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Und wenn wir wieder tanzen E-Book

Kerstin Sgonina

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Beschreibung

Hamburg, 1962: Marie Hansen lebt in der Kleingartensiedlung Zur alten Landesgrenze in Wilhelmsburg. Als Zimmermädchen im Hotel Atlantic wird sie schlecht bezahlt und von den Gästen herablassend behandelt. Aber hier, unter ihren verschrobenen Nachbarn, hat sie eine Heimat gefunden. Bis Marie in einer Februarnacht von einem Tosen erwacht, Schreie sind zu hören – die Siedlung steht unter Wasser. Marie wird gerettet, doch das wenige, was sie besaß, hat sie verloren. Für die nächsten Wochen wird sie bei Effie von Tieck in St. Pauli einquartiert. Die ältere Dame besitzt ein Tanzlokal in der Speicherstadt, das durch die Sturmflut ebenfalls schwer beschädigt wurde. Marie ahnt, dass sich hinter Effies ruppiger Fassade eine tragische Geschichte verbirgt, und beschließt, der verzweifelten Frau unter die Arme zu greifen. Das Danzhus soll wieder ein Ort der Lebensfreude werden! Mit vereinten Kräften bauen die ungleichen Frauen das Lokal wieder auf – und schöpfen durch ihre ungewöhnliche Freundschaft neuen Lebensmut …  

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Seitenzahl: 502

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Kerstin Sgonina

Und wenn wir wieder tanzen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Freundinnen wie wir

Hamburg, 1962: Marie Hansen lebt in der Kleingartensiedlung Zur alten Landesgrenze. Aufgewachsen im Alten Land, hat sie hier in Wilhelmsburg eine Heimat gefunden. Bis sie in einer Februarnacht von einem Tosen erwacht, Schreie sind zu hören – die Siedlung steht unter Wasser. Marie kann sich retten, doch das wenige, was sie besaß, hat sie verloren. Für die nächsten Wochen wird sie bei Effie von Tieck in Sankt Pauli einquartiert. Auch der älteren Dame hat die Sturmflut etwas genommen: Ihr Tanzlokal in der Speicherstadt ist zerstört. Marie beschließt, der verzweifelten Frau unter die Arme zu greifen. Das Danzhus soll wieder ein Ort der Lebensfreude werden! Mit vereinten Kräften bauen die ungleichen Frauen das Lokal wieder auf – und schöpfen durch ihre Freundschaft neuen Lebensmut …

Vita

Kerstin Sgonina arbeitet als Autorin, Journalistin und Lektorin. Mit achtzehn Jahren kam sie nach Hamburg und schlug sich nach ihrem Abitur dort unter anderem als Türsteherin und Barfrau in Sankt Pauli durch. Nach wie vor liebt sie die Stadt an der Elbe heiß und innig, lebt aber heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Berlin. 2021 erschien ihr Roman «Als das Leben wieder schön wurde».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Elisabeth Ansley/Trevillion Images; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01009-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Fill my heart with song

Let me sing forever more

You are all I long for

All I worship and adore

In other words, please be true

In other words, I love you

 

Bart Howard «Fly Me to the Moon (In Other Words)»

1

Hamburg, Atlantic Hotel Freitag, 16. Februar 1962

Eigentlich war es ganz einfach. Man konnte das Putzen als Kampf begreifen und jedem schmierigen Fleck und klebrigen Zahncremerest mit einer Inbrunst entgegentreten, als gelte es, die ganze Welt zu vernichten. Oder man konnte dabei tanzen.

Genau das tat Marie, während sie die Zimmer des Atlantic Hotels reinigte. Damit zog sie nicht selten den Spott der Kolleginnen auf sich, die mutmaßten, sie probe wohl für die Westside Story. Marie machte sich nichts vor: Sie war Zimmermädchen, und für eine Karriere als Kinostar fehlte ihr jegliches Talent. Aber war es nicht viel schöner, den Wedel aus Straußenfedern im selben Rhythmus wie die Hüften zu schwingen? Im Viervierteltakt staubsaugte es sich leichter, auch wenn sie eher wie ein Entenküken aussah als wie die Schauspielerin Natalie Wood. Doch das kümmerte sie nicht. Vor sich hin singend, ließ sie den dunklen Pferdeschwanz schwingen, während sie fettige Fingerabdrücke von den Fensterscheiben entfernte, drehte beim Bettenmachen die Fußspitzen ein und folgte mit den Knien.

Glücklicherweise war bislang nie ein Gast hereingeplatzt. Auch heute, einem Freitagnachmittag, an dem das Hotel vor Aufregung schier zu brummen schien, blieb es auf der dritten Etage angenehm ruhig. Im herrschaftlichen Tanzsaal des Grandhotels würde heute Abend der Abtanzball stattfinden, doch wer daran teilnahm, blieb in den seltensten Fällen über Nacht hier. So wuselten zwar in der Lobby Dutzende aufgeregte junge Damen in glänzenden Kleidern und picklige Jünglinge in bierernsten dunklen Anzügen umher, die Flure in den oberen Etagen aber blieben leer.

Zu gern hätte Marie zu späterer Stunde einen Blick in den Ballsaal geworfen, wenn die Tanzschüler zeigten, wofür ihre Eltern ein halbes Vermögen ausgegeben hatten. Doch dies war ihr letztes Zimmer für heute. Erst weit nach Mitternacht war der Gast aus der 312 angereist, hatte ihr die Hausdame mitgeteilt und explizit um eine Reinigung am späten Nachmittag gebeten. So sang und tanzte Marie sich, nachdem sie stoßgelüftet hatte, vom Bad in den hohen, luftigen Raum zurück, wo Regen gegen die Fensterscheiben prasselte.

«Come on, everybody», sang sie dabei leise, «clap your hands!» Ihr Englisch klang weitaus holpriger als bei Chubby Checker. Sei es drum, es hörte sie ja niemand. «We’re going to do the twist, and it goes like this.» Und dann lauter, welches Lied würde sich schließlich schlechter dafür eignen, geflüstert zu werden? «Let’s twist again, like we did last summer. Yeah, let’s twist again, like we did last year. UUuh, do you …»

Sie stoppte, als sie unter dem Bett etwas Glänzendes entdeckte. Eine Kollegin behauptete ständig, so exotische Dinge wie Strassohrringe und Goldbarren in den Zimmern zu finden, bei Marie waren es meist weit weniger aufregende Überbleibsel. So wie auch jetzt. Leeres Stanniolpapier, rosa, blau und grün, zerknittert und manche noch mit klebrigen Schokoladenresten behaftet. Der Gast hatte eine exorbitante Vorliebe für Süßes, mutmaßte sie, während sie weitere und weitere Papierchen unter dem Bett hervorangelte und langsam ins Schwitzen geriet. Mit dem Vorwerk kam sie dummerweise nicht so weit unter das Bett, sie liebte es aber auch gar nicht, sich in Bauchlage halb hinunterzuschieben, damit ruinierte sie sich bloß die Strumpfhosen. Welches Zimmermädchen konnte es sich schließlich schon leisten, einen endlosen Vorrat davon anzulegen? Also betete sie inständig darum, sich keine Laufmasche zu reißen, während sie bei zwanzig Stanniolpapieren aufhörte zu zählen. Der gute Mann schien überhaupt nicht geschlafen und stattdessen die halbe Nacht lang Schokolade in sich hineingestopft zu haben. Endlich war der flanellweiße Teppich unter dem Bett sauber. Marie stand auf, strich sich behutsam den Rock glatt, beäugte die Strumpfhose von oben bis unten und stellte erleichtert fest, dass sie heil geblieben war.

«Do you remember when», begann sie wieder zu singen und griff, um einen Weg zum Rollwagen zu sparen, auch gleich den Papierkorb, «things were really hummin’, yeaaaaah let’s twist again, twistin’ time is …» Das Stanniolpapier hatte sie schon in den Müllsack geworfen, der halb geöffnet an dem Putzwagen hing, nun hatte sie den Inhalt des Papierkorbs nachschütten wollen, doch dabei war ein zusammengeknäultes Blatt Papier auf den Boden gefallen. Nachdem sie sich gebückt hatte, um es aufzuheben, packte sie die Neugier.

Gab es nicht dieses Sprichwort, die Augen seien die Seele der Menschen? Da war Marie gänzlich anderer Ansicht! Die Leute gaukelten einem doch Gott weiß etwas vor, während sie einen freundlich ansahen. In ihren Papierkörben aber, da fand sich, was sie wirklich ausmachte. Nahm man nur die weltgewandte, wunderschöne Frau von Boyen, die alle Zimmermädchen ehrfürchtig staunen und den Kofferjungen die Augen aus ihren Höhlen kullern ließ. Gestern hatte es ordentlich geklirrt, als Marie in Frau von Boyens Suite den Müll in die Tüte gekippt hatte. Sie hatte zwei leere Flaschen entdeckt, probeweise an einer geschnuppert und denselben Duft eingeatmet, den auch ihr selbstgebrannter Mirabellenschnaps verströmte.

Tatsächlich, hatte sie gesehen, war der Inhalt in den großen braunen Glasflaschen ziemlich hochprozentig. Ihr Etikett wies sie als Frauengold aus, für das Marie im Kino einmal eine Werbung gesehen hatte. Angeblich schenkte die Flüssigkeit Freude und Kraft und schaffte neuen Lebensmut. Nun, das ließ doch Rückschlüsse auf Frau von Boyens Seelenleben zu und nicht etwa ein Blick in ihre hellblauen Augen mit dem betörend dunklen Wimpernkranz.

Im Falle des Gastes aus der 312 stand etwas Interessantes auf dem zusammengeknüllten Blatt Papier. Eine Zahl nämlich, genau in der Mitte mit der Maschine darauf getippt. 89.

Was hatte das zu bedeuten? Fragte sich der gute Mann, ob er dieses Jahr 88 oder 89 Jahre alt wurde oder ob 1989 irgendetwas Interessantes auf der Welt geschähe? Oder schloss er mit sich selbst Wetten ab, wie viele Schokoladenbonbons er in sich hineinstopfen konnte, deren Papiere er anschließend unter seinem Bett entsorgte?

Marie schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den dunklen Müllsack, in dem sie noch mehr zerknülltes Papier entdeckte. Sie entfaltete ein weiteres. 88. Und das nächste? 85. Nun wurde es wirklich sonderbar.

Ein melodisches Ping ertönte und kündigte die Ankunft eines Gastes auf der dritten Etage an. Marie beschloss, für heute ausreichend neugierig gewesen zu sein, und stopfte sämtliche Papiere zurück in den Müllsack. Sie warf einen letzten Blick hinter sich: das Bett ohne auch nur die Idee einer Falte gemacht, der Boden zu hundert Prozent flusen -und stanniolpapierfrei. Gegen die glasklaren Fensterscheiben pladderte der Regen; weiter unten schäumte zornig das Wasser der Außenalster. Die Schränke waren geschlossen, das Licht gelöscht, der Papierkorb an seinen angestammten Platz neben dem Sekretär zurückgekehrt, auf dem der Schokoladenliebhaber einen Koffer mit einer Remington-Reiseschreibmaschine verwahrte.

Zimmer 312 war picobello sauber, da gab es nichts zu beanstanden. Nicht einmal Fräulein Körber, die Hausdame, würde etwas zum Herummäkeln finden können. Zufrieden schob Marie den Rollwagen in den Gang und schloss die Tür hinter sich. Nach dem Ping des Fahrstuhles war niemand vorbeigekommen, was nicht weiter verwunderlich war – der Flur des Atlantic Hotels verlief, von unzähligen Türen gesäumt, in einem ebenmäßigen Quadrat um den Lichthof herum. Man konnte Stunden unterwegs sein, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Leise vor sich hin singend, steuerte Marie den mit Putzmitteln, einer Rolle Müllsäcke, Staubwedel und Staubsauger beladenen Wagen den Flur hinab. Von dem kaum hörbaren Quietschen der Räder abgesehen, war es hier so still, dass sie sich wie im Bauch eines Wals vorkäme, wäre da nicht der Wind, der vor den Fenstern am Ende des Ganges tobte und die bunten Bleiglasfenster klappern und knarren ließ. Bei dem unseligen Wetter wirkte der Gedanke, in wenigen Minuten in ihrem für diese Temperaturen viel zu dünnen Trenchcoat (der allerdings fliederfarben war. Wer könnte einem fliederfarbenen Trenchcoat widerstehen?) auf die Straße zu müssen, wenig verlockend. Auf der anderen Seite würde sie es sich zu Hause herbstlich-gemütlich machen – auch wenn gar kein Herbst war, sondern Februar, auch bekannt als scheußlichster Monat des Jahres –, im Ofen das Feuer entzünden, sich eine Tasse Tee brauen und vielleicht, in einem Anfall von Übermut, ein Schlückchen Schnaps trinken.

Sie brannte am Dienstag doch sowieso neuen. Da konnte sie sich heute auch einmal etwas gönnen.

Beinahe hatte sie die in der Wand versteckte Tür erreicht, in der auf wundersame Weise Zimmermädchen, Kofferjungen und Rollwagen verschwanden, als sie ein lautes Hicksen hörte. Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie verlangsamte ihr Tempo, blickte den langen Gang hinauf und dann hinter sich. Niemand zu sehen. Nun, sie war wohl schon zu lange auf den Beinen.

Hicks.

Schon wieder. Und dann ein lang gezogenes Ächzen.

Marie ließ den Wagen ausrollen, parkte ihn an der Seite und warf einen Blick um die Ecke. Zunächst sah sie nichts Außergewöhnliches, bloß eine Reihe dunkler Holztüren, die allesamt geschlossen waren. Doch bewegte sich ganz hinten nicht etwas?

Ein neuerliches Hicksen, dann gab, wer auch immer dort auf dem Marmorfußboden hockte, einen Rülpser von sich.

Als Marie näher kam, fiel ihr Blick auf volles blondes Haar, das im Nacken zu einem Dutt gebunden war. Die Dame, die es sich auf den kalten Steinplatten bequem gemacht hatte, war unzweifelhaft Frau von Boyen. Sie trug ein schwarz-weißes Kostüm, bei dem Marie auf Chanel tippte, schwarze Lackstiefeletten und hatte sich, das sah sie, als Frau von Boyen den Kopf hob, die Augen mit Kajalstift schwarz umrandet. Da sie verschwitzt wirkte und womöglich sogar geweint hatte, befand sich die schwarze Farbe nunmehr fast überall – sie zog sich in verkrusteten Linien die Wange hinab.

«Kann ich Ihnen helfen, Frau von Boyen?»

Die Dame starrte sie an, als sehe sie ein Gespenst.

«Ich bin Marie, Ihr Zimmermädchen.»

Frau von Boyen, die heute nicht ganz so wunderschön aussah wie sonst, verzog das Gesicht und begann kläglich zu schluchzen. Dabei murmelte sie etwas, das Marie beim besten Willen nicht verstand.

Marie ging in die Hocke und hoffte, ihr Rock möge es ihr verzeihen und nicht etwa mit lautem Ratsch reißen. «Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.»

Als Frau von Boyen noch lauter zu weinen begann, wurde Marie in eine Wolke aus Parfum und Alkoholdünsten gehüllt. Behutsam legte sie der Dame die Hand auf den Arm.

«Kommen Sie. Ich helfe Ihnen.»

Es dauerte ein bisschen, bis Frau von Boyen nickte, und noch etwas länger, bis sie sich aufrappelte. Sie schwankte gefährlich. Marie nahm ihre Hand, legte den Arm um ihre Taille und manövrierte sie Schritt für Schritt bis zur Suite 310. Aus dem Nachbarzimmer war lautes Klappern zu hören, dann eine Männerstimme, die verärgert etwas rief. Offenbar war der bonbonverrückte Gast auf sein Zimmer zurückgekehrt, doch Marie hatte genug damit zu tun, sich um Frau von Boyen zu kümmern.

«Wissen Sie, wo Ihr Schlüssel ist?»

Natürlich hatte auch Marie einen Schlüssel, wie sonst sollte sie wohl in den Suiten sauber machen? Doch ihr war strikt untersagt, ihn nach der Reinigung noch zu benutzen.

Wortlos vor sich hin schluchzend, deutete Frau von Boyen auf die an ihrem Ellbogen baumelnde Handtasche. «Da drin», lallte sie und hielt ihr die cognacfarbene Handtasche vor die Nase, in deren Goldverschluss in kleinen Buchstaben Hermès eingraviert war. «Nun machen Sie schon auf.»

Nein, sie nahm doch lieber ihren eigenen. Mit einem freundlichen Lächeln schob Marie Frau von Boyens Ellbogen wieder nach unten, öffnete die Tür zur Suite und knickste.

«Bitte, Frau von Boyen. Es ist offen.»

«Aber ich will nicht. Ich will nicht allein sein!»

Immerhin klangen ihre Worte nun etwas verständlicher. Mitleidig sah Marie sie an. So schön, so reich und doch so unglücklich, wie es schien. Vielleicht aber hatte sie nur zu viel Frauengold intus, manche Menschen weinten ja, wenn sie zu viel tranken, statt wie die meisten anderen vorübergehend in Glückseligkeit zu verfallen.

«Kann ich jemanden benachrichtigen? Soll ich Ihren Mann anrufen lassen?»

«Den Schuft?», sagte Frau von Boyen und schüttelte so heftig den Kopf, dass sie das Gleichgewicht verlor und gegen die Wand sank.

«Hoppla!» Marie gelang es, sie aufzufangen, bevor sie zu Boden ging. «Ich bringe Sie hinein.»

Gesagt, aber noch längst nicht getan. Unter Frau von Boyens Gewicht schwankend, touchierte Marie mit der Stirn den Türrahmen, was sicher eine ganz schöne Beule zur Folge haben würde.

«Nie wieder in meinem Leben will ich mit dem reden!», fuhr Frau von Boyen unter Tränen fort. «Niemals wieder! Sie wissen doch, wie die Männer sind, oder? Gaukeln einem Liebe vor, und dann …» Die Tränen schossen ihr nur so aus den Augen. «Meine besten Jahre habe ich ihm geschenkt. Und ich werde sie nicht wiederbekommen. Ich war Modell, ich bin in einem Kaufhaus schaugelaufen. Ich war die Schönste von allen Mädchen. Die Welt hätte mir offengestanden. Paris! New York! Rio! Und nun …»

«Sie sind immer noch sehr schön», ächzte Marie, während sie sie auf die Bettkante verfrachtete. «Sie sind die hübscheste Frau, die ich je gesehen habe. Wirklich.»

Frau von Boyen ließ sich nach vorn fallen und landete mit dem Gesicht voran an Maries Schulter. Unsicher, was sie tun sollte, tätschelte Marie ihr den Arm.

«Können Sie mich festhalten?», flüsterte Frau von Boyen in Maries Bluse hinein.

«Natürlich.» Auch wenn es ihr seltsam erschien. Zimmermädchen zu sein, wirkte sich nicht gerade auf die Konversationsfähigkeiten aus. Sie war ja stets allein und sang, statt zu reden. Die einzigen Probleme, vor die ihre Arbeit sie stellte, waren klebrige Flecken und hin und wieder einmal ein nackter Mann im Schrank, der aus Furcht, dem Ehemann seiner Geliebten entgegenzublicken, nach einem Kleiderbügel griff.

Einen Gast hatte sie bislang nie trösten müssen.

«Sie können sicher immer noch schaulaufen», sagte sie nach einer Weile.

«Ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Uralt.» Frau von Boyen, die zumindest zu weinen aufgehört hatte, schüttelte den Kopf. «Wie alt sind Sie?»

«Siebenundzwanzig.»

«Verheiratet?»

Marie schüttelte den Kopf.

«Aber einen Verlobten haben Sie.»

«Nein.»

Marie und die Männer, nun … Die Kurzfassung lautete: Es passte einfach nicht, mit keinem der Herren, die ihr bislang über den Weg gelaufen waren. Die Langfassung beinhaltete eine Menge Verehrer, nicht jedoch ihre, sondern die ihrer Mutter, die eine begnadete und eine Zeit lang auch eine beinahe berühmte Sängerin gewesen war. Abend um Abend hatten die Männer mit schmachtenden Blicken in ihrer Küche gesessen und Marie sowohl Furcht als auch Eifersucht eingeflößt. Keiner von ihnen war lange geblieben. Und stets war die Sache damit ausgegangen, dass ihre Mutter weinend und mindestens so stark nach Alkohol riechend wie Frau von Boyen auf dem Sofa eingeschlafen war.

Sie wurde sich bewusst, dass Frau von Boyen sie mit trübem Blick anstarrte. «Wie machen Sie das?»

Verwirrt hob Marie die Schultern. «Was meinen Sie?»

«Wie leben Sie, wenn Sie nicht verheiratet sind? Sie müssen doch … Haben Sie ein eigenes Bankkonto? Wer hat Ihre Wohnung angemietet, Sie selbst?»

Marie unterdrückte ein Lächeln. «Meinen Lohn erhalte ich in bar, und das Sparkonto hat mein Adoptivvater für mich eingerichtet, als ich noch nicht volljährig war. Aber das Haus, in dem ich lebe, habe ich selbst gekauft.»

«Ein ganzes Haus», echote Frau von Boyen erstaunt. «Da müssen Sie aber gut verdienen als Zimmermädchen.»

Nun lächelte Marie doch. «Es befindet sich in einem Schrebergarten. Eigentlich ist es eher eine Hütte, die sich vor dem Wind wegduckt. Und die Pacht für das Grundstück kostet kein Vermögen, glücklicherweise.»

«Wie hübsch», sagte Frau von Boyen, deren Interesse an Maries Leben nun erschöpft schien. Sehnsüchtig blickte sie zu ihrem Koffer. Ob sich darin noch ein paar Flaschen Frauengold befanden oder ein mit Wodka gefüllter Silberflachmann? Nun, es war nicht an Marie, darüber zu richten. Sie erhob sich, strich sich den Rock glatt und knickste erneut.

«Ich lasse Sie nun allein.»

«Mhm», murmelte Frau von Boyen und ließ sich ohne einen weiteren Blick rücklings aufs Bett fallen.

 

«Fräulein Hansen, kommen Sie bitte zu mir.»

Marie, die gerade aus dem Personallift in den schummrig beleuchteten Flur im Untergeschoss des Grandhotels getreten war, erstarrte.

Zu Fräulein Körber zitiert zu werden, war nie ein gutes Zeichen. Nervös blickte sie an sich hinab und stellte erschrocken fest, dass sie eine Menge verschmierten Kajal auf der Bluse spazieren führte. Doch deswegen würde Frau Körber sie ja kaum sprechen wollen, schließlich hatte die Hausdame zwar durchaus einen siebten Sinn für Schlampereien der Zimmermädchen und schoss immer genau dann um die Ecke, wenn sich eine Kollegin im Hauseingang neben dem Personaltrakt eine heimliche Zigarette anzündete, doch sie hatte Marie ja seit deren überraschendem Besuch in Suite 310 nicht zu Gesicht bekommen.

«Fräulein Hansen?», schallte die erstaunlich dunkle Stimme der nicht besonders hochgewachsenen Hausdame durch den Flur.

«Ich komme!», rief Marie und setzte sich eilig in Bewegung. Während das Atlantic Hotel in den oberen Etagen ebenso behaglich wie elegant war, war der Personaltrakt ausschließlich dem Praktischen verpflichtet. Der Boden war mit abblätterndem Linoleum belegt, dessen Tannengrün das wenige Licht verschluckte, das aus den Funzellampen an der Decke seinen Weg nach unten fand.

Beim Anblick von Fräulein Körbers Bienenkorbfrisur wunderte Marie sich, dass ihre Vorgesetzte nie nach Haarspray duftete. Wie bekam sie ihre Unmengen an aschblondem Haar dazu, senkrecht in die Höhe zu stehen? Marie sähe bestenfalls so aus, wenn sie kopfüber an einer Schaukel hinge.

Ohne ein weiteres Wort trippelte Fräulein Körber den Gang entlang. Hier unten roch es nach Waschmittel, und die Luft troff nur so von Feuchtigkeit. Ein paar Türen weiter befand sich der Wäschetrakt, wo gespült und geplättet wurde. Das dumpfe Dröhnen der Maschinen glaubte Marie manchmal bis ins ferne Wilhelmsburg zu hören, wo sie lebte.

Mit leicht versteiften Schultern, weil sie sich fragte, was die Hausdame von ihr wollte, folgte Marie ihr bis in deren Büro.

«Fräulein Hansen», sagte Fräulein Körber, kaum hatte Marie die Tür hinter sich geschlossen. «Mir wurde eine Beschwerde über Sie angetragen.»

In dem winzigen fensterlosen Raum fühlte sich Marie augenblicklich schuldig. Vielleicht lag es an dem grellen Licht der Neonröhre, vielleicht aber auch an dem Umstand, dass sie Fräulein Körber nun dicht gegenüberstand. Gerade so passte zwischen sie ein schmaler Schreibtisch, das einzige Möbelstück in dem Raum.

«Ich muss wohl nicht erst betonen, wie ungern ich diesen Umstand zur Kenntnis nehme.»

Erst jetzt sickerte zu Marie durch, was Fräulein Körber gesagt hatte. Moment, eine Beschwerde?

Sie wäre allerdings dumm, diese Frage laut auszusprechen. War anderswo Angriff die beste Verteidigung, so hieß es im Grandhotel: Wer schweigt, stirbt zuletzt.

So nickte sie nur und guckte angemessen nachdenklich wie auch vorsorglich entschuldigend.

«Haben Sie dazu etwas zu sagen?»

Wenn sie wüsste, wie der Vorwurf lautete, wäre es erheblich leichter, dazu Stellung zu beziehen. Aber auch das sprach sie nicht aus. Stattdessen knickste sie und lächelte, oh, wie sie lächelte, denn das war das Wichtigste. Aber ja nicht zu fröhlich, andernfalls würde ihr Arroganz unterstellt werden. Allzu deutlich zur Schau gestellte Demut wiederum behagte Fräulein Körber ebenso wenig. Es hieß also, den äußerst schwierigen Mittelweg zu finden.

«Sie enttäuschen mich», sagte Fräulein Körber kalt.

«Ich habe Frau von Boyen nur deswegen in ihr Zimmer begleitet, weil ich sie nicht betrunken auf dem Flur zurücklassen wollte», platzte Marie heraus. Höfliches Schweigen hin oder her, dass sie etwas Falsches getan hatte, war nicht einzusehen. Sie hatte doch nur geholfen.

Fräulein Körber blinzelte irritiert. Sie griff nach einem Brillenetui auf dem Schreibtisch und setzte sich ein Schildplattgestell auf die Nase, das Maries Einschätzung nach nur Fensterglas enthielt.

«Sie haben Frau von Boyen in ihrem Zimmer aufgesucht?»

Perplex stockte Marie. Das aber müsste ihre Vorgesetzte doch wissen, wenn sie sie deswegen hierherzitiert hatte.

«Sie enttäuschen mich, Fräulein Hansen, sogar weit mehr, als ich es für möglich gehalten hatte. Sie suchen einen Gast in seinem Zimmer auf?»

«Es war eine, ähm, Dame.» Die Erklärung nützte jedoch nichts, das sah sie Fräulein Körber an der aufwärts gebogenen Nasenspitze an. «Und nein, ich habe sie nur dorthin gebracht. Frau von Boyen war betrunken.»

Von einem zum nächsten Augenblick wirkte Fräulein Körber fuchsteufelswild. «Wir verlieren kein schlechtes Wort über unsere Gäste!»

«Es ist ja auch eine Tatsache, keine Beleidigung.»

«Fräulein Hansen!», donnerte die Hausdame, und ihre Frisur geriet gefährlich ins Wanken.

Marie wünschte, sie könnte sich darüber amüsieren, denn eigentlich war es lustig. Tatsächlich aber wurden ihr die Knie weich. Widerworte wurden im Atlantic nicht geduldet, nicht von Fräulein Körber jedenfalls. Bisher hatte Marie nie Anlass zu einem derartigen Gespräch geliefert – sie wusste also nicht, was nun auf sie zukam.

«Um Frau von Boyen kümmere ich mich später. Aber nun zu dem Grund für die Beschwerde. Sie haben in Zimmer 312 etwas durcheinandergebracht.»

«Durcheinanderge…» Marie konnte es nicht fassen. Sie? Rasch ging sie gedanklich die Räume und Suiten durch, die heute auf ihrer Liste gestanden hatten. 312 … Aber natürlich, das Zimmer neben Frau von Boyens Suite. Das war doch der Schokoladenliebhaber gewesen.

«Ich habe dort nichts durcheinandergebracht», sagte sie leise und war sich voll und ganz bewusst, wie dünn das Eis unter ihren Füßen gerade wurde. «Ich habe wie überall sonst meine Arbeit erledigt, und zwar gewissenhaft wie immer.»

«Keine Widerrede. Dann hätte sich der Gast ja wohl kaum über Sie beschwert. Ihr Arbeitsethos, Fräulein Hansen», sagte Fräulein Körber, als habe sie ihr nicht zugehört, «lässt arg zu wünschen übrig. Glauben Sie, ich wäre hier …», mit dem Kinn deutete sie halbkreisförmig durch den Raum und auf den mahagonifurnierten Schreibtisch, «… wenn ich mir nicht zu jedem Zeitpunkt zum Ziel gesetzt hätte, vortreffliche Arbeit abzuliefern?» Wenn sie zornig war, rollte sie das R. Jetzt schien sie exorbitant zornig zu sein. «Es gilt zu jeder Stunde, in jedem Augenblick, Perfektion anzubieten. Dieses Haus gehört nicht umsonst zu den besten der Welt. Unser Anspruch ist Vollkommenheit, nicht mehr, doch gewiss auch nicht weniger.»

«Aber was soll ich in dem Zimmer getan haben?»

«Der Herr aus der 312 war sehr unglücklich darüber, dass Sie seine Unterlagen durcheinandergebracht haben.»

Marie blinzelte verwirrt. Auf dem Sekretär hatte eine Reiseschreibmaschine gestanden, die sie nicht angerührt hatte. Bloß den Staubwedel hatte sie hinübereilen lassen, das war alles. Und an Unterlagen konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Nur an Bonbonpapier unter dem Bett und wirre Zettel mit Zahlen im Papierkorb. Der Herr schien ja zweifelsohne ein reichlich eigenartiger Zeitgenosse zu sein, aber wie kam er dazu, sich über Marie zu beschweren?

«Sie haben seine Unterlagen durcheinandergebracht», wiederholte Fräulein Körber.

Mit einem Mal kam Marie das Büro noch kleiner und beengter vor. Sie glaubte, Fräulein Körbers Seife zu riechen. Damit, schoss ihr überflüssigerweise durch den Kopf, richtete sie sich das Haar: Seifenlauge, das hatten vor zehn Jahren doch die Ärmeren unter den Rockabillys immer benutzt, um ihre Tollen zu frisieren.

«Ich versichere Ihnen, ich habe nichts in Unordnung gebracht.»

«Der Gast sagt etwas anderes.»

Und der Gast, vervollständigte Marie in Gedanken, hat immer recht. Selbst wenn er nackt im Schrank steht – was immerhin bei dem Herrn aus der 312 nicht der Fall gewesen war.

Wieso dachte sie an so etwas Albernes? Sie arbeitete zu lange hier, um sich des Ernstes der Situation nicht gewahr zu sein. Unzählige Frauen hatte sie in den drei Jahren kommen und gehen sehen. Manche waren wegen angeblicher Liebschaften mit den Gästen vor die Tür gesetzt worden, eine hatte den Verlust ihrer Stelle einem schwellenden Bauch zu verdanken, bei den meisten aber gab es überhaupt keine Erklärung. Bloß Fräulein Körbers harten Blick hinter Fensterglasbrillengläsern.

«Es tut mir sehr leid, sollte ich meine Arbeit in diesem Fall nicht zur Zufriedenheit des Herrn geleistet haben. Ich versichere Ihnen, dass das nicht meine Absicht war.» Alles in ihr knirschte widerwillig. Sie wollte nicht buckeln, doch was blieb ihr anderes übrig? Ihr Sparkonto barg ganze zwanzig Pfennige, hinzu kam ein äußerst dürftiger Notgroschen. Damit kam niemand weit, nicht einmal sie, die gelernt hatte, mit ausnehmend wenig auszukommen.

Streng sah Fräulein Körber sie über das Schildplattgestell hinweg an. Sie hatte graue Haut, sogar gräuliche Lippen, und niemand wusste, wie alt sie eigentlich war. Doch das war auch nicht wichtig. Es schien, als sei sie schon immer hier gewesen und würde es bis zum Ende aller Zeiten sein.

«Eine Woche», sagte Fräulein Körber leise.

Marie schluckte.

«Ohne Bezahlung, aber das versteht sich ja von selbst. Seien Sie pünktlich, wenn Sie kommenden Samstag wieder zum Dienst erscheinen. Ich denke, auch das versteht sich von selbst. Guten Tag.»

Blinzelnd starrte Marie sie an. Eine Woche, hämmerte ihr durch den Kopf. Eine Woche ohne Lohn. Dabei musste sie die Pacht bezahlen und dringend das Dach reparieren, das dem seit einer Woche andauernden Sturm kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte.

 

Der Schleichweg vom Bahnhof Wilhelmsburg am Deich entlang zu der Kleingartensiedlung Zur alten Landesgrenze gestaltete sich schon an normalen Tagen schwierig, heute jedoch kam Marie nur mit Mühe voran. Ihre Absätze versanken im Matsch, während auf der anderen Deichseite das Wasser mit einer Lautstärke gegen die Umrandung des Spreehafens klatschte, die sie unwillkürlich die Schultern hochziehen ließ. Ihr fliederfarbener Trenchcoat schlackerte, der kalte Regen hatte sich durch den Stoff hindurchgefressen und rann ihr nun in schmalen Bahnen unter der dünnen Bluse die Schultern hinab.

Ihre Zähne klapperten, der Schirm entwickelte ein Eigenleben und schoss mal nach rechts, dann nach links, verharrte aber nie auch nur eine Minute über ihrem Kopf.

Neben den Utensilien, die sie für eine Dachreparatur benötigte, hatte sie mit einem neuen Rock geliebäugelt, den sie im Kepa-Kaufhaus entdeckt hatte. Obwohl die Kleidung dort nicht teuer war, überstieg der glockig fallende Stück aus mauvefarbenem Leinen bei Weitem ihre finanziellen Möglichkeiten. Ihre Nachbarin Rosalind hatte schon mit einem Haufen Schnittmustern gewedelt, doch sie sahen erstens viel zu kompliziert für Maries bescheidene Fähigkeiten aus, zweitens wirken sie so altbacken, als stammten sie von 1915. Marie wollte einen modernen Rock, der sanft schwingend bis kurz unterhalb der Knie fiel, und kein Ungetüm aus Stoff, unter dem man eine Isetta parken konnte. Ein neuer Schirm wäre zudem nicht übel in Anbetracht der Tatsache, dass ihrer gerade aus ihrer Hand geflogen war und auf Nimmerwiedersehen in der Dunkelheit verschwand.

Finster sah sie ihm nach. Was sollte sie eine ganze Woche lang tun, wenn sie nicht arbeitete?

Als sie die ersten schaukelnden Lichter der notdürftig zusammengenagelten Hütten erblickte, drang eine heisere, vom Sturm verzerrte, aber wohlbekannte Stimme an ihr Ohr.

«Na moin, moin, wer eilt denn da durch Nacht und Wind?»

Ihr Nachbar kam durch den Matsch auf sie zugestapft. Peer trug einen leuchtend gelben Friesennerz und hatte die Kapuze weit in die Stirn gezogen. Kaum mehr als die mit Torf gestopfte Pfeife und seine dunklen, lustig blitzenden Augen waren darunter zu erkennen.

«Was machst du denn zu dieser Uhrzeit noch draußen?», fragte Marie und schob eine klatschnasse Strähne unter ihr durchfeuchtetes Kopftuch zurück. Die Tropfen perlten von ihren Wimpern ab, und ausnahmsweise war es mal von Vorteil, sich keine Wimperntusche leisten zu können und auch keinen Kajal, denn sonst sähe sie sicher aus wie Frau von Boyen.

«Heidewitzka», brüllte Peer zurück, statt ihr zu antworten, und grinste. «Das is ma ’n Wetterchen, ne? Will noch schnell zu Kurt, n Lütt un Lütt besorgen. Bei dem Schietwedder braucht man was, das einen wärmt, findste nich? Und da wir doch erst Dienstach den Schnaps brennen», er zuckte mit den Schultern, und sein wettergegerbtes Gesicht, das nur aus Falten zu bestehen schien, glänzte vom herabströmenden Regen, «muss ich mir eben anders behelfen, nech? Was ’n los mit dir, min Deern? Büschen betrübt siehste aus.»

Marie hatte keine große Lust, von ihrem Tag zu erzählen. So wie alle anderen Nachbarn war auch Peer der Ansicht, dass sie viel mehr könnte, als Betten zu machen und Bäder zu reinigen. Doch das sagte sich so leicht.

«Wir können auch morgen schon loslegen», rief sie stattdessen, um den Wind zu übertönen, der noch einmal an Stärke zugenommen hatte. «Ich habe unverhofft früher freibekommen.»

Sie arbeitete meist an den Wochenenden, dafür waren der Dienstag und der Mittwoch ihre freien Tage.

«Na, was, das ja man fein! Dann gehen wir schon morgen ans Werk, ich bin dabei, Marieken! Aber nu sach ma, was is los?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nichts. Ich bin nur müde.»

«Ja, Mensch, kein Wunder, wenn de dich den ganzen lieben langen Tach abrackerst, für ’n Appel und ’n Ei. Wieso suchst du dir denn nich ’n netten Mann?»

Nicht auch noch das, dachte Marie, nicht Peers berüchtigte Verkupplungsversuche, bei denen sie sich regelmäßig mit steinalten Herren konfrontiert sah, die sich kaum ohne Krückstock fortbewegten.

«So einen wie mich, nech?» Er grinste und zwinkerte ihr zu. Niemals würde Peer tatsächlich mit ihr zu flirten versuchen, es war bloß seine Art, sie aufzumuntern. Sie mochte den krummbeinigen Kauz. Er war die gute Seele der Siedlung, dessen alkoholumnebelter Blick immer gerade noch ausreichend klar war, um Trauer oder Verzagtheit zu erkennen und alles dafür zu tun, um sie zu vertreiben.

«Soll ich dir ’n Lütt un Lütt mitbringen? Und dann erzählste dem ollen Onkel Peer, wo dich der Schuh drückt?»

Grinsend schüttelte sie den Kopf. Das Lieblingsgetränk der Hafenarbeiter bestand aus auf zwei Gläser verteiltem Bier und Schnaps, die mit nur einer Hand balanciert werden mussten und exakt gleichzeitig auf die Zunge zu fließen hatten. Man konnte kaum einmal Luft holen und war schon betrunken, und das war für heute Abend nicht ihr erklärtes Ziel.

«Schade, Deern.» Er legte den Kopf schief, und noch mehr Regen rann sein rundes Gesicht hinab. «Dann man tau, und gräm dich nich so, versprochen? Bist doch noch jung! Und hübsch! Solltest freitagabends unterwegs sein und tanzen!»

Sie zuckte mit den Schultern. «Vielleicht nächsten Freitag.»

«Jau, dann nächsten Freitach. Mach’s gut und lass dich aufm Weg nich fressen.»

Lächelnd sah sie die gedrungene Gestalt im Friesennerz in Richtung Hafenkiosk wanken. Als sie sich wieder den Lichtern zuwandte, fühlte sie sich fröhlicher. Sie würde eben das Beste aus der Situation machen. Und wenn sie schon nichts schneidern konnte, weil ihr neben dem Talent eben auch der Stoff fehlte, dann konnte sie ja, nun … zeichnen. Ja, sie könnte zeichnen üben, darin war sie zeit ihres Lebens schlecht gewesen. Und ihre Hütte aufräumen. Außerdem … Ach was, ihr würde schon etwas einfallen.

Entschlossen, sich von Fräulein Körber und dem Gast aus der 312 nicht die Laune verderben zu lassen, stapfte sie auf die Kleingartensiedlung zu. Nach dem Tod ihrer Mutter war Marie im Alten Land bei Adoptiveltern aufgewachsen, doch nirgendwo auf der Welt fühlte sie sich so geborgen wie in der Alten Landesgrenze, die seit sechs Jahren ihr Zuhause war. Im Frühling verstreuten ihre Nachbarn und sie gemeinsam Samen in der Erde, sie buddelten Kartoffeln ein, deren Grün auf dem Deich wie Unkraut wucherte, und veranstalteten Feste. Es gab Erntetage, Schnapsbrenntage, Festtage, von denen man im Rest Deutschlands noch nie gehört hatte, sowie Dialekttage, an denen die Sorben oder die Ostpreußen unter ihnen ausschließlich in ihrer Sprache redeten, während alle anderen lachend versuchten, sie zu verstehen. Selbstverständlich waren sich nicht alle grün, es gab immer jemanden, der grummelte oder sich beschwerte, aber im Großen und Ganzen kamen alle gut miteinander aus. Wenn sie es sich aussuchen könnte, dauerhaft im Atlantic zu wohnen oder hier, sie würde immer wieder ihre blassgrün gestrichene kleine Hütte wählen.

Durch die Fensterläden der umstehenden Häuser drang funzeliges Licht nach draußen. Die Hütten sahen aus, als würden sie sich am liebsten in den schlammigen umliegenden Wiesen verkriechen. Lautstark pfeifend umtoste sie der Sturm und zog und zerrte an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Immer wieder bis zu den Knöcheln im Matsch versinkend, stiefelte Marie an Mechthilds braun gestrichener Hütte vorbei – der ersten Adresse am Deich, wie seine Bewohnerin gern sagte. Unter den Böen hinweg duckten sich Peers und Tomtoms Häuser, die fast ausschließlich aus Wellblech bestanden. Eiskalt war es darin im Winter und zum Sterben heiß in den Sommern. Wie die beiden das aushielten, war Marie schleierhaft. Nun, von Peer wusste sie ja, wie er für Wärme sorgte, mit Schnaps nämlich, wie aber für Abkühlung?

Den schmalen, krummen Pfad säumten weitere einstöckige Bauten, ein paar Beerensträucher, deren Zweige nackt und kalt im Wind schwankten, und drei riesige Buchen, deren Eckern ein sättigendes, wenn auch nicht gerade köstliches Mehl ergaben. Die letzten Meter bis zu ihrer eigenen Hütte waren nicht mehr anstrengend, der Wind trieb sie, vom Deich her durch die Siedlung schießend, vor sich her.

Marie stieß einen kleinen Seufzer aus, als ihr angesichts der unebenen Sauerkrautplatten einfiel, dass sie dringend die Außenwände streichen musste. Bei ihrem Einzug war sie einundzwanzig Jahre alt gewesen und gerade Hals über Kopf aus dem Haus ihrer Adoptiveltern geflüchtet, das ihr einengend und düster erschienen war. Dagegen hatte die Schrebergartenhütte regelrecht possierlich ausgesehen mit den lindgrünen Wänden und den weiß lackierten Fensterrahmen. Jetzt hingegen wirkten sie bloß grau und holzwurmzerfressen, das Grün verblichen, das Dach löchrig, und nein, weiter wollte sie nicht darüber nachdenken, dass sie zwar nun eine Woche Zeit hatte, um etwas zu tun, aber kein Geld, um Farbe oder neues Wellblech zu kaufen.

Nicht die Laune verderben lassen!

Marie drehte den Knauf, trat einmal fest gegen die bei feuchtem Wind klemmende Tür und öffnete sie Stück für Stück, wobei die Scharniere verärgert quietschten. Das kleine niedrige Zimmer, in das sie trat, war eiskalt und düster. Durch die Wände verflog die Wärme schneller, als man bis zehn zählen konnte. Aber sie würde einfach so viel Holz in den Kanonenofen stopfen, wie hineinpasste, und sich dann mit einer Tasse Tee in ihren Lieblingssessel kuscheln. Und bis es richtig warm war, würde sie ein bisschen tanzen.

Das kostete schließlich nichts!

Mit spitzen Fingern hängte sie ihren durchnässten Mantel auf, schlüpfte aus den Stiefeln, deren sonst cognacfarbenes Leder vom Regen und Matsch rabenschwarz war, überlegte, ob sie den knielangen Rock gegen eine Wollhose tauschen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Bloß rasch Wasser für den Tee aus dem Brunnen holen, nachdem sie Feuer gemacht hatte. Als die ersten Flammen im Ofen knisterten, griff sie nach dem Blecheimer, zog an der Tür und wurde, kaum draußen, von einem derart kräftigen Windstoß erfasst, dass sie zur Seite taumelte. Den Henkel des Eimers fester umfassend, sah sie nach Herbert, ihrem Huhn, dem sie aus Gründen, die sie nicht mehr erinnerte, einen Männernamen verpasst hatte, und stieß, als sie den Kopf wieder hob, mit etwas Braunem, unangenehm Hartem zusammen.

«Autsch!»

«Dein Fensterladen is kaputt», bemerkte Tomtom trocken, dessen länglicher Kopf unter einer Pickelhaube aus Pappe verschwand, die Regen und Wind ziemlich übel zugerichtet hatten. Er war es jedoch nicht, gegen den Marie gelaufen war, sondern gegen einen Bären. Genauer gesagt einen Menschen im Bärenkostüm, dessen Fell aus Stroh bestand und aus diesem Grund das glatte Gegenteil von kuschlig weich war.

«Ich weiß», gab sie zurück und musterte neugierig die dritte Gestalt im Bunde, deren Gesicht und Haare unter schwarzem Ruß kaum erkennbar waren. «Wieso seht ihr so aus, wie ihr ausseht? Es ist doch noch gar nicht Fasching.»

«Wir illustren Herrschaften haben uns zum Ziel gesetzt, Väterchen Frost zu vertreiben», erwiderte Tomtom. «Dafür ist es nie zu früh.»

«Das stimmt wohl.» Mit schräg gelegtem Kopf blickte sie den Bären an, dessen Strohkostüm für dieses Wetter nun gar nicht gemacht war. Jeder einzelne Strohhalm bog sich im Wind, und wenn er Pech hatte, würde eine weitere Böe ihn unweigerlich zu Boden fegen. «Wer bist du denn?»

«Karl», erklang es dumpf unter dem Bärenschädel hervor.

«Pass nur gut auf, dass dein Kopf den Abend überlebt», sagte Marie. «Ich habe daran mitgebastelt und mache es kein zweites Mal.»

«Jau, jau, ich passe auf», lautete die dumpfe Antwort.

Das Kostüm war ein Geschenk an Rosalind gewesen, die ihre schlesische Heimat, gerade wenn der Winter nicht weichen wollte, sehr vermisste. Die alte Dame hatte ihnen einst von dem Brauch erzählt, der auf Polnisch Wodzenie niedźwiedzia hieß und auf Deutsch «Bären führen».

«Damit kommt der Frühling, ihr werdet schon sehen.»

Marie bezweifelte, dass der Frühling auf die drei Gestalten hören würde, die jetzt lautstark zu singen begannen. Nun erkannte sie auch, wer im dritten Kostüm steckte, das den Tod verkörperte, Kristin nämlich, die mit zwei Kindern und einem Ehemann in der direkten Nachbarschaft Peers und Tomtoms lebte.

«Du weißt, warum wir hier sind?», fragte Tomtom mit tiefer Stimme.

«Weil ihr so verrückt seid, dass ihr glaubt, den Sturm vertreiben zu können?»

«Nee. Um Schnaps zu trinken.»

Nun hätte Marie ein bisschen beleidigt sein können, dass sie ausgerechnet bei ihr anfingen. Denn das taten sie allem Anschein nach, wäre sie die Zweite oder Dritte, würde sie es an dem hochprozentig riechenden Atem der drei erkennen, gegen den selbst ein Sturmtief nicht ankam. Bären führen war eigentlich ein mäanderndes Trinkgelage durch die Nachbarschaft, bei dem derjenige, der den drei Gestalten den geforderten Alkohol verweigerte, so gehässig ausgeschimpft wurde, dass er es sich im nächsten Jahr zweimal überlegte.

Auf der anderen Seite wunderte es sie natürlich nicht. Ihr Schnaps war der beste, das zum einen, zum Zweiten hatte sie immer welchen im Haus.

«Dann nichts wie rein mit euch.»

Schon standen die drei Gestalten im Haus, ließen sich mit zufriedenen Gesichtern – die jedenfalls, die man erkennen konnte – einschenken und tranken, was Karl wegen seines Bärenkopfes nicht ganz leichtfiel.

Eine halbe Flasche Kartoffelschnaps später griff Tomtom nach Maries Arm und begann sie durch den kleinen Raum zu wirbeln, obwohl außer ihm niemand die Musik hörte, zu deren Takt er auf den Boden stampfte.

Der Bär sah ihnen still zu und fragte nach einer Weile: «Was gibt es jetzt?»

«Ihr könnt die Flasche austrinken», schlug Marie außer Atem vor.

«Och, noch ’n büschen Abwechslung wär aber auch nett.»

Marie hatte noch etwas Mirabellenschnaps, fand aber nicht, dass die drei die Flasche zur Gänze leeren sollten. Das war etwas Feines, Mirabellen gab es im Alten Land zwar in rauen Mengen, hier in der Stadt jedoch waren sie schwer zu bekommen. Zudem trank sie selbst gern fingerhutgroße Mengen davon, wenn ihr kalt und traurig zumute war.

Sie holte eine kleine Tasse aus dem Schrank, füllte sie bis zur Hälfte mit Schnaps und reichte sie dem Bären.

«Die müsst ihr euch teilen.»

«Pah», murrte der Bär, der Tod aber immerhin fand, dass Marie Dank gebührte und drückte ihr einen rußigen Kuss auf die Wange.

Nachdem Tomtom seinen Teil in die Kehle gekippt hatte, stieß er ein markerschütterndes «Hossa» aus, umfasste Marie erneut und tanzte im Polkaschritt mit ihr zur Tür und wieder zurück, kreiste einmal um den Küchentisch und ließ sie anschließend keuchend los.

«Weiter geht’s, los, Leute!»

Und damit waren sie verschwunden.

Marie war heiß vom Tanzen. Sie ließ sich in den Sessel fallen, wo ihr auffiel, dass sie nun nicht beim Brunnen gewesen war, um Wasser zu holen. Ach nein, jetzt hatte sie keine Lust, noch einmal hinauszugehen.

Sie schloss die Augen und begann leise zu summen. Im Ballsaal des Atlantic wurde jetzt getanzt. Die eleganten jungen Damen mit ihren Frisuren, an deren Vervollkommnung sie den ganzen Tag gesessen hatten – über dem Ohr in eine riesige Welle gedreht und der Rest des Haares über die andere Kopfhälfte gebürstet, sodass die Damen aussahen, als eigneten sie sich zum Kugelstoßen –; die jungen Herren in geschniegelten Anzügen und mit einer Nelke im Knopfloch … Ach, da würde sie schon gern Mäuschen spielen. Vor allem zu später Stunde. Und was Frau von Boyen wohl gerade tat?

Marie hatte sonst eher selten die Gelegenheit, Mitleid mit einem der Gäste zu empfinden, Frau von Boyen aber rührte sie. Hoffentlich schlief sie einfach ihren Rausch aus, statt sich über weitere braunglasige Flaschen herzumachen oder den Rest der Nacht mit der Wange auf dem Tresen der Atlantic Bar zu verbringen.

Der Barchef klagte andauernd über solche Gäste. Da Marie jedoch fast ausschließlich am Tage arbeitete, erlebte sie derartige Ausfälle kaum. Ihr war allerdings schon öfter zu Ohren gekommen, dass sich die feinen Herrschaften zuweilen auch nicht besser benahmen als die vergnügungswütige Jugend auf der Reeperbahn …

Der Sturm ließ den Fensterladen gegen die Hauswand krachen und rüttelte an ihrem Dach, und nachdem sie die Tasse und Schnapsflaschen aufgeräumt hatte, schlurfte sie ins Schlafzimmer, das eher eine Art Schrank mit Fenster war. Im Garten bog sich der Apfelbaum, der nicht wachsen wollte, im Wind. Regen klatschte gegen die Scheibe. Von den Bärenführern war nichts mehr zu sehen, auch ihre grölenden Stimmen waren längst verstummt.

Ohne sich die Mühe zu machen, sich auszuziehen, ließ sich Marie auf die Matratze plumpsen und schlief augenblicklich ein.

 

Als sie erwachte, war ihr eiskalt, und die Finsternis kam ihr seltsam bedrohlich vor. Sie hatte sich in ihrem kleinen Häuschen nie gefürchtet. Bis auf Rosalind schloss hier niemand ab, auch weil es nichts gab, das jemand würde haben wollen. Doch nun lauschte Marie mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit. Sie hatte etwas gehört. Aber was?

Nur den Sturm, versuchte sie, sich zu beruhigen und hoffte, dass sie trotz des Klackerns des Fensterladens wieder einschlafen würde. Sie schloss die Augen, doch bevor sie wieder einschlummern konnte, begann sie an Fräulein Körber und den unangenehmen Gast aus der 312 zu denken, und schlagartig war sie hellwach. Dass sie eine Woche lang keinen Lohn erhielt, war ja das eine, und es war schlimm genug. Aber dass die Anschuldigungen zudem noch so ungerechtfertigt waren! Sie hatte nichts getan, was jemanden verärgern müsste. Und sie hatte gewiss keine Unordnung in diesem Stanniolpapiersaustall gemacht.

Zornig setzte sie sich auf. Dieser Blödmann! Nun konnte sie bestimmt nicht mehr schlafen. Sie schwang die Beine über die Bettkante und erinnerte sich, dass sie ja gar nicht ihr Nachthemd trug, doch bevor sie sich dazu entschließen konnte, sich jetzt noch umzuziehen, atmete sie erschrocken ein und stieß einen Schrei aus.

Der Fußboden war eiskalt. Aber nicht nur das, da war auch Wasser. War das möglich? Nein, sie war wohl noch im Halbschlaf.

Doch da war noch etwas. Es roch komisch. Muffelig. Aber auch salzig. Sie beugte sich vor, um mit den Fingerspitzen über den Boden zu fahren.

«Verdammt noch mal», flüsterte sie heiser. Es war nicht bloß feucht, nein, der Dielenboden schwamm geradezu. Konnte es derart hineinregnen? Das Loch im Dach musste riesig sein.

Kurzerhand sprang Marie aus dem Bett. Das Wasser war kühl, immerhin aber sog sich ihre Nylonstrumpfhose nicht voll. Mit storchenhaften Schritten hüpfte sie zum Lichtschalter und drehte daran. Es tat sich nichts. Sie versuchte es noch einmal. Wieder vergeblich.

Wo waren die verflixten Streichhölzer? Beim Ofen nicht und auch nicht auf dem Fensterbrett oder dem Tisch. Marie tastete sich zum Fenster vor und versuchte, draußen etwas zu erspähen. Zappenduster der Himmel. Kein Mondlicht, kein Stern am Firmament. Das Einzige, was sie schemenhaft erkennen konnte, war ihr Garten, den sie Pampadusa getauft hatte. Nichts wuchs darin bis auf eine kampferprobte Brombeerranke – der Apfelbaum nicht und nicht einmal Pilze oder Moos, was sonst sogar an den unwirtlichsten Stellen spross.

Wie es wohl Herbert erging? Unwirtlich und kalt war es sowieso schon, doch wenn es so weiterging, würde der Sturm den Käfig einfach umwerfen. Nun, sie würde besser einmal nach dem Huhn sehen. Sie griff nach ihrem Mantel, der glücklicherweise fast getrocknet war, nahm auch gleich den großen Schlapphut vom Haken und schlüpfte in ihre Stiefel. Als sie die Tür, die sonst nur mit viel Überredungskünsten aufging, öffnete, schlug ihr diese mit solcher Wucht entgegen, dass Marie zurücktaumelte.

Sie schrie auf. Die Kälte verschlug ihr den Atem. Ungläubig blickte sie nach unten. Eisig war das Wasser, das nun ins Innere des Hauses strömte und den Geruch von Salz und Öl mit sich brachte. Ihre Zähne begannen zu klappern. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Der Deich stand zwischen ihnen und dem Spreehafen, hoch, sicher und dick. Unmöglich, dass die Fluten ihn untergraben haben konnten. Oder doch? Auf der anderen Seite des Feldes, über das sie morgens und abends lief, gab es Kanäle, doch sie führten längst nicht ausreichend Wasser, um die ganze Siedlung zu fluten.

Der eisige Wind presste sie fast gegen die Hauswand, kaum hatte sie einen Schritt in den Vorgarten getan. Regen, vermengt mit Schneetreiben, prasselte in ihr Gesicht. Die Dunkelheit schien nach ihr zu greifen.

Ihre Füße versanken im Matsch, während sie zu Herberts Käfig watete. Täuschte sie sich, oder stieg das Wasser stetig an? Vor Angst klopfte ihr das Herz bis zum Hals.

Zusammengekauert saß das Huhn da, den Kopf unter den Flügel gesteckt.

«Komm, na komm», sagte sie bibbernd. Sie griff ins Innere, packte das Tier, das ein erschrockenes Gackern ausstieß, und presste es an sich. Blinzelnd sah sie sich um. Abgesehen vom Sturm herrschte eine gespenstische Ruhe. Schliefen alle? Wie spät mochte es sein?

Zuerst zu Rosalind, die ihre nächste Nachbarin war. Dann zu den anderen. Marie setzte sich in Bewegung, was Herbert dazu veranlasste, heftig mit den Flügeln zu schlagen.

«Ruhig, ruhig», murmelte sie, sie hörte jedoch selbst, dass ihre Stimme alles andere als beruhigend klang.

«Herbert, ruhig.»

Das Huhn hörte nicht auf sie. Es zappelte, versuchte, nach ihr zu picken, und als Marie ins Straucheln geriet, weil ein im Sturm tanzender Ast ihren Nacken streifte, kämpfte es sich aus ihrem Griff und verschwand mit einem hektischen Gackern im eiskalten Wasser.

«Herbert!

Das Huhn hörte sie nicht. Erschüttert starrte sie in die schwarzen Fluten. Der Wind rüttelte und zog an ihr, schob sie mal hier-, mal dorthin. Und das Wasser, es stieg und stieg und reichte ihr jetzt schon bis über die Knöchel.

Sie besann sich. Sie konnte jetzt nicht nach Herbert suchen, sie musste ihre Nachbarn warnen.

Vermutlich kam das Wasser von der Deichseite. Was hieß, dass es zunächst Peers Haus erreicht hatte, dann Tomtoms. Sollte sie erst dorthin? Doch was war mit Rosalind? Die Dame war über siebzig und hörte schlecht.

Marie zog den klammen Mantel eng um ihren Körper und hastete, während das Wasser gegen ihre Beine klatschte, auf Rosalinds Hütte zu. Als sie ihre Hand auf das grün lackierte Gartentor legte, über dem sich im Sommer die Rosen rankten, riss die Wolkendecke auf. Silbrig-mattes Licht ergoss sich über Wellblechdächer, Schuppen und Schornsteine. Ihr stockte der Atem. Wasser, wohin sie blickte. Es schlängelte sich zwischen den Hauswänden hindurch, ließ Bretter und Müll auf seiner Oberfläche tanzen, strömte über Sträucher und Hühnerverschläge, aus denen sie ängstliches Gackern zu hören glaubte, doch vielleicht bildete sie es sich nur ein. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann, als sei nichts gewesen, schloss sich der Spalt in den Wolken. Nur Schneetreiben blieb noch und ein dumpfes, beängstigendes Grollen.

Sie hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu rasen, hörte sich keuchen und etwas sagen und wusste selbst nicht, was und zu wem. Heftig atmend rannte sie durch den wassergetränkten Vorgarten und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür.

«Aufwachen, Rosalind, wach auf!»

Im Dröhnen des Sturms verblasste ihre Stimme. Eine Böe packte sie und drängte sie von Rosalinds Haus fort, doch sie kämpfte sich wieder zurück.

«Rosalind!»

So laut war das Brausen, dass die alte Dame sie unmöglich hören konnte. Verzweifelt hämmerte sie gegen das altersschwache Holz und rüttelte an der Klinke, obwohl sie doch wusste, dass Rosalind nachts die Tür verschloss.

«Ja?», glaubte sie nach unendlich lang erscheinender Zeit endlich eine ängstliche Stimme aus dem Innern zu hören.

«Ich bin es, Marie. Komm raus, Rosalind! Die Siedlung steht unter Wasser.»

Inständig hoffte sie, dass die alte Dame nicht wieder einschlief.

«Rosalind, beeil dich!»

Sie presste das Ohr gegen die Tür, konnte jedoch nicht ausmachen, ob sich im Haus jemand bewegte. Marie begann mit den Fäusten dagegen zu trommeln und rief, bis ihre Stimme wegkippte.

Ein gewaltiges tiefes Raunen ertönte, dann legte sich eine plötzliche atemberaubende Stille über die Siedlung. Marie hielt die Luft an. Sie hörte nichts als das Rauschen ihres Blutes. Das Ächzen ging in ohrenbetäubendes Knarren über. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich um und rannte los, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.

Die Strecke zu Peer kannte sie im Schlaf. Als sie an Kristins Hütte vorüberkam, hielt sie inne, lief zurück und stieß, ohne zu klopfen, die Tür auf.

«Aufstehen, alle aufstehen!»

«Was? Wie?», hörte sie eine müde Stimme. Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen bei ihr. Und es war dunkel und roch nach warmer Milch.

«Die Flut, Kristin, los, steht auf!»

Kristin begriff schnell. Marie hörte sie die Kinder und ihren Ehemann wecken und war schon wieder aus der Tür heraus. Im Wasser trieb etwas Dunkles an ihr vorüber. Sie griff danach und zog einen Ast aus den Fluten, mit dem sie gegen alles schlug, an dem sie vorbeikam, den Laternenpfahl, Zäune, Laternen, die schwankend vorübertrieben. Dabei schrie sie, bis ihr klar wurde, dass sie auf diese Weise zu viel Kraft verlor. Ihr war heiß und eiskalt. Ihr Körper schien von allein vorwärtszukommen, traf seine eigenen Entscheidungen, doch sie spürte, wie die Erschöpfung schon durch sie hindurchkroch, wie ihr Atem keuchender wurde und ihre Rippen zu schmerzen begann, sobald sich nur ihr Brustkorb hob.

Kaum hörbar erklangen von irgendwoher Rufe. Dann Sirenen, die stetig näher kamen.

«Aufwachen!», glaubte sie eine Männerstimme in der Ferne schreien zu hören. «Die Flut kommt!»

Nichts als Schneeflocken und Regen konnte Marie erkennen, Wasser, Schutt, der an ihr vorüberhüpfte wie ein Borkenschiffchen. Sie hörte ihren eigenen Atem, laut und zischend, manchmal abgehackt. Keuchend blieb sie stehen und versuchte, sich zu sammeln.

«Achtung!», ertönte hinter ihr ein gellender Schrei.

Das Krachen klang, als wenn sich ein gefangener Riese mit einem wilden Schrei befreite. Gerade noch rechtzeitig wandte Marie den Blick, um Unmengen von Zweigen auf sich zukommen zu sehen. Mit letzter Kraft hechtete sie zur Seite. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, dass das Haus fort war, vor dem sie gestanden hatte. Peers Wände, Peers Dach, eingestürzt und zermalmt unter der Buche, die ihnen im Sommer Schatten gespendet und deren Eckern sie in harten Wintern zu Mehl gemahlen hatten.

Sie presste die Lippen aufeinander, stolperte auf die Reste von Peers Behausung zu, fand nichts. Kein silberner Haarschopf. Keine gedrungene Gestalt. Kein Friesennerz, nicht einmal eine Torfpfeife.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Zwei Erwachsene mit einem Kind hasteten an ihr vorüber, so gut es die Wassermengen zuließen. Mittlerweile versanken sie bis über die Knie in den Fluten.

«Wir müssen über den Kanal!», schrie der Mann.

Doch wer über den Kanal wollte, musste am Deich entlang. Marie winkte, es kostete sie enorme Kraft. Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie rief: «Nicht da lang, bleibt weg vom Deich!»

Die drei hörten sie nicht. Schon waren sie verschluckt von der Dunkelheit und dem Schneetreiben. Ein umgekippter Kinderwagen streifte sie, verfing sich in den Zweigen der Buche und schaukelte dann weiter, getrieben von einer unsichtbaren, unermüdlichen Kraft. Wieder erklang ein ohrenbetäubendes Dröhnen, das ihr bis ins Mark fuhr, das zu einem Knirschen, dann einem Grollen wurde.

Und dann krachte es erneut, und das Geräusch war so gewaltig, so schrill, so bedrohlich, dass sich Marie unwillkürlich die Hände auf die Ohren presste. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Finsternis. Da sah sie, wie der Deich sich teilte, rechts verschwand, links verschwand, und das Wasser kam, jetzt kam es wirklich. Eine Welle umschlang sie, hob sie vom Boden und zog sie mit sich. Den Kopf unter Wasser, wurde sie herumgeschleudert, bekam etwas zu fassen. Aber es gelang ihr nicht, sich festzuhalten. Sie kreiselte rechts und links herum, ihr Haar streifte über Erde, sie ertastete Boden, dann war er wieder fort. Ihre Lunge schien zu bersten. Doch sie brachte Schwimmbewegungen zustande, sie zappelte und stieß das Wasser mit den Beinen zurück und erreichte, spuckend und nach Atem ringend, die Oberfläche.

Wo war sie? Ihr Bein stieß gegen etwas, doch ihr fehlte die Kraft, den Schmerz zu spüren. Ein Schatten flog auf sie zu, dem sie im letzten Augenblick ausweichen konnte. Ein … Schornstein?

Erneut ergriff sie von hinten eine gewaltige Woge und hob sie an. Sie versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen. Luftblasen glitten vorüber. Schemenhaft sah sie etwas – Menschen? Würgend, den Mund voll Salzwasser, tauchte sie auf. Lauter hörte sie nun Schreie und wusste nicht, woher sie kamen. Von vorn, von hinten? Wo befand sich der Klütjenfelder Damm? Wo war die Familie, die zum Deich gelaufen war?

Sirenen, Dröhnen, Schreie, voller Verzweiflung. Als die Wolkendecke wieder aufriss, erblickte Marie in nicht allzu weiter Entfernung Häuser, große, rettende vierstöckige Häuser. Erneut raste etwas Dunkles auf sie zu.

Plötzlich fühlte sie nichts mehr.

Frieda

Stoltebüll, Provinz Schleswig-Holstein 19. Mai 1910, in den frühen Morgenstunden

Das runzlige Wesen, das ihr die Hebamme gewaschen und in weißes Tuch eingehüllt in die Arme legte, wirkte wie aus weiter Ferne zu ihr gekommen. Die Haut war bleich und faltig, die Augen zusammengekniffen, und auf dem Kopf, der rechts oben ein wenig eingedellt war, wuchs krauses Haar, das im flackernden Licht der Gaslampe nachtschwarz wirkte. Behutsam fuhr Frieda mit der Spitze ihres Zeigefingers darüber. Ein kaum wahrnehmbares Zittern ging durch den warmen Körper.

Frieda lehnte sich in den Kissen zurück und schloss die Augen, öffnet sie jedoch sofort wieder, als sie auf der Stiege das Getrappel zahlreicher Füße hörte. Sie glaubte das niemals leise Flüstern der Köchin zu hören. Martha, das Dienstmädchen, antwortete ihr nicht minder lautstark.

«… einen großartigen Tag ausgesucht, um auf die Welt zu kommen», drang durch die poröse Holztür hindurch. «Wo doch gleich die Welt untergeht!»

Die Zeitungen schrieben seit Wochen darüber. Es gab unzählige Leute, die sich zur Sicherheit schon im Vorhinein umgebracht hatten, andere wiederum vertrauten inniglich auf Gott, während Frieda auf modernere Hilfsmittel setzte und sich eine Dose Kometenpillen und zwei Gasmasken besorgt hatte. Die eine für sie, die andere für das Kind. Und die Hebamme? Hätte sie nicht auch für sie Schutz kaufen müssen, ebenso wie für Werner, der von dem Niedergang allen Lebens auf der Erde allerdings sowieso nichts wissen wollte?

Sie senkte erneut den Kopf und betrachtete das runzlige Gesicht. Sie selbst fühlte sich mit einem Mal unendlich alt. Vielleicht auch, weil sie tief in sich nicht nur Erschöpfung verspürte, sondern auch Angst. Nicht vor dem Kometen, der sie alle dahinmetzeln sollte mit seiner todbringenden Säure, sondern vor dem Ausdruck im Gesicht des Mannes, den sie liebte. Was würde Werner empfinden, wenn er hereinkam? Er, dessen Augen so sanft blicken konnten, so hungrig manchmal und voll Sehnsucht und in dessen Augen sie bei ihrer ersten Begegnung geglaubt hatte, sich selbst zu entdecken?

Alles hatte er sich zurechtgelegt für diesen herrlichen Tag, an dem, nach fruchtlosen Jahren, der Stammhalter das Licht der Welt erblickte. Lort Joke Ferdinand von Tieck, ein Name, der nicht bloß dezent andeutete, dass in seinen Schuhen der künftige Gutsbesitzer und Herr über das Dorf Stoltebüll wandelte, nein, er rief es einem geradezu entgegen. Frieda fand es ein bisschen zu viel, aber als sie das andeutete, hatte Werner sie nur reglos angestarrt.

Unruhig blickte sie nun zum Fenster, hinter dem tiefe Nacht war. Aus dem Hof drangen dumpfe Stimmen herauf. Das Gesinde wollte keinesfalls im Schlaf von Gevatter Tod überrascht werden. Seltsam, dachte Frieda, dass zu diesem Zeitpunkt wohl fast die ganze Welt auf den Beinen war, egal, ob die Sonne schien oder der Mond. Nirgends, vielleicht nicht einmal im Dschungel, schlummerten die Leute selig, sie alle standen da, den Kopf in den Nacken gelegt, und hielten aufgeregt die Luft an. Verband so ein Ereignis die Menschen miteinander, die sich sonst fremd waren?

«Und jetzt bist auch du hier», flüsterte sie dem kleinen unbekannten Wesen in ihren Armen zu, das die Stirn noch etwas weiter knautschte und mit seinem kleinen entzückenden Mund gähnte. Die Lippen hatten die Farbe von reifen Himbeeren, ganz wie Friedas. Ansonsten sah ihre Tochter ihr nicht besonders ähnlich. Friedas Gesicht war länglich geschnitten, sie hatte weit auseinanderstehende hellblaue Augen, die intelligent dreinblickten, so hatte es einmal ein Verehrer beschrieben, aber stets ein wenig benebelt. Benebelt, was sollte man damit anfangen?

Nun, ob ihre Tochter ähnlich die Welt betrachtete, ließ sich unmöglich sagen – seit sie in ein Tuch aus weißer Baumwolle gewickelt in ihre Arme gelegt worden war, hielt sie die Lider zusammengepresst, als wolle sie weder ihre Mutter noch das Leben, das nun ihres würde, einer genaueren Untersuchung unterziehen.

Als auf der Stiege die schweren Schritte ihres Mannes ertönten, schlug Friedas Herz schneller. Mittlerweile war es still im Hof geworden. Sicher starrten alle in den silbrig werdenden Himmel. Werner hingegen hatte das Turmzimmer erreicht. Er klopfte und trat ein. Auch nach zehn Jahren, die sie nun schon verheiratet waren, empfand sie jedes Mal eine fast heilig zu nennende Ehrfurcht, wenn sie ihn sah. Er war hochgewachsen und sah in dem schmal geschnittenen Anzug so herrschaftlich aus, wie man es von einem Gutsherrn erwartete. Der Stehkragen seines Hemdes leuchtete in brillantem Weiß, die Weste darüber passte wie angegossen, und nicht einmal auf seinen Lederschuhen fand sich das kleinste bisschen Dreck. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatten sie vor allem seine breiten Schultern beeindruckt, beim zweiten Treffen sein einnehmendes Lächeln. Das Schönste aber waren seine Augen. Von einem schokoladigen Braun, fröhlich funkelnd, als gehöre ihm die Welt.

«Es ist so weit?», fragte Werner und strich sich mit einer charmanten Geste das Haar aus der hohen Stirn. Wie gern würde sie aufstehen und ihm mit einem Kuss den Mund verschließen, in sein Ohr murmeln, alles sei gut, wie es sei, er müsse sich keine Sorgen machen, ein Junge werde sicher auch noch kommen …

«Ja», antwortete die Hebamme statt ihrer. «Es ist ein Mädchen.»

Stumm sah er Frieda an, in seinen Augen war keinerlei Regung zu entdecken. Hatte er die Worte der Hebamme gar nicht gehört?

«Möchtest du sie halten?», fragte Frieda. Ihre Stimme klang rau und ängstlich. Sie wusste, dass ihn dieser Tonfall verstörte, dass ihm dann die Nerven durchgingen, dass er nicht wusste, was er tat, wenn er sie so hörte, und doch kam sie nicht dagegen an. Ihre Stimme, sie gehorchte ihr nicht. So wie seine Hand nicht ihm gehorchte.

Alles in ihr war mit einem Mal wie eingefroren. Nur ihren Herzschlag hörte sie, dumpf und schnell wie den einer Maus.

Er presste die Lippen zusammen. Sie sah, wie er verstohlen zur Hebamme blickte, sich zusammenriss, nur die Faust ballte, den Kopf schüttelte, so etwas wie ein Lächeln auf sein Gesicht klebte und sich umwandte.

Die Tür krachte ins Schloss. Seine Schritte hingegen klangen leise und kontrolliert und verloren sich auf der Treppe.

Eine Träne tropfte auf das kleine runzlige Kindergesicht. Draußen ertönte ein Knall. Nachdem die Hebamme zum Fenster geeilt und sich hinausgelehnt hatte, um das Gesinde zur Ordnung zu rufen, wandte sie sich kopfschüttelnd um.

«Sie wollen dem Teufel mit der Peitsche entgegen», sagte sie. «Dummes Volk.»

«Los, los!», hörte Frieda die Stimme ihres Mannes, die nun aus dem Hof zum Fenster hinaufwehte. «Immer her mit dem Weltuntergang!»

Normalerweise mischte er sich nicht unter die einfachen Leute, die für sie arbeiteten; das tat nur Frieda, die gern in der Küche saß und den Mädchen beim Sludern zuhörte. Erneut erklang ein Peitschenknall. Hektisch zog die Hebamme die Vorhänge vor.

Die Kleine öffnete ihre Augen. Nie zuvor hatte Frieda in ein so strahlendes Blau geblickt. Ihr Herz zog sich zusammen, und alle Furcht verschwand von einem Moment zum nächsten.

«Das war ja mal ein Knall, wie?», flüsterte sie. «Aber