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Manchmal ist der Abgrund nur einen Schritt entfernt
Einst besaß die Stadt Bulikov die Gunst der Götter. Bis diese getötet wurden. Mit ihnen verschwanden ihre göttlichen Wunder und Schreine. Bulikov blieb als zerbrochene Stadt zurück. Tausende Treppen führen heute ins Nichts, ein quälendes Mahnmal vergangener Größe und Überlegenheit.
Als ihr einstiger Mentor ermordet wird, reist Shara Thivani nach Bulikov. Offiziell ist die junge Frau nur eine weitere Nachwuchsdiplomatin, doch hinter der Fassade verbirgt sich eine Meisterspionin. Sie will unbedingt den Mord an ihrem Mentor aufklären, der in Bulikov war, um über dessen göttliche Geschichte zu forschen - etwas, das den Einwohnern von Bulikov unter Todesstarfe verboten ist. Bald gerät Shara in ein Netz aus Intrigen und auf die Spur eines lange verschütteten Geheimnisses.
»Robert Jackson Bennett verdient eine große Leserschaft — dieses Buch wird sie ihm verschaffen.« — Brent Weeks
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Seitenzahl: 748
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Schlimmer geht immer
Wir müssen sie zivilisieren
Unter dem Siegel der Verschwiegenheit
Tote Sprachen
Das tun, was er am besten kann
Eine unauslöschliche Erinnerung
Gefährliche Offenheit
Was die Putzfrau wusste
Was die Geschichte uns lehrt
Der Club der alten Herren
Überlebende
Wiederentdeckungen
Leiden sollt ihr, leiden
Erlösung
Die Stadt der Götter
Familienbande
Was du erntest
Was du säest
Über den Autor
Robert Jackson Bennett wurde 1984 in Baton Rouge, Louisiana, geboren und wuchs in Texas auf. Er studierte an der University of Texas in Austin, wo er auch heute noch mit seiner Frau und seinem Sohn lebt. Für seine Romane hat er bereits zahlreiche Preise gewonnen, darunter zweimal den begehrten SHIRLEY JACKSON AWARDS in der Kategorie ›Bester Roman‹ sowie eine PHILIP K. DICK AWARD CITATION OF EXCELLENCE. Mit Die Stadt der tausend Treppen war er für den WORLD FANTASY AWARD 2015 nominiert.
ROBERT JACKSON BENNETT
DIE STADT DER TAUSEND TREPPEN
Roman
Aus dem Amerikanischen von Eva Bauche-Eppers
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:Copyright © 2014 by Robert Jackson BennettPublished by Arrangement with Robert Jackson BennettTitel der amerikanischen Originalausgabe: »City of Stairs«Originalverlag: Broadway Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, Limburg an der LahnTitelillustration: © Katarzyna OleskaUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3030-4
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
Für Ashlee,die mir hilft, an ein besseres Morgen zu glauben.
Und Olvos sprach zu ihnen folgendermaßen: Warum habt ihr das getan, meine Kinder? Warum ist der Himmel verhüllt von Rauch? Warum habt ihr Krieg geführt an Stätten weit von hier und Blut vergossen in fremden Landen?
Und sie antworteten: Du hast uns auserwählt als Dein Volk und wir frohlockten und fühlten Freude in unseren Herzen. Doch wir fanden welche, die nicht von Dir gesegnet waren und sie gebärdeten sich störrisch und kannten Dich nicht und wollten nicht wissen von Dir. Sie neigten nicht das Ohr Deinen Gesängen und lobten Dich nicht mit ihren Zungen. Derhalben haben wir sie auf den Felsen zerschmettert und ihre Häuser eingerissen und ihr Blut auf die Erde vergossen und sie in alle Winde zerstreut. Denn wir sind Dein auserwähltes Volk. Wir sind von Dir gesegnet. Wir sind Dein und also haben wir recht getan. Ist es nicht das, was Du uns geboten hast?
Und Olvos vernahm ihre Rede und schwieg.
BUCH DES ROTEN LOTUS, TEIL IV, 13.51–13.59
»Demnach glaube ich«, sagt Vasily Jaroslav, »die entscheidende Frage in dieser Angelegenheit ist die, inwieweit ein vorsätzliches Handeln anzunehmen ist. Mir ist bewusst, dass das Gericht sich meiner Meinung nicht anschließen wird – dieses Hohe Haus pflegt von jeher bei der Urteilsfindung allein den Tatbestand als Maßstab zu nehmen, ohne die Umstände zu berücksichtigen –, aber Sie können nicht allen Ernstes einem unbescholtenen, seriösen Geschäftsmann ein dermaßen hohes Bußgeld für ein unabsichtliches Vergehen auferlegen? Erst recht, wenn dieses Vergehen, nun, eher abstrakter Natur ist?«
Ein Husten hallt durch den Gerichtssaal und zerstört die wirkungsvoll eingelegte Kunstpause. Hinter den Fenstern wandern die Schatten fliegender Wolken über die Mauern von Bulikov.
Stadtgouverneurin Turyin Mulaghesh unterdrückt ein Seufzen und schielt auf ihre Armbanduhr. Wenn er noch sechs Minuten weitermacht, denkt sie, haben wir einen neuen Rekord.
»Sie haben die Aussagen meiner Freunde gehört«, fährt Jaroslav fort, »meiner Nachbarn, meiner Angestellten, meiner Familie, meiner … meiner Bankiers. Personen, die mich seit vielen Jahren kennen, Personen, die keinen Grund haben zu lügen! Sie haben Ihnen ein ums andere Mal bestätigt, dass es sich um ein unglückliches Versehen handelt!«
Mulaghesh, am Richtertisch, schaut zu ihrem Nebenmann rechter Hand. Ankläger Jindash doodelt mit einer Miene ernster Wichtigkeit den Umriss seiner eigenen Hand auf ein offizielles Schriftstück mit dem Briefkopf des Außenministeriums. Botschafter Troonyi, links neben ihr, beäugt mit schamlosem Interesse die vollbusige junge Frau in der ersten Reihe der Zuschauerbänke. Neben Troonyi, am Ende des Richtertischs, steht ein leerer Stuhl, auf dem normalerweise Gastprofessor Dr. Efrem Pangyui Platz nimmt, der aber in letzter Zeit immer häufiger diesen Verhandlungen fernbleibt. Offen gestanden ist Mulaghesh hocherfreut über diese Entwicklung: Seine Anwesenheit im Gerichtssaal, erst recht in diesem ganzen verdammten Land, hat ihr schon genügend Kopfschmerzen bereitet.
»Das Hohe Gericht« – Jaroslav schlägt zwei Mal mit der Faust auf den Tisch, »muss zur Einsicht kommen!«
Ich sollte jemanden finden, der an meiner Stelle hier die Zeit absitzt. Mulaghesh ist sich im Klaren darüber, dass das ein Traum bleiben wird: Als Stadtgouverneurin von Bulikov, der Hauptstadt des Kontinents, gehört es zu ihren Pflichten, bei allen Gerichtsverhandlungen dieser Art den Vorsitz zu führen, und seien sie noch so trivial.
»Nach meinen ausführlichen Erklärungen kann doch eigentlich kein vernünftiger Zweifel mehr daran bestehen, dass das Schild über dem Eingang zu meinem Geschäft eben nicht darstellen sollte, was … was es angeblich darstellt!«
Die Zuschauer quittieren Jaroslavs ausweichende Formulierung mit unruhigem Rascheln und Gemurmel. Troonyi streichelt seinen Bart und beugt sich vor, als die junge Frau, der sein Interesse gilt, nun die Beine übereinanderschlägt. Jindash malt seiner gezeichneten Hand bunte Fingernägel. Mulaghesh lässt den Blick über die Zuschauermenge schweifen und erstellt in Gedanken eine Liste der Gebrechen und Krankheiten: der Junge mit Krücken, Rachitis, die Frau mit dem narbigen Gesicht, Pocken, und sie kann nicht erkennen, was mit dem Mann in der Ecke ist, aber sie hofft inständig, das, was an seiner Haut klebt, möge abwaschbar sein. Jaroslav und einige wenige andere können sich als halbwegs erfolgreiche Festländer fließend Wasser leisten und somit als Anschauungsobjekt für die Physiognomie der indigenen Bewohner des Kontinents in gewaschenem Zustand dienen: hellhäutig, grob geschnittene Züge, dunkle Augen und die Männer tragen wild wuchernde Rauschebärte zur Schau. Mulaghesh und die anderen Saypuri stellen mit ihrem dunkleren Teint, der länglichen Nase und dem spitz zulaufenden Kinn das krasse Gegenteil dar. Und sie sind, Troonyis lächerlicher Bärenfellmantel legt Zeugnis dafür ab, an das erheblich wärmere Klima ihrer am jenseitigen Gestade des Südmeers gelegenen Heimat gewöhnt – Saypur.
Mulaghesh hat bis zu einem gewissen Punkt – nur bis zu einem gewissen Punkt – Verständnis für Troonyis und Jindashs Desinteresse – der Kontinent ist von einer derart beharrlichen, trotzigen, kompromisslosen Rückständigkeit, dass man Gefahr läuft zu vergessen, dass Saypur gute, ja zwingende Gründe hat, hier als Besatzungsmacht ein strenges Regime zu führen. Obwohl, müssen wir uns wirklich noch als Besatzer sehen?, denkt Mulaghesh. Wie lange muss man hier leben, um als Einheimischer zu gelten? Käme Mulaghesh auf die Idee, allen Anwesenden im Gerichtssaal eine Handvoll Münzen hinzuhalten und zu sagen: Hier, nehmt, kauft euch die Medikamente, die ihr braucht und kauft euch Wasser zum Waschen und Trinken«, würden ihr die Festländer eher in die Hand spucken, als auch nur einen roten Vierteldrekel anzunehmen.
Mulaghesh kennt den Grund für dieses schwelende – bisher nur schwelende, glücklicherweise – Ressentiment. Sie mögen aussehen wie Hungerleider und Bettler, aber diese Leute waren einst die mächtigsten und gefährlichsten Vertreter des Menschengeschlechts auf Erden. Das haben sie natürlich nicht vergessen, denkt Mulaghesh und sieht unter den Zuschauern einen Mann, der sie mit einem Blick anschaut, aus dem unverhohlene Feindseligkeit spricht. Daher ihr Hass auf uns …
Jaroslav hat derweil seinen ganzen Mut zusammengenommen.
Jetzt kommt’s, denkt Mulaghesh.
»Ich habe nie die Absicht gehabt, nie«, sagt er im Brustton der Überzeugung, »mit dem Signet auf meinem Firmenschild auf das Göttliche in einer wie auch immer gearteten Form zu verweisen!«
Erneut zieht ein Raunen durch den Saal. Mulaghesh und die anderen beiden Saypuri am Richtertisch hingegen bleiben von diesem dramatischen Auftritt unbeeindruckt. »Sie müssen doch wissen«, brummt Jindash, »dass bei jedem Prozess wegen Verstoßes gegen die Säkularisierungsregularien genau dasselbe passiert.«
»Pst!«, macht Mulaghesh.
Dieser Bruch des Protokolls ermutigt Jaroslav fortzufahren. »Also. Ja. Ich … ich wollte in keiner Weise meiner Verehrung für irgendein höheres Wesen Ausdruck geben, einer Manifestation des Übernatürlichen oder einen Gott! Ich habe keine Kenntnis von den Gottheiten, ich weiß nicht, wer sie waren oder was …«
Mulaghesh muss sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Jeder Festländer weiß über die Gottheiten Bescheid, genau wie jeder weiß, dass Regen nass ist.
»… demzufolge konnte ich unmöglich wissen, dass das Zeichen auf dem neuen Firmenschild über meiner Hutmacherei unglücklicherweise, zufälligerweise, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Attribut einer Gottheit aufweist!«
Eine Pause. Mulaghesh merkt, dass Jaroslav zu sprechen aufgehört hat, und hebt den Blick. »Sind Sie fertig, Mr. Jaroslav?«
Jaroslav zögert. »Ja? Ja. Ja, ich glaube schon, ja.«
»Vielen Dank. Nehmen Sie bitte wieder Platz.«
Ankläger Jindash erhebt sich, kommt hinter dem Richtertisch hervor und präsentiert die vergrößerte Fotografie eines gemalten Firmenschilds mit der Aufschrift: JAROSLAVS HÜTE. Unter den Worten sieht man ein ziemlich großes Symbol – eine waagerechte Gerade, die in einen abwärts führenden Schnörkel ausläuft, vom Zeichner so abgeändert, dass er in etwa an den geschwungenen Umriss einer Hutkrempe erinnert.
Jindash fährt auf dem Absatz herum und schaut, während er weiterspricht, die Zuschauer an. »Ist das Ihr Firmenschild, Mr. Jaroslav?« Er betont den Namen falsch. Mulaghesh kann nicht entscheiden, ob es Absicht ist oder Taktik. Die Familiennamen der Festländer wimmeln von -slavs und -iljas und -uljas und für jemanden, der nicht wie Mulaghesh seit fast zehn Jahren hier lebt, ist es nahezu unmöglich, sie auseinanderzuhalten.
»Ja – ja«, antwortete Jaroslav.
»Danke sehr.« Jindash zeigt das Foto in die Runde. »Das Gericht möge bitte zur Kenntnis nehmen, dass Mr. Jaroslav bestätigt hat, dass es sich bei diesem Schild – ja, diesem Schild – um das Corpus delicti handelt.«
Botschafter Troonyi nickt, als wäre ihm eine tiefschürfende Erkenntnis zuteilgeworden. Unter den anwesenden Festländern macht sich Unruhe bemerkbar. In der Haltung eines Magiers, der die Utensilien für sein nächstes Zauberkunststück heraussucht, macht Jindash sich an seiner Aktentasche zu schaffen – Wie es mich ankotzt, denkt Mulaghesh, dass man ausgerechnet diesen theatralischen kleinen Blender nach Bulikov beordert hat – und fördert den großformatigen Kupferstich eines ähnlichen Symbols zutage: eine waagerechte Linie mit einem Schnörkel am Ende, in diesem Fall sind es aber ineinander verschlungene Ranken, aus deren Windungen sogar kleine Blättchen sprießen.
Beim Anblick des Symbols stöhnt die Menge auf. Einige der Zuschauer setzen unwillkürlich zu einer Bewegung an, als wollten sie ein heiliges Zeichen machen, dann wird ihnen bewusst, wo sie sich befinden, und sie lassen die Hand rasch wieder sinken. Jaroslav selbst zuckt zusammen.
Troonyi schnaubt durch die Nase. »Ich habe keine Kenntnis von den Gottheiten, dass ich nicht lache!«
»Wäre unser hochgeschätzter Dr. Efrem Pangyui anwesend« – Jindash zeigt auf den leeren Stuhl neben Troonyi –, »würde er unzweifelhaft dieses Zeichen als das Attribut der Gottheit … bitte um Vergebung, der dahingeschiedenen Gottheit …«
Das Murmeln der Menge klingt diesmal bedrohlich. Mulaghesh macht sich eine Notiz, Jindashs tölpelhafte Impertinenz mit der Versetzung an einen besonders kalten und unwirtlichen Ort zu belohnen, vorzugsweise mit einem Rattenproblem.
»… welche man unter der Bezeichnung Ahanas kennt oder kannte. Speziell dieses Symbol stand nach dem Glauben der Festländer für Fruchtbarkeit, Manneskraft und Vitalität. Im Zusammenhang mit dem Gewerbe eines Hutmachers könnte man es dahingehend deuten, dass seine Kopfbedeckungen den Träger mit eben diesen Segnungen beschenkt. Auch wenn Mr. Jaroslav es leugnet, konnten wir von Mr. Jaroslavs Geldgebern erfahren, dass sein Umsatz sprunghaft angestiegen ist, nachdem er dieses Schild über der Ladentür angebracht hatte. Tatsächlich haben sich die Einnahmen im Quartal um dreiundzwanzig Prozent erhöht.« Jindash legt den Kupferstich hin und zeigt mit den Fingern der einen Hand eine Zwei, mit der anderen eine Drei. »Drei-und-zwanzig Prozent.«
»Ach du liebe Güte«, stöhnt Troonyi.
Mulaghesh hält sich peinlich berührt die Augen zu.
»Wie haben Sie …?«, fragt Jaroslav.
»Wenn Sie gestatten, Mr. Jaroslav«, unterbricht ihn Jindash. »Wenn ich nicht irre, habe ich das Wort? Vielen Dank. Ich fahre fort. Die Säkularisierungsregularien wurden 1650 vom Parlament in Saypur verabschiedet und untersagen den Bewohnern des Kontinents jedwede öffentliche Anerkenntnis des Göttlichen. Schon das Flüstern des Namens einer Gottheit gilt als strafwürdig, erst recht das Niederknien in der Öffentlichkeit, verbunden mit lauten und gestenreichen Anrufungen der Gottheit oder Gottheiten. Man muss nur in wie auch immer gearteter Weise auf die Existenz einer überirdischen Macht anspielen und hat sich schon eines Verstoßes gegen die erwähnten Regularien schuldig gemacht. Der erkleckliche finanzielle Vorteil legt den Schluss nahe, dass Mr. Jaroslav das Firmenschild vorsätzlich und im vollen Bewusstsein …«
»Das ist eine Unterstellung!«, heult Jaroslav auf.
»… seiner Bedeutung angebracht hat. Dabei ist unerheblich, dass die Gottheit, zu der das Attribut gehört, tot ist und das Zeichen niemandem weder nützen noch schaden konnte. Der Bezug war hergestellt. Demzufolge ist das Vergehen von Mr. Jaroslav mit einem Bußgeld in Höhe von« – Jindash konsultiert eine Tabelle – »von 15.000 Drekeln zu ahnden.«
Die Zuschauer geraten in Bewegung, ihr Murren steigert sich zu einem gedämpften Grollen.
Jaroslav ist außer sich. »Das können Sie nicht … Sie können unmöglich …«
Jindash kehrt an seinen Platz am Richtertisch zurück. Er schenkt Mulaghesh ein stolzes Lächeln. Mulaghesh würde ihm nur zu gern die Faust in ebendieses Lächeln schlagen.
Sie wünscht inbrünstig, es gäbe eine Möglichkeit, diesen ganzen Zirkus zu umgehen. Nur alle halbe Jahre etwa kommt es einmal zum Prozess wegen Verstoßes gegen die Säkularisierungsregularien, die allermeisten Fälle werden außergerichtlich beigelegt, zwischen Mulagheshs Amt und dem Verteidiger der beklagten Partei. Sehr, sehr selten ist ein Betroffener so siegesgewiss oder so stur, dass er auf einer Gerichtsverhandlung besteht und die entwickelt sich dann so gut wie immer zu einer tragikomischen Veranstaltung.
Mulaghesh schaut in den Saal, der vollbesetzt ist, als wäre dieser Stadtgerichtsprozess großes Theater, und hinten an der Wand stehen mehrere Reihen tief noch Zuschauer, die keinen Sitzplatz mehr bekommen haben. Aber sie sind nicht wegen des Prozesses hier, denkt sie und schaut zu Dr. Efrem Pangyuis leerem Stuhl hinüber. Sie wollen den Mann sehen, der mir so viele Probleme bereitet …
Wie auch immer, wenn ein SR-Fall vor Gericht verhandelt wird, lautet das Urteil in der Regel auf schuldig. Tatsächlich ist Mulaghesh ziemlich sicher, dass sie in ihren zwei Dekaden als Stadtgouverneurin nur drei Beklagte freigesprochen hat. Und wir verurteilen so gut wie jeden, sinniert sie, weil das Gesetz von uns verlangt, ihnen ihre Art zu leben auszutreiben.
Sie hüstelt. »Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat dargelegt, wessen man Sie beschuldigt. Sie haben nunmehr Gelegenheit, etwas zu ihrer Verteidigung vorzubringen, Mr. Jaroslav.«
»Aber … Aber das ist nicht gerecht«, sagt Jaroslav. »Warum dürft ihr nach Belieben mit unseren Götternamen und heiligen Symbolen um euch werfen und uns würde man am liebsten schon für das bloße Denken bestrafen?«
»Die Residenz des Gouverneurs« – Jindash wedelt mit der Hand zu den Wänden hin – »ist faktisch saypurisches Staatsgebiet. Damit unterstehen wir nicht den Säkularisierungsregularien, die nur für den Kontinent gelten.«
»Das ist … Das ist blanker Hohn! Das ist … Ketzerei!« Jaroslav springt auf.
Totenstille im Saal. Aller Augen sind auf Jaroslav gerichtet.
Na großartig, denkt Mulaghesh. Wieder mal ein Protest.
»Ihr habt kein Recht, uns so zu behandeln«, ereifert sich Jaroslav. »Ihr beraubt unsere Häuser ihrer göttlichen Bildwerke, plündert unsere Bibliotheken, verhaftet Leute für die Erwähnung eines Namens …«
»Wir sind nicht hier«, fährt Jindash ihm in die Parade, »um über vermeintliche Schwächen der Rechtsprechung zu diskutieren oder über die Geschichte des Kontinents.«
»Doch! Genau darum geht es! Die Säkularisierungsregularien verwehren uns den Zugang zu unserer Geschichte! Mir war es nie vergönnt, das Symbol zu sehen, das Sie hier gezeigt haben, das Signum von …«
»Von einer eurer Gottheiten«, sagt Jindash. »Ahanas.«
Mulaghesh entgeht nicht, dass zwei der Stadtväter von Bulikov, die hiesige Version gewählter Bürgervertreter, Jindash mit Blicken zu erdolchen versuchen.
Jaroslav nickt heftig. »Ja. Es wurde mir nicht gestattet! Und sie war unsere Göttin! Unsere!«
Die Menge schaut nach hinten zu den Bütteln, in der Erwartung, dass sie nach vorn stürmen und Jaroslav an Ort und Stelle niedermachen.
»Was er da faselt, entspricht nicht dem regulären juristischen Prozedere, oder?« Troonyis Frage ist rein rhetorischer Natur.
»Und ihr … ihr habt diesem Mann« – Jaroslavs Finger zeigt anklagend auf Dr. Efrem Pangyuis unbesetzt gebliebenen Stuhl – »erlaubt, in unser Land zu kommen und seine Nase in unsere Geschichte zu stecken, unsere Überlieferungen, die wir selbst nicht kennen. Die wir nicht kennen dürfen!«
Mulaghesh windet sich innerlich. Sie hätte wetten mögen, dass das Thema früher oder später aufs Tapet kommen würde.
Sie weiß, dass in der langen Geschichte des Kontinents die Hegemonie Saypurs eine brandneue Erscheinung ist, ein brutaler Einschnitt, der lange brauchen wird, um zu vernarben, falls er es je tut. Vor dem Großen Krieg war Saypur viele hundert Jahre eine Kolonie des Kontinents, gegründet und unter das Joch gezwungen, natürlich, vom Pantheon des Kontinents, und nur wenige in Bulikov haben das vergessen. »Die Herren dienen den Knechten«, kommentieren die Stadtväter die derzeitige Situation, selbstverständlich nur hinter vorgehaltener Hand, und deutlicher könnte man die Stimmung unter der Bevölkerung nicht beschreiben.
Deshalb war es ein Beweis für extreme Kurzsichtigkeit und politisches Ungeschick von Seiten des Außenministeriums, diese Spannungen zu ignorieren und dem geschätzten Dr. Pangyui die Genehmigung zu erteilen, hierher zu reisen, nach Bulikov, um die Geschichte des Kontinents zu studieren, was den Einheimischen per Gesetz verboten ist. Mulaghesh hatte die Ministerin gewarnt, dass es zu Unruhen kommen könnte, und wie prophezeit ist Dr. Pangyuis Entsendung als quasi Kulturbotschafter ein eklatanter Fehlschlag. Seit seiner Ankunft musste sie sich mit Demonstrationen, Drohungen und sogar einem Fall von Körperverletzung herumärgern, als jemand einen Stein nach Dr. Pangyui warf, aber versehentlich einen Polizeibeamten am Kinn traf.
»Dieser Mann«, Jaroslavs Finger zeigt weiterhin anklagend auf den leeren Stuhl, »ist eine Beleidigung für Bulikov und den gesamten Kontinent. In seiner Person manifestiert sich die absolute Verachtung des Siegers für den Besiegten!«
»Mach halblang«, sagt Troonyi. »Das ist ein bisschen übertrieben, junger Mann!«
»Er darf die Chroniken lesen, die Schriften, die sonst streng unter Verschluss gehalten werden! Er darf lesen, was unsere Väter und Großväter für ihre Nachfahren aufgezeichnet haben!«
»Mit offizieller Genehmigung«, wirft Jindash ein. »Das Außenministerium hat ihn dazu befugt. Er ist als Botschafter des guten Willens hier, seine Arbeit soll der Völkerverständigung und dem Kulturaustausch dienen. Außerdem steht das in keinerlei Zusammenhang mit Ihrem Pro…«
»Nur weil ihr den Krieg gewonnen habt, könnt ihr noch lange nicht mit uns machen, was ihr wollt«, wird er von Jaroslav überschrien. »Und nur weil wir ihn verloren haben, könnt ihr uns nicht alles wegnehmen, was unsere nationale Identität ausmacht!«
»Sag’s ihnen, Vasilij!«, tönt es aus dem Hintergrund.
Mulaghesh schlägt mit dem Hammer auf den Tisch und augenblicklich tritt Ruhe ein.
»Gehe ich recht in der Annahme, Mr. Jaroslav«, sagt sie müde, »dass Sie mit Ihrer Einlassung zu Ende sind?«
»Ich … ich erkenne die Rechtmäßigkeit dieses Gerichts nicht an!«, sagt er heiser.
»Zur Kenntnis genommen. Botschafter Troonyi – Ihr Urteil?«
»Oh, schuldig«, sagt Troonyi. »Zweifelsohne schuldig. Schuldig wie die Sünde.«
Die Blicke im Raum wandern von ihm zu Mulaghesh. Jaroslav schüttelt den Kopf und signalisiert ihr mit einer Bewegung der Lippen Nein.
Was gäbe ich jetzt für einen Zigarillo, denkt Mulaghesh.
Sie nimmt sich zusammen und waltet ihres Amtes. »Mr. Jaroslav, hätten Sie darauf verzichtet, sich zur Sache zu äußern, als man Sie befragt hat, wäre das Bußgeld erheblich niedriger ausgefallen. Leider, entgegen der Empfehlung dieses Hauses und auch gegen meinen persönlichen Rat, haben Sie darauf bestanden, vor Gericht zu gehen. Ich nehme an, Sie können begreifen, dass die Beweise, die der Vertreter der Anklage, Mr. Jindash, vorgelegt hat, äußerst stichhaltig sind. Wie Mr. Jindash sagte, wir verhandeln hier nicht über Zeitgeschichte, sondern nur über ihre Folgen. Daher bleibt mir zu meinem Bedauern keine andere Wahl als …«
Die Tür des Gerichtssaals wird aufgerissen. Zweiundsiebzig Köpfe fliegen herum wie auf Kommando.
Ein schmächtiger Saypuri steht im Türrahmen, er wirkt befangen und verstört. Mulaghesh erkennt ihn: Pitry Soundso, Botschaftsangestellter, einer von Troonyis Laufburschen.
Pitry schluckt und trabt mit sichtlich weichen Knien durch den Gang zwischen den Bänken hindurch zum Richtertisch.
»Ja?«, fragt Mulaghesh. »Gibt es einen triftigen Grund für diese störende Unterbrechung?«
Pitry streckt die Hand aus und reicht ihr ein Blatt Papier. Mulaghesh nimmt es, faltet es auseinander und liest:
Efrem Pangyui in seinem Büro in der Universität von Bulikov tot aufgefunden. Wahrscheinlich ermordet.
Mulaghesh blickt auf und merkt, dass sie der Mittelpunkt des Interesses sämtlicher Anwesenden ist.
Dieser verdammte Prozess, denkt sie, ist jetzt noch unwichtiger, als er vorher schon war.
Sie räuspert sich. »Mr. Jaroslav … Im Licht einer neuen Entwicklung sehe ich mich gezwungen, die Priorität Ihres Falles neu zu beurteilen.«
Jindash und Troonyi entfährt ein einstimmiges: »Was?«
»Würden Sie sagen, Mr. Jaroslav, dass Sie Ihre Lektion gelernt haben?«
Zwei Festländer drücken sich zur Tür herein. Sie huschen zu Bekannten in der Menge und flüstern ihnen etwas ins Ohr. Die Nachricht breitet sich im Saal aus wie ein Lauffeuer. »… ermordet?«, fragt jemand laut.
»Meine Lektion?« Jaroslavs Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.
»Ohne lange Umschweife – werden Sie in Zukunft wieder so dumm sein, Ihren Laden mit einem Symbol zu schmücken, das eindeutig religiösen Bezug hat, um mehr Kundschaft anzulocken?«
»Was soll das?«, zischt Jindash. Mulaghesh reicht ihm das Blatt, er überfliegt die wenigen Zeilen und wird blass. »Oh nein … bei allen Meeren …«
»… totgeschlagen!«, sagt jemand im Zuschauerraum.
Ganz Bulikov dürfte inzwischen Bescheid wissen, denkt Mulaghesh.
»Ich … nein«, antwortet Jaroslav. »Nein, wäre ich … wäre ich nicht …?«
Auch Troonyi hat jetzt die Nachricht gelesen. Er ringt nach Atem und starrt auf Dr. Pangyuis leeren Stuhl, als rechnete er damit, den Toten dort sitzen zu sehen.
»Gute Antwort«, lobt Mulaghesh. Sie schlägt mit dem Hammer auf den Tisch. »Dann, als Vorsitzende dieses Gerichts, erkläre ich das Urteil des geschätzten Botschafters Troonyi für nichtig und Ihren Fall für abgewiesen. Sie können gehen.«
»Wirklich? Ich kann gehen?« Jaroslav scheint es nicht glauben zu können.
»Ja. Und ich rate Ihnen, von diesem Privileg schleunigst Gebrauch zu machen.«
Im Zuschauerraum ist eine Art kollektiver Freudentaumel ausgebrochen. Eine Stimme jubelt: »Er ist tot! Er ist wirklich und wahrhaftig tot! Viktoria! Gloria Viktoria!«
Jindash sackt auf seinem Stuhl in sich zusammen, als hätte man ihm die Wirbelsäule herausgezogen.
»Was tun wir jetzt?«, fragt Troonyi.
Eine andere Stimme ruft: »Grauenhaft! Das ist grauenhaft! Wen wird man uns jetzt schicken?«
»Kann uns ganz egal sein, wen sie schicken!«, tönt es aus einer anderen Ecke.
»Kapiert ihr das nicht?«, ruft die erste Stimme wieder. »Sie werden neues Militär schicken und die Daumenschrauben noch fester anziehen. Sie werden uns jemand aufhalsen, der noch schlimmer ist!«
Mulaghesh legt den Hammer zur Seite und zündet sich dankbar ein Zigarillo an.
*
Wie können die das aushalten, ohne sich zu gruseln?, sinniert Pitry. Wie halten die Bulikover es aus, ständig diese Stadtmauer vor Augen zu haben, egal wie man sich dreht und wendet, ohne verrückt zu werden?
Pitry bemüht sich, den Gegenstand seines Unbehagens zu ignorieren: Er schaut auf seine Armbanduhr, die fünf Minuten nachgeht, fast sechs, kontrolliert seine Fingernägel, an denen es nichts zu bemängeln gibt, nur der am kleinen Finger hat unschöne Rillen, er sieht sogar zu dem Stationsvorsteher hin, der ihn seinerseits grimmig anstarrt. Endlich hält er es nicht mehr aus und riskiert einen Blick nach links, nach Osten, wo die Mauer wartet.
Es sind nicht die monströsen Dimensionen, die er verstörend findet, obgleich sie für sich genommen durchaus angsteinflößend sind, nein, wirklich unheimlich findet er, dass sie, je höher sein Blick daran hinaufwandert, umso weniger sichtbar wird. Statt verfugtem Mauerwerk erkennt er die Umrisse ferner Berge, Sterne, Baumwipfel, die sich im Wind hin und her wiegen: Schemen der nächtlichen Landschaft außerhalb, als wäre die Mauer nicht aus Stein, sondern aus milchigem Glas. Wo er die Mauerkrone zu sehen erwartet, begegnet ihm der Nachthimmel mit dem feisten, ausdruckslosen Antlitz des Mondes. Doch wenn er an der Mauer entlangschaut, mit den Augen der Biegung folgt, gewinnt sie hinter den Häusern und Schuppen in hundert Metern Entfernung wieder an Festigkeit und die Lichter der Stadt spiegeln sich in der glatten Oberfläche.
Aber wäre ich auf der anderen Seite, spinnt er den Gedanken weiter, oder ginge näher heran, würde ich nur weiße Steine sehen. Beruhigend der Gedanke, dass, wer immer die Mauer errichtet hat, zwar die Stadt schützen wollte, doch sollten sich ihre Bewohner weiterhin an dem Anblick von Sonnenauf- und -untergang erfreuen dürfen, aber für einen Saypuri, denkt Pitry, ist jedes Mirakel und sei es noch so diskret, eine zutiefst beunruhigende Anomalität, die sein festgefügtes Weltbild ins Wanken bringt.
Er schaut wieder auf die Uhr an seinem Handgelenk und vergisst nicht, die sechs Minuten, die sie nachgeht, in Betracht zu ziehen. Hat der Zug Verspätung? Haben Sonderzüge Verspätung? Unter Umständen folgen sie einem eigenen Fahrplan. Vielleicht hat man den Lokführer nicht von der Depesche in Kenntnis gesetzt, in der klar und deutlich stand »3 Uhr morgens« und er ahnt nicht, dass sehr wichtige Honoratioren diesem geheimen Treffen sehr große Bedeutung beimessen. Und natürlich ist in niemandes Überlegungen eingeflossen, dass die Person, die auf diesen Zug wartet, etwa hungrig sein könnte und frieren und dem miasmatischen Schatten der Mauer entrinnen möchte, wie auch dem unheimlichen, molkeblauen Blick des Stationsvorstehers.
Pitry seufzt. Wenn er jetzt stürbe und noch einmal sein ganzes Leben an seinem inneren Auge vorüberziehen sähe, wäre es, davon ist er überzeugt, ein sehr langweiliger Film. Was für ein Irrtum zu glauben, ein Posten in der saypurischen Botschaft wäre ein faszinierender, exotischer Job, der ihn in faszinierende und exotische Länder führen würde (und in die Arme faszinierender, exotischer Frauen). Die traurige Realität ist, bis dato bestand er zu neunundneunzig Prozent aus Warten. Als Assistent des stellvertretenden Protokollchefs der Botschaft hat Pitry gelernt, sich in protokollarisch korrekter Haltung die Beine in den Bauch zu stehen und auf neue, unspektakuläre Aufträge zu warten. Im Lauf langer, ereignisloser Stunden wurde er Meister in der Beobachtung des kleinen Zeigers auf seinem schleppenden Weg rund um das Zifferblatt. Der Sinn und Zweck eines Assistenten, hat er für sich herausgefunden, besteht darin, dass es jemanden gibt, dem man die vielen tödlichen kleinen Nichtigkeiten aufbürden kann, die der Sand im Getriebe des bürokratischen Alltags sind.
Wieder ein Blick auf die Uhr. Noch etwa zwanzig Minuten. Sein Atem dampft in der Kälte. Bei allen Meeren, was für ein besch… Job.
Vielleicht sollte er sich versetzen lassen. Tatsächlich gibt es hier zahlreiche Möglichkeiten für einen Saypuri: Der Kontinent ist in vier Bezirke aufgeteilt, jeder mit einem eigenen Bezirksgouverneur. Danach kommen die Stadtgouverneure, die jeweils für eine Metropolregion verantwortlich sind, und darunter rangieren die Botschaften, die … nun, ehrlich gesagt ist Pitry bis heute nicht ganz sicher, was genau die Funktion der Botschaften ist. Irgendwie hat es mit Kultur zu tun und der Pflicht, bei zahllosen Empfängen, Galas und Diners den Ehrengast zu geben.
Der Stationsvorsteher kommt aus seinem Büro und postiert sich am Bahnsteigrand. Er schaut über die Schulter zu Pitry, der nickt und lächelt. Der Mann mustert Pitrys Kopftuch und seinen kurzen schwarzen Bart, schnuppert zwei Mal ostentativ – ich rieche einen Zwiebelfresser zehn Meilen gegen den Wind –, wendet sich nach einem letzten, langen Blick ab und geht zurück in sein Büro, als wollte er sagen: Ich habe dich im Auge, du versuchst besser gar nicht erst, lange Finger zu machen. Als gäbe es in diesem verlassenen Bahnhof irgendetwas, das sich zu stehlen lohnte.
Sie hassen uns, denkt Pitry. Wie könnten sie nicht. In seiner kurzen Zeit in der Botschaft hat er sich mit dieser Tatsache arrangiert. Wir sagen ihnen, sie sollen ihre einstige Größevergessen, aber können sie das? Könnten wir es? Könnte es irgendjemand?
Doch Pitry hat die Intensität ihres Hasses unterschätzt. Er hatte keine Vorstellung davon, bis er herkam und mit eigenen Augen die leeren Stellen an den Hausmauern sah, die Lücken in der Auslage der Schaufenster, wo Skulpturen abgeschlagen wurden, Bilder entfernt. Er konnte beobachten, wie die Bürger Bulikovs sich zu bestimmten Tageszeiten verhielten, als wüssten sie, dass diese Stunde ehedem für eine religiöse Handlung reserviert war, die sie aber nun nicht mehr ausführen durften und folglich standen oder liefen sie sinnlos herum. Bei Spaziergängen durch die Stadt stieß er auf die Rondelle und Sackgassen, die offensichtlich früher einmal irgendetwas beherbergt hatten – ein Standbild oder eine kleine, von Weihrauchduft geschwängerte Kapelle. Jetzt aber waren sie zugepflastert oder bargen nichts Aufregenderes mehr als eine Straßenlaterne, einen tristen Fleck städtisches Grün oder eine einsame Bank.
In Saypur ist man in weiten Kreisen der Überzeugung, dass die Säkularisierungsregularien ein durchschlagender Erfolg gewesen sind und über den Zeitraum von fünfundsiebzig Jahren die gewünschte Wirkung erzielt haben, nämlich die Bevölkerung des Kontinents von ihrer gefährlichen Idolatrie zu kurieren und auf den Pfad der Vernunft zu führen. Tatsächlich sieht man in Bulikov niemanden mehr eine rituelle Handlung vollziehen, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, in der Realität jedoch sind die Regularien ein Schlag ins Wasser.
Die Stadt hat nicht vergessen. Ihr Gedächtnis reicht weit in die Vergangenheit, auch wenn die Vergangenheit heute durch Schweigen spricht.
Pitry fröstelt in der Kälte.
Er ist nicht sicher, ob er wirklich lieber im Büro wäre, wo nach dem Mord noch Betroffenheit und Chaos herrschen und die Nerven blank liegen. Die Fernschreiber speien Druckstreifen aus wie papierne Bandwürmer, dazu das dauernde Gebimmel und Gekurbel der Telefone. Sekretärinnen, die in Büros sprinten und brutal wie Neuntöter Memos auf Metalldorne spießen.
Irgendwann kam dann das Telegramm, das alles zum Schweigen brachte:
KULT-ATT. THIVANI ANKUNFT BULIKOV BAHNHOF MOROV 300 STOP VTS512
Der Code am Ende verriet, dass diese Nachricht nicht aus dem Büro des Stadtgouverneurs kam, sondern aus dem des Bezirksgouverneurs, das als einzige Stelle auf dem Kontinent eine Direktverbindung nach Saypur hat und die Sekretärin der Nachrichtenabteilung verkündete mit spürbarer Ehrfurcht, diese Depesche sei eine direkte Anweisung des Außenministeriums in der Heimat.
Sofort wurde lebhaft diskutiert, wen man zum Bahnhof schicken könne, um diesen Thivani unbekannterweise abzuholen, der zweifelsohne die Reaktion des Ministeriums auf die Nachricht von der Ermordung des Professors darstellte und den Auftrag hatte, rasche und furchtbare Vergeltung zu üben, denn war nicht Dr. Efrem Pangyui einer von Saypurs klügsten und meistgeliebten Söhnen gewesen? War seine diplomatische Mission nicht eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Unternehmungen der Geschichte? Ziemlich schnell war man sich einig, dass Pitry – jung, unbeschwerten Gemüts und praktischerweise zu dem Zeitpunkt nicht im Raum – der beste Mann für den Job wäre.
Allerdings wunderte man sich über die Abkürzung Kult-Att. für Kulturattaché. Warum schickt man einen von denen? Waren Kulturattachés nicht die unterste Kaste im diplomatischen Dienst? Meistens waren es Studenten frisch von der Universität, mit einem fast ungesunden Interesse an fremden Kulturen und der Geschichte anderer Völker, was großstädtische Saypuri mit einem Naserümpfen quittierten. Normalerweise dienten KAs als Zierrat bei Empfängen und Galas und taten sonst nicht viel. Warum also schickte man einen simplen KA mitten in eins der größten diplomatischen Debakel des vergangenen Jahrzehnts?
»Außer«, überlegte Pitry, noch in der Botschaft, »das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es könnte auch reiner Zufall sein.«
»Oho, ein Zusammenhang besteht durchaus, da kannst du Gift drauf nehmen«, antwortete Nidayni, stellvertretender Büroleiter der Kommunikationsabteilung. »Das Telegramm kam nur wenige Stunden, nachdem wir das Ministerium von dem Ableben des Professors in Kenntnis gesetzt hatten. Das ist ihre Antwort darauf.«
»Aber warum schicken sie ausgerechnet einen KA? Warum nicht gleich einen Klempner oder Harfenisten?«
»Außer«, Nidayni hob belehrend den Zeigfinger, »Mr. Thivani ist gar kein KA. Er könnte eine gänzlich andere Funktion haben.«
Pitry kratzte sich unter dem Kopftuch am Schädel. »Willst du damit sagen, dass das Telegramm gelogen war?«
Nidayin schüttelte den Kopf. »Ach, Pitry! Wie hast du es bloß in den diplomatischen Dienst geschafft!«
Nidayni, denkt der Pitry im zugigen Bahnhof. Wie ich dich hasse. Eines Tages werde ich mit deiner rattenscharfen Freundin tanzen und sie wird sich unsterblich in mich verlieben und du wirstuns überraschen, in flagranti, in deinem Bett und wir werden dein hochmütiges Herz brechen hören …
Doch Pitry wird klar, dass er begriffsstutzig gewesen ist. Nidayin hatte andeuten wollen, dass dieser Thivani vielleicht als KA auftrat, aber das war vielleicht nur Tarnung und dahinter verbarg sich ein ranghoher Geheimagent, der unter diesem harmlosen Inkognito in feindlichem Gebiet agierte, um Regungen von Widerstand gegen die saypurischen Besatzer im Keim zu ersticken. Pitry stellt sich einen vierschrötigen, bärtigen Hünen vor, mit gekreuzten Patronengurten vor der Brust und einem blitzenden Messer zwischen den Zähnen, dessen Klinge in vielen dunklen Gassen Blut geschmeckt hat … Je plastischer er diese Person vor sich sieht, desto stärker wird das mulmige Gefühl in seiner Magengrube. Vielleicht stürmt er aus dem Abteil wie ein Dschinnifrit, denkt er, aus seinen Augen lodern Flammen und sein Mund speit Gift und schwarze Galle.
Im Osten wird ein gedämpftes Dröhnen hörbar. Pitry richtet den Blick auf die Stadtmauer und die kleine Tunnelöffnung an ihrem Fuß. Von hier aus scheint sie nicht größer als ein Mauseloch, doch wer davorsteht, sieht, dass sie mindestens zehn Meter hoch ist. Das schwarze Halbrund füllt sich mit Licht. Ein Aufleuchten, ein gellender Pfiff und der Zug donnert ins Freie.
Eigentlich ist der Zug kein Zug, er besteht nur aus einer ramponierten, rußigen Lok und einem einzigen, kümmerlichen Personenwagen, der aussieht, als würde er im Kohlerevier eingesetzt, um die Kumpel von einem Bergwerk zum anderen zu verfrachten. Jedenfalls taugt er nicht zur Beförderung eines Diplomaten, und sei er auch nur Kulturattaché.
Der Zug schnauft an den Bahnsteigrand und hält. Pitry beeilt sich, vor der Tür Aufstellung zu nehmen, streckt die Brust heraus und faltet die Hände hinter dem Rücken. Sind seine Knöpfe vorschriftsmäßig geschlossen? Sitzt sein Kopftuch gerade? Hat er die Epauletten poliert? Er kann sich nicht erinnern. Nervös blinzelt er zu den Schultern, um zu sehen, ob die Halbmonde aus Metall etwa blinde Stellen haben, aber schon öffnet sich unter dem Kreischen rostiger Angeln die Tür und er sieht …
Rot. Nicht einfach Rot – Weinrot. Viel Weinrot, als hinge innen eine Portiere vor der Tür. Aber dann bewegt sich die Portiere und Pitry sieht in der Mitte einen senkrechten Streifen Weiß mit Knöpfen.
Es ist keine Portiere. Es ist die Brust eines Mannes in einem dunkelburgunderroten Leibrock. Des größten Mannes, den Pitry je gesehen hat – ein Riese.
Der Riese entwindet sich der Türöffnung und steigt aus. Seine Füße donnern auf die Holzstufen wie Mühlsteine. Pitry weicht geschwind zurück, um ihm Platz zu machen. Die langen Rockschöße des Riesen reichen bis zu den Stulpen seiner kolossalen schwarzen Stiefel. Er hat ein am Hals offenes Hemd an, ohne Schal, und einen nach Piratenart schräg aufgesetzten grauen Hut mit breiter Krempe. An der rechten Hand trägt er einen weichen grauen Handschuh, die linke ist unbedeckt, aber das Gelenk schmückt ein geflochtener Goldreif, ein seltsam feminin anmutendes Accessoire. Der ganze Mann ragt etwa zwei Meter hoch aus seinen Stiefeln, mit unglaublich ausladenden Schultern und breitem Kreuz, dabei ohne ein Gramm Fett am Körper: sein Gesicht ist hager, fast eingefallen. Ein Gesicht wie dieses hat Pitry im Leben nicht erwartet bei einem saypurischen Diplomaten, durchzogen von rosafarbenen Narben, Haar und Bart weißblond und die Augen – genauer gesagt das eine Auge, denn das andere ist nur eine schwarze, verschattete Höhle – ist so hell, dass die Farbe, wenn man überhaupt von Farbe sprechen kann, als weißlich-grau beschrieben werden muss.
Er ist ein Dreyling, ein Nordmann. Der Kulturattaché ist – nicht zu fassen – einer vom wilden Volk der Berge, ein Exot sowohl in Saypur als auch auf dem Kontinent.
Wenn das ihre Antwort ist, denkt Pitry, dann ist sie wahrlich schrecklich und grausam …
Der Riese mustert Pitry mit einem ausdruckslosen Fischaugenblick, als überlege er, ob diese kümmerliche Kreatur die Mühe wert sei, sie zu zertreten.
Pitry versucht einen Diener. »Seien Sie willkommen in der he-herrlichen Stadt Bulikov. Mein Name ist Pitry Suturashin. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise?«
Schweigen.
Pitry schielt aus seiner gebückten Haltung nach oben. Der Riese starrt auf ihn hinunter, eine leicht hochgezogene Augenbraue verleiht seiner Miene einen Anflug herablassender Belustigung.
Hinter dem Riesen ertönt ein diskretes Hüsteln. Ohne ein Wort der Begrüßung oder ein Adieu wendet der Riese sich ab und marschiert zum Büro des Stationsvorstehers.
Pitry kratzt sich am Kopf und schaute ihm nach. Wieder ein leises Ähem und er merkt, dass der Zug noch einen zweiten Fahrgast gebracht hat.
Eine zierliche Saypuri, dunkelhäutig und sogar noch kleiner als Pitry. Sie ist eher schlicht gekleidet – blauer Mantel und ein Kleid, dessen einzige Extravaganz der saypurische Schnitt ist, und sie betrachtet ihn durch enorm dicke Brillengläser. Auf ihrem Kopf sitzt ein blauer Hut mit schmaler Krempe und einer Papierorchidee im Hutband. Pitry findet ihre Augen merkwürdig. Der Blick des Riesen war leer und starr, aber die Augen dieser Frau sind das genaue Gegenteil: riesig hinter den dicken Brillengläsern, dabei weich und dunkel, wie tiefe Brunnen, in denen viele Fische schwimmen.
Die Frau lächelt. Das Lächeln ist weder freundlich noch unfreundlich, es gleicht einem silbernen Serviertablett: für einen Anlass hervorgeholt, dann blank poliert und weggestellt fürs nächste Mal. »Vielen Dank, dass Sie mitten in der Nacht gekommen sind, um uns abzuholen«, sagt sie.
Pitry schaut sie an, dann sucht sein Blick den Riesen, der sich in das Büro des Vorstehers zwängt, zum Schrecken desselben. »K-Kulturattaché Thivani?«
Sie nickt und tritt auf den Perron.
Eine Frau? Thivani ist eine Frau? Warum hat man …?
Feuer und Schwefel auf die Kommunikationsabteilung für ihr Geschwätz und ihre Lügen!
»Ich nehme an«, sagt sie, »Botschafter Troonyi ist von den Mordermittlungen in Anspruch genommen. Andernfalls wäre er persönlich erschienen?«
»Äh …« Pitry würde sich lieber die Zunge abbeißen als zugeben, dass er über die Pläne von Botschafter Troonyi ungefähr genauso gut Bescheid weiß wie über die Bahnen der Sterne am Firmament.
Sie betrachtet ihn unverwandt durch ihre Brillengläser. Das Schweigen schwillt an und schlägt über Pitry zusammen wie die Flut. Er sucht verzweifelt nach etwas, das er sagen könnte, irgendetwas. »Wir sind erfreut, Sie in Bulikov begrüßen zu dürfen.« Nein, nein, total falsch. Trotzdem fährt er fort: »Ich hoffe, Sie hatten eine … eine angenehme Reise.« Noch falscher! Blamage!
Sie mustert ihn noch einen Moment länger. »Pitry, heißen Sie, haben Sie gesagt?«
»Ja.« Hinter ihnen ein ärgerlicher Ausruf. Pitry wendet den Kopf, aber Thivani nicht, sie studiert ihn, als hätte sie ein seltenes Kerbtier vor sich. Pitry sieht, dass der Riese dem Bahnhofsvorsteher etwas wegreißen will – eine Art Klemmbrett – und der Vorsteher scheint damit ganz und gar nicht einverstanden zu sein. Der Riese bückt sich, zieht den grauen Handschuh aus, biegt die Finger auf und zeigt dem Mann … etwas. Des Bahnhofsvorstehers eben noch hochrotes Gesicht ist plötzlich kreidebleich. Der Riese reißt ein Blatt von dem Klemmbrett, gibt ihm das Brett zurück und verlässt das Büro.
»Wer ist …«
»Mein Privatsekretär«, sagt Thivani. »Sigrud.«
Der Riese fördert ein Streichholz zutage, reißt es am Daumennagel an und setzt das Papier in Brand.
»Privatsekretär?«, fragt Pitry.
Die Flammen lecken an den Fingern des Riesen. Falls er Schmerzen spürt, ist es ihm nicht anzumerken. Als von dem Blatt fast nichts mehr übrig ist, bläst er darauf – puff – und glühende Ascheteilchen tanzen über den Bahnsteig. Er streift den grauen Handschuh wieder über und lässt den Blick des kalten Auges durch den Bahnhof schweifen.
»In der Tat. Nun, wenn es Ihnen keine Umstände macht, würde ich gern auf kürzestem Weg zur Botschaft fahren. Hat man irgendwelche offiziellen Stellen über meine Ankunft unterrichtet?«
»Äh … Hm …«
»Verstehe. Sind wir im Besitz der Leiche des Professors?«
Hinter Pitrys Stirn jagen sich die Gedanken. Er fragt sich, seines Wissens zum ersten Mal, was eigentlich mit den sterblichen Überresten passiert, wenn man gestorben ist. Plötzlich ist es ihm ein größeres Rätsel als der Verbleib der unsterblichen Seele.
»Verstehe«, sagt sie wieder. »Sind Sie mit dem Wagen hier?«
Pitry nickt.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, führen Sie mich hin.«
Er nickt wieder, perplex, und geht vor ihr her über den Bahnhofsvorplatz zu dem in einer Seitenstraße geparkten Auto. Er kann nicht anders, er muss immer wieder über die Schulter zu ihr zurückschauen.
Das haben sie ihnen geschickt, um den Mord an Dr. Efrem Pangyui zu untersuchen? Dieses dünne, unscheinbare Persönchen mit der zu hohen Stimme? Was hofft sie hier ausrichten zu können, in diesem unendlich feindseligen, unendlich misstrauischen Land? Wird sie auch nur die Nacht überstehen?
Ungeachtet all unserer Nachforschungen und der Funde zahlreicher Artefakte, wissen wir bis heute so gut wie nichts über das Aussehen der Gottheiten des Kontinents. Sämtliche Skulpturen, Plastiken, Gemälde, Mosaiken, Basreliefs und Schnitzereien stellen die Gottheiten entweder symbolhaft dar oder so stark abstrahiert, dass keine Rückschlüsse auf ihre Gestalt möglich sind. Zum Beispiel ist Kolkan einmal als glatter Stein unter einem Baum dargestellt, dann als schwarzer Berg vor greller Sonne, dann wieder sitzt er als ein aus Lehm geformter Mann auf einem hohen Gipfel. Und diese unterschiedlichen Bildnisse sind ein erheblicher Fortschritt gegenüber anderen, die ihr Objekt als unbestimmtes Muster zeigen oder in der Luft schwebende Farbe, meist nur ein einzelner Pinselstrich. Nehmen wir die historischen Kunstwerke des Kontinents beim Wort, pflegt sich die Gottheit Jukov offenbar als Starenschwarm zu manifestieren.
Wie sehr oft bei historischen und archäologischen Studien ist es schwierig, aus den Teilen, die man findet, auf das Ganze zu schließen. Man fragt sich, ob die dargestellten Wesen absichtlich diese Erscheinungsform gewählt haben oder ob sie der Phantasie des Künstlers entsprungen ist.
Möglicherweise hat kein Mensch auf dem Kontinent je gewusst, was ihm erschienen ist. Und nachdem die Gottheiten nun fort sind, werden auch wir es nach aller Wahrscheinlichkeit nie erfahren.
Die Zeit macht alle Menschen und alle Dinge stumm. Und Götter bilden, wie es scheint, keine Ausnahme.
»ESSAY ÜBER DIE KUNST DES KONTINENTS« DR. EFREM PANGYUI
Ashara, meistens nur Shara genannt, schaut auf die verfallenden Arkaden, die schiefen, klobigen Gebäude, die bröckelnden Türme und die verwinkelten Straßen. Sie bemerkt die verwitterten Ornamente an den Hausfassaden, das Flickenmuster der Schindeln auf den Dächern, die rußblinden Lünetten und die trüben, von Sprüngen durchzogenen Fensterscheiben. Sie sieht die Menschen – klein gewachsen, zerlumpt, unterernährt –, die durch Portale und Portikos schlurfen, Bettler in einer Stadt, die ihr eigenes Gespenst ist. Alles ist, wie sie es erwartet hat, aber der Anblick der traurigen Ruinen beflügelt ihre Phantasie. Sie versucht sich auszumalen, wie sie ausgesehen haben könnten, vor siebzig, achtzig, neunzig Jahren.
Bulikov. Stadt der Mauern. Allerheiligster Göttersitz. Thron der Welt. Stadt der Stufen.
Aus letzterem Beinamen war sie nie klug geworden. Mauern und Throne und Göttersitze – damit kann man angeben, aber Stufen? Wieso Stufen?
Aber nun sieht sie es. Die Treppen sind da, führen nach überall, nach nirgendwo, wachsen unvermittelt aus Bordsteinen empor und an den Hügelflanken hinauf, lange Reihen ungleicher Stufen träufeln steinernen Rinnsalen gleich den Hang herab, materialisieren sich unversehens wie Kaskaden in Stromschnellen und nur wenige Meter vor dem überrumpelten Betrachter tut sich ein weites Panorama auf …
Der Beiname muss neueren Datums sein, erst nach dem Krieg entstanden. Als alles … zerbrach.
So also sieht der Wimpernschlag aus, denkt sie. Vielmehr, das hat er angerichtet.
Bulikov. Die Stadt der Götter.
Sie starrt aus dem Autofenster. Einst eine bedeutende Metropole, heute ein einziges Jammertal. Trotzdem halten die Einwohner ihr die Treue und rein zahlenmäßig ist sie immer noch die dritt- oder viertgrößte Stadt der Welt. Warum bleiben sie hier? Was hält die Menschen in diesem Bulikov, verkrüppelt, viviseziert, voller Schatten und kalt?
»Tun Ihnen die Augen weh?«, fragt Pitry.
»Pardon?«
»Ob Ihnen die Augen wehtun. Bei mir war es so, in der ersten Zeit. An manchen Stellen in der Stadt, wenn man hinschaut, sind die Dinge nicht so, wie sie sein sollten. Mir ist oft schwindelig geworden. Früher war das Phänomen häufiger, hat man mir erzählt, jetzt kommt es immer seltener vor.«
»Wie würden Sie es beschreiben, Pitry?«, fragt Shara, obgleich sie die Antwort kennt, sie hat seit Jahren von dieser Erscheinung gelesen und gehört.
»Wie … ich weiß nicht. Als wäre alles hinter Glas.«
»Hinter Glas?«
»Nun ja, hinter einer Fensterscheibe. Aber das Fenster blickt auf einen Ort, den es nicht mehr gibt. Schwer zu erklären. Wenn Sie es selbst erleben, wissen Sie’s.«
Die Historikerin in ihr kämpft mit der Ermittlerin. Beachte die Torbögen, die Straßennamen, die Wellen und Einbuchtungen in der Stadtmauer!, mahnt die eine. Schau dir die Leute an, wie sie sich bewegen, wie sie ständig über die Schulter schauen, sagt die andere. Nur wenige Passanten sind zu sehen, schließlich ist es spät in der Nacht oder früh am Morgen, je nachdem. Die Häuser kommen ihr alle sehr klein vor. Als das Auto über eine Hügelkuppe fährt, schaut sie nach vorn und sieht eine große Fläche einstöckiger Gebäude mit flachem Dach, die sich bis zur gegenüberliegenden Seite der Stadtmauer erstreckt. Eine derartige Einförmigkeit ist sie nicht gewohnt.
Sie hatten Hochhäuser, erinnert sie sich, vor dem Krieg. Aber die befremdliche Einförmigkeit der Skyline, genauer gesagt das Fehlen einer solchen, macht sie nachdenklich. Kann so viel auf einen Schlag verschwunden sein, von einer Sekunde zur anderen?
»Sie wissen es vermutlich«, sagt Pitry, »aber es ist von Vorteil, in der Umgebung der Botschaft ein Fahrzeug zur Verfügung zu haben. Wir liegen nicht unbedingt in einem respektablen Stadtviertel. Als die Botschaft dort gebaut wurde, heißt es, sind viele der besseren Leute weggezogen. Man wollte nicht in der Nähe der Zwiebelfresser wohnen.«
»Ach ja«, sagt Shara. »Ich hatte vergessen, dass man uns hier so nennt.« Zwiebelfresser, erinnert sie sich, wegen der überreichlichen Verwendung dieses Gemüses in Gerichten der saypurischen Küche. Ein Gerücht und unzutreffend, weil jeder vernünftige Saypuri Knoblauch bevorzugt.
Sie wirft einen Blick auf Sigrud. Er schaut stur geradeaus – scheinbar. Man kann nie genau sagen, was Sigrud gerade denkt oder beobachtet. Er sitzt so still und wirkt so unbeteiligt, dass man glauben könnte, er wäre ausgestopft. Wie auch immer, allem Anschein nach vermag die Stadt ihn weder zu beeindrucken noch zu faszinieren, sie ist einfach da, wirkt nicht bedrohlich, erfordert also keine Aktion von seiner Seite und lässt ihn folglich kalt. Shara bemüht sich, ihre Gedanken für die bevorstehenden und mit ziemlicher Sicherheit schwierigen Stunden zu sammeln. Bemüht sich, den einen Gedanken nicht zu denken, der seit gestern an ihr nagt, seit sie den aus dem Ticker kommenden Druckstreifen durch die Hände zog und die Todesnachricht las.
Ach, armer Efrem. Dass du ein solches Ende nehmen musstest!
*
Botschafter Troonyis Amtszimmer ist die perfekte Nachbildung eines ebensolchen in Saypur, wenn auch etwas überladen wirkend mit den dunklen Holzjalousien, dem roten Blumenteppich, den blauen Wänden, den Kupferlampen mit verziertem Zylinder über dem Schreibtisch. Ein Elefantenohrfarn, der nur in Saypur vorkommt, wächst aus einer Wand, die zerbrechlichen, welligen Blätter ergießen sich in einer grüngrauen Kaskade aus ihrem moosigen Bett. Darunter siedet Wasser in einem Töpfchen über einer winzigen Kerze, der aufsteigende Dampf spendet dem Farn die Feuchtigkeit, die er zum Gedeihen braucht.
Nichts in dem Zimmer, aber auch gar nichts, stellt Shara fest, zeugt von der Verschmelzung zweier Kulturen, von Toleranz, Austausch, postregionalistischer Einheit, die erreicht zu haben in sämtlichen ministerialen Gremien in der Heimat behauptet wird.
Die Einrichtung ist aber noch gar nichts gegen den Gipfel der Geschmack- und Taktlosigkeit, der in Form eines Monumentalgemäldes hinter dem Schreibtisch an der Wand hängt.
Shara starrt das Bild an, erzürnt und mit morbider Faszination. Wie konnte er etwas derartig Dummes tun?
Troonyi betritt im Sturmschritt sein Büro, umwittert von einem theatralischen Ernst, als wäre er selbst gestorben, nicht Efrem. »Frau Kulturattachée Thivani«, sagt er. Er setzt den linken Hacken nach vorn, zieht die rechte Schulter hoch und vollführt einen Bückling wie aus dem Lehrbuch. »Wir freuen uns, Sie hier begrüßen zu dürfen, mag auch der Anlass ein betrüblicher sein.«
Shara überlegt sofort, welcher Privatschule in Saypur er entsprungen sein könnte. Natürlich hat sie, bevor sie herkam, seine Akte gelesen und fand bestätigt, was sie schon immer vermutete, dass die Spreu angesehener Familien allzu oft auf Druckposten in Saypurs Botschaften weltweit abgeschoben wird. Und er hält mich für seinesgleichen, deshalb das Getue. »Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen«, erwidert sie artig.
»Wir fühlen uns geehrt durch Ihre …« Troonyi richtet sich auf und entdeckt Sigrud, der sich auf einem Sessel in der Ecke des Zimmers lümmelt und seine Pfeife stopft. »Äh. Wer ist das da?«
»Das ist Sigrud«, antwortete Shara. »Mein Privatsekretär.«
»Muss er anwesend sein?«
»Sigrud steht mir in allen Belangen zur Seite, auch solchen vertraulicher Natur.«
Troonyi mustert ihn prüfend. »Ist er taub oder stumm?«
Sigruds eines Auge ruckt kurz in seine Richtung, bevor er sich wieder Tabaksbeutel und Pfeife widmet.
»Weder noch.«
»Nun ja.« Troonyi tupft mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, atmet tief durch und nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz. »Ein schöner Beweis für die Wertschätzung, deren der teure Verstorbene sich erfreute und noch erfreut, dass Ministerin Komayd so schnell jemanden schickt, der sich seiner sterblichen Überreste annimmt. Sind Sie die ganze Nacht hindurch gefahren?«
Shara nickt.
»Liebe Güte. Wie furchtbar. Tee!«, brüllt er aus heiterem Himmel. »Tee!« Er greift nach einer Glocke auf seinem Schreibtisch und läutet wie besessen, als nicht sofort jemand erscheint, haut er mehrmals damit auf die Schreibtischplatte. Ein Mädchen, das nicht älter als fünfzehn Jahre sein kann, manövriert ein wahres Schlachtschiff von Teetablett durch die Tür ins Zimmer. »Wieso dauert das so lange?«, blafft er. »Ich habe einen Gast.« Das Mädchen schlägt die Augen nieder und schenkt ein. Troonyi wendet sich wieder an Shara, als wären sie allein. »Wenn ich recht verstehe, waren Sie sozusagen nebenan, in Ahanashtan? Eine grässliche Stadt, finde ich. Die Möwen da sind ein heimtückisches Diebsgesindel und die Menschen haben von ihnen gelernt.« Mit zwei Fingern winkt er das Mädchen hinaus, das mit einer tiefen Verneigung den Raum verlässt. »Trotz allem obliegt es uns, sie zu zivilisieren – die Menschen, meine ich, nicht die Vögel.« Er lacht. »Darf ich Ihnen eine Tasse anbieten? Es ist unser bester Sirlang …«
Shara lächelt fein und schüttelt den Kopf. Eigentlich ist sie geradezu koffeinsüchtig und lechzt förmlich nach einer Tasse Tee, aber sie will verdammt sein, wenn sie sich von Botschafter Troonyi bewirten lässt.
»Wie Sie wollen. Aber Bulikov, wie Sie bestimmt gehört haben, ist etwas ganz anderes. In dieser Stadt gibt es Strukturen, die unverrückbar sind, immun gegen unseren Einfluss, und damit meine ich nicht nur die Mauern. Sie werden es kaum glauben, aber vor nicht einmal drei Monaten musste die Stadtgouverneurin die Einwohner daran hindern, eine Frau dafür aufzuhängen, dass sie – ich spreche nicht gern über so etwas in Gegenwart einer jungen Dame, aber – dass sie sich mit einem anderen Mann eingelassen hat, wohlgemerkt, nach dem Tod ihres Ehegatten. Drei Jahre nach dem Tod ihres Ehegatten! Die Stadtväter stellten sich mir gegenüber taub, natürlich, aber Mulaghesh …« Er lässt den Satz unvollendet. »Wie merkwürdig, dass die Stadt, die durch die Vergangenheit am meisten verloren hat, gleichzeitig die ist, die sich am entschiedensten gegen Reformen sträubt, finden Sie nicht?«
Shara neigt zustimmend den Kopf. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Sie gibt sich große Mühe, nicht über seine Schulter hinweg auf das Gemälde zu schauen. »Darf ich davon ausgehen, dass Sie im Besitz der Leiche von Dr. Efrem Pangyui sind?«
»Wie bitte? Oh. Ja«, antwortete er mit vollem Mund und versprüht Kekskrümel. »Entschuldigung – ja, ja, wir haben den Toten hier. Schreckliche Sache. Tragisch.«
»Dürfte ich ihn mir ansehen, bevor er überführt wird?«
»Sie möchten den Leichnam sehen?« Er ist nicht … Es tut mir sehr leid, aber der Mann ist in keinem vorzeigbaren Zustand.«
»Ich weiß, wie er gestorben ist.«
»Wirklich? Sein Tod war ein gewaltsamer. Außerordentlich gewaltsam. Einfach grauenhaft, Kindchen.«
Kindchen, denkt Shara. »Auch darüber hat man mich informiert. Dennoch muss ich darauf bestehen, ihn sehen zu dürfen.«
»Sie sind ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
»Nun denn … Hm.« Er setzt ein Lächeln auf, das wohlwollend sein soll, aber schmierig wirkt. »Lassen Sie sich von mir einen guten Rat geben, Liebchen. Ich habe einmal genauso angefangen wie Sie, patriotisch, immer auf Zack, überall dabei. Sie wissen schon, die Ochsentour, alles, um mir einen Namen zu machen. Aber glauben Sie mir, Sie können Nachrichten schicken, bis Sie umfallen, am anderen Ende herrscht Schweigen. Für das Ministerium sind Kulturattachés nur Randerscheinungen, unwichtig. Es ist eine Art Aufnahmeritual, nicht schön, aber da muss man durch, bis sich irgendwann eine Gelegenheit bietet und dann heißt es zugreifen. Aber in diesem Fall rate ich zu vornehmer Zurückhaltung. Nehmen Sie’s locker. Ich bin überzeugt, schon bald wird man jemanden von weiter oben schicken, der die Überführung organisiert und alles andere.«
Shara erträgt die herablassende Ansprache mit Fassung. Sie ist seit Jahren daran gewöhnt, nicht für voll genommen zu werden und aus der anfänglichen Irritation ist längst sarkastische Belustigung geworden. Während sie noch überlegt, was sie antworten soll, wandert ihr Blick wie magisch angezogen wieder zu dem Gemälde an der Wand.
Troonyi bemerkt ihren Blick. »Wie ich sehe, hat mein Prachtstück seine Wirkung auf Sie nicht verfehlt.« Er zeigt auf das Bild. »Die Nacht des Roten Sandes, von Rishna. Eines der großen patriotischen Werke. Kein Original, muss ich zu meinem Bedauern gestehen, aber eine sehr alte, sehr gute Kopie.«
Auch wenn Shara es schon oft gesehen hat – das Bild hängt in vielen Schulen und Rathäusern in Saypur –, geht sie auch jetzt wieder innerlich auf Distanz. Dargestellt ist eine Schlacht oder der Augenblick vor dem Beginn einer Schlacht, im fahlen Licht des sternenklaren Nachthimmels über einer Sandwüste. Auf den gewellten Dünen im Vordergrund hat eine kleine, armselige Streitmacht von Saypuris Aufstellung genommen; alle schauen gebannt auf die Ebene, wo die gegnerische Armee aus gepanzerten Schwertkämpfern aufmarschiert ist. Ihre Rüstungen sind aus dickem, blankem Stahl und bedecken jeden Millimeter ihres Körpers, ihre Helme zeigen die Fratzen zähnefletschender Dämonen, ihre Schwerter sind gigantische Bidhänder, beinahe mannsgroß, und sie brennen mit eisiger Flamme. Die Szene lässt für den Betrachter keinen Zweifel daran, dass diese Männer aus Stahl die wenigen, schlecht bewaffneten Saypuris zermalmen werden, aber die Kämpen in ihrer blitzenden Rüstung stehen da wie erstarrt. Sie haben die behelmten Köpfe zu einem einzelnen Saypuri erhoben, der auf dem Kamm einer hohen Düne im Rücken seiner Truppen steht, eine heroische Gestalt, umweht von einem langen Mantel – man erkennt gleich, es ist der General seiner tapferen Schar. Er hält eine ungewöhnliche Waffe in den Händen, ein langes, dünnes Feuerrohr, fragil wie der Leib einer Libelle, das ein Flammenbündel über die Köpfe der Saypuri schießt, über die Köpfe des feindlichen Heeres und es trifft …
Etwas. Eine vage menschenähnliche Gestalt aus Schatten oder in Schatten gehüllt – es ist schwer zu erkennen, vielleicht war sich der Maler selbst nicht ganz sicher, was das Aussehen der Erscheinung anging.
Sharas Blick hängt an dem Saypuri-General. Sie weiß, dass das Gemälde historisch nicht korrekt ist: Der Kaj stand in der Nacht des Roten Sandes vor seiner Armee, und bediente auch die Waffe nicht eigenhändig, er befand sich überhaupt nicht in ihrer Nähe. Einige Historiker, entsinnt sie sich, sehen darin einen Beweis für seinen Mut als Anführer, andere verfechten die Ansicht, der Kaj, der seine experimentellen Waffen niemals unter realen Bedingungen getestet hatte und nicht wissen konnte, ob sie wie gewünscht funktionieren oder explodieren würden, habe es vorgezogen, in sicherer Entfernung abzuwarten, was passiert. Im Grunde war es unerheblich, wo er nun gestanden hatte, dieser fatale Feuerstoß war sozusagen der Startschuss für alles Folgende.
Weg mit den Samthandschuhen.
»Finden die Gespräche mit den Stadtvätern von Bulikov in diesem Zimmer statt, Exzellenz?«, erkundigt sich Shara.
»Hm? Ja. Ja, natürlich.«
»Und haben sie sich noch nie … zu diesem Bild geäußert?«
»Soweit ich mich erinnere, nicht. Manchmal scheint es, dass der Anblick ihnen die Sprache verschlägt. Es ist aber auch ein beeindruckendes Werk, wenn ich das so sagen darf.«
Sie lächelt. »Exzellenz, haben Sie gewusst, was der Auftrag des Professors in Bulikov war?«
»Selbstredend. Seine Anwesenheit hier hat eine gehörige Erhitzung der Gemüter bewirkt. In ihren Museen herumkramen, in ihren alten Schriften stöbern … Eine Flut von Beschwerdebriefen hat die Botschaft überschwemmt. Ich habe einige hier.« Er raschelt mit Papieren in einer Schublade.
»Und Sie wissen auch, dass Außenministerin Vinya Komayd persönlich die Mission genehmigt hat?«
»Ja …?«
»Dann muss Ihnen auch bewusst sein, dass die Ermittlungen im Zusammenhang mit seiner Ermordung weder in den Aufgabenbereich der Botschaft fallen noch in den der Stadtgouverneurin oder auch des Bezirksgouverneurs, sondern allein Sache des Außenministeriums sind?«
Troonyis vogelkotfarbene Augen werden schmal, während er in Gedanken die Stufenleiter der Hierarchie Revue passieren lässt. »Wahrhaftig … da könnten Sie recht haben.«
»Schön. Was Sie hingegen vermutlich nicht wissen, ist, dass man mir den Titel des Kulturattachés nur der Form halber verliehen hat.«
Sein Schnurrbart zuckt. Er schaut zu Sigrud, wie um von dort Bestätigung zu heischen, aber Sigrud sitzt nur still in seinem Sessel und pafft. »Der Form halber?«
»Ja. Da sich mir der Eindruck aufdrängt, dass Sie meine Anwesenheit in Bulikov ebenfalls für eine reine Formalität halten, darf ich Ihnen versichern, dass ich aus anderen Gründen hier bin.« Sie greift in ihre Tasche, nimmt eine kleine Plakette aus Leder heraus und schiebt sie über die Schreibtischplatte zu ihm hin. Er sieht das kleine, nüchterne, klare Wappen Saypurs in der Mitte und darunter die Worte: MINISTERIUM DES ÄUSSEREN.
Troonyi braucht einen Moment, um die neuen Informationen in seinem Kopf zu sortieren. Sein Kommentar beschränkt sich vorerst auf ein: »Wie … Was … Hm.«
»Richtig«, sagt Shara. »Sie sind nicht länger der Doyen dieser Botschaft.« Sie beugt sich vor, greift nach der Glocke auf seinem Schreibtisch und läutet. Das Mädchen, das vorhin den Tee gebracht hat, kommt herein und schaut verdutzt, als sie von Shara angesprochen wird. »Bitte geben Sie in der Hausmeisterei Bescheid, man soll Leute schicken, die das Bild abhängen.«
Jetzt braust Troonyi auf. »Was?! Was haben Sie …?«
»Was ich vorhabe? Dieses Büro soll möglichst bald so aussehen, als würde ein verantwortungsbewusster Repräsentant Saypurs hier arbeiten. Und den Anfang mache ich mit der Entfernung dieses Gemäldes, das den Anfang vom Ende der großen Zeit des Kontinents verherrlicht.«
»Allerdings! Es war ein glorreicher Moment für unsere Nation!«
»Sie sagen es, für unsere Nation. Nicht für die hiesige. Wenn ich raten müsste, Mr. Troonyi, warum die Stadtväter Bulikovs Ihnen die Zusammenarbeit verweigern und den Respekt und weshalb Ihre Karriere seit fünf Jahren stagniert, würde ich den Grund darin sehen, dass Sie nichts dabei finden, ein Bild an die Wand Ihres Büros zu hängen, das für die Einheimischen ein Schlag ins Gesicht sein muss und damit alle Bemühungen Saypurs konterkarieren, die bestehenden Feindseligkeiten abzubauen und zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit zu gelangen. Sigrud!« Der Riese erhebt sich. »Da meine höfliche Aufforderung an die Handwerker des Hauses offenbar ungehört verhallt ist, nimm du bitte das Bild ab und brich es in Stücke. Mr. Troonyi, bitte setzen Sie sich wieder. Wir müssen uns über die Bedingungen Ihrer frühzeitigen Pensionierung unterhalten.«
*
Später, man hat Troonyi hinausgeführt und weggebracht, setzt Shara sich hinter den verwaisten Schreibtisch, schenkt sich eine randvolle Tasse Tee ein und trinkt mit Genuss. Sie ist erleichtert, das Bild nicht mehr sehen zu müssen, auch wenn man sie deshalb eines Mangels an Vaterlandsliebe zeihen könnte. Je länger sie im Dienst des Außenministeriums steht, desto unerträglicher werden ihr solche Beispiele von Hurrapatriotismus. Sie schaut Sigrud an, der die Füße auf den Schreibtisch gelegt hat und einen Fetzen der zerrissenen Leinwand müßig zwischen Daumen und Zeigefinger schwenkt. »Nun?«, fragt sie. »Zu viel zu schnell?«
Er erwidert ihren Blick: Das fragst du mich?
»Bingo! Freut mich zu hören. Ich muss zugeben, es war mir ein klammheimliches Vergnügen.«
Sigrud räuspert sich und fragt mit einer Stimme wie Rauch und Reibeisen und mit einem Akzent dicker als Schiffspech: »Wer ist Shara Thivani?«
»Ein ziemlich unwichtiger weiblicher Kulturattaché in der Botschaft in Jukoshtan und vor ziemlich genau sechs Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Sie war nur in einer Sache unschlagbar: im Erzeugen von Schriftverkehr. Jeder hat Berichte von ihr und ihren Aktivitäten. Als der Zeitpunkt da war, ihre Legitimation zu löschen und sie aus den Personalakten zu streichen, beschloss ich, sie im System zu halten und eignete mir ihre Identität an.«
»Weil ihr denselben Vornamen habt?«
»Auch. Aber wir sind uns in mancherlei Weise ähnlich. Sehe ich nicht genau aus wie eine langweilige, graue Büromaus?«
Sigrud grinst. »Kein Mensch wird dir den Kulturattaché abkaufen, nicht mehr, nachdem du Troonyi gefeuert hast.«
»Nein und das will ich auch gar nicht. Ich will, dass sie verunsichert sind. Sie sollen sich fragen, wer und was ich wirklich bin.« Sie tritt ans Fenster und schaut hinaus in den von Rauchschwaden durchzogenen Nachthimmel. »Wenn du in ein Hornissennest stichst, musst du damit rechnen, dass alle Hornissen herauskommen und sich auf dich stürzen, aber du hast zumindest Gelegenheit, sie dir anzuschauen.«
»Wenn du sie wirklich aufscheuchen wolltest«, sagt er, »brauchtest du ihnen einfach nur deinen wirklichen Namen zu verraten.«
»Ich wollte sie aufscheuchen, aber ich will nicht Selbstmord begehen.«