Die Sterne von St. Pauli - Kerstin Sgonina - E-Book
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Die Sterne von St. Pauli E-Book

Kerstin Sgonina

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Beschreibung

Freiheit, wie sie nur die Musik verheißt.

Hamburg, 1961: Abby will Fotografin werden und ihr Leben leben, so intensiv und frei wie möglich. Dann sieht sie im Kaiserkeller eine unbekannte Band aus Liverpool, die sie einfach fotografieren muss – die Beatles. Ihre Bilder könnten ihr die Tür zum heiß ersehnten Fotografiestudium öffnen, vor allem aber verliebt sie sich in den Bassisten Stuart Sutcliffe. Doch kurz darauf muss die Band nach England zurück.

Ostberlin: Sofia lebt für die Musik, die sie nicht hören darf, und träumt von einem Leben in Freiheit. Als plötzlich der Mauerbau beginnt, weiß sie, dass sie sich entscheiden muss: Entweder schwört sie allem ab, was sie liebt – oder sie wagt die Flucht ins Ungewisse ... 

Zwei intensive, wilde Frauenleben im Deutschland der 1960er Jahre.

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Seitenzahl: 415

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Über das Buch

Hamburg, 1961: Im wilden Nachtleben der Reeperbahn lernt Abby eine unbekannte Band aus Liverpool kennen. Und nicht nur die Musik – auch der geheimnisvolle Bassist der Beatles, Stuart Stucliffe, lässt ihr Herz schneller schlagen. Abby lässt sich vom abenteuerlichen Leben der Rockmusiker mitreißen, macht Fotos von ihnen und hat doch nur Augen für Stu. Bis dessen Aufenthaltsgenehmigung abläuft und ihre Liebe auf die Probe gestellt wird. 

Ostberlin: Als Sofia nach dem Besuch eines illegalen Rockkonzerts verhaftet wird, bringt man sie in ein Krankenhaus, wo Frauen festgehalten werden, die sich angeblich mit Geschlechtskrankheiten infiziert haben. Täglich ist Sofia erniedrigenden Machtspielen ausgesetzt. Einzig ein junger Arzt steht ihr heimlich zur Seite. Später findet Sofia sich in einem Berlin im Aufruhr um den Mauerbau wieder. Eine waghalsige Flucht führt sie nach Hamburg – direkt auf die Reeperbahn.

Über Kerstin Sgonina

Obwohl sie mittlerweile mit Familie und Hund in Brandenburg lebt, ist Hamburg Kerstin Sgoninas Heimat des Herzens. Besonders interessiert die Autorin mehrerer Romane die jüngere Geschichte der Hansestadt – und als frühere passionierte Clubgängerin, Türsteherin und Sankt Paulianerin besonders die der Nachbarschaft zur Reeperbahn, die so viel mehr ist als nur eine sündige Meile.

Im Aufbau Taschenbuch liegt ihr Roman »Jane Austen und die Kunst der Worte« vor, den sie unter dem Pseudonym Catherine Bell schrieb.

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Kerstin Sgonina

Die Sterne von St. Pauli

Eine junge Frau, die Beatles und die Große Freiheit

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Hinweis

ABBY

Frühjahr 1961 — Sankt Pauli, Hamburg

Hamburg-Eimsbüttel — Zwei Monate zuvor

SOFIA

Frühjahr 1961 — Prenzlauer Berg, Berlin, Hauptstadt der DDR

ABBY

Frühjahr 1961 — Hamburg-Eimsbüttel

SOFIA

Frühjahr 1961 — Prenzlauer Berg, Berlin, Hauptstadt der DDR

ABBY

Frühjahr 1961 — Sankt Pauli, Hamburg

SOFIA

Sommer 1961 — Prenzlauer Berg, Berlin, Hauptstadt der DDR

August 1961 — Sieben Wochen später

ABBY

Frühling 1961 — Sankt Pauli, Hamburg

SOFIA

Winter 1962 — Friedrichshain, Berlin, Hauptstadt der DDR

Februar 1962 — Drei Wochen später

Nachtrag

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Dies ist keine wahre Geschichte.

ABBY

Frühjahr 1961

Sankt Pauli, Hamburg

Irgendwie gut, dass sie kaum ein Wort Englisch sprach. Mehr als thank you oder yes kam Abby nicht über die Lippen; die Beatles wiederum verstanden kein Wort Deutsch, also verständigten sie sich mittels Zeichensprache und fremdartig klingenden Lauten, und niemand nahm Anstoß daran, dass Abby wie ein Waldschrat vor sich hinmurmelte, um sich zu beruhigen:

»Du schaffst das, Abby. Sollen die denken, was sie wollen. Soll Professor Wallner sagen, was er will. Genau wie dieser Mist-Verkäufer. Ob ich weiß, dass das ein Film für eine Spiegelreflexkamera ist? Und wie ich sie aufkriege, um ihn einzulegen? Nee, keine Ahnung, ich bin blond und außerdem eine Frau, woher soll ich so was wissen?«

Als sie aufsah, blickte sie in erstaunte Gesichter. Die Liverpooler in ihren Lederjacken und Bluejeans, mit vom Winde verwehten Haartollen und lässigen Mienen, wussten scheinbar nicht so recht, was sie von ihr halten sollten.

Tief hing der neblig-graue Himmel über dem verlassenen Jahrmarkt. Die Stahlskelette der Karussells erinnerten an in der Bewegung erstarrte Dinosaurier, Nieselregen glänzte auf dem Metall, der eisige Wind ließ die Scharniere ächzen und trieb hier und da Abfall vor sich her. Bestes hanseatisches Aprilwetter: Man glaubte, die Regenwolken in den Kniekehlen zu spüren.

Weil ihnen kalt und wahrscheinlich langweilig war, begannen zwei der Jungs herumzukaspern, drohten einander durchs Haar zu wuscheln oder ein Bein zu stellen. Bei ihrem Anblick kam sich Abby plötzlich sehr erwachsen vor, trotz ihrer gerade mal einundzwanzig Jahre. Wie alt mochten die Beatles sein? Der eine wirkte, als wäre er gerade erst aus der Volksschule entlassen worden, die anderen nicht viel älter.

Dabei hatten sie auf der Bühne des Kaiserkellers wie eine einzige Verheißung gewirkt, die Dielen hatten gebebt, als würde eine Büffelherde darüberrennen, das Publikum hatte schier den Verstand verloren.

Das wollte Abby auf Film bannen. Die Naturgewalt, die von diesen spillerigen Kerlen ausging.

»Kein Grund, nervös zu werden«, murmelte Abby weiter vor sich hin, denn bei dem Gedanken, warum sie überhaupt heute mit den Beatles hier war, wurde ihr vor Aufregung wieder schummrig. Klar gab es hierfür zum einen eher triviale Gründe – den einen, umwerfend aussehenden Schotten zum Beispiel, von dem sie nur schwer ihren Blick lösen konnte. Aber zum anderen hatte sie eben auch den Auftrag, ein Foto zu schießen, das mindestens eine Wucht war. Und diese Wucht musste Professor Wallner einfach beeindrucken. Es war schlichtweg zu deprimierend, von einem Fotografiedozenten die eigene Mappe mit den Worten in die Hand gedrückt zu bekommen: »Genialität, nichts darunter, haben Sie mich verstanden, Fräulein Brandt? Momentan sind Sie davon so weit entfernt wie ich vom Rand des Universums.«

»Niemand kennt die Beatles«, waldschratete sie weiter, »wenn das Foto nix wird, wird’s nix, wird keiner je erfahren.«

Stu, der Schotte, verzog das Gesicht und grinste. Auf eine vorsichtige, unsichere Weise und so, als wäre sie die beeindruckendste Frau, die er je gesehen hatte. Was unmöglich stimmen konnte. Abby hatte Probleme. Besser gesagt: PROBLEME. Doch Stu grinste weiter. Er hatte nicht dieselbe Lässigkeit der anderen, dieses jungspundhafte Was-ich-anfasse-wird‑zu-Gold. Stattdessen sah er aus, als würde er sich ähnlich wie sie durch die Welt bewegen: ein bisschen nervös, alles beobachtend, aber trotzdem mit diesem Bestreben, das beste Leben von allen zu leben …

»There«, sagte sie nicht gemurmelt, sondern laut, und zeigte auf die Stelle, an der sie John, bitte sehr, gern stehen hätte. John aber grinste nur, schnippte seine halb gerauchte Zigarette in eine Pfütze und zündete sich die nächste an.

Trommelwirbel, ein drittes englisches Wort, das sie kannte: »No.«

»No?«, fragte John und grinste noch breiter. Er imitierte ihren deutschen Akzent, mit dem das Wort eher wie »noooh« klang.

»No. There.« Mit ziemlicher Sicherheit hieß »Stell dich bitte dorthin« auf Englisch anders. Doch als mit Pete nun auch das letzte Bandmitglied aus Abbys Auto krabbelte, schien es glücklicherweise trotzdem zu reichen, immer und immer wieder »there« zu murmeln, jeden an den Oberarmen zu fassen und sanft dorthin zu dirigieren, wo Abby ihn haben wollte.

»You«, sagte sie jetzt zu dem Jüngsten, dem verschüchtert wirkenden Struwwelkopf namens George. »There.« Sie zeigte auf den freien Platz neben Paul und John, die wie Zwillinge wirkten – auch wenn sie einander gar nicht ähnlich sahen. Doch die Vertrautheit zwischen ihnen war deutlich zu spüren. Als hätten sie schon als Säuglinge in der Wiege nebeneinander gelegen. Auch das sah Abby durch den Sucher ihrer Kamera und betrachtete dann die anderen: George, der an ein ausgesetztes Kätzchen erinnerte, Pete, der ihr nicht sonderlich sympathisch war – und eben Stu. Groß, dunkelhaarig, mit Wangenknochen, die sogar im neblig-weichen Schietwetterlicht aussahen wie gemeißelt.

»Jetzt reiß dich zusammen, Abby. Du bist zum Fotografieren hier, nicht zum Anschmachten.«

Vor der Achterbahn hielt Abby den Jungs ihren Handbelichtungsmesser unter die Nase, stellte die Blende ein und sah wieder auf den Lichtschachtsucher runter, war aber nicht zufrieden. Sie wartete auf etwas, das sie nicht benennen konnte. Für das es keine Worte gab, nur ein Gefühl, was die Sache nicht gerade einfacher machte. Aber es musste dieses Bild geben am Ende dieses Tages. Dieses eine Foto der Beatles, das alles zeigte und trotzdem Fragen aufwarf. Das Foto, das Wallner beeindruckte.

Sie musste nur herausfinden, wie es aussah, während sie gleichzeitig das Stativ ihrer Kamera festhielt und sich bemühte, mit ihren Ballerinas aus Stoff nicht in eine der hundertzehn Pfützen zu treten, und dabei auch noch so zu wirken wie eine, die wusste, was sie tat.

Aber wusste sie das nicht, ganz egal, was Professor Wallner behauptete? Beziehungsweise spürte sie es, eine Art Glitzern, wenn sie den Lichtschachtdeckel hochklappte, die Schärfe einstellte, das Blendenrädchen drehte?

Stu lächelte. Abby lächelte durch ihre Kamera zurück.

Von Abbys Zeigefinger dirigiert, rotteten sich die Beatles jetzt vor einem Kettenkarussell zusammen, doch auch das gefiel Abby nicht.

»Kein einziges Foto bisher«, murmelte sie. »Verdammt, kein einziges Foto.« Und laut: »Stellt euch mal dahin, ja?«

Die fünf sahen sich verständnislos an.

»There!« Sie zeigte auf einen heruntergekommenen Lastwagen, der neben der Achterbahn parkte.

John zuckte mit den Schultern und trottete zum Lastwagen. Mit hängenden Armen und der größten Lustlosigkeit, von der sie jemals Zeuge geworden war, stand er davor, dann gähnte er demonstrativ und rülpste.

»Ja, Blödmann«, sagte sie leise. »Ich versteh dich schon. Aber du mich nicht, oder? Ich höre auf keinen mehr. Ich hör auch nicht auf dich, und wenn du vor Langeweile stirbst, klar?«

Moment! Die Instrumente, Teile davon jedenfalls, lagen doch in ihren VW Käfer gequetscht. Sie klappte das Stativ wieder zusammen, hängte sich die Kamera um den Hals, krallte sich George, der ohne Proteste mitkam, und ging mit ihm zum Auto. Wenig später hingen um Pauls und Johns Hälse Gitarren, vor Pete stand eine kleine Trommel, und er ließ die Schlagzeugstöcke mit arroganter Miene zwischen zwei Fingern kreisen. Jetzt gab es noch eine Gitarre, die George nahm, und einen Bass, den Abby Stu entgegenhielt.

»Deiner, nicht?«

Er lächelte sanft und nickte, gerade so, als habe er auf wundersame Weise plötzlich ihre Sprache gelernt, griff nach dem Bass und postierte sich neben den anderen vor dem Laster.

Es gab diesen Moment, den sie über alles liebte: wenn das, was sie fotografieren wollte, bereit war und sie Ruhe spürte, es war fast zärtlich, eine Ruhe und Zuneigung zur Welt, nein, Liebe … Im Anschluss prüfte sie ein letztes Mal den Bildausschnitt – so nahe an der Perfektion, wie es möglich war –, Licht und Schärfe, ihr Finger glitt zum Auslöser, und wenn sie ihn drückte, stand die Welt still. Dann flitzten am Firmament keine Sterne mehr umher. Dann hielt das Universum inne. Für einen Sekundenbruchteil nur, sodass es bis auf Abby keiner merkte. War dies der Moment?

Nö. Mist.

»Warum nicht?«

John und Paul sahen schräg links an ihr vorbei. George blickte verschüchtert in ihre Richtung, Pete mit hochnäsiger Arroganz direkt in die Kamera. Wieder sah sie zu Stu. Ohne das Gesicht abzuwenden, klopfte er die Taschen seines Jacketts ab, zog eine Sonnenbrille raus und schob sie sich die Nase hinauf.

Abbys Finger umschlossen den Kabelauslöser. Das Gefühl von Schwerelosigkeit durchglitt sie wie eine warme, sanfte Welle. Das Universum hatte innegehalten.

Klick.

Hamburg-Eimsbüttel

Zwei Monate zuvor

Wer behauptete, es sei eine Kleinigkeit, die Wohnungstür zu öffnen, die Nase in das nach Zigarettenrauch und gekochtem Kohlrabi riechende Treppenhaus zu stecken und einen Schritt hinaus zu tun, hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wie sollte das gehen? Einfach die Tür hinter sich zuziehen, umdrehen, fertig?

Klar, andere konnten das. Abby hatte es auch mal gekonnt, vor einer Ewigkeit (die tatsächlich erst vier Monate zurücklag). Aber an diesem eiskalten Februarmorgen war ihr mehr danach, über solche Anwandlungen traurig zu lachen.

Es war unmöglich, weil da draußen die Angst wohnte, die sich wie eine Hyäne auf sie werfen würde, wenn sie auch nur den großen Zeh aus der Tür schob. Allein bei dem Gedanken bekam sie Schweißausbrüche. Und sie würde es ganz gewiss nicht versuchen, nicht mal die Klinke runterdrücken, nein danke, auch wenn Heiner ihr ständig damit in den Ohren lag, dass sie natürlich ihre Zeit brauchte, aber langsam, gaaanz langsam, doch mal etwas tun könnte.

Sollte.

Müsste.

Selbst hinter der geschlossenen Tür hörte sie aus der Nachbarwohnung Connie Francis Die Liebe ist ein seltsames Spiel schmettern. Abby verzog das Gesicht. Gott, sie hasste diese deutschen Schlager. Hatte denn heutzutage überhaupt niemand mehr Geschmack?

»Guten Morgen, Liebes.« Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter ging auf, und Charlotte kam heraus, das dunkle Haar so perfekt frisiert, als habe sie keine Minute lang geschlafen.

Ihre Mutter und sie sahen einander nicht im Mindesten ähnlich: Abby hatte weißblondes, schulterlanges Haar und eine Stupsnase samt einer Menge Sommersprossen, sogar im Winter; ihre Mutter war brünett, klein und zierlich und hatte eine Miene, die an die Mona Lisa ohne das Lächeln erinnerte.

»Morgen, Charlotte.«

»Guten Morgen, Abby. Es heißt nicht einfach nur ›Morgen‹.«

Ihre Mutter sah müde aus, abgekämpft und so, als sehne sie sich nach nichts so sehr, als dass es endlich wieder Abend würde. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie in ihrem rosa geblümten Rüschennachthemd und den Pantoffeln mit Bommeln im Badezimmer, einem grasgrün gefliesten Schlauch, in dem dicht an dicht eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette standen und man über Letzteres steigen musste, um zu Ersterem zu gelangen.

Abby fühlte Enttäuschung in sich hochsteigen. Heute war ihr Geburtstag. Es wäre schön gewesen, mit Liedern und Küssen überhäuft zu werden, auch wenn Abby diesen Gedanken bemitleidenswert kindisch fand. Auf der anderen Seite gehörte sie nun einmal zu den Menschen, die gern Geburtstag hatten. Schließlich war es der eine Tag im Jahr, in dem alle Welt reizend zu ihr war, es Schokoladenkuchen gab und manchmal sogar Dosenananas.

Während sie noch halb traurig, halb wütend im Flur stand, weil es doch nicht sein konnte, dass ihre Mutter tatsächlich vergessen hatte, welcher Tag heute war, öffnete sich die Badezimmertür wieder, und Charlotte trat heraus, die Schultern nach oben gezogen, der Rücken sehr, sehr gerade. Sie steckte gerade die wahrscheinlich hundertdritte Haarnadel fest, die das Gebilde aus dunklen Locken noch fester zurrte, als es das Haarspray allein schaffte. Als sie auf sie zuging, zog Abby der durchdringende Geruch von Taft in die Nase.

»Was ist denn, Abby, warum stehst du da wie festgenagelt?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Ach Gottchen, Kind! Herzlichen Glückwunsch! Ich … Sei mir nicht böse, ja? Manchmal vergesse ich sogar, wie ich heiße, seit im Laden so viel los ist.«

Sie streckte die Arme aus, tätschelte aber nur ungelenk Abbys Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange, der so flüchtig war, dass Abby ihn kaum spürte.

»Ich hoffe, du machst es dir nett heute.«

»Ja«, sagte Abby. »Das mache ich.«

»Aber du hast nur Heiner eingeladen?«, vergewisserte sich Charlotte.

Abby nickte.

»Ach, Kind.« Charlotte räusperte sich. »Du weißt, dass ich es schade finde, dass du keine deiner Freundinnen mehr sehen möchtest. Immer nur dieser Heiner.« Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Ihr werdet doch aber nicht …«

»Nein. Natürlich nicht.«

Ihre Mutter lächelte schmallippig. Sicher versuchte sie sich gerade nicht auszumalen, dass ihre Tochter und dieser Kerl in den Bluejeans womöglich … Nein, würden sie?

»Charlotte«, sagte Abby beschwichtigend. »Ich verspreche dir hoch und heilig, dass Heiner und ich Musik hören und reden und sonst gar nichts tun.«

Das Lächeln wurde noch verkniffener. »Du musst mir nichts versprechen. Ich vertraue dir.«

Was überhaupt nicht stimmte. Nicht einmal im Mindesten. Aber davon wollte Abby jetzt nicht anfangen.

»Ich bin um sechs zurück«, sagte Charlotte.

Abby notierte in Gedanken: um fünf. Sie wusste, dass Charlotte auf diese Weise sichergehen wollte, dass ihre Tochter und Heiner nicht etwa doch Dinge taten, die zwei Menschen unter gar keinen Umständen miteinander tun sollten, solange sie nicht verheiratet waren.

Bei dem Gedanken musste sich Abby ein Grinsen verkneifen. Nicht mal mit der Kneifzange würde Heiner sie anfassen und sie ihn ebenso wenig. Es gab keinerlei Anziehung zwischen ihnen, nur tiefe Freundschaft, aber was in aller Welt hieß hier nur?

Ohne Heiner würde sie nicht mal darüber nachdenken, an ihrem Geburtstag etwas zu veranstalten, das grob einer Feier ähnelte. Ohne Heiner wäre das Leben so scheußlich, dass es kaum auszuhalten wäre.

»Er wird aber keinen Alkohol mitbringen?«, murmelte Charlotte mehr zu sich selbst.

»Woher sollte er welchen bekommen? Heiner ist noch keine einundzwanzig.«

Ihre Mutter antwortete nicht darauf. Abby war nun volljährig, wahrscheinlich war das Charlotte auch gerade aufgegangen. Aber wie in aller Welt sollte sie in den Laden gehen und Hochprozentiges kaufen?

»Treibt keinen Unfug«, sagte Charlotte abschließend und verschwand wieder im Bad.

»Unfug«, murmelte Abby in sich hinein. »Was denn für ein Unfug?«

»Und Abby, Schätzchen«, erklang es wieder dumpf durch die Badezimmertür, noch ehe Abby sich abwenden konnte. »Sei so gut und lies dir doch die Broschüre durch, die ich dir auf den Küchentisch gelegt habe, ja?«

»Ja.« Mit einem leisen Seufzer ging Abby in ihr Zimmer, ließ sich auf ihr Bett fallen und wartete auf das gewohnte Geräusch der ins Schloss fallenden Wohnungstür. Ständig legte ihre Mutter ihr neue Sachen hin, die sie sich durchlesen sollte. Mal fein säuberlich ausgeschnittene Berichte aus dem Hamburger Abendblatt über das Glück der jungen Hausfrau und Mutter. Mal die Werbung einer Schule für angehende Sekretärinnen (»Wir bieten Internatskurse im landwirtschaftlich schönen Voralpenland«). Oder Anzeigen einer Kochschule, deren ausgewiesenes Ziel ein perfektes Soufflé war. Aber Abby wollte weder Hausfrau werden noch Sekretärin. Sie hatte einen der wenigen begehrten Studienplätze an der Modeschule bekommen. Und alles in den Sand gesetzt.

Mit einem leisen Klacken zog ihre Mutter die Wohnungstür hinter sich zu. Klappernde Geräusche verklangen auf den Treppenstufen. Abby kniff die Augen zusammen und schärfte sich ein, jetzt nicht loszuheulen.

Erstens hatte sie etwa die Menge des Bodensees an Tränen vergossen in den letzten Monaten, und zweitens war heute ihr Geburtstag. Ihr einundzwanzigster auch noch. Den sie sich so häufig ausgemalt hatte wie andere Mädchen ihre Hochzeit.

Erwachsen.

Die Welt stand ihr offen.

Ha, ja.

In ihren Träumen war der Tag immer perfekt gewesen. Bunt hatten die Lampions vor dem Winterhimmel über dem Elbstrand geleuchtet. Der Sand unter ihren Füßen war weich und eiskalt, sodass man sich besser nicht daraufsetzte. Das prasselnde Lagerfeuer verströmte einen urigen Duft, die Flammen warfen zuckendes Licht auf die Gesichter ihrer Freunde. Und Heiner – klar – schrabbelte auf der Gitarre Lieder von Elvis und Eddie Cochran.

Eine perfekte Nacht.

Jetzt aber würde sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag auf ihrem Bett hocken und abwechselnd sehnsuchtsvolle und wütende Gedanken haben, denn es war so traurig wie einfach: Sie war erwachsen, aber nicht in der Lage, sich wie eine Erwachsene zu verhalten. Sie konnte keine Strandparty feiern. Sie konnte überhaupt nichts tun, außer die Wand anzustarren.

Oder lesen. Was immerhin etwas war. Doch als Ersatz für ein gelebtes Leben taugte es nicht.

Als sie den Blick hob, sah sie ihre eigene dunkel gekleidete Gestalt im Wandspiegel. Zum Bedauern ihrer Mutter schminkte sie sich nicht mehr, sie bürstete sich auch nur bestenfalls zwei Minuten am Tag die Haare und trug ausschließlich Schwarz. Alles nicht schlimm, fand Abby, von ihrem blassen, traurigen Gesicht abgesehen.

Da hörte sie im Treppenhaus lautes Poltern, gleich darauf hämmerte jemand gegen die Tür. »Aufmachen, oder ich schieße!«

Froh darüber, aus ihren trüben Gedanken gerissen zu sein, trat Abby in die Diele.

Heiner, der in lässiger Haltung und dürr wie ein Ast im Türrahmen lehnte, hatte ein Gesicht, das durch die Tolle, zu der er sein dunkles Haar mittels Kernseife zusammengekleistert hatte, noch länger wirkte. Seine schräg stehenden braunen Augen guckten immer reichlich gelangweilt – was er todsicher jeden Morgen aufs Neue vor dem Spiegel probte, diese Unterstellung aber stets aufgeregt von sich wies –, und wenn er die Stirn runzelte, konnte man glatt eine Haarspange in den Falten verstecken.

»Moin«, sagte er. »Herzlichsten, gnä’ Frau. Bereit für den Tag aller Tage?«

»Hm. Ja, klar.«

Er grinste über ihre fehlende Begeisterung hinweg und hob den linken Arm an, an dem eine Vielzahl an Stofftüten baumelte. »Du wirst schon sehen, dies wird ein Tag, den du so bald nicht vergisst.«

Damit marschierte er vor und lümmelte wenig später in Lederjacke, Bluejeans und schwarzem Hemd auf ihrem Bett.

»Da drin …«, er nickte in Richtung der Einkaufstaschen, die er vor dem Bett auf den Boden hatte fallen lassen, »… sind so viele Geschenke, dass du bis heute Abend brauchst, um sie auszupacken. Gehe ich eigentlich richtig in der Annahme, dass du nicht gerade die beste aller Launen hast?«

Abby verzog das Gesicht, kam jedoch nicht dazu, ihm zu antworten.

»Verständlich, nur zu verständlich, wenn man bedenkt, dass du all das verpasst, was da draußen los ist.« Er grinste schief, sich wohl dessen bewusst, was er gerade gesagt hatte. »Was für ein Glück, dass wir in der langweiligsten aller Städte leben. Hier passiert nichts. Rein gar nichts. Nur Operetten und Abtanzbälle im Atlantic oder Hildegard Knef.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz recht hast du, dich hier einzuschließen. Jeder sollte das machen, jeder junge Mensch bei Verstand jedenfalls.«

Als Abby in die Knie ging und einen der Stoffbeutel öffnete, schnaubte sie verwundert. »Wandfarbe?«

Ein breites Grinsen zog sich über Heiners Gesicht.

»Guck genauer hin, Chérie. Du wolltest eine Strandparty. Wir bringen dir eine nach Hause.«

Drei Stunden später ließen sie sich erschöpft auf Abbys Bett fallen. Aus dem Wohnzimmer dröhnte Buddy Hollys Send Me Some Lovin’, zu dessen Rhythmus Heiner trotz seiner Erschöpfung den Fuß wippen ließ. Zufrieden sah er sich um.

»Und?«

Abby atmete tief durch, während sie ihr gemeinsames Werk betrachtete. Sie konnte noch nichts dazu sagen. Die untere Hälfte jener Wand, in der sich die Tür befand, leuchtete gelb. Sandgelb und sanft geschwungen, eine Düne mit grünem Schilf, hinter der blassblau das Meer wartete. Das Wandbild war hübsch geworden, gleichzeitig beschlich sie ein seltsames Gefühl, als sie darauf starrte. Ein Gefühl, das sie nicht wollte.

Sehnsucht?

Schnell sah sie weg. Die anderen drei Wände waren weiß wie zuvor, langweilig-weiß, sodass sie sich fragte, wie in aller Welt sie je zufrieden hier hatte leben können.

Ihr Blick fiel in den Wandspiegel. Sie sah auch langweilig aus.

»Mensch, Häschen«, sagte Heiner und krauste besorgt die Stirn. »Wenn man dich anguckt, glaubt man ja, die USA hätten die UdSSR angegriffen.«

»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte«, sagte Abby so leise, dass sich Heiner vorbeugen musste.

»Was?«

»Alles. Mich, mein Leben. Einfach alles.«

»Dann ändere es«, erwiderte er.

»Ich kann nicht.«

»Doch.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann … Ich weiß nicht …« Nachdenklich hob er die Schultern. »Vielleicht solltest du mit was Kleinem anfangen. Und dann, keine Ahnung …«

»Und dann einfach rausgehen? So wie früher?« Sie lachte bitter. »Was, wenn ich für immer hier drin bleiben muss?«

»Oder dieser bescheuerte Arzt hat recht«, wandte Heiner ein. Doktor Bornstedt, von ihrer Mutter gerufen, hatte Abby eine nervöse Störung attestiert.

»Früher nannte man das weibliche Hysterie.« In aller Seelenruhe, erinnerte sich Abby, hatte der Arzt sein Stethoskop in die Tasche seines Jacketts gleiten lassen und sie aus wässrigen Augen milde interessiert angesehen. »Bis vor Kurzem am liebsten mit so rasch wie möglich herbeigeführter Schwangerschaft, zuvor natürlich Heirat, kuriert. Heutzutage ist man da weiter, und ich würde auch nicht von Hysterie sprechen, sondern von einer nervösen Störung samt Hypochondrie.«

Hypochondrie hatte Abby nachschlagen müssen und das Wörterbuch mit einem bitteren Geschmack im Mund wieder geschlossen. Ein Blick auf ihre Mutter hatte ihr deutlich gemacht: Charlotte glaubte dem Arzt jedes Wort. Dass ihre Tochter das Haus nicht mehr verließ, war reines Getue, gepaart mit grundsätzlicher Furcht vor dem Erwachsenenleben.

Was so was von unsinnig war! Erst recht, wenn man sich vor Augen führte, dass Charlotte sehr wohl wusste, was geschehen war.

»Das denkst du?«, fragte Abby Heiner mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Dass dieser Stümper in Weiß recht hat?«

So war Heiner: Manchmal redete er furchtbaren Unsinn daher, aber dann berappelte er sich glücklicherweise schnell wieder.

»Nee. Tue ich nicht. Aber ich muss zugeben, dass ich einfach nicht verstehe, was mit dir passiert ist.«

Wie sollte er auch? Nachdem sie ihrer Mutter davon erzählt hatte, hatte sie sich vorgenommen, nie wieder darüber zu reden. Immerhin angedeutet aber hatte sie ihm, was vorgefallen war.

»Ich hab ein bisschen was, äh, gelesen«, sagte er nun ungewohnt verlegen. »Bücher über Psychologie. Gar nicht so uninteressant.«

Seine Worte ließen Abby überrascht das Gesicht verziehen. Als Dreher in einer Altonaer Metallfabrik kam Heiner eher selten mit Büchern über Psychologie in Kontakt, nahm sie an. Doch er war klug, auch wenn er das gern von sich wies.

»Und was steht da drin?«, fragte sie.

»Ich bin noch nicht wirklich weit«, gab er zu. »Aber so viel Angst zu haben wie du ist wohl gar nicht so unnormal.«

»Danke«, sagte sie trocken. »Das klingt ungemein beruhigend.«

Heiner fuhr fort: »Jedenfalls hab ich gelesen, dass diese Angst, also … Es gibt da die Zwei-Faktoren-Theorie der Angst, ein Amerikaner hat sie entwickelt. Sie besagt, dass man die Angst erst erwirbt, und zwar durch ein Erlebnis, das man hat …« Er sah sie forschend an, doch Abby schüttelte wie immer, wenn er darauf zu sprechen kommen wollte den Kopf. Es ging nicht. Sie konnte ihm nicht davon erzählen, es war schlicht unmöglich. »… doch wenn das Erlebnis vorüber ist, bleibt die Angst bestehen. Um mit ihr umzugehen, entwickelt der Mensch ein Verhalten des Vermeidens. Auf diese Weise versucht er die Angst in Schach zu halten, fördert sie allerdings damit nur, weil er nun nicht mehr lernen kann, dass es auch ungefährliche Situationen geben kann.«

Streng sah Abby ihn an. »Und was genau willst du mir damit sagen? Willst du mich auch am Hemdsärmel packen und rauszerren? Oder gleich aus dem Fenster werfen, dann erspare ich mir immerhin das Treppenhaus?«

Er verzog das Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. »Du weißt, dass ich dich liebhabe.«

Seine Worte ließen Abby grinsen, aber auch verlegen werden. In ihrer Familie redete man so gern über Gefühle wie über Kunst, Frauenrechte oder Nazis.

»So was würde ich dir nie antun«, fuhr er leise fort. »Aber ich glaube, du … Egal. Heute ist dein Geburtstag. Wir haben dein Zimmer in einen Strand verwandelt. Und was jetzt?«

Abby hob die Schultern. Sie schwiegen ein paar Minuten, bis Heiner aufstand und im Wohnzimmer Musik auflegte. Sie erkannte das Lied von den ersten Klängen an. »Uhuhuh, it’s now or never, come hold me tight, kiss me, my darling, be mine tonight«, schmetterte gefühlvoll Elvis Presley. »Tomorrow will be too late.«

Das passte ja, in gewisser Weise, wenn man die Küsse wegließ. Ihr wahres Leben begann jetzt oder nie.

Also wohl eher nie.

»Weißt du, was du brauchst?«, fragte Heiner, als er wieder in ihr Zimmer trat.

»Heitere Lektüre von Hedwig Courths-Mahler? So versucht mich meine Mutter aufzumuntern. Auch mit Johanna Spyri.«

Heiner fingerte eine Zigarette aus seiner Lederjacke und rollte sie, ohne sie anzuzünden, zwischen den Fingern. »Einen magischen Regenschirm.«

»Hä?«

»Etwas, hinter dem du dich verstecken kannst. Das dich beschützt, wenn du rausgehst. Damit du endlich mal wieder rausgehst.«

Sie stand auf. »Ich habe aber keinen magischen Regenschirm. Und wenn ich mich nicht täusche, besitzt du auch keinen, den du mir borgen kannst.«

»Wir brauchen irgendetwas«, redete er unbekümmert weiter, »womit du dich sicher fühlst. Sicher und anders.«

»Anders?« Müde schüttelte sie den Kopf. Ja, sie würde sich wirklich gern anders fühlen. Am liebsten sogar in eine neue Haut schlüpfen. Hinter den Fenstern, da, wo Schneeflocken zu fallen begonnen hatten, was sie früher dazu veranlasst hätte, auf der Stelle das Haus zu verlassen, um sie mit der Zunge, den Kopf im Nacken, aufzufangen, da war etwas, was sich gut anfühlte. Hier drin hingegen fühlte sich alles wie ewige Dämmerung an.

»Du hast recht. Wenigstens anders …«

Verständnislos schüttelte Heiner den Kopf und beobachtete interessiert, wie sie zu ihrem Sekretär ging, eine Schublade nach der anderen aufzog, aber nicht fand, was sie suchte. Schließlich stapfte sie ins Bad und kramte zwischen den diversen Haarwässerchen, Dosen mit Nivea-Creme und Lux-Seife, bis sie sie endlich in den Händen hielt. Die Schere.

»Hier.«

Heiner, der sich wieder auf ihr Bett geworfen hatte, setzte sich fragend aufrecht hin.

»Zumindest anders.« Damit stellte sie sich vor den Wandspiegel, nahm eine dicke Strähne ihres hellblonden Haars und säbelte sie ab. Zu ihrem Erstaunen gab Heiner keinen Mucks von sich. Stattdessen schaute er zu, wie sie sich einmal rund um ihren Nacken arbeitete. Ein immer größer werdender Haufen Haar sammelte sich zu und auf ihren nackten Füßen.

»Gefällt es dir?«, fragte sie schließlich. »So hab ich zumindest nicht mehr ausgesehen, seit ich ein Kleinkind war.«

»Hm«, sagte Heiner langsam und musterte sie unentschlossen.

»Ich finde es gut.« Trotzig reckte Abby ihr Kinn in die Höhe.

Das Gesicht ihres Freundes hellte sich langsam auf. »Immerhin sieht man jetzt mal dein Gesicht. Vorher war es immer verdeckt. Du bist so hübsch, hübsch auf eine … hmhmhm, na ja, putzig-schwedische Art und Weise. Du ähnelst einem Hundewelpen, hab ich dir das schon mal gesagt?«

»Heiner, verdirb mir nicht die Laune.«

»Das war nett gemeint.«

»Es klingt bescheuert.«

Abby wandte sich von ihm ab und drehte sich zurück zum Spiegel. Sie hatte große blaue Augen und eine Himmelfahrtsnase, volle Lippen und Augenbrauen, die Heiner zum Vergöttern fand: sehr gerade und seltsamerweise trotz ihres hellen Haars brünett. Es stimmte, was er sagte: Nun sah man ihr Gesicht, das zuvor meist verdeckt gewesen war, außer wenn sie einen Pferdeschwanz getragen hatte.

Heiner räusperte sich. »Du siehst aus, als wärst du aus der Twen gefallen.«

Überrascht blickte sie ihn an. »Danke!«

»Und wenn wir Glück haben, sieht dich eines Tages auch mal wieder jemand«, ergänzte er und zwinkerte ihr zu.

Ein Glück, dass ihr Haar gewellt war, dachte Abby, als sie sich wieder anguckte. So verzieh es die Stellen, an denen sie unsauber gearbeitet hatte. Aber sie sah genauso aus, wie sie es gewollt hatte: etwas strubbelig, jungenhaft, mutig und forsch. Es passte zu dem, wie sie sich fühlte. Oder gefühlt hatte, früher. Wild. Nicht im Mindesten so, wie man sich ein Mädchen wünschte.

Außerdem war der Pferdeschwanz weg. Nicht dass es auch nur das kleinste Fünkchen Angst besänftigte. Nicht dass es irgendetwas veränderte.

Aber es fühlte sich gut an. Ein winziges bisschen hoffnungsvoll.

Um kurz vor fünf ähnelte ihr Zimmer nichts, was auf dieser Welt zuvor schon einmal existiert hatte. Das jedenfalls waren Heiners Worte, und irgendwie hatte er recht. Sie hatten aus Buntpapier Sterne und Kleeblätter geschnitten, die Sternen und Kleeblättern nicht wirklich ähnelten. Aber sie besaßen eine interessante Form, »kubistisch«, sagte Abby gewichtig und versuchte, Heiner zu erklären, was Kubismus war, doch sie hatte es selbst längst vergessen. Sie hängten sie an bunten Kordeln auf und ließen die Schnipsel, um nichts wegwerfen zu müssen, auf den Dielenboden rieseln. Sie hörten Musik, laut, sehr laut, bis Frau Kölle von unten mit dem Besenstiel gegen die Decke donnerte. Dann nur noch halb laut, dazu tanzten sie und schmachteten in radebrechendem Englisch mit – looove me tender, looove me sweeeeet –, wobei Heiners Sprachkünste Abbys um Längen übertrafen.

Als aus dem Treppenhaus Geräusche laut wurden, klappernde Schritte auf den Stufen, leises Gerede, schauten sie sich grinsend an.

»Fünf Uhr«, sagte Abby.

»Fünf Uhr«, bestätigte Heiner und rollte die Augen, als sie hörten, wie Charlotte die Wohnungstür aufschloss und Horst etwas zuflüsterte.

Horst: netter Kerl, eigentlich. Er mochte ihre Mutter. Das sollte reichen, um Abby nicht ständig in Gedanken an ihm herummäkeln zu lassen, doch sie konnte nicht anders. Sie fand nicht, dass er einen auch nur halbwegs adäquaten Ersatz für ihren Vater darstellte. Überhaupt nicht, eher war er ein abgeranztes Micky-Maus-Heft im Vergleich zu den gesammelten Theaterstücken von Tennessee Williams. Schwerfällig, grobschlächtig, gutmütig, während ihr Vater über einen messerscharfen Verstand verfügt und ihre Mutter damit regelmäßig in den Wahnsinn getrieben hatte.

Aber brauchte man mit einundzwanzig noch einen Vaterersatz? Natürlich nicht!

»Hoffentlich haben sie alkoholische Getränke im Gepäck«, befand Heiner.

Mit einem müden Lächeln sah sie ihn an. Horst hatte seine Vorstellungen von einem gelungenen Fest, vermutete sie. Wenn überhaupt, würde er Eierlikör reichen, irgendwas, was farblich zu seinen Polyesteranzügen passte.

»Hallo, ihr Lieben!« Die Stimme ihrer Mutter klang viel zu munter. Verhaltenes Gemurmel im Flur, dann steckten beide gleichzeitig die Köpfe durch Abbys Zimmertür. Horst guckte so professionell fröhlich, als habe er es vorher im Rückspiegel von Charlottes VW Käfer geübt. Als er die Dekoration entdeckte, wich sein Grinsen einem unsicheren Gesichtsausdruck. Dann schweifte sein Blick zu Abby, er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, machte ihn dann aber doch wieder auf. »Oh, ja, äh, sieht … richtig, hm, also …«

Er war einen Kopf größer als Charlotte, hatte ein breites Gesicht mit schmalen Lippen und hervorquellenden Augen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass er erst nach Worten suchen musste, zumindest wenn es nicht um seine Arbeit als Sparkassenfilialleiter ging oder seinen Hund. Wann immer Abby ihn sah, befiel sie eine Ungläubigkeit darüber, dass Charlotte so jemanden für sich ausgewählt hatte.

Auf der anderen Seite: Durfte ihre Mutter sich nicht neu verlieben? Vor allem ein bisschen Freude empfinden, nach der furchtbaren Zeit?

Horst schien sich von seinem ersten Schreck erholt zu haben und erinnerte sich wieder an die Blumen in seiner Hand, orangegelbe (exakt wie die Farbe von Eierlikör), deren Name Abby nicht einfallen wollte. Sie dufteten nach nichts.

»Danke.«

Zu ihrer Überraschung – und Heiners Freude, das war ihm an der Nasenspitze anzusehen – zauberte Horst als Nächstes eine Flasche Schaumwein aus der Tasche. Das dunkelgrüne Glas glitzerte verhalten im Licht der Deckenlampe.

Nachdem sie in der Küche angestoßen hatten, verschwand Heiner hüpfend im Wohnzimmer, um wieder Musik aufzulegen. Serge Gainsbourg diesmal. Abbys Vater hatte den französischen Chansonnier heiß und innig geliebt.

Als Heiner zurückkehrte, schenkte Horst sich gerade ein zweites Mal nach. Immer wieder warf er Charlotte lange Blicke zu, die Abby beunruhigten. Sie wirkten, als hätten sie etwas ausgeheckt, irgendwas, das ihnen großartig vorkam und von dem Abby bezweifelte, dass es sie ebenso begeistern würde. Vielleicht waren die beiden aber auch einfach nur erleichtert, dass Abby nicht heulend allein in ihrem Zimmer gesessen hatte oder sie sie mit Heiner knutschend erwischt hatten. Die Stille in der winzigen Küche schwoll derart an, dass man meinen könnte, es mit einem für die menschlichen Ohren unhörbaren Orchester zu tun zu haben.

»Wir könnten den Plattenspieler herholen«, schlug Abby vor, schließlich sagte nicht mal mehr Heiner einen Mucks, und das war wirklich ein bedenkliches Zeichen. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte gelehnt und blickte amüsiert zwischen Horst und Charlotte hin und her.

»Den Plattenspieler? Klar«, sagte Horst großmütig, während er Charlotte zuzwinkerte. »Später vielleicht.«

Es gefiel ihr nicht, wie er sich aufführte. Als sei dies seine Küche, seine Wohnung, als könne er über alles bestimmen, was sie taten. Gedämpft drang Çe mortel ennui an ihr Ohr, untermalt von gezupften Gitarrenklängen.

»Was sagst du eigentlich zu meiner neuen Frisur?«, fragte Abby schließlich. Bei ihrem ersten Blick in den Spiegel hatte sie sich ein bisschen verwegen gefühlt, das war toll gewesen. Erwachsen, nicht mehr so brav. Zwischenzeitlich hatte sie dann schon wieder vergessen, dass sie zur Schere gegriffen hatte, aber als sie sich eben mit der Hand über den Nacken gefahren war, war es ihr wieder eingefallen. Jetzt wartete sie mit wachsender Aufregung auf die Antwort ihrer Mutter. Klar, eine Frau mit kurzen Haaren: Das war in den Augen Charlottes nicht sonderlich weiblich und schmälerte garantiert die Heiratsaussichten.

Trotzdem hoffte Abby, dass sich ihre Mutter einen Ruck gab. Dass sie dachte: Sie sieht aus wie ein zwölfjähriger Junge und benimmt sich manchmal auch so, aber was soll’s. Wenn es sie glücklich macht, bin ich zufrieden.

In diesem Moment verzog Charlotte das Gesicht zu einem so gezwungenen Lächeln, dass Abby übel wurde. Enttäuschung plumpste auf sie hinab.

»Sag schon«, forderte Abby sie störrisch auf.

»Was soll ich dazu sagen?«, fragte Charlotte abwehrend. »Es sieht …« Dann weiteten sich ihre Augen, Besorgnis schlich sich in ihren Blick, und Abby bekam ein ganz, ganz schlechtes Gefühl. Als sie sich umdrehte, sah sie Horst etwas aus seiner Tasche ziehen. Es war klein, ein Notizbuch vielleicht oder eine Postkarte. Mit einem entschlossen wirkenden Grinsen hielt er es ihr hin. »Von deiner Mutter und mir.«

Das war doch die Höhe! Sie kannte ihn seit einem halben Jahr. Und dann überreichte er ihr das Geburtstagsgeschenk, das doch sicher Charlotte ausgesucht hatte?

»Abby, das ist …« Charlotte war aufgesprungen. Ihr Haarturm zitterte ein wenig. Sie warf Horst einen verärgerten Blick zu und flüsterte: »Nicht gleich, so hatten wir es doch verabredet, Schatz.«

An Abby gewandt, fügte sie unsicher hinzu: »Ich hoffe, du freust dich. Aber lass es erst mal auf dich wirken, bevor du etwas sagst, ja? Bilde dir in aller Ruhe deine Meinung.«

Normalerweise bekam Abby keine Geschenke mit Gebrauchsanleitung. Normalerweise schenkte Charlotte ihr günstigen Modeschmuck, der trotzdem aussah, als stammte er aus den Zeiten ihrer Urgroßmutter. Mittlerweile besaß Abby einen ganzen Schuhkarton voll falscher Perlen. An Weihnachten behängte sie sich damit, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, ansonsten brachte sie es aber nicht über sich, sie zu tragen.

»Nun pack schon aus.« Wieder Horsts jovial klingende Stimme, betont munter.

Mit einem noch schlechteren Gefühl als vorher öffnete Abby die Schleife, die das Packpapier zusammenhielt. Darin lag ein Schild aus biegsamem Email, auf dem in romantisch verschnörkelten Lettern stand:

Abby Brandt

Hamburg 33

Nölkensweg 11

Verwirrt blickte Abby auf. »Was ist das?«

Horsts Grinsen zog sich nun über das gesamte massige Gesicht. »Was denkst du denn?«

»Ein Adressschild?«

»Hurra!« Er klatschte in die Hände. »Tausend Punkte, junge Frau, du hast es begriffen!«

Sie hatte ihn nie besonders gemocht, jetzt aber verwandelte sich diese Abneigung in etwas, das erheblich düsterer war. Er behandelte sie, als sei sie heute fünf geworden.

Mit eingefrorenem Lächeln wandte sie sich an ihre Mutter, die wieder Platz genommen hatte und mit dem Saum ihrer Bluse nervös ihren Daumennagel polierte. »Du hast gesagt, ich soll mir nicht sofort eine Meinung bilden.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Dann erklär mir bitte, was ich sonst damit anfangen soll.«

»Nun sieh doch mal«, schaltete sich Horst ein, bevor Charlotte etwas sagen konnte.

Heiners Augen wurden riesig. Er sah aus, als platze er jeden Augenblick vor Lachen, vor Abscheu oder vor sonstigen Gefühlen, die Abby nicht näher bestimmen könnte. Dann schlug er sich in plötzlicher Erkenntnis die Hand vor den Mund. »Das ist deine neue Adresse!«

Triumphierend schnipste Horst in Heiners Richtung, doch Abby beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen sagte sie zu ihrer Mutter: »Da wohnt er.« Mit dem Kopf machte sie eine Bewegung, die auf Horst verwies.

Charlotte nickte. Sie blinzelte zu schnell.

»Wieso sollte ich auch da wohnen?«

»Also …«, begann wieder Horst.

»Sei ruhig!«, herrschte Abby ihn an.

Verblüfft schloss er den Mund.

»Abby!«, sagte ihre Mutter flehend. »Wir haben darüber geredet, dass wir uns heute gut verstehen wollen.«

»Ich will mich auch gut verstehen.« Jetzt hörte sie sich an, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen. Und so fühlte sie sich auch, wenn auch ziemlich viel Wut in ihr brodelte. »Also erklär mir bitte das hier.« Sie hielt das Schild in die Höhe.

»Horst und ich wollen zusammenziehen.«

Abby hatte das Gefühl, als kippe der Raum. Lege sich frech zur linken Seite, verharre dort ein wenig, um dann mit einem Rumms in sich zusammenzufallen. Ihr Atem wurde schneller. Das Blut rauschte in den Ohren.

Nicht jetzt, dachte sie panisch. Nicht jetzt, nicht jetzt, Angst, nicht jetzt!

Aber die Angst ließ sich von ihr nichts sagen. Sie kam, wie es ihr gefiel, und jetzt, fand sie wohl, war ein hervorragender Augenblick, um über Abby herzufallen. Sie stülpte sich über sie wie eine Glasglocke, unter der die Geräusche dumpf wurden wie unter Wasser und die Luft zum Atmen knapp.

Auch Charlotte wirkte wie hinter einer Milchglaswand. Abby sah ihre Umrisse, mehr allerdings war nicht. Ihr Herz fühlte sich an wie ein verzweifeltes Vögelchen. Mehr und mehr schnürte sich ihr Hals zusammen. Sie begann zu schwitzen und spürte jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf, als picke jemand mit einer Pinzette daran.

»Abby«, hörte sie irgendwen dumpf sagen. »Abby, beruhig dich.« Es war die Stimme ihrer Mutter, glaubte sie. Dann Horsts: »Macht das Mädchen schon wieder so ein Theater!« Und Heiner: »Lassen Sie sie in Ruhe, bitte.« Alles klang verschwommen, war unscharf. Als hätte jemand ein Glas Wasser über einem Aquarellbild ausgeschüttet; alles verlief, bildete Rinnsale, mischte sich neu.

Irgendwie schaffte sie es in ihr Zimmer. Wie? Keine Ahnung, sie stellte nur fest, dass sie dort an der Tür lehnte, hörte, wie von außen jemand sanft rüttelte.

»Abby? Abby!«

Heiner?

»Abby, mach auf, bitte.«

Heiner, ganz sicher. Aber immer noch raste ihr Herz, sie wollte niemanden sehen, vor allem aber von niemandem angesehen werden. Nie fühlte sie sich schwächer, als wenn die Angst kam. Die Angst machte, dass sie sich ihr, aber auch allen anderen, hilflos ausgeliefert fühlte, und wer wollte schon hilflos sein?

»Bitte, Abby, mach auf.« Dann fast unhörbar: »Oder soll ich mit Polyester-Horst weiter Sekt trinken? Tu mir das nicht an, ja?«

Wie auf Kommando verlangsamte sich ihre Atmung. Es dauerte, aber sie verlangsamte sich. Ihr Herzschlag ebenfalls. Als sie die Tür einen Spaltbreit öffnete, blickte sie in Heiners freundliche Augen.

»Tut mir leid«, murmelte sie und zog ihn ins Innere.

»Hä? Was denn?«

Sie glaubte ihm, dass er wirklich nicht fand, dass sie sich schämen oder entschuldigen müsste, und würde ihm dafür für immer dankbar sein.

»Sag bloß, du hast keine Lust drauf, in die Provinz zu ziehen?«, fragte er grinsend. »Warum nicht?«

Die Aussicht, zusammen mit Horst und Charlotte Tag um Tag rumbringen zu müssen, mit Blick auf eine Schotterstraße und zwei dürre Haselnusssträucher in Horsts Vorgarten, war derart finster, dass ihre Angst fast zurückkehrte.

Glücklicherweise aber nur fast.

Sie ließ sich an der Tür runterrutschen, bis sie auf dem Boden saß, zog die Knie an und vergrub das Gesicht in ihren Händen. »Was mache ich jetzt?«

»Tja, außer nach Barmbek-Nord zu ziehen gibt es wohl nicht allzu viele Möglichkeiten.« Überraschenderweise klang sogar Heiner ein wenig traurig. Sie nahm die Hände wieder runter.

»Oder denkst du, es gibt noch diese Heime für gefallene Mädchen?«, redete er weiter. »Da stand mal eins am Schwanenwik. Feine Adresse. Du unterschlägst einfach die Hausnummer, sobald dich jemand fragt, wo du wohnst.«

»Ich bin ja wohl kein gefallenes Mädchen! Was soll das überhaupt sein?«

»Frag nicht mich. Aber wirklich, Abby, was willst du sonst machen? Du kannst doch nicht da raus in die Provinz ziehen!«

Nachdenklich sah sie ihn an. »Nee«, sagte sie nach einer Weile. Dann kehrte schlagartig Lebensenergie in sie zurück. Und eine Erkenntnis. »Ich bin einundzwanzig.«

»Ja, und?« Ratlos zuckte er mit den Schultern.

»Ich könnte ausziehen.«

»Sag ich doch.«

»Ich meine, allein leben.«

»Ha.«

Das klang so müde, dass sie ihn strafend ansah. »Warum denn nicht?«

»Ja, und wie willst du das bezahlen? Mir fallen auf Anhieb nicht sonderlich viele Berufe ein, die man ausüben kann, ohne je …« Den Rest des Satzes schluckte er erschrocken runter.

»Was wolltest du sagen – ohne je das Haus zu verlassen?«

»Entschuldige«, murmelte er zerknirscht.

»Wieso? Stimmt doch.« Sie lehnte den Hinterkopf an die Tür und betrachtete die kleinen Papierkunstwerke, die Heiner und sie gebastelt hatten. Durch das Holz hindurch hörte sie ihre Mutter und Horst in der Küche halblaut flüstern. Offenbar wussten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten. »Weißt du was? Mir wird was einfallen.« Abby stand auf. Ein lange vermisstes Gefühl rieselte durch sie hindurch. Entschlossen wie seit Urzeiten nicht mehr öffnete sie die Tür und ging in die Küche zurück.

»Danke für euer Geschenk«, sagte sie zu Horst und Charlotte. Beide sahen zugleich ratlos und verärgert aus, doch bei ihren Worten blinzelte Charlotte beschämt.

»Ich wollte nicht undankbar wirken«, sagte Abby schnell, bevor irgendjemand sonst das Wort ergriff. »Aber ich muss jetzt auf eigenen Beinen stehen. Wenn du zu Horst ziehen willst, dann mach das. Ich freue mich für euch.« Er musste Charlotte wirklich lieben, wenn er in Kauf nahm, dass deren erwachsene Tochter mitkam, um womöglich nie wieder zu gehen, schoss es ihr durch den Kopf. »Aber ich komme nicht mit.«

»Wie bitte?« Ihre Mutter rückte ihren Stuhl zurück, stand sehr gesittet auf, sodass kein Millimeter Stoff ihres Rocks verrutschte, und kam auf sie zu. »Abby, das geht nicht.«

»Doch«, sagte sie verstockt.

»Ich kann dir die Wohnung hier nicht bezahlen. Wie soll das gehen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber es wird funktionieren.«

»Abby, das kann ich nicht erlauben. Sieh dich doch an!« Das hatte anklagend geklungen und war wohl auch so gemeint gewesen. Die Augen ihrer Mutter leuchteten zornig, dann wurde ihr Blick wieder milder. »Niemand von uns erwartet, dass du, was du erlebt hast, schon hinter dir lässt. Du brauchst Zeit, das verstehen wir. Wir haben dich noch … Wir …«

Jetzt hieß es also nur noch »wir«? Und was wollte Charlotte wohl sagen?

»Wir, also, Horst glaubt auch, dass du am besten raus aus der Stadt kommst. In Barmbek, da geht es viel gemütlicher zu. Da ist es sicher.«

»Sicher«, wiederholte Abby leise. Nirgends war es sicher. Überall gab es Menschen, oder etwa nicht?

»Ich lasse das nicht zu«, sagte ihre Mutter noch einmal, doch sie klang kraftlos. Zutiefst enttäuscht, wieder mal.

»Trotzdem«, sagte Abby und schon hinterher, auch wenn niemand etwas sagte: »Es wird schon irgendwie gehen.«

Aber wie, fragte sie sich am selben Abend. Sie hatte Kopfschmerzen, die in unregelmäßigen Abständen in ihrer Schläfe pulsierten, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Müde blickte sie aus dem Fenster, wo im Licht der Straßenlaternen immer noch Schneeflocken herabschwebten.

Zum Abschluss hatte Heiner sie fest umarmt. Auch ihre Mutter und Horst waren gegangen. Seltsamerweise war das keine Schwierigkeit für Abby: Sie konnte nachts allein bleiben, ohne aus Albträumen aufzuschrecken. Selbst in den Träumen bot ihr die Wohnung Schutz. Sie war als Baby hergekommen, sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Und auch wenn sie sich innerhalb dieser vier Wände in den zurückliegenden Wochen immer mehr wie in einem Gefängnis gefühlt hatte, liebte Abby sie. Heiß und innig und mit aller Kraft. Ihr Vater hatte hier mit ihnen gelebt. Er hatte mit ihr auf dem runden Teppich im Wohnzimmer Purzelbäume geschlagen, er hatte sie die Diele hinuntergejagt und sich in der Küche im Wandschrank versteckt, was dessen durchgebrochenen Boden erklärte. Er war überall hier, in jedem Staubkorn, so kam es ihr jedenfalls vor.

Wie, wie in aller Welt sollte sie es schaffen, sich eine neue zu suchen? Was gäbe sie dafür, einfach hier wohnen zu bleiben, aber der Gedanke allein war Blödsinn. Zu groß, zu teuer. Selbst wenn sie eines der Zimmer inserierte, würde sie es sich nicht leisten können. Denn auch wenn das Haus keinesfalls zu den imposanten Altbauten gezählt werden konnte, über die Hamburg so zahlreich verfügte, so lag es doch in einer guten, sprich nicht ganz billigen Gegend.

Sie liebte Eimsbüttel! Es war ein gemütlicher Stadtteil, dennoch belebt, aber nicht hanseatisch vornehm. Außerdem war es ein Stadtteil, in dem ihr nichts passiert war.

Passiert war es in …

Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken.

Doch dann fielen ihr Heiners Worte wieder ein. Ein magischer Regenschirm – was sich anhörte wie der Einfall eines Zehnjährigen. Aber vielleicht hatte seine Idee sie heute dazu gebracht, nicht starr auf das Adressschild aus Email runterzublicken und zu nicken, sondern sich ihrer Mutter und Horst entgegenzustellen. Etwas, das Abby seit ihrem Rückzug aus der Welt nicht mehr getan hatte.

Dieser Rückzug … Wurde es jetzt Zeit, ihn zu beenden? Statt sich zu verstecken, mutig zu sein? Aber woher den Mut nehmen?

Bisher hatte Abby immer behauptet, dass nichts wirklich passiert war. Sie hatte nicht darüber reden, nicht darüber nachdenken wollen. Sie hatte alles so weit von sich geschoben, wie es nur möglich war.

Aber es war nicht möglich.

Alles kehrte immer wieder zu ihr zurück, überfiel sie mal brutal, mal kam es lautlos herangeschwebt. Die Erinnerung. Das Gefühl der Angst, der Verzweiflung. Die Ahnung, sterben zu müssen.

Einen Tag, bevor ihr Studium beginnen sollte, hatte es diese Verkettung von Umständen gegeben. Dunkelheit; ein Verkehrsunfall nahe dem U‑Bahnhof Mundsburg, sodass sämtlicher Verkehr umgeleitet wurde; ein wie leergefegter Bürgersteig und eine Straße, über die nun niemand mehr fuhr. Ihr blonder Pferdeschwanz, der mit einem festen Ruck nach hinten gezogen wurde, ein Männerkörper, der mit ihr rang und plötzlich auf ihr lag und sie hinabpresste, in die kalte, nasse Erde hinein, die nach Moder und Winter roch.

War es ihr Fehler gewesen? Hätte sie nicht den Weg durch den Park nehmen dürfen? Oder ein Kopftuch oder einen Hut tragen? Hätte sie an jenem Tag besser nicht das Haus verlassen? Sie hatte den langen Spaziergang gemacht, um sich das Schulgebäude noch einmal vorfreudig von außen anzusehen.

Bald ist es mein zweites Zuhause, hatte sie gedacht. Bald bin ich eine von den Auserwählten, die geschäftig die langen Flure entlangströmen.

Alles wäre ihr erspart geblieben, wäre sie nicht dorthin gegangen … Wäre nicht dieser Verkehrsunfall passiert, der zur Folge hatte, dass die Autos umgeleitet wurden … Und wären mehr Passanten unterwegs gewesen. Doch es hatte seit Tagen geregnet, ein fieser, ununterbrochener Oktobernieselregen, der von unten und seitlich heranwehte und einem unter die Hosenbeine und Rockschöße kroch.

Was dann kam, wusste sie nur noch, weil sie es anschließend aufgeschrieben hatte. Die echte Erinnerung war fort.

Der Geruch seines Rasierwassers war süß gewesen. Der Kragen seines Mantels mit rotem Satin eingeschlagen. Die Schwärze des Himmels über ihr. Ein Licht, irgendwo in der Ferne. Kälte, die sich durch ihren Mantel in ihre Haut fraß, doch ihr war viel zu heiß, um sie wirklich zu spüren. Ihr Körper schien weit fort, schien jemand anderem zu gehören, von einer anderen Abby bewohnt zu werden.

All diese Eindrücke waren fest verwebt in ihrem Kopf, aber sie waren einzelne Teile, kein Ganzes, an das sie sich erinnern könnte. Scherben eher.

Was würde sie vor sich sehen, wenn alles zurückkam? Würde sie sich daran erinnern können, wie es dazu kam, dass er von ihr abließ? Und eine Erklärung für das Blut bekommen, das an ihren Wangen und Händen klebte, als sie stolpernd nach Hause rannte?

Es schien nicht ihres gewesen zu sein, das jedenfalls hatte ihre Mutter verstört wiederholt. »Alles ganz«, hatte sie gemurmelt, »du blutest nicht, Liebes. Es ist nichts passiert.«

Es ist nichts passiert. Ein Mantra, das sie wiederholt hatte, wieder und wieder. Es ist nichts passiert, esistnichtspassiertesistnichtspassiert.

Und doch war alles passiert. Sie hatte das Gefühl verloren, unverletzlich zu sein. Sie hatte die Hoffnung verloren, beschützt zu werden. Sie hatte sich selbst verloren in diesen Minuten, die sie zappelnd und sich wehrend dagelegen hatte.