnte man es nicht faßen, denn wie sollten drei ohne alle Ueber- und Unterordnung von Ewigkeit zu Ewigkeit nebeneinander stehen können. Gäbe es aber drei über- und untergeordnete, so wüßte man nicht, wie die selige Liebe bestehen könnte, die am Ende nur ihresgleichen vollkommen und seliglich lieben kann. Da hilft allein jene höhere Lehre von der Einheit in der Dreiheit, von dem Einen Wesen der drei Personen. Solcher Gedanken gibt es viele; sie führen und leiten den Bescheidenen und Bedächtigen zur bewundernden Anerkennung der heiligen Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, die ein so vollkommener Gedanke und eine so große Wahrheit ist, daß man sie um ihrer selbst willen als ewige Wahrheit annehmen müßte, selbst wenn es möglich wäre, daß der Mensch auf sie geriethe durch eigene Eingebung, ohne Offenbarung. Der Leichtsinnige freilich, der über das göttliche Wesen niemals ernst gedacht hat, sondern sich mit weit wenigerem genügen läßt, mit viel geringeren Gedanken, weiß dieser Lehre eben so wenig zu huldigen, oder sie zu erkennen, als er von sich und seinem eigenen Herzen ein rechtes Urtheil zu fällen vermag. Frevelnd belächelt er eine Lehre, die jenseits aller menschlichen Gedanken liegt, und meistert mit frecher Zunge das Geheimnis, vor dem sich Erde und Himmel neigt. Ihm scheint es fast, als habe er sich in dem unschlachtigen Geschlechte dieser Welt der heiligsten Lehre zu schämen, als wäre es Beschränktheit, die Worte in der heiligen Schrift von der Dreiheit und Einheit ergeben und gläubig anzunehmen. So haschet dann der Herr die gerne Weisen in ihrer Thorheit, während die wahrhaft weisen Menschen sich gerne beschränken, die Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens gefangen nehmen, das Geheimnis der allerheiligsten Dreieinigkeit glauben und dann allmählich auch mit ihrem armen Verständnis aus den klaren, aber unermeßlichen Tiefen des Geheimnisses schöpfen lernen. – Ich rede von einem Geheimnis, meine Theuren, und von der Klarheit, die es seinen Schülern verleiht, aber ich weiß auch, daß hier mehr anzubeten, als zu verstehen ist. Weitaus am meisten ziemt es mir und lüstet es mich, in die Posaune zu blasen und aller Welt zuzurufen: „Stille vor Ihm alle Welt.“ Man lobt in der Stille anbetender Herzen den dreieinigen Gott. Man betet feiernd an, und wenn die Gemeinde recht still geworden, recht ins Bewußtsein eingetreten ist, vor Gott zu stehen und dreimal heilig singt Dem, der dreimal heilig ist, dann fällt Trinitatisfeier wie Mittagslicht vom Himmel und die Absicht dieses Festes ist erreicht, denn es gilt hier bei weitem mehr anzubeten und vor Gott zu schweigen, als von dem unermeßlichen Meere Seines Wesens zu wißen; die Betrachtung schweigt, die Predigt hört auf, das Halleluja aber und das dreimal Heilig beginne, um nimmermehr aufzuhören. Amen.

 

 

 

Am ersten Sonntage nach Trinitatis.

 

1 Joh. 4, 16–21.

 

16. Und wir haben erkannt und geglaubet die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm. 17. Daran ist die Liebe völlig bei uns, auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt, 18. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein, Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. 19. Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebet. 20. So Jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet; wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? 21. Und dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebet, daß der auch seinen Bruder liebet.

 

 Ihr erinnert euch, meine lieben Brüder, daß ich euch am vorigen Sonntag in der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit eine Bedingung nachgewiesen habe, ohne welche Gott nicht vollkommen sein könnte. Ein Gott, sagte ich, in deßen Einem Wesen keine Dreiheit sei, ermangele der Vollkommenheit, dieweil er keine Liebe habe, und weil keine Liebe, auch keine Seligkeit. Bei der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit sei die Einheit des Wesens mit der höchsten Vollkommenheit, auch der der Liebe und Seligkeit verbunden, weil die Beziehung des Vaters, Sohnes und Geistes zu einander die des unaussprechlichsten Wohlgefallens und der vollkommensten Zuneigung sei. Da konnte man also schon am vorigen Sonntag behaupten, was wir im heutigen Texte finden: „Gott ist die Liebe“. Allein so wahr das ist, so ist die Anwendung des Wortes „Gott ist die Liebe“ in diesem Sinne dennoch eine ganz andere, als diejenige, welche wir in der heutigen Epistel finden. Im ersteren Sinne redet man von der wesentlichen, der allerheiligsten Dreieinigkeit einwohnenden Liebe, von jener Liebe, die Vater, Sohn und Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit verbindet; in der heutigen Epistel aber geht den Worten „Gott ist die Liebe“ der Satz voran: „Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, welche Gott zu uns hat.“ So wäre also hier von einer Liebe Gottes zur Creatur die Rede. Weil Gott dreieinig ist, so ist Er von Ewigkeit zu Ewigkeit die Liebe, die Seinem Wesen einwohnende dreieinige Liebe. Er hätte, um die Liebe zu sein, nicht nöthig gehabt, eine Welt zu schaffen; Er ist die Liebe vor der Welt und ohne die Welt gewesen. Nachdem Er aber die Welt erschaffen hat, so ist Er die Liebe auch in Bezug auf diese Welt zu nennen; Er liebt Seine Creatur und kann nicht anders. Seine ewige wesentliche Liebe spiegelt sich in der Liebe zu allem, was Er geschaffen hat, wie sich der Himmel und die schöne Welt im kleinen Auge eines Menschen spiegelt. Die Liebe Gottes zur Creatur ist jedoch auch eine doppelte, eine allgemeine und eine besondere. Die erstere bezieht sich auf alle Creaturen, die andere aber auf die heilige Kirche. Wenn nun in diesem Texte behauptet wird, Gott ist die Liebe, so kann die Liebe, von welcher die Rede ist, nicht die allgemeine sein, weil der ganze Text, welchem der Satz eingefügt ist, nicht von den Creaturen im allgemeinen, sondern von der Kirche Gottes handelt. Es ist daher die Meinung keine andere, als daß Gott die Liebe zu Seinen auserwählten, in Christo erlösten und durch Seinen Geist geheiligten Kindern sei. Man kann nicht sagen, daß der Sinn des Wortes „Gott ist die Liebe“ auf diese Weise allzusehr beschränkt werde. Gott ist die Liebe in jedem Sinn, im Sinne des Dreieinigkeitsfestes, im Sinne der allgemeinen und der besonderen Liebe, und Er hört deshalb nicht auf, die Liebe im Allgemeinen zu sein, weil in einem Texte, wie z. B. in dem heutigen epistolischen, nur von der Liebe im besonderen Sinn die Rede ist.

 Nun wir denn wißen, von welcher Liebe unser Text spricht, suchen wir die Worte desselben weiter zu verstehen. „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ So lesen wir und es drängt sich uns dabei eine doppelte Frage auf, nemlich erstens die: was heißt in der Liebe bleiben? und zweitens: was heißt bleiben in Gott? Die Liebe, von welcher die Rede ist, ist die Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten, also nicht die Liebe der Auserwählten Gottes zu Ihm. Das geht aus dem Verständnis der Liebe hervor, welches wir bereits gewonnen haben. Es ist daher von einem Verharren unserer Seelen in einer fremden Liebe die Rede. Dieses Verharren aber kann nichts anderes sein, als ein Verharren durch Betrachtung und Vertrauen. Man bleibt in der Liebe Gottes, wenn man sie in gläubigem Andenken und freudiger Verehrung behält. Aehnlich ist es mit dem Ausdruck „bleiben in Gott“. Es ist hier nicht von einem Bleiben in Gott die Rede, wie in jener Stelle des heiligen Paulus, in welcher es heißt: „In Ihm leben und weben und sind wir“. Diese Stelle bezieht sich nicht bloß auf die Christen, redet nicht von dem besonderen Verhältnis der Kirche zu ihrem ewigen Herrn, sondern vom Verhältnis der Creatur zu ihrem Schöpfer, von einem Verhältnisse, welches nicht einmal durch die Sünde aufgehoben wird, in welchem sogar die Teufel und verdammten Geister zu ihrem ewigen Ursprung verbleiben müßen. Unser Text hingegen redet von einem Verhältnis der Gemeinde zu Gott, das ihr völlig eigen ist, und seinen Grund nicht in der unabwendbaren und unvermeidlichen Allmacht Gottes, sondern in der Neigung und dem sittlichen Verhalten Seiner Gläubigen gegen Ihn hat. So wie das Bleiben in der Liebe nichts anderes sein kann, als ein Verharren im gläubigen Vertrauen auf die Liebe, die Gott zu uns hat, so ist auch das Bleiben in Gott nichts anderes, als ein Verharren im gläubigen und betrachtenden Andenken an Ihn. Wenigstens kann es unsererseits nichts anderes sein, wenn auch schon der Herr dem gläubigen Verharren des Menschen in seinem Andenken und seiner Anbetung den Segen Seiner besonderen Nähe verleihen und für die Seinen auf diesem Wege näher treten kann und mag, als auf jedem andern. Wir bleiben in Gott durch die Erkenntnis und Erfaßung Seiner Liebe. Wenn wir uns mit dieser Liebe beschäftigen, beschäftigen wir uns mit Ihm; wenn wir sie verehren, verehren wir Ihn selbst; hangen wir gläubig an ihr, so hangen wir an Ihm. Gelingt uns aber das, so ist der Herr Selbst in uns und bleibt in uns in einer andern Weise, als Er in und bei allen Creaturen bleibt, nemlich durch die besondere Ein- und Beiwohnung persönlicher Gnade. So lehrt uns der heilige Johannes, und wenn uns durch dieß sein Wort eine besondere Offenbarung deshalb gegeben wird, so erkennen wir daraus, daß wir, ohne solche Offenbarung dieß herrliche Verhältnis unserer Seele zu Gott selbst dann nicht nothwendig wißen müßten, wenn wir es bereits erfahren. Man kann in der Liebe sein und bleiben, ohne zu wißen, daß man damit in Gott ist und Gott in uns. Wird uns aber darüber eine göttliche Mittheilung gemacht, so empfangen wir über unsere eigene Herrlichkeit und Gnade den rechten Aufschluß, und lernen unseren eigenen Zustand größer ansehen und höher schätzen. Im Lichte des göttlichen Wortes erkennen wir unsere Nähe bei Gott und Gottes Nähe in uns, und wenn auch unser natürlicher Mensch davon nichts fühlt und inne wird, so ruht doch unser Geist in der gläubigen Ueberzeugung, die er aus Gottes eigenem Worte schöpft. Er weiß und erkennt daraus den reichen Segen des Verharrens in der Liebe Gottes.

Doch ist in dem 16. Vers unseres Textes dieser reiche Segen nicht vollständig vorgelegt, sondern es beschäftigen sich noch die nächsten Verse mit demselben Thema. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt nicht allein in Gott und Gott in ihm, sondern er genießt den Segen seines Zustandes auch dann, wenn der gesammten übrigen Welt unendlich wehe und leid geschieht, nemlich in der Zeit und Stunde des Gerichts. „Darin ist die Liebe bei uns vollendet, daß wir am Tage des Gerichtes Freudigkeit haben.“ Den meisten Menschen, die jetzt leben, erscheint die Lehre von einem endlichen Brand und Untergang der Welt und einem jüngsten Gerichte wie ein altes erhabenes Mährchen, den Mährchen und Sagen anderer Religionen vergleichbar. Fast jedermann vertraut auf eine immerwährende Dauer der sichtbaren Welt, und die Mehrzahl spricht wie die Spötter, von denen St. Petrus im dritten Kapitel seines zweiten Briefes redet: „Nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Creatur gewesen ist.“ Läßt man aber auch hie und da die heilige Lehre gelten, so beschäftigt man sich doch so wenig mit ihr, daß sie im Grunde unserer Seele keine Wirkung hervorbringt. Man braucht nicht eben viel Phantasie zu haben, man darf sich ja nur vergegenwärtigen, was der Griffel des lebendigen Gottes selber vom jüngsten Tage in die heilige Schrift niedergelegt hat, um zu begreifen, wie die Kirche in ihrer Litanei unermüdlich betet: „In unserer letzten Noth, im jüngsten Gericht, behüte uns lieber Herre Gott.“ Wenn uns aller Boden der Materie unter den Füßen hinweggezogen wird, die ganze Welt verbrennt und vergeht und wir bei dem allgemeinen Aufruhr aller Dinge allein in der Macht und Gnade Gottes ruhen müßen, so ist das etwas so Außerordentliches und Großes, daß wir ohne Liebe zum Herrn und ohne tiefe Anerkennung Seiner großen Liebe zu uns es gar nicht denken können. Diese Liebe aber wird so groß und mächtig sein, daß sie nicht bloß Ruhe und Frieden, Glauben und Vertrauen in die bewahrende Gnade Gottes schaffen, nicht bloß im Aufruhr der untergehenden Welt die Seelen stille machen, sondern auch noch größeres thun wird.

 Wenn ich in Gott ruhen darf zur Zeit der größten Noth, wenn Er mein Freund ist in der Stunde des Untergangs aller Dinge, so kann ich ruhig sein. Mag mir es auch groß und schwer erscheinen, ich kann mir es doch denken, es glauben und hoffen. Aber was soll ich thun, wenn mir beim Bewußtsein des eigenen Unwerthes und zahlloser Sünden, gegenüber der herrlichen Erscheinung Seiner Majestät der Glaube dahinfällt und ich mich vor Ihm fürchte? Die Welt mag zerstäuben oder zerschmelzen, was liegt daran, wenn ich im Schooße Gottes ruhe; wohin aber soll ich fliehen, wohin mich wenden, wenn mich Sein Angesicht schreckt und ich mich vor Seinem reinen Hauche im schmutzigen Gewande der eigenen Gerechtigkeit finde? Schon dieser Gedanke könnte ein zagendes Herz im tiefsten Grunde erschrecken. Aber ich stehe ja nicht allein vor Ihm im Selbstgerichte, sondern der Allmächtige ruft mich zu Seinem Gericht an jenem großen Tage. Die Posaunen gehen, die Bücher werden aufgeschlagen, es gilt ein untrügliches Gottesgericht. Was soll mich, den Sünder, aufrecht erhalten, daß ich nicht versinke in der tiefen Höllenglut? Der Text lehrt michs: die Liebe, die Gott in Christo Jesu erwiesen hat, die mir gepredigt ist, die ich im Glauben faße, und die mich zur Gegenliebe erweckt, mir Muth und Kraft gibt, mich Ihm vertrauend zu nahen, die ist es, von der geschrieben steht, daß ihre Fülle und ihr größter Preis darinnen besteht, daß sie auch am Gerichtstage dem Richter gegenüber Freudigkeit verleiht. Wenn Er, der ewige Richter, von meinen Sünden redet, dann rede ich also in Kraft der Liebe von Seiner Liebe, erhebe wider die Anklage des Gesetzes den Preis Seiner Gnade, d. i. Seiner Liebe in Christo Jesu, und darf alsdann inne werden, daß das Evangelium größer ist, als das Gesetz und die Liebe größer, als das Gericht. Einen größeren Triumph der Liebe kann es nicht geben. Die Liebe verbindet uns mit Ihm und hebt uns über das Gericht hinüber, wie viel mehr wird sie uns im Aufruhr der ganzen Welt erhalten und stärken. Mag die sündenbeladene Welt vergehen, wir sind mit Gott vereinigt, und bei all unserem Schuldbewußtsein gehören wir doch Ihm, stehen auf Seiner Seite und „wie Er selbst ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Wir werden nicht gerichtet, wie die Welt gerichtet wird, sondern wir genießen wie Er den Frieden, Seinen göttlichen Frieden, wenn die ganze Welt verzagen muß. Er steht der Welt gegenüber, aber nicht den Seinen; diese stehen nicht Ihm gegenüber, sondern der Welt, mit Ihm sind sie vereinigt und nehmen in der Welt dieselbe Stellung ein, wie Er, nemlich die Stellung eines siegreichen Gegensatzes bei eigenem großen Frieden.

Der 18. Vers, bei dem wir stehen, führt eigentlich den Gedanken des vorausgehenden 17. nur weiter aus. In Kraft der Liebe hat der Christ sogar am Tage des jüngsten Gerichtes und der allgemeinen Schrecken Freudigkeit oder Zuversicht zu seinem Richter. Hätte er aber die Liebe nicht, so würde ihn die Furcht verzehren vor Dem, der da kommt und mit Ihm sein Lohn. In diesem Sinne sagt nun unser Vers: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.“ Es ist hier allerdings nicht die Rede von der Furcht, die ein Mensch in seinem Leben hat oder haben kann, sondern von der Furcht am jüngsten Gericht. In dem gewöhnlichen Leben hat der Mensch keine Furcht vor Gott; wer Furcht hat, der hat sie entweder in Folge krankhafter Zustände seines natürlichen Lebens, oder aber, und das ist ein seltener Fall, er steht unter der Einwirkung des heiligen Geistes. Auch die Furcht ist eine Wirkung des heiligen Geistes. Wer sich bei gesundem Leben vor Gott fürchten kann, der hat Ursache, Gott für Seine Nähe und Wirkung zu danken. Wenn der heilige Sänger spricht: „ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schauert“, so ist das eine Aeußerung, die ihm viele Tausende mit Wahrheit nicht nachsagen können. Man kann auch nicht einmal sagen, daß Furcht immer die erste und geringste Wirkung des heiligen Geistes sei. Die Furcht des Herrn ist wohl, wo überall sie eintritt, der Weisheit Anfang, der Anfang aller wahren Lebensweisheit, aber auf den besondern Wegen, die Gott mit den einzelnen Seelen geht, ist die Furcht oft nicht der Anfang, sondern vielmehr ein Ende und die Vollendung des geistlichen Lebens zu nennen; es sterben viele Christen dahin, ohne auch nur einmal recht lebendig zum Gefühle der Furcht Gottes gekommen zu sein. Schon aus diesen meinen Sätzen, so ferne sie nemlich wahr sind, kann entnommen werden, daß der heilige Johannes die Furcht nicht in jedem Sinne des Wortes verwerfen und mit der Liebe unvereinbar finden kann. Für diese Behauptung gibt es aber noch andere und beßere Beweise. Die Auslegung eines jeden Gebotes in unserem lutherischen kleinen Catechismus beginnt mit den Worten: Wir sollen Gott fürchten und lieben. Während also St. Johannes die von ihm gemeinte Furcht mit der Liebe nicht für vereinbar hält, lebt unsere Kirche der Ueberzeugung, daß wir im Gegentheil Furcht und Liebe vereinigen müßen. Auch ist das nicht bloß eine Ueberzeugung der Kirche, sondern eine Lehre der Schrift, sonst würden wir in derselben sicher nicht Stellen finden, wie die: „Fürchtet den Herrn, ihr Seine Heiligen.“ Wenn die Heiligen Gott fürchten sollen, so sollen Ihn die fürchten, die Ihn lieben, weil nur die Liebe heilig macht. Ist es nun aber so, warum sagt dann der heilige Johannes, daß Furcht nicht in der Liebe sei, sondern die völlige Liebe die Furcht austreibe? Man könnte sagen, es sei ja nur von jenem großen Tage die Rede, die Vereinigung der Furcht und Liebe sei nur für jenen Tag aufgehoben. Es sei eben der Triumph der Liebe, gerade unter den furchtbarsten Umständen die Furcht nicht aufkommen zu laßen, sondern zu ertödten. Andererseits aber kann man sich doch auch wieder nicht denken, daß alle und jede Furcht gerade an dem Tage soll aufgehoben werden, an welchem sie am allermeisten Berechtigung findet, an welchem die Majestät des Herrn sich in ihrer ganzen Größe vor aller Welt entfaltet. Es wird daher hier wie an anderen Stellen der heiligen Schrift und bei unzähligen Stellen gewöhnlicher, menschlicher Schriftsteller gehen, daß man eine Vereinigung der verschiedenen Aussprüche über eine und dieselbe Sache nur auf dem Wege der Anerkennung eines verschiedenen Gebrauches eines und desselben Wortes finden kann. Es muß eine Furcht geben, in Anbetracht welcher der heilige Johannes vollkommen Recht behält, wenn er sagt: „die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Es muß aber auch eine Furcht geben, welche sich mit der Liebe nicht bloß verbinden läßt, sondern deren Verbindung mit ihr eine von Gott befohlene Sache ist. Unser Text geht uns bei dieser Unterscheidung an die Hand, indem er sagt: „Die Furcht hat Pein, die völlige Liebe treibet die Furcht aus.“ Die Furcht, welche Pein hat, ist mit der Liebe nicht vereinbar; wo die Liebe waltet, muß sie verschwinden. Die Furcht aber, welche Pein hat, ist keine andere, als die Furcht vor Strafe, die Furcht des unversöhnten Gewißens und unreinen Herzens. Dagegen aber wird der Mensch, der von der unendlichen Liebe Gottes in Christo Jesu gezogen und überwältigt ist, nichts desto weniger den Sinn für das majestätische göttliche Wesen nicht verlieren, sondern im Gegentheil wird er je länger je mehr bei der fortschreitenden und sich mehrenden Innigkeit seiner Verbindung mit dem göttlichen Wesen die Tiefe der Heiligkeit Gottes erkennen und sich in immer größerer Ehrfurcht vor seinem Herrn und Gott neigen. Diese Ehrfurcht und Furcht des Herrn wird seiner Liebe nicht im mindesten die Innigkeit nehmen, wohl aber sie in der Demuth erhalten, vor Irrfahrt behüten, bräutlich und frisch machen. Frei von aller Furcht der Strafe, festgegründet in der Gewisheit des ewigen Lebens wird ein Christ am jüngsten Tage doch auch voll Furcht des Herrn und demüthiger Anbetung sein, die Furcht des Sünders wird ertödtet, die Furcht aber des Geschöpfes vor dem großen Gott und Schöpfer wird aufgerichtet werden. So gehen also die verschiedenen Stellen der Schrift zusammen und wir werden sagen dürfen: dem sicheren Weltmenschen ist die Furcht vor Gott zu wünschen, die Furcht vor dem Richter seiner Tage; der begnadigte Sünder verliert diese Furcht, die da Pein macht, aber er reift zur Furcht und Scheu des Allmächtigen und Allgegenwärtigen, welche das Geschöpf vor seinem Schöpfer bei der größten Liebe haben soll; an jenem großen Tage wird die höchste Offenbarung der Gnade alle peinigende Furcht austreiben, aber die höchste Offenbarung der Majestät des Herrn zur Liebe diejenige Furcht hinzufügen, welche kein Mensch entbehren kann, der vor Gott stehen soll.

 So gewis uns nun aus unserem Texte die Liebe in ihrer alle Qual zerstörenden Kraft erscheint, so bleibt es doch immerhin ein gewaltiger Gedanke, daß wir, die wir Staub und Asche, ja Sünde und Bosheit sind, den unermeßlichen, ewigen, heiligen Gott sollen lieben dürfen. Da wir selbst an uns nichts finden können, als Verderben, so ist es nicht abzusehen, was Er mit Seinem vollkommenen Auge an uns finden soll, wie wir Ihm liebenswürdig erscheinen können und Er Sein Herz uns zuneigen soll. Wir bedürfen, um Ihn zu lieben, einer hohen Ermuthigung, deren Erwähnung den ersten Theil unseres Textes beschließt. Die Ermuthigung liegt darin, daß uns Gott zuerst geliebt, den Vorgang der Liebe gemacht und uns zur Liebe eingeladen hat. „Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebt.“ In dem Vorgang des Allmächtigen liegt nicht bloß die Erlaubnis, sondern auch ein Ruf zur Nachfolge; in der unaussprechlichen und unbegreiflichen Tiefe Seiner Liebe zu uns wurzelt unsere Gegenliebe; unsere ganze Liebe zu dem Herrn ist nur ein Erzeugnis Seiner Liebe, weshalb wir allerdings durch die zunehmende Erkenntnis Seiner Größe von der Liebe nicht abgehalten, wohl aber in derselben gefördert werden.

Mit der Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten hat der Text begonnen, zur Gegenliebe der Auserwählten zu ihrem Gotte ist er fortgeschritten, und unvermerkt sind wir im 19. Verse zu jener Fortsetzung der Liebe gekommen, die in der Bruderliebe besteht. So gewaltig dringt unsere Epistel auf diese Fortsetzung der Liebe, die Bruderliebe, daß eine jede Behauptung der Gottesliebe als Lüge hingestellt wird, welche nicht unter dem vorhandenen Zeugnis der Bruderliebe geschieht. „So jemand spricht: ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner.“ Starke Worte des Jüngers der Liebe, nicht weniger stark, die Liebe zu fordern, als Anklage gegen diejenigen zu stellen, die der Liebe ermangeln. Dazu wird gesetzt: „Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet“. Dieser letzte Satz könnte wie eine Schwächung des ersteren, der Liebesforderung, erscheinen, und zwar deshalb, weil in der Erfahrung so manches gegen ihn zu sprechen scheint. Es werden ja viele sein, die da glauben behaupten zu dürfen, man könne Gott lieben, auch ohne daß man den Bruder liebe. Gott sei ja vollkommen, der Mensch aber unvollkommen, und es sei leichter, den frommen liebenswürdigen Gott zu lieben, als den Menschen, dem so viel zur Liebenswürdigkeit mangelt. Im Umgang mit den Menschen werde man immer aufs neue durch die an ihnen bemerkten Fehler gestört; es gebe ein jeder Mensch zu tragen und so oft er es thue, lege er ein Hindernis der Liebe. Man bleibe leicht in der Liebe zu den Entfernten, während man im Umgang mit den Nahen alle Augenblicke gestört werde, eine Reizung zu Unzufriedenheit und Haß finde. So urtheilt der Mensch und doch widersteht dies Urtheil ganz und gar dem göttlichen Worte. Gottes Urtheil ist ein ganz anderes und der heilige Apostel lehrt uns, daß die Fehler des Menschen den Menschen an der Bruderliebe weitaus nicht so sehr hindern, als er durch den Umstand an der Gottesliebe gehindert wird, daß Gott unsichtbar ist und sich Sein Wesen der sinnlichen Wahrnehmung entzieht. So sehr leben wir durch Vermittelung unserer Sinne, daß uns kaum wahr scheint, was durch sie nicht vermittelt wird. Da wir Gott nicht sehen, fehlt uns fast der Weg zu Seiner Liebe. Alle Hindernisse, welche die Bruderliebe in den entgegentretenden Fehlern der Brüder findet, werden leichter beseitigt und wirkungslos gemacht, als die Hindernisse, die unser Glaube in der Unsinnlichkeit des göttlichen Wesens findet. Wenn daher der heilige Apostel sagt, wer seinen Bruder nicht liebe, der könne auch seinen Gott nicht lieben, und dazu setzt: „Dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe,“ so deutet er damit ein doppeltes an, nemlich erstens, daß es hie nicht nach der Menschen Weise zugehe und nicht nach menschlicher Meinung, und etwas geboten werde, was in der menschlichen Macht und Fähigkeit nicht liegt, zugleich aber auch, daß der Gott, der solches wider aller Menschen Meinung und Fähigkeit gebietet, uns auch Wege zeigen werde und zeigen müße, auf denen Sein heiliger Wille vollzogen werden kann. Es muß dem Christen das Leichtere und das Schwerere gelingen, wenn ihm einmal die Liebe Gottes geoffenbart ist. Das leichtere, die Liebe zu dem unvollkommenen Bruder, und das Schwerere, die Liebe zu dem unsichtbaren und vollkommenen Gott, und der Herr, obwohl eine unermeßliche Person, muß dem begränzten und beschränkten Wesen des Menschen so nahe kommen und kommen können, daß der arme Mensch nicht bloß vor Ihm niedersinken und Ihn staunend anbeten, sondern auch kindlich und fröhlich lieben kann.

Vor den Thüren des reichen Mannes liegt der arme Lazarus. Ein armer, nackter, kranker, mit Schwären bedeckter Bettler hat keinen Liebreiz für einen Reichen, einen in Seide und köstlicher Leinwand im reichsten Ueberfluße und Lebensglück prassenden Reichen. Zwischen dem Unglücklichen und dem Glücklichen hebt sich das äußere irdische Geschick wie eine mächtige hohe Scheidewand, die von niemand überstiegen wird, als von demjenigen, dem die Liebe Gottes ins Herz gegoßen ist, und von keinem niedergerißen, als von demjenigen, deßen Herz von der heiligen Bruderliebe durchdrungen ist. Von solcher Kraft und Liebe weiß der reiche Mann nichts: es mangelt ihm die Bruderliebe, weil ihm die Gottesliebe mangelt, wie kann er das Auge haben, um in dem armen, wunden Bettler seinen Bruder zu erkennen, da er den gemeinschaftlichen Vater im Himmel nicht erkennt? So viel sieht man am Beispiel des reichen Mannes. Aber hat denn der reiche Mann nur einmal gelebt? Gibt es seines Gleichen nicht an allen Orten und in allen Zeiten? Findet er sich bloß unter denen, die herrlich und in Freuden leben, oder fehlt er auch nicht bei denen, denen ein bescheideneres Loos zu Theil geworden ist? Muß man in Seide und köstlicher Leinwand einhertreten, um lieblos gegen die Brüder zu sein, oder findet sich die Lieblosigkeit auch unter denen, welche im ganzen Leben kein seidenes Gewand zu tragen pflegten? Ihr merket wohl, meine lieben Brüder und Schwestern, wohin ich steuere. Mein Ziel ist euer Herz. Meine Fragen sind Prüfungsfragen für euch. Meine Befürchtung ist, ihr möchtet die Fragen nicht zur Befriedigung beantworten können. Mein Wunsch ist, euch zur Erkenntnis zu bringen, euch den Mangel eurer Bruderliebe zu zeigen und euch die Ursache des Mangels in einem größeren Mangel, in dem der Gottesliebe aufzuzeigen. Es steht nicht bei dem Menschen, in Betreff der Liebe nur einen Fehler, oder nur eine Tugend zu haben; er hat immer zwei. Nie hat oder fehlt ihm allein die Bruderliebe oder die Gottesliebe, immer hat er beide, oder es fehlen ihm beide. Das Gefühl des Menschen ist zuweilen ein anderes, aber es ist trügerisch; dagegen das Wort Gottes trüget nicht und die Wahrheit, die aus ihm fließt, kann nicht anders als treffend sein. Wohl dem, der dieß nach der vollen Schärfe auffaßt und sich nicht träumen läßt, daß er eine Ausnahme machen könne. Wohl dem, der sich in den Staub der Buße willig begibt, wenn ihn Gottes Wort dahin wirft, damit er auch seiner Zeit durch Gnade erhöht werde. Es ist nie jemand aufwärts gegangen zur Offenbarung der Liebe Gottes und zur Ermächtigung, die Brüder zu lieben, außer wer zuvor abwärts gieng, um seine Sünde und Missethat zu erkennen. Darum, meine lieben Brüder, folget auch ihr getrost dem Zug des heiligen Geistes, welcher euch durch die tiefe Demüthigung und durch die Erkenntnis eurer Mängel zu dem himmlischen Glücke der Liebe, zu Gott und Seinen Kindern führen will. Werdet ihr Ihm in der Buße widerstreben, so werdet ihr auch immer Noth und Mangel an Liebe haben. Werdet ihr euch aber der Buße weigern, so werdet ihr auch zurückbleiben in der Erfahrung der größten Seligkeit, das ist eben in der Liebe. Es liegt hier alles an der Erfahrung, ein wenig Erfahrung gibt Lust und Muth. Wer einmal den Weg betreten hat, von dem wir reden, der weicht nicht mehr von ihm. Die immer neue Führung in die Erkenntnis tiefen Mangels und von dieser zur Erfahrung immer neuer Kräfte der Liebe Gottes ist wie eine Einkehr in ein himmlisches Vaterland, in dem es einem je länger je lieber und je länger, je wohler wird. So helfe uns Gott und laße uns genesen von des reichen Mannes Art und erstarken in der Liebe, die ein göttliches Leben und himmlische Freude ist. Amen.

 

 

Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.

 

1. Joh. 3, 13–18.

 

13. Verwundert euch nicht, meine Brüder, ob euch die Welt haßet. 14. Wir wißen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind: denn wir lieben die Brüder. Wer den Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode. 15. Wer seinen Bruder haßet, der ist ein Todtschläger, und ihr wißet, daß ein Todtschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend. 16. Darum haben wir erkannt die Liebe, daß Er Sein Leben für uns gelaßen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder laßen. 17. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat, und siehet seinen Bruder darben, und schließt sein Herz vor Ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? 18. Meine Kindlein, laßet uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge; sondern mit der That und mit der Wahrheit.

 

 Wenn alle Evangelien der Trinitatissonntage vom ersten bis zum siebenundzwanzigsten ihren Fortschritt von einem zum andern mit derselbigen großartigen Klarheit machten, wie die Evangelien der zwei ersten Sonntage, so würde niemand dem gegenwärtig allgemein angenommenen Gedanken beistimmen, daß die Textwahl in der zweiten Hälfte des Kirchenjahres eine unvollkommnere sei, als im ersten halben Jahr. Es kann ja niemand leugnen, daß der Fortschritt in dem Evangelium des reichen Mannes und dem armen Lazarus zu dem heutigen von dem großen Abendmahl glänzend schön und großartig ist. Die Ewigkeit mit ihren Freuden und Leiden und die irdische Zeit der Berufung zu jenen Freuden stehen neben einander und zeigen dem Menschen für sein gesammtes ewiges Heil Weg und Ziel; sie bilden mit einander eine Bibel im Kleinen, und gewähren einen Ueberblick des Reiches Gottes vom Anfang bis zu Ende. Eben so schön und hehr ist der Schritt der beiden epistolischen Texte, den sie vor unseren Augen einhalten. Wenn das Evangelium des vorigen Sonntags noch etwas Räthselhaftes in sich hält, und man zweifelhaft sein könnte, was den Armen so selig, den Reichen aber ewig so unglückselig gemacht habe, so bringt uns die Epistel Licht für alles. Moses und die Propheten, auf welche Abraham im Evangelium weist, verkündigen einmüthig jene Liebe Gottes, von welcher die Epistel des vorigen Sonntags spricht: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott.“ Auch zeigt die Epistel in ihrem zweiten Theile jene Liebe, die dem Reichen mangelte, die Bruderliebe nemlich, ohne welche keine Gottesliebe sein kann, deren Abwesenheit zugleich noch eine zweite leere Stelle zeigt, ich meine die, welche von der Liebe zu Gott besetzt sein sollte. Des Armen Seelenheil ist der Ueberschwang der göttlichen Liebe; des Reichen Unglückseligkeit folgt aus dem Mangel der Liebe zu Gott und den Menschen. In innigster Verwandtschaft, beides mit dem Evangelium des heutigen Tages und den Texten des vorigen Sonntags steht auch die heutige Epistel. Das Evangelium redet vom großen Abendmahl, an welchem die geladenen Männer und so viele andere keinen Theil nehmen, es redet von der mühseligen Gründung und Ausbreitung der Kirche Gottes, und von der schweren Scheidung des Menschen von der Welt. Es verschweigt dabei eine Seite, nemlich den Haß derjenigen, die sich um ihrer Aecker und Ochsen und Weiber willen von dem Leben dieser Welt nicht scheiden mögen. Diese verschwiegene Seite der Kirchengeschichte tritt nun aber gerade in unserem epistolischen Texte hervor, der von dem Haße der Welt, aber auch von der Liebe Gottes zu Seinen Kindern und der Kinder Gottes zu einander spricht. Die der Einladung des Herrn zu Seinem himmlischen Mahle folgen, genießen Seine Liebe und geben sie andern zu genießen, erndten aber auch den heftigen brennenden Haß der Welt. So ergänzt sich also aus der Epistel das Bild der Kirchengeschichte, welches im Evangelium gemalt ist, zugleich aber zeigt sich auch, wie in einem Spiegel, des reichen Mannes Liebesmangel und des armen Dulders Lazarus Leidensquelle, nemlich der Haß der Welt. – Laßt uns nun aber zu unserem Texte selbst gehen und seinen heiligen Inhalt beschauen, betrachten und anwenden.

 Unser Text handelt ganz offenbar von Haß und Liebe, vom Haße der Welt gegen die Christen und von der Liebe der Christen zu den Brüdern. Allerdings ist mehr die Rede von der Liebe, als vom Haß, doch aber springt der Gegensatz zwischen beiden so grell ins Auge, wenn man die Worte unserer Lection beschaut, daß man sich aus dem Texte nicht bloß die heiligen Reden von der Liebe, sondern auch die vom Haße merken muß. – Ein Blick in den Zusammenhang der drei ersten Textesverse zeigt uns deutlich, daß Haß und Tod zusammengestellt, als Wirkung aber des Haßes oder des Todes der Mord angegeben ist, der Brudermord, und der Verlust des ewigen Lebens. Umgekehrt, wird die Liebe mit dem Leben zusammengenommen und als Wirkung der Liebe oder des Lebens die Aufopferung hingestellt, die den eigenen Leib und das eigene Leben, dazu auch alle Güter dieser Zeit für den Bruder dahingeben kann und sich gedrungen fühlt, demselben in That und Wahrheit Beweis von ihrem Dasein und ihrer Inbrunst zu geben. In diesen so eben vorgelegten Gedanken von Haß und Liebe vollendet sich der Inhalt unserer ganzen Epistel, wenigstens der Hauptsache nach, und wir werden, ehe wir noch die Anwendung vorlegen, welche in diesem Texte von den vorgelegten Sätzen gemacht wird, sie selbst vorher ins Auge faßen und genauer erörtern müßen.

Haß ist Tod, sagten wir. Wir wiederholten damit nur das unwiderlegliche Urtheil unseres Textes, denn nicht bloß sagt der 14. Vers von denen, die die Brüder lieben, „sie seien vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“, sondern es wird auch von denen, die die Brüder nicht lieben, gesagt, daß sie „im Tode bleiben“. Die reine Erwägung dieser Stellen kann einen jeden überzeugen, daß nach dem Sinne des heiligen Jüngers Johannes jedenfalls Haß und Tod entweder gleichbedeutend sind, oder der Haß als eine Ausgeburt des Todes dargestellt wird. Nicht minder klar ist aus unserem Texte der andere Satz, welchen ich euch vorlegte, daß der Haß, wie er eine Ausgeburt des Todes ist, oder der Tod selber, seinerseits auch wieder tödtet. Denn ausdrücklich sagt der 15. Vers: „Wer seinen Bruder haßet, der ist ein Todtschläger.“ Selbst todt, schlägt also auch der Haß todt, gleich viel, in welcher Weise, gleichviel, wo er sein Werk beginnt, am Leibe, oder aber an der Seele.

Endlich bedürfen wir auch nur einige Worte unseres Textes anzuführen, um einem jeden die Ueberzeugung zu verschaffen, daß ein Haßender nicht selig werden kann. Es heißt ja: „wer seinen Bruder haßet, der ist ein Todtschläger, und ihr wißet, daß ein Todtschläger das ewige Leben nicht hat bei ihm bleibend.“ Es ist also möglich, daß jemand bereits das ewige Leben in sich trage, dann aber in Haß verfalle und damit dieß ewige Leben wieder aus sich selbst verjage. So wären also alle unsere Sätze, die wir vom Haße aufgestellt haben, als wahr und richtig bewiesen.

Ebenso ist es mit dem, was wir von der Liebe behauptet haben. Liebe ist Leben; wer kann diesen Satz leugnen, wenn er die Stelle unseres Textes liest: „Wir wißen, daß wir vom Tode zum Leben hindurchgedrungen sind, denn wir lieben die Brüder.“ Also wer die Brüder liebt, der lebt, und wenn er zuvor todt war, also haßte, und den Haß mit der Liebe vertauschte, so ist er vom Tode zum Leben durchgedrungen. Gleichwie aber der Haß nicht bloß todt ist, sondern auch tödtet, so ist die Liebe nicht bloß Leben, sondern sie vermag es auch das Leben und alle seine Güter, zum Zeugnis ihres Daseins dahinzugeben. Das sagen die letzten Verse unseres Textes, so klar und dabei so ausführlich und eingehend, daß wohl niemand es wagen darf zu leugnen. „Darin haben wir die Liebe erkannt, daß jener, nemlich unser Herr, für uns Sein Leben gelaßen hat.“ Es gibt noch ein Zeugnis der Liebe, die das Leben ist, denn wie der Tod tödtet, so macht sie, die das Leben ist, lebendig, wie das leicht zu beweisen steht. Allein dieß Lebenszeichen der Liebe kann nicht als Beispiel und zur Nachahmung hingestellt werden, weil kein Mensch, so sehr er auch liebe, Leben zu geben vermag. Dagegen aber jenes Zeichen der Liebe, welches in unserem Texte vorgelegt wird und in der Aufopferung des eigenen Lebens und in der eigenen Habe besteht, wird in dem Beispiel Jesu Christi allen zur Nachahmung hingestellt. Wie sehr Er liebte, zeigte sich in Seinem Tode für uns alle. Das sagt auch Johannes und setzt dazu: „Wir sollen auch das Leben für die Brüder laßen.“ Ist aber das die göttliche Forderung an uns alle, was ists denn Großes, wenn auch verlangt wird, daß wir das zeitliche Gut im Dienste der Brüder opfern sollen? „Wer dieser Welt Güter hat, und sieht seinen Bruder Mangel leiden und schließt das Herz vor ihm zu, wie bleibt in dem die Liebe Gottes?“ Es entschwindet also aus dem unbarmherzigen Herzen die Offenbarung der allerhöchsten Liebe, der Liebe Gottes, der unsern großen Mangel sah, Sein Herz gegen die Elenden nicht verschloß, sondern ihnen gab, was sie bedurften. Kein Eindruck, keine Wirkung der Liebe Gottes bleibt in dem unbarmherzigen Menschen, der höchste Lebenserweis des lebendigen Herrn im Himmel in Seiner göttlichen Liebe hat weder Leben noch Liebe entzündet in dem Herzen, das keine barmherzige Bruderliebe übt, und ob auch Leben schon einmal vorhanden gewesen wäre, so entflieht es doch mit der Liebe, mit dem liebevollen Erbarmen, und der Unbarmherzige behält nichts übrig, als den Tod. Aus diesem allen, meine lieben Brüder, habt ihr nun gewis die Ueberzeugung gewonnen, daß die Sätze, welche ich oben von der Liebe aufgestellt habe, ganz in unserem Texte gründen und wir können nun einmal die Anwendung zeigen, welche der Text selbst von unseren Sätzen macht.

Was ist natürlicher, was, ich möchte sagen, verzeihlicher, als wenn ein Mensch, der einem andern eine große Wohlthat erweist, auf Anerkennung derselben und Dank für sie rechnet? Wenn er nun aber statt des Dankes Undank erndtet, und von dem Undank, der Welt Lohn, überrascht wird, ist das nicht eben so verzeihlich, eben so natürlich, da man doch seinem Nächsten weniger die Sünde, als Gutes zutrauen soll? Ein anderer Fall von gleicher Würde. Wenn ein Mensch, der früherhin gewandelt, nicht wie er sollte, sich umwendet und einen unsträflichen Wandel beginnt, darf er nicht auf Anerkennung seiner Beßerung rechnen, hat er nicht vollkommen Recht, wenn er vermuthet, man werde sich nun seiner freuen und anfangen ihn zu achten? Wenn er nun aber rein das Gegentheil erfährt, wenn ihm statt Achtung Verachtung, statt Vertrauen Mistrauen, statt Liebe Haß begegnet, soll ihm das nicht verwunderlich sein? Wir wißen es schon lange, uns belehrt die Erfahrung von achtzehnhundert Jahren, daß die Wohlthat des Christentums mit Undank und die Bekehrung der Sünder zu einem heiligen Leben mit Haß bezahlt wird. Bei der immer neuen, ja täglichen Erfahrung sollten wir uns daran so sehr gewöhnt haben, daß wir auch nicht einen Augenblick darüber verwundert wären, und doch bringt uns jede neue Erfahrung neues, schmerzliches Befremden. Wie können wir es da von den Christen der ersten Gemeinden anders erwarten, als daß sie sich überrascht und schmerzlich berührt fühlten, da ihnen die ersten Erfahrungen dieser Art zu Handen kamen? Sie selbst, durchdrungen von der hohen Wohlthat des Christentums, in der täglichen Erfahrung des segensreichen Einflußes trugen ihren eigenen Segen andern mit der Zuversicht und Ueberzeugung entgegen, daß ihnen und ihrem treuen Herrn im Himmel Dank und Ehre werden müßte. Statt deßen aber erndteten sie nur Undank, Zorn und Haß der ganzen Welt, und sie, die Kinder eines guten Gewißens, mußten sich gewöhnen und es sich gefallen laßen, wie Uebelthäter und Verbrecher behandelt und von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Sie lebten und liebten und man gab ihnen dafür Haß und Tod. Das konnte namentlich für den Anfang gar nichts anderes wirken als Befremden, ja Aergernis. Das gab den heiligen Aposteln Anlaß zu vieler seelsorgerischen Belehrung und Zurechtweisung, das veranlaßte auch den heiligen Johannes, den Gläubigen in unserem 12. Verse zuzurufen: „Verwundert euch nicht, lieben Brüder, wenn euch die Welt haßet.“ Die Unerfahrenheit des Christen und die bloß verständige Betrachtung läßt freilich das reine Gegentheil vermuthen, wie wir bereits dargelegt haben. Das aber ist die Erfahrung aller Zeiten von Ur an, daß die Welt das Christentum mit Haß empfangen hat, mit Haß verfolgt, ihm Leben und Dasein mit Schwert und Tod verwehrt hat. Die Erfahrung sagt so und die Ueberlegung der Umstände macht es erklärlich. Die Welt ist Tod, das Christentum ist Leben. Wer unter den Weltkindern sich vom Christentum überwinden läßt, der dringt vom Tode zum Leben hindurch. Wer aber den Tod lieber hat als das Leben und in ihm verharrt, der bleibt nicht bloß des Lebens untheilhaftig, sondern er wird ein Feind des Lebens. Er wird es in dem Maße mehr, als ihm das Leben lebendiger und liebevoller naht, und da dieß Annahen von Seiten der Christen, d. h. der Lebendigen auf Befehl des Allerhöchsten mit allem Ernste, mit aller Angelegentlichkeit, mit aller Sehnsucht nach Ueberwindung des Todes und Haßes in den Kindern des Todes geschieht, so gibt es einen Kampf zwischen Tod und Leben, der nach dem Zeugnis der Geschichte oftmals mit dem zeitlichen Unterliegen der Kinder des Lebens endet. Es ist zwar keine Zeit, in der es nicht Beispiele gäbe von seliger Ueberwindung des Todes durchs Leben, zahlreicher aber sind in allen Zeiten die Beispiele, da sich tödtlicher Haß und häßiger Tod der Kinder der Welt scheinbar siegreich gegen die Christen erhub. Das ist so gar oft geschehen, daß alle Verwunderung weg sein kann, daß jedermann darauf gerüstet und vorbereitet sein sollte. In unsern Gegenden und Zeiten werden wir zwar Beispiele dieser Art nur wenige finden, wenn wir nemlich bloß leuchtende mächtige Beispiele gelten laßen; aber auch unter uns fehlt es nicht an zahllosen Belegen und Beispielen der feineren und geringeren Art. Der Sinn der Welt ist nicht ausgestorben, es dürfte nur eine Stunde der Finsternis kommen und ein Hauch aus der Hölle die glimmende Glut anfachen, so würde es am Martyrium, an Folter und Marter nicht fehlen. Und hält auch die allmächtige Hand des Allerhöchsten noch eine kleine Weile den Gluthauch zurück, so harret doch die Hölle und die Welt nicht umsonst auf ihren Antichristus, und ehe der Herr kommt, Sein Reich aufzurichten, wird unter allen Beweisen für den kräftigen menschenmordenden Haß derer, die das Wort nicht mit Sanftmuth aufnehmen, der furchtbarste erscheinen und der Antichristus sein Schwert und seine Fahne wider alles schwingen, was heilig ist. Der ganze Sinn der Weltgeschichte ist kein anderer, als der des Kampfes zwischen Tod und Leben, und die angestrebte gemächliche Ruhe so vieler, die im Frieden Gottes unter Gottes Feinden am liebsten ewig auf Erden wohnen möchten, ist und bleibt ein jammervoller Selbstbetrug, ein elendes, vergebliches Kunststück, ein mühevoller, immer neu verunglückender Versuch, Christum und Belial zu vereinen.

 Neben diesem Bilde des Kampfes zeigt uns ja aber unser Text auch ein ganz anderes, das entgegengesetzte. Es ist ja allerdings zwischen Welt und Kirche ein heißer Kampf, aber die Kinder Gottes und Seines Lebens haben doch noch ein anderes Verhältnis, als das zur Welt, nemlich das zu einander selbst, das Verhältnis zur heiligen Kirche. Da gibt es auch kirchliche Kämpfe, und es reiben sich an einander die Richtungen, welche sich vor dem Throne des Lammes kreuzen. Weil sich nicht alle in allen Stücken dem Wort und Ausspruch des lebendigen Gottes unterwerfen, so gibt es Verschiedenheiten, welche theils nicht gering angeschlagen werden dürfen, theils aber von den Menschen höher angeschlagen werden, als es sein sollte, und anstatt daß eine jede auftauchende Verschiedenheit zu einem neuen Frieden und größerer Einigkeit führen sollte, gibt es im Gegentheil bedauerliche Riße und Scheidungen genug. Das scheint freilich dem allen zu widersprechen, was gemäß unserem Texte zum Ruhm und Preise kirchlicher Liebe und Einigkeit gesagt werden wird. Dennoch aber beruht der Ruhm und Preis nicht auf Lüge, auch nicht auf Täuschung oder Uebertreibung, sondern alles was wir zu sagen haben, ist wahr und im Laufe der Kirchengeschichte tausendmal auch wirklich und in der Erscheinung gewesen und wird es auch ferner sein und bleiben bis ans Ende.