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Mit Lippenstift und Lebensmut. Drei Frauen bringen mit ihrem mobilen Schönheitssalon Farbe in das Hamburg der 50er Jahre. 1954 sind die dunklen Jahre vorbei, die Wunden des Krieges jedoch noch lange nicht verheilt. Greta Bergström hat fast ihr gesamtes Leben in Stockholm verbracht, bei ihrer Ankunft in Hamburg ist der Himmel über der Stadt so grau wie die Seelen der Menschen. Mit ihrer offenen Art eckt die fröhliche Schwedin überall an, eine Stelle als Kosmetikerin sucht sie vergebens. Alles ändert sich, als Greta sich mit zwei Frauen anfreundet: Marieke, die aus Ostpreußen fliehen musste und den Nachbarinnen in den Altonaer Nissenhütten die Haare macht; und Trixie, die im feinen Blankenese lebt und unglücklich in einen amerikanischen Soldaten verliebt ist. Gemeinsam beschließen die drei Frauen, einen mobilen Schönheitssalon zu eröffnen. Ihre Kundinnen sollen sich wieder wohl in ihrer Haut fühlen, das Leben endlich wieder genießen. Nach den schweren Jahren ein Stück vom Glück zu finden, davon träumen auch die drei Freundinnen…
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Seitenzahl: 599
Kerstin Sgonina
Roman
Mit Lippenstift und Lebensmut
1954 sind die dunklen Jahre vorbei, die Wunden des Krieges jedoch noch lange nicht verheilt. Greta Bergström hat fast ihr gesamtes Leben in Stockholm verbracht, bei ihrer Ankunft in Hamburg ist der Himmel über der Stadt so grau wie die Seelen der Menschen. Mit ihrer offenen Art eckt die fröhliche Schwedin überall an, eine Stelle als Kosmetikerin sucht sie vergebens. Alles ändert sich, als Greta sich mit zwei Frauen anfreundet: Marieke, die aus Ostpreußen fliehen musste und den Nachbarinnen in den Altonaer Nissenhütten die Haare macht; und Trixie, die im feinen Blankenese lebt und unglücklich in einen amerikanischen Soldaten verliebt ist. Gemeinsam beschließen die drei Frauen, einen mobilen Schönheitssalon zu eröffnen. Ihre Kundinnen sollen sich wieder wohl in ihrer Haut fühlen, das Leben endlich wieder genießen. Nach den schweren Jahren ein Stück vom Glück zu finden, davon träumen auch die drei Freundinnen…
Kerstin Sgonina arbeitet als Autorin, Journalistin und Lektorin. Mit 18 Jahren kam sie nach Hamburg und schlug sich nach ihrem Abitur dort unter anderem als Türsteherin und Barfrau in Sankt Pauli durch. Nach wie vor liebt sie die Stadt an der Elbe heiß und innig, lebt aber heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Berlin.
Für Eva, Lisa & Verena
Hamburg, 10. März 1954
Wie ein Streicheln fühlte sich der Regen an, der von Gretas Kopftuch in den Kragen ihres Wollmantels rann. Sie schloss die Augen, sodass der Hein-Köllisch-Platz mitsamt seinen Häusern aus ihrem Blickfeld verschwand, und schmeckte das Wasser, das mit dem Aroma von Asche und Rauch getränkt war. Der Lärm der bimmelnden Straßenbahn verblasste, ebenso das Scheppern, das vom Hafen her kam und sich mit dem Krach eines Presslufthammers mischte. Dankbar für die Erfrischung glaubte sie, mit jedem Tropfen, der aus den tief hängenden Wolken fiel, neuen Mut zu schöpfen. Und davon brauchte sie eine ordentliche Portion, andernfalls würde sie sich nie trauen, einen Fuß in das Haus zu setzen, das vor ihr in den verhangenen Himmel ragte.
Dabei war sie in Stockholm noch voller Hoffnung gewesen. Als sie aber im Zug gesessen hatte und die schwedische Hauptstadt mit ihren schmalen gepflasterten Gassen und den pastellfarben getünchten Häusern kleiner und kleiner geworden war, war mit ihr auch Gretas Gewissheit geschrumpft, das Richtige zu tun.
Die vergangene Nacht über hatte sie kaum geschlafen und aus immer knubbeliger werdenden Augen aus dem Eisenbahnfenster nach draußen gestarrt, wo Dunkelheit die Landschaft von Östergötland und Schonen verschluckte. Seit Kopenhagen war sie in einem Nebel von Nervosität gefangen gewesen, der dichter und dichter wurde, je näher sie der deutschen Grenze kam. Jetzt fühlte sie sich erschreckend dumpf. Nur Angst war da noch und verdrängte alles andere, Angst vor dem Moment, in dem ihr Vater die Tür öffnen würde.
Sie räusperte sich und atmete tief ein, umklammerte den Griff ihres ramponierten Lederkoffers und zählte bis zehn. Dann strich sie sich das feuchte Haar aus der Stirn und ging auf die Tür zu, deren braune Farbe abblätterte. Sie führte in ein schmales Gebäude, das zwischen einem Eckhaus mit Kneipe und einer rot geklinkerten Kirche eingeklemmt war. Links wurde für Bluna-Limonade und Elbschlossbier geworben und rechts für Jesus, der, die Arme weit geöffnet, wartete – anders als ihr Vater.
Auf dem angelaufenen Messing des Klingelschildes fand sie seinen Namen, daneben den Hinweis: 3. Stock. Zögernd schwebte ihr Finger über dem Klingelknopf. Doch statt ihn zu drücken, presste sie probeweise die Schulter gegen das Holz. Mit einem missmutigen Quietschen schwang die Tür auf, und Greta war dankbar dafür, sich doch noch ein paar Sekunden mehr in der Hoffnung zu wiegen, dass Harald Buttgereit sich über ihren Anblick freuen würde.
Aus dem Dunkel des Hausflurs schlug ihr abgestandene Luft entgegen. Stufe für Stufe wuchtete sie ihren Koffer nach oben. Auch in ihrem Mietshaus in Stockholm hatte nicht auf jeder Fensterbank ein Blumentopf gestanden. Aber derart abweisend, als sollten schleunigst alle Besucher vergrault werden, war es dort nicht gewesen. Falls sie ein bisschen bliebe, würde sie hier und dort etwas Hübsches drapieren. Ein paar Muscheln oder die Kiesel, die sie als Andenken aus Stockholm mitgebracht hatte. Dann wäre es nicht mehr ganz so unfreundlich.
Auf jedem Absatz blieb sie länger stehen. Ihr fiel nichts ein, was sie zur Begrüßung sagen könnte. Und dann war da noch diese elende Furcht davor, dass ihr Vater sie womöglich nicht erkannte. Aber das war Quatsch. Väter erkannten ihre Töchter. Es musste so etwas wie ein Erkennen des Herzens geben, da war egal, dass aus der siebenjährigen Greta inzwischen eine junge Frau geworden war, die mit dem Kind von damals bis auf das strohblonde Haar und die Stupsnase kaum noch Ähnlichkeit hatte.
Noch ein Schritt. Und noch einer. Mit gespitzten Ohren lauschte Greta auf die Stille, die aus den Wohnungen rechts und links des Hausflurs sickerte. Mit einem Mal jedoch wurde es laut. Jemand stapfte so entschlossen herum, dass noch im Treppenhaus der Boden zitterte. Als sie die Etage erreichte, hörte sie Zetern, die Tür zur Linken flog auf, eine schmale, dunkelhaarige Frau stolperte rücklings hinaus, und schon flog die Tür von unsichtbarer Hand geführt mit einem Rumms wieder ins Schloss. Die Brünette schien Greta nicht gesehen zu haben. Immer noch im Rückwärtsgang, plumpste sie ihr direkt in die Arme. Greta taumelte, fiel über ihren Koffer, und ineinander verschlungen kullerten sie und die junge Frau fast die Treppe hinab.
«Erbarmung!», schimpfte die Dunkelhaarige, nachdem sie, mit den Armen rudernd, die Balance wiedergefunden hatte.
Greta, die auf der Sohle ihres Stiefels eine Stufe hinabgerutscht war, krallte sich am Treppengeländer fest und zog sich wieder hoch. Entsetzt starrte sie die Frau an, bis diese zu grinsen begann und dabei den Blick auf eine fast fingerbreite Zahnlücke freigab.
«Mensch, Marjellchen, das war knapp!»
Greta, die keine Ahnung hatte, warum sie so genannt wurde, kicherte erleichtert. Schlagartig fiel die Anspannung von ihr ab. Ihr Kichern ging in Prusten über, was ihr einen verwunderten, aber durchaus interessierten Blick einbrachte.
«Entschuldige», stieß sie immer noch lachend hervor und streckte die Hand aus. «Guten Tag. Ich heiße Greta.»
«Marieke, sehr erfreut.»
Greta wusste selbst nicht genau, wieso sie plötzlich so fröhlich war. Vielleicht weil mit dem Beinahesturz ihre Angst und Nervosität flöten gegangen waren. Sie schüttelte Mariekes Hand so kräftig, dass die junge Frau die Zähne zusammenbiss.
«Mensch, Marjellchen, packst du aber feste zu, die Hand kann ich ja den lieben Tag lang nicht mehr gebrauchen!»
«Greta heiße ich. Es tut mir leid, das wollte ich nicht.»
Marieke grinste erneut. Ihr herzförmig geschnittenes Gesicht war blass, nur auf der Nase tummelten sich ein paar Sommersprossen, als habe sie jemand mit dem Salzstreuer darauf verteilt.
«Mach dir nichts draus, Greta ist auch schön. Und wenn sich hier eine entschuldigen sollte, bin das wohl ich.» Sie hatte eine tiefe, rauchige Stimme, die so gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt passen wollte. «Glaub im Übrigen bitte nicht, dass man mich öfter auf diese Weise aus einer Wohnung bugsiert. Diese dumme Krät hat mich rausgeschmissen. Unhöfliches Weibsbild. Undankbar noch dazu. Da will man dem armen Kind das Haar aufhübschen, und was macht die Mutter? Schreit Zeter und Mordio. Aber bei manchen Leuten ist halt Hopfen und Malz verloren, da kannst du Gutes tun, bis du schwarz wirst, sie glotzen aus ihrem Wolkenkuckucksheim immer noch doof auf dich herab. Und wo willst du hin?», fragte sie, während Greta noch versuchte, den Strom an Worten zu ordnen und zu verstehen.
Deutsch war Gretas Muttersprache, doch war sie mit den Jahren eingerostet. Mit ihrer Großmutter hatte sie nur Schwedisch gesprochen. Aber heimlich geübt hatte sie, indem sie deutsche Bücher las, so viele, wie sie in die Finger bekommen konnte. Und sie hatte die deutsche Kirche in Gamla Stan besucht, der Stockholmer Altstadt, obwohl sie nur hin und wieder an Gott glaubte.
«Kuckuck, träumst du?» Marieke zeigte auf die Tür zur Linken, dann die Treppe weiter hoch. «Hierher? Oder willst du zu denen?» Sie strich sich das geblümte Sommerkleid glatt, was den für diese Jahreszeit viel zu dünnen Stoff auch nicht retten dürfte.
«Ich weiß nicht», sagte Greta langsam. Durch den kleinen Unfall hatte sie die Orientierung verloren. War sie erst im zweiten oder schon im dritten Stock?
«Zu Harald Buttgereit. Weißt du zufällig, wo er wohnt?»
Marieke krauste die Nase und grinste nun noch breiter. «Könnte man durchaus sagen. Aus der Buttgereit-Wohnung bin ich grad so elegant geflogen. Was willst du da? Bist du eine Freundin von Ellen?»
Ellen … Der Name ließ die Nervosität zurückfluten, die Greta in den vergangenen Minuten glatt verdrängt hatte. So hieß ihre Halbschwester, der sie noch nie in ihrem Leben begegnet war.
«Nein, aber …»
«Dann von Mickey?» Mariekes Augen schienen noch blauer zu leuchten.
Verwirrt sah Greta sie an. Bloß in einem einzigen Brief hatte ihr Vater den Namen seiner beiden anderen Kinder erwähnt. Genauer gesagt hatte er sie überhaupt nur dies eine Mal erwähnt, ansonsten hatten seine jährlichen Briefe ausschließlich aus Allerweltsfragen bestanden: wie es ihr in der Schule ergehe, ob sie ein hübsches Zimmer habe, wie denn das Wetter in Stockholm sei.
«Ach, Michael meinst du?», fragte Greta.
Marieke prustete los. «Du kannst keine Freundin von ihm sein! Michael … So nennen ihn seine Eltern und nur seine Eltern. Gut. Raus mit der Sprache. Wer bist du, und was willst du bei der herzallerliebsten Familie meines Freundes?»
«Ich bin Harald Buttgereits Tochter. Also Micha… Mickeys und Ellens Halbschwester.»
Marieke riss die Augen noch weiter auf und den hübsch geformten, himbeerroten Mund gleich dazu.
«Nee! Wieso weiß ich denn davon nix?»
Gretas leise Hoffnung darauf, warm willkommen geheißen zu werden, fiel schlagartig in sich zusammen.
«Er hat nie über mich gesprochen?»
«Nee», sagte Marieke mit Nachdruck, nachdem sie mit kraus gezogener Nase ein wenig überlegt hatte. «Nie.»
Greta seufzte und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Aber Marieke konnte man augenscheinlich nicht allzu viel vormachen. Sie hatte den Kopf schräg gelegt und blickte Greta prüfend an.
«Eins sag ich dir», fuhr sie schließlich fort, «Mickey wird dich ganz bestimmt lieben. Du machst einen feinen Eindruck, Marjellchen, und wenn ich das finde, dann findet er das auch.»
Wieder dieser seltsame Name. Eben wollte Greta wiederholen, dass sie anders heiße, als dumpf die Glocke der benachbarten Kirche ertönte. Drei-, vier-, fünfmal schwang sie.
«Hoppla, ist das spät!», rief Marieke. «Sag Mickey einen Gruß von mir.»
«Wie sind sie denn so?», fragte Greta rasch. «Haralds Frau – und seine Kinder?»
«Oha!» Entzückung breitete sich auf Mariekes Gesicht aus. «Tja, bloß so viel, ich muss schließlich flitzen: Hüte dich vor der Ollen! Und vor der Lütten, die ist nicht viel besser, der Apfel fällt eben … Na, ich will euer Verhältnis nicht belasten, bevor es sich entwickelt hat.» Sie warf einen grimmigen Blick auf die tannengrün gestrichene Tür. «Die Butti wacht über ihren Liebling wie ein Drache über sein Gold. Ich für meinen Teil werde mich sicher nicht weiter darum bemühen, aus dem Zottelkopp was Ansehnliches zu machen, und rate auch dir, dich an den einzig feinen Menschen der Familie zu halten. An Mickey.»
Marieke tat einen halben Schritt die Treppe hinunter, aber gleich wieder hoch und starrte Greta aus nächster Nähe ungeniert ins Gesicht.
«Mensch, dass der Herr Diplom-Ingenieur dein Vater ist! Hat nix an Ähnlichkeit mit dir. Du siehst aus wie die andere Seite auf dem Schachbrett, wenn ich so frei sein darf.»
«Weil ich blond bin?», fragte Greta unsicher.
«Und wie blond! Und blauäugig, wie ich, aber deine sind heller, was? Und so dürre wie die Buttis bist du auch nicht, sei bloß froh drum. Aber Mensch, ich muss los!»
«Weißt du, ob mein Vater zu Hause ist?», rief Greta dem dunklen Hinterkopf nach.
Marieke drehte sich noch einmal um.
«Der ist immer zu Hause, darauf kannst du dich verlassen.»
Dann stürmte sie die Treppen hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
«Adieu, Hübsche!», rief sie, bevor ihr Schopf, diesmal endgültig, aus Gretas Sichtfeld verschwand.
Traurig sah Greta ihr nach. Mariekes erfrischende Art hatte das Treppenhaus um ein paar Nuancen heller gemacht. Doch jetzt, da sie fort war, kehrte die muffige Dunkelheit schlagartig zurück. Angespannt holte Greta Luft, klopfte und lauschte mit gespitzten Ohren.
In der Wohnung wurden Schritte laut, schon flog die Tür auf, und Greta blickte in das Gesicht einer Frau um die fünfzig. Ihre Mundwinkel, ihre Lider, die Wangen, alles an ihrem Gesicht wirkte erschöpft und neigte sich nach unten, wie vom Erdboden angezogen. Bis auf die Nase, die ausnehmend gerade geschnitten war wie die von Kleopatra, und ihre großen, kühl blickenden Augen.
Sie hatte wohl gleich losschimpfen wollen, schloss aber den Mund, als sie Greta sah.
«Ja, bitte?»
«Guten Tag», sagte Greta unschlüssig. Das musste Haralds Frau sein. Trude. Ihre Stiefmutter. Oder, um es mit Marieke zu halten, die olle Butti.
Weil Trude sie nur abwartend anblickte, wiederholte sie ihren Gruß. Sie wusste nicht, ob sie knicksen sollte, wie sie es als Kind hierzulande noch gelernt hatte. Sie entschied sich dagegen und streckte stattdessen bloß die Hand aus.
«Ich bin Greta Bergström. Haralds Tochter aus Schweden. Ich freue mich sehr …»
Trude blinzelte, holte Luft und klappte den Mund zu, ohne etwas zu sagen. Und noch während Greta sprach, knallte sie die Tür zu.
Ungläubig starrte Greta auf das tannengrüne Holz. So viele Jahre waren vergangen, seit sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte. Und nun wurde sie nicht einmal zu ihm vorgelassen?
Aus der Wohnung drang kein Geräusch mehr zu ihr. Weder Schritte noch Worte, und auch das Brummen der Autos unten auf der Straße und das Dröhnen eines Schiffshorns wirkten wie kilometerweit entfernt. Greta räusperte sich, um sicherzustellen, dass ihre Stimme klar klang. Nur für den Fall, die Tür würde sich doch wieder öffnen, für den Fall, ihr Vater streckte seinen Kopf heraus.
Ihr Koffer wirkte kümmerlich im Halbdunkel. Sie musterte ihre Stiefel, die sorgfältig gewienert glänzten, was über die abgeschabten Stellen nicht hinwegtrösten konnte. Über dem Wollkleid trug sie Großmamas schwarzen Mantel, ein wahres Ungetüm, aber warm und beinahe wasserdicht, wie es sich eben wieder bestätigt hatte.
In Hamburg, hatte ihr ein Nachbar in Schweden erzählt, unterscheide sich der Sommer bloß darin vom Winter, dass der Regen wärmer sei. Greta liebte den Regen, das also kümmerte sie nicht, dennoch vermutete sie, dass der Spruch nicht der Wahrheit entsprach. Sie erinnerte lange, gelbe, heiße Sommer aus ihrer Kindheit. Großmama Annie, die sich schimpfend über die apfelroten Wangen tupfte. Das fröhliche Gesicht ihrer Mutter Linn, sommersprossig und braun gebrannt. Und sich selbst, auf blanken Stummelbeinen über die Wiesen pesend, mit Gänseblümchen im Haar und dem süßen Geschmack reifer Brombeeren auf den Lippen. Wo das wohl gewesen war?
Die Sekunden schienen sich auszudehnen. Irgendwann, es waren vielleicht zwei oder drei Minuten vergangen oder aber viel, viel mehr, legte Greta den Finger auf den Klingelknopf.
Noch ehe sie ihn gedrückt hatte, hörte sie wieder Schritte aus dem Innern. Die Tür knarzte und ging diesmal langsam auf.
«Komm.»
Mehr sagte Trude nicht.
Greta schlüpfte aus ihren Stiefeln, was ihr einen erstaunten, aber zumindest wohlwollenden Seitenblick einbrachte. Auf Strümpfen schlich sie hinter dem hellen Stoff von Trudes Kleid her, bemerkte, dass sie schlich, und trat fester auf.
Rechts und links des Eingangs zog sich ein schmaler Korridor zum vorderen und hinteren Teil der Wohnung. Düster war es hier, von der Decke baumelte bloß eine einzelne Lampe, deren gelbliche Glühbirne kaum ausreichte, einen Lichtkegel auf das abgetretene Parkett zu werfen. Die Diele war beidseitig von Bücherregalen eingefasst. Unbeabsichtigt strich Gretas Handgelenk an den Leineneinbänden entlang, und sie erhaschte einen Blick auf deren Titel. Sachbücher über Astronomie, Ornithologie, über Kunst. Und erstaunlich viele über Parapsychologie. Ob Trude sich dafür interessierte? Von ihrem Vater konnte es sich Greta nur schwer vorstellen. Doch was wusste sie schon von ihm? Sie hatte ihn das letzte Mal vor fünfzehn Jahren gesehen, kurz bevor der Krieg ausgebrochen war.
«Dort drin findest du meinen Mann», sagte Trude steif. Mit abweisender Miene klopfte sie an die linke der zwei Türen.
«Ja», ertönte es knapp aus dem Zimmer.
Greta wurde eiskalt. Sie stellte ihren Koffer ab, den sie bis hierher mitgeschleppt hatte, knöpfte ihren Mantel auf und nahm ihr triefnasses Kopftuch ab. Das Haar klebte an ihrer Stirn, spürte sie, und sie spürte auch Trudes bohrenden Blick, als sei sie ein Eindringling. Jemand, dem man besser nicht traute.
Ihre Hand zitterte, als sie sie auf die kühle Klinke legte.
Dann öffnete sie die Tür, und die Welt um sie herum verschwand. Nur Greta war noch da, sie und ihre Angst, die ihren Herzschlag fast unerträglich beschleunigte.
Aufhören, befahl sie sich. Auftauchen. Und das tat sie. Das Rauschen in ihren Ohren wurde leiser und verschwand, ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie blinzelte in einen spärlich möblierten Raum. Er war mehrfach durch Vorhänge unterteilt, was ihn trotz der beeindruckenden Höhe beengt wirken ließ. Zunächst entdeckte Greta niemanden darin. Doch dann erhob sich eine hagere, hoch gewachsene Gestalt aus einem Stuhl nahe dem verhangenen Fenster.
«Greta», sagte die Person, als genüge diese Feststellung als Begrüßung.
«Hallo Papa», sagte sie.
Ihr Vater trug eine Hose mit schnurgerader Bundfalte.Der Saum befand sich oberhalb seiner Knöchel, sodass er wie ein Junge wirkte, der seinen Kleidern längst entwachsen war. Dünn war er. Nicht einmal der festgezurrte Gürtel lag eng an, und auch das Hemd schlackerte. Über dem Kragen hüpfte sein Adamsapfel, das einzige Zeichen seiner Aufregung.
Erschüttert hob sie den Blick und sah in seine Augen. Blaugrau waren sie und fast unwirklich hell, aber von einem dunklen Wimpernkranz umsäumt. Wie bei Trude schien auch in ihm alles gefroren.
Das war nicht der Mann, den sie in ihrer Erinnerung bewahrt und immer wieder heraufbeschworen hatte. Ihr Papa von damals war fröhlich und laut gewesen. Er hatte sie herumgewirbelt und ihr Eis gekauft, und hin und wieder hatten sie das Theater besucht oder einen Zirkus und sich vorgestellt, die Artisten zu sein. Was deswegen zum Schreien lustig gewesen war, weil ihr Papa rundlich gewesen war wie eine Hummel. Der Mann, der ihr jetzt gegenüberstand, hatte die Hälfte seines Körpergewichts verloren und zudem, wie ihr schien, seine gesamte Fröhlichkeit.
«Entschuldige, dass ich unangemeldet hereinplatze», sagte sie und hörte, dass ihre Stimme wackelig und rau klang.
Sie hatte ausgiebig darüber nachgedacht, ob sie ihm ihren Besuch ankündigen sollte, und sich ausgemalt, wie die Familie bei ihrer überraschenden Ankunft Spalier stand, überglücklich darüber, endlich die verlorene Tochter/Stieftochter/Halbschwester begrüßen zu können.
«Ich habe mich nicht getraut, dir von meinem Besuch zu schreiben. Ich dachte, es würde dir womöglich nicht passen oder du hättest Angst davor.»
Er schien darauf zu warten, dass sie fortfuhr, doch was sollte sie ihm sagen? Es war schrecklich schwierig, ihm zu erklären, was sie empfunden hatte. Eine wahre Lawine an Gefühlen hatte sie in den vergangenen Wochen überschwemmt, und sie konnte sie immer noch nicht auseinanderdröseln. Aber eines war ihr klar gewesen. Sie wollte seine Ablehnung lieber ins Gesicht gesagt bekommen, anstatt sie in einem Brief zu lesen, über den sie dann Wochen, wenn nicht sogar Monate, gebrütet hätte.
Er betrachtete sie mit dem Blick eines Raubvogels: scharf und aufmerksam. Sein Kopf war schmal. Deutlich zeichneten sich seine Wangenknochen unter der blassen Haut ab. Wäre da nicht sein schwarzer Schopf, wild gelockt und irgendwie fröhlich, würde er uralt wirken.
Nach einer Weile nickte er.
«Wie lange willst du bleiben?»
Greta rieb sich die Nase. Wahrheit oder Notlüge? Erneut zog sie es vor, es gar nicht erst mit einer diplomatischen Hintertür zu versuchen. «Ich dachte, ich komme erst mal her und wohne eine Weile bei euch.»
«Ich freue mich, dass du hier bist», sagte er steif, als empfinde er das genaue Gegenteil. «Ich finde es zwar durchaus etwas überraschend und hätte es vorgezogen, du hättest mich über deine Pläne in Kenntnis gesetzt, aber …»
Sie hatte selten jemanden tonloser sprechen hören. Mit einem Mal spürte sie ihre feuchten Kleider, spürte die Kälte, die sich auf ihrer Haut ausbreitete.
«Aber falls du da bist, um … um über …»
Sie atmete nicht mehr, merkte sie. Alles in ihr war erstarrt.
«… um über deine Mutter zu sprechen, dann werde ich dir nicht helfen können. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Sehr lange. Wir hatten kaum mehr miteinander zu tun, und dann, als ihr fort seid», er redete, als fiele auch ihm mit einem Mal das Atmen schwer, «Annie und du, als ihr kurz vor dem Krieg nach Schweden gegangen seid, von da an hatten Linn und ich gar keinen Kontakt mehr.» Abrupt senkte er den Kopf und starrte auf die Holzmaserungen auf den Dielen, als sähe er sie zum ersten Mal.
«Aber», begann Greta zu protestieren, «du …»
«Darüber gibt es nichts weiter zu sagen», unterbrach er sie barsch.
Betroffen blickte Greta ihn an. Wieso wollte er partout nicht über ihre Mutter sprechen? Sie war doch den ganzen weiten Weg nach Deutschland gekommen. Aber vielleicht sollte sie das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Er würde sicher redseliger werden, wenn er sich erst daran gewöhnt hatte, dass sie nun hier war.
«Was sagt denn deine Großmutter dazu, dass du einfach hergekommen bist?», fragte er in die Stille.
Greta schluckte bei dem Gedanken an Annies Bett, das sie jeden Morgen und jeden Abend von ihrem aus hatte sehen können. Wie fremd hatte es mit einem Mal gewirkt und wie unendlich leer.
«Annie ist tot.»
Er blinzelte schnell und zu heftig. Dann trat er einen Schritt vor, hob in einer hilflosen Geste die Arme und tätschelte ihr die linke Schulter.
«Das tut mir leid, Greta.»
«Ich weiß», murmelte sie und schaffte es nicht mehr, den Blick zu heben.
«In Ordnung.» Er drehte sich wieder seinen Büchern zu und fuhr sehnsüchtig mit dem Zeigefinger über das aufgeschlagene Blatt, das Abbildungen von Vögeln zeigte, wenn sie es richtig erkannte.
«Du kannst fürs Erste hierbleiben. Dann sehen wir weiter.»
Im Flur roch es nach Weihnachten, und seltsamerweise war in Gretas wirbelnden Gedanken noch ein Plätzchen frei für die Frage, woher in aller Welt dieser Duft kommen könnte. Genüsslich atmete sie ihn ein, doch dann wogte erneut das Gefühl von Verlorenheit in ihr hoch.
Du kannst fürs Erste hierbleiben, echote die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Fürs Erste. Und dann? Wohin sollte sie, wenn sie kaum mehr ausreichend Geld hatte, sich etwas zu essen zu besorgen? Nahm er etwa an, dass sie zurück nach Stockholm führe?
Sie holte tief Luft. Wenn sie an die vergangenen Wochen zurückdachte, war da genug Angst gewesen. Jetzt war sie aufgebraucht, entschied sie und marschierte entschlossen auf die Türöffnung am anderen Ende des Flures zu, wo sie Trude vermutete.
Die Küche hatte die Form eines L, mit einem Fenster, das in einen schmalen Hinterhof hinausging, und einer wild zusammengewürfelt wirkenden Einrichtung, die in Greta den Verdacht weckte, dass vieles, was die Familie Buttgereit besessen hatte, im Bombenhagel vernichtet worden war. Bis 1943 waren die seltenen Briefe ihres Vaters entweder aus Brüssel gekommen, wo er stationiert gewesen war, oder aus Eppendorf, wo die Familie zu Beginn des Krieges gelebt hatte. Dann hatte es eine Lücke von drei Jahren gegeben, und von 1946 an waren seine Worte auf dünnem, sorgsam an den dafür vorgesehenen Linien gefaltetem Papier aus einem Kriegsgefangenenlager in Südfrankreich versandt worden. Prisoner of War hatte in dicken, dunklen Lettern darauf gestanden, was ihr jedes Mal das Herz schwer gemacht hatte. Greta scheuchte den Gedanken fort.
«Wohin soll ich meinen Koffer stellen?», fragte sie Trude, die gerade dabei war, den Boden zu scheuern. «Ich hoffe, es macht dir nicht zu viel Mühe. Vater sagte, ich darf ein paar Tage bei euch bleiben.»
Trude nickte, als habe sie sowieso keine Entscheidungsgewalt in dieser Sache.
Erst jetzt fiel Greta auf, dass das weiße Kleid, das ihre Stiefmutter trug, ein Kittel war. Aus dem einen für Greta so wichtigen Schreiben, in dem ihr Vater seine Frau und die Kinder erwähnt hatte, wusste sie, dass Trude Lehrerin war. Der dicht gewebte, verblichene Baumwollstoff aber, dem sie nun erneut durch den Flur hinterherlief, erinnerte Greta an die Uniform ihrer Sommerferien, in denen sie nahe ihrer Wohnung in Södermalm in einer Bäckerei gearbeitet hatte. Ob Trude zusätzlich zu ihrer Anstellung an der Schule früh am Morgen oder spätabends irgendwo schuftete? Verwunderlich wäre es nicht, wenn sie sich Mariekes Worte über Harald in Erinnerung rief: dass er immer zu Hause sei. Ein Ingenieur, der immer zu Hause war?
Abrupt blieb Trude wieder vor den beiden geschlossenen Türen am Ende des Ganges stehen. Ohne anzuklopfen, riss sie diesmal die rechte der beiden auf.
«Ellen», hörte Greta sie sagen. «Begrüße eine weitere Tochter deines Vaters.»
Wut prickelte Gretas Nacken hinauf. Ja, sie war unangekündigt hier aufgetaucht. Aber musste Trude ihre Abneigung derart offen zeigen? Doch Gretas Zorn schaffte es nicht, ihre Neugier zu trüben. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, Ellen und Michael zu treffen. Mickey, korrigierte sie sich in Gedanken. Besonders auf ihre Schwester hatte sie sich gefreut. Denn eine Schwester zu haben – das war doch etwas Besonderes, etwas Inniges. Sie hatte sich Ellen in allen Farben und Facetten ausgemalt und gehofft, dass sie einander nach und nach ihr gesamtes Leben erzählen würden.
Neugierig spähte Greta an Trude vorbei. Wie im Studierzimmer ihres Vaters bildeten von der Decke hängende Gardinen auch hier einzelne Kojen, mit einer Matratze links, auf der wie glatt gebügelt eine gehäkelte Tagesdecke lag, und einem Sofa rechts. Dann gab es noch einen Schrank und einen Schreibtisch, und an diesem saß über einem aufgeklappten Buch ein ernst dreinblickendes, vielleicht vierzehnjähriges Mädchen, das einen knöchellangen, dunklen Rock und eine hochgeschlossene Bluse trug. In der Aufmachung wirkte sie wie eine alternde Gouvernante.
«Hallo», sagte Greta, und ihre Stimme klang vor Freude ein bisschen kieksig. «Wie schön, dich kennenzulernen!»
Ellens schmales, bleiches Gesicht unter einer Menge schwarzen Haares zeigte keine Regung. Sie saß stocksteif da, die eine Hand zwischen zwei Seiten gelegt, als sei sie mitten im Umblättern, und starrte Greta aus riesigen unergründlichen Augen an.
«Hallo», wiederholte Greta. «Oder: hej. Das ist Schwedisch.»
Ellens Mund verzog sich zu einem Strich. Kaum hörbar flüsterte sie: «Bonum vesperum.»
Verwirrt schüttelte Greta den Kopf. Welche Sprache war das denn?
«Wie bitte?»
Ellen wiederholte die Worte. Leise und mehr, als rede sie mit sich selbst.
«Entschuldige», murmelte Greta hilflos. «Ich verstehe kein …»
«Latein», vervollständigte Ellen ihren Satz.
Trude, die reglos in der Tür verharrt hatte, schien zu Gretas Überraschung Mitleid mit ihr zu haben.
«Ich richte eine Ecke her», sagte sie und trat ein.
Zwischen Sofa und Schreibtisch war noch Platz für eine Matratze. Sie sah mitgenommen aus, und ihr Bezug roch noch mehr nach Keller als die Bücher im Flur. Doch als sich Trude darüberbeugte, erhaschte Greta wieder diesen weihnachtlichen Duft. Sie schnupperte und fühlte sich sofort mit Hoffnung erfüllt. Gedanken an Weihnachten machten das mit ihr, dagegen konnte sie sich nicht wehren.
«Bist du das?», fragte sie. «Riechst du so fein, Trude?»
Trude zuckte zurück. Ihre Nasenflügel blähten sich, als röche sie im Gegensatz zu Greta etwas ausnehmend Unangenehmes, schlug die Decke zurück und stapfte wortlos aus dem Zimmer.
Unschlüssig drehte Greta sich zu ihrer Halbschwester um. Sie hatte so viele Fragen! Und auch noch die Hoffnung, dass Ellen vielleicht, wenn ihre Mutter nicht dabei war, mehr von sich preisgeben würde. Musste sie nicht ebenfalls platzen vor Neugier? Doch Ellen hatte sich schon wieder über das Buch gebeugt, als habe sie die Begegnung einfach vergessen.
«Lern nur, wenn du willst», sagte Greta fröhlich. «Ich breite mich in der Zeit ein bisschen aus.»
Ellen hob den Kopf und blickte sie nachdenklich an.
«Ich bin die Beste in meiner Klasse», bemerkte sie.
«Herzlichen Glückwunsch!» Erleichtert, dass Ellen nun doch mit ihr sprechen wollte, klatschte Greta in die Hände. «Ich finde es großartig, dass du gerne lernst. Was ich leider nicht gerade mit Hingabe getan habe früher, das war dumm. Wie alt bist du eigentlich? Welche Klasse besuchst du?»
Ellens Augen weiteten sich.
«Du weißt nicht, wie alt ich bin?», fragte sie und zog die Schultern hoch, als wolle sie sich dazwischen verstecken.
«Nein. Tut mir leid. Kennst du denn mein Alter?»
«Nein.»
«Dann sind wir doch quitt.»
Greta lächelte. Ellen nicht. Sie blickte wieder so verschlossen wie zuvor, und Gretas Hoffnung, länger mit ihr zu plaudern, verpuffte.
«Du bist hierhergekommen und nicht andersherum», murmelte Ellen und wirkte, als wünsche sie sich sehnlichst wieder in die Welt ihrer Bücher zurück. «Wäre ich nach Schweden gefahren, hätte ich mich vorher erkundigt, wie alt du bist.»
Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, verstand Greta zwar nicht, doch sie wollte Ellen nicht noch mehr vergrämen.
«Du hast recht», sagte sie und nahm sich vor, die Worte ihrer Schwester nicht persönlich zu nehmen. Vielleicht waren die Menschen hier einfach … anders. Das mochte kulturell bedingt sein oder etwas mit dem Krieg zu tun haben.
«Es tut mir leid. Von jetzt an bin ich wirklich still, versprochen.»
Während Greta auspackte, huschte ihr Blick immer wieder zu Ellens schmaler Silhouette, die dunkel wie das Federkleid eines Raben über das Buch gebeugt war. Etwas stimmte nicht mit ihrer Frisur, und Greta konnte nichts anders, als sich vorzubeugen und die Augen zusammenzukneifen. Ellens Locken waren zu einem Dutt hochgebunden, über ihrem linken Ohr aber schimmerte in hellerem Ton eine Stelle, wo das Haar bestenfalls ein paar Zentimeter lang war.
Marieke, dämmerte es Greta. Hatte sie nicht davon gesprochen, etwas mit der Frisur des Mädchens angestellt zu haben? Unterdrückt kicherte sie in sich hinein, verstummte aber sofort, als sie sah, wie sich Ellens Schultern anspannten.
Greta betrachtete ihre Habseligkeiten. Viel hatte sie nicht mitgebracht. Ihr sämtlicher Besitz passte auf den schmalen Streifen um die Matratze herum. Sie wandte den Kopf zu der gerahmten Fotografie, die ihre Mutter, Annie und sie zeigte. Sie sah ihrer Mutter nicht im Mindesten ähnlich. Nur deren helles Haar hatte sie geerbt. Die Augen ihrer Mutter hatten vor Energie oft nur so geleuchtet, als könnte sie es kaum erwarten, in die Welt hinauszurennen und sie von Grund auf zu verändern. Auf dem Bild hielt sie den Mund geöffnet. Sie lächelte nicht. Trotzdem wirkte sie freundlich, und ihr Blick verriet Entschlossenheit und Intelligenz.
Gretas Züge hingegen waren weich. Die Farbe ihrer Augen erinnerte an den Spätsommerhimmel. Sie neigte dazu, rasch braun zu werden, ein angeblicher Makel, aber Greta fand sich hübsch und fragte sich manchmal, ob das aus der Mode gekommen war: sich selbst zu mögen mit allen kleinen Narben und Pickelchen und Speckrollen oder zu wenig Speck dort, wo welcher sein sollte.
Mit einem Seufzer wandte sie sich der Postkarte zu, die sie mitgebracht hatte. Ein Foto ihres Lieblingsortes in der schwedischen Hauptstadt, die Insel Skeppsholmen mit ihren niedrigen Handwerkerhäuschen und ihren gepflasterten Gässchen, von denen aus man an jedem Fleck das Wasser und die Schiffe sehen konnte. Daneben hatte sie einen Plan vom Hagapark gelegt, in dem sie gern spazieren gegangen war. Und ihre Kleider, nicht allzu viele. Auch auf den Mörser hatte sie nicht verzichten können, das schwere, unhandliche Ding. So wenig wie auf eine Handvoll klackernder Kieselsteine und auf das Fläschchen mit dem Lavendelöl, von dem nur noch ein paar Tropfen übrig waren. Sie schnupperte daran und schraubte den Verschluss in heiliger Langsamkeit wieder auf den Hals.
«Was ist das?», ertönte Ellens Stimme.
Überrascht sah Greta auf und unterdrückte mit Mühe den Impuls, aufzuspringen und Ellen die kleine braune Flasche unter die Nase zu halten.
«Lavendelöl. Ich habe es selbst gemacht. In Stockholm habe ich die … skönhetsskola besucht», erklärte Greta. «Ich weiß gar nicht, wie man das auf Deutsch sagt. Schönheitsschule?»
Ellen blinzelte und bewegte millimeterweise ihre Schul tern, was womöglich ein Achselzucken war. Immerhin aber blickte sie nicht gleich wieder in ihr Buch.
«Eine Schminkschule?», probierte es Greta weiter.
«Du bist Kosmetikerin?», fragte Ellen und rümpfte die Nase.
Greta nickte und überlegte befremdet, ob sie sich deswegen etwa schämen sollte.
«Warum bist du nicht in Stockholm geblieben?», wollte Ellen nach einer Weile wissen, die sie Greta mit herabgesenkten Mundwinkeln angestarrt hatte.
Greta blinzelte. «Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig sei herzukommen. Wichtig für mich. Und falls ich zurückgehen sollte, dann …»
«Und warum?», unterbrach Ellen sie. «Warum ist dir das wichtig?»
Unschlüssig sah Greta sie an. Die vergangenen Monate über hatte sie sich wie in einem Strudel gefühlt, der sie immer weiter hinunterzuziehen drohte. Bis sie das Gefühl hatte, weder Licht noch Himmel zu sehen. Im November war Annie gestorben. Von da an hatte es Greta jeden Morgen aufs Neue Kraft gekostet, die Augen zu öffnen. Aufzustehen. Zur Arbeit zu gehen. Zu sprechen, zu denken, zu fühlen. An Neujahr, auf den Tag genau zwei Monate vor ihrem 22. Geburtstag, hatte sie es plötzlich gewusst. Sie musste Licht in das Dunkel bringen. Sie musste herausfinden, was 1941 geschehen war, in jenem Frühjahr, in dem ihre Mutter verschwand.
Aber wenn sie Ellen all das erklärte – würde die sich nicht augenblicklich wieder in ihrem Schneckenhaus verkriechen und gar nicht mehr mit ihr sprechen?
Greta hob die Schultern. «Ich wollte euch kennenlernen», sagte sie stattdessen und lächelte. «Eine Familie ist etwas Wertvolles, findest du nicht auch?»
Ellen kniff die Augen zusammen. Statt zu antworten, drehte sie sich wieder um. Greta packte ihre restlichen Sachen aus, strich liebevoll über den Quilt, den ihre Mutter für sie genäht hatte, und blickte aus dem Fenster auf den regenverhangenen Himmel.
Stumm und mit gesenkten Köpfen hatten sich Trude, Harald und Ellen um den kleinen Esstisch in der Küche versammelt. Auf der rot-weiß karierten Tischdecke standen fünf Suppenteller, fünf Löffel lagen daneben, und in demselben Abstand vom Löffel entfernt wartete jeweils ein Glas mit Wasser darauf, geleert zu werden.
Greta stand hinter ihrem Stuhl, die Hände wie alle anderen auf die Lehne gelegt, und fragte sich, worauf sie warteten. Da fiel mit einem Rumms die Wohnungstür ins Schloss. Die Schritte im Flur klangen entschlossen und angenehm laut und stoppten in der Küchentür.
Greta wurde ganz heiß vor Aufregung. Der junge Mann, der im Türrahmen auftauchte, war gar nicht so viel jünger als sie. Wie seltsam. In ihrer Vorstellung war er stets der kleine Bruder aus Kinderbüchern gewesen: ein bisschen nervig und mit nichts als Flausen im Kopf. Doch Marieke hatte ja gesagt, sie sei mit ihm befreundet. Natürlich war er nicht mehr elf, wie könnte er es auch sein?
Während sein Blick sie kühl taxierte, beförderte er mit einer ausladenden Kopfbewegung sein volles dunkles Haar aus dem Gesicht und runzelte zugleich die Stirn. Greta versuchte sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, spürte aber, dass ihre Wangen geradezu glühten.
«Das ist Greta», sagte ihr Vater. «Deine Halbschwester aus Schweden. Dies ist Michael», sagte er an Greta gewandt. Und während er weiter in ihre Augen starrte, statt sich seinem Sohn zuzuwenden: «Der im Übrigen wie immer zu spät kommt.»
«Hallo», sagte Greta und strahlte Mickey an.
Bei der Erwähnung des Wortes «Halbschwester» war Mickey zusammengezuckt. Doch jetzt sagte er ohne Regung: «Guten Abend», und schlenderte lässig auf den noch freien Stuhl zu.
Greta schluckte. Ja, sie hatte sich allerlei Schlimmes ausgemalt, doch dass ihre Geschwister so gar kein Interesse an ihr zeigten … Aber vielleicht waren sie nur schüchtern. Sie hatte sie ja auch regelrecht überfallen.
«Es ist bestimmt eine Überraschung für euch, dass ich einfach so hier aufgekreuzt bin», sagte sie und lächelte Mickey an, der jetzt den Eindruck vermittelte, als sei es das Normalste der Welt für ihn, eine bislang unbekannte Verwandte am Küchentisch stehen zu sehen. «Ich hoffe, ich kann es wieder … gutmachen.»
Ihr Vater hatte sich so eindringlich geräuspert, dass Greta noch schnell das letzte Wort aussprach und dann ihren Mund schloss. Unauffällig blinzelte Mickey ihr zu und schnitt eine kleine Grimasse, und Greta hatte Mühe, ihr erleichtertes Lächeln zu unterdrücken. Womöglich war er doch kein Eisklotz. Womöglich war er sogar nett.
Harald wartete, bis sein Sohn hinter den leeren Stuhl getreten war. Erst dann setzte er sich, und die anderen, einschließlich Greta, taten es ihm nach.
«Guten Appetit», wünschte Harald, klang dabei aber kaum so, als liege ihm das wirklich am Herzen.
Trude, Ellen und Mickey murmelten dasselbe, und wie auf Kommando begannen alle zu essen. Greta sah ratlos auf ihren Teller, in dem eine milchig trübe, dünne Flüssigkeit schwappte. Als sie ihren Löffel hineintauchte und probierte, fragte sie sich, ob sie Trude mit ihrem Überraschungsbesuch derart durcheinandergebracht hatte, dass diese das Würzen vergessen hatte. Die anderen aßen schweigend, niemand kommentierte, dass die Suppe nach nichts als lauwarmem Wasser schmeckte.
Sich zu unterhalten schien keine Lieblingsbeschäftigung im Haus Buttgereit zu sein. Lebten Trude, ihr Vater, Ellen und Mickey immer so still, jeder für sich und einem geheimen Plan folgend, den niemand stören durfte?
Ihre Großmutter und sie waren seit ihrem Umzug nach Stockholm zwar bloß zu zweit gewesen, doch war es bei ihnen zu Hause trotzdem viel lauter und lebendiger zugegangen. Stand ein Gast vor der Tür, hockte er zwei Sekunden später nicht nur im einzigen Zimmer, sondern hielt auch eine Tasse Kaffee in der Hand und wurde von Annie in ein Gespräch über die Lage der Welt verwickelt. Dabei war stets lautstark geseufzt und geklagt worden, und irgendwann erklang Annies dunkles, dröhnendes Lachen, denn wenn man nicht lachte, wenn alles den Bach runterging, sagte sie immer, wann bitte dann?
«Entschuldigung, dürfte ich bitte das Salz haben?»
Gretas Vater, Trude und Ellen hoben den Kopf und starrten Greta wie vom Donner gerührt an. In einem Anflug von Panik zerbrach sie sich den Kopf, ob das Wort «Salz» im Deutschen vielleicht etwas Unanständiges war. Aber hieß es nicht so? Salz, ganz ähnlich wie das schwedische salt?
«Wenn das Salz fehlt und das Essen fad schmeckt», sagte ihr Vater in ruhigem, aber kaltem Tonfall, «darfst du dich bei Trude bedanken und bei Ellen, deren Aufgabe das Tischdecken ist. Selbstverständlich sollte sie dafür sorgen, dass auch Salz auf dem Tisch steht.»
Übertrieben tadelnd schüttelte Mickey den Kopf und stellte seltsame Dinge mit seinen Augenbrauen an, die abwechselnd in die Höhe schossen und wieder herabfielen.
Mit brennenden Wangen, aber stumm in sich hineinlachend, senkte Greta den Blick wieder auf ihren Teller.
«Entschuldigung», sagte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. «Ich wollte nicht … Es ist nicht so, dass die Suppe nicht schmeckt. Und Ellen, ich habe nicht bedacht, dass …»
«Wir sprechen nicht bei Tisch», schnitt ihr Vater ihr das Wort ab.
«Genau, Greta, also wirklich!», sagte Mickey und kassierte einen eisigen Blick seines Vaters.
Voller Dankbarkeit nickte Greta ihrem Bruder zu. Die Suppe war zwar immer noch weit davon entfernt zu schmecken, aber das kümmerte sie kaum. Lieber freute sie sich darüber, nicht vollkommen auf verlorenem Posten zu sein. Und wenn sie sich später nochmals bei Ellen entschuldigte, würden sie sich vielleicht doch noch anfreunden.
Nach dem Essen begannen Ellen und Trude eine Liste durchzugehen: Uhrzeiten, Einkaufslisten, Putzdienste … Aufgaben für den Haushalt, die Greta für ein Schulmädchen ganz schön üppig erschienen.
Überhaupt war das Leben im Hause Buttgereit in jeder Hinsicht Welten entfernt von dem, was sie von ihrer Großmutter und sich kannte. Annie und sie hatten einen Tag nach dem anderen gelebt, ohne an morgen oder gestern zu denken. Ereignisse hatten sich nie angekündigt, sondern kamen herangepurzelt. Bloß ein einziges Mal hatte Annie angefangen, Pläne zu machen, damals, als Gretas Lehrerin Grund zur Sorge angemahnt hatte. Dem Kind, hatte sie gesagt, fehle es an Struktur. So hing am Badezimmerschrank eines Morgens eine Liste mit dem, was am Montag, am Dienstag und so weiter zu erledigen sei. Freitagabend hatte Annie darauf geschaut, wie ein missgelauntes Pferd die Zähne gebleckt und den Zettel zerrissen. Greta und sie hatten, wie sich herausstellte, von all den Punkten auf der Liste bloß einen einzigen erledigt: var glad.
Fröhlich zu sein.
Nach dem Essen beeilte Greta sich, aus der Küche zu kommen. Im dunklen Flur stieß sie gegen Mickey.
«Wir machen es wie die Spione», flüsterte er in ihr Ohr. «Du und ich, morgen Mittag, zwölf Uhr. Spielbudenplatz. Sei pünktlich.»
Erleichtert sah Greta ihm nach, als er im Arbeitszimmer ihres Vaters verschwand. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal um und sagte leise: «Schlaf gut. Und lass dich hier nicht unterkriegen!»
Sie nickte und spürte, dass auch der Rest ihrer trüben Laune langsam verflog. Er hatte recht. Unterkriegen lassen würde sie sich nicht. Der Familie, die sie so unterkühlt empfangen hatte, wollte sie aber auch nicht länger als nötig auf der Tasche liegen. Sie würde sich eine Stelle suchen, dann ein Zimmer. Und war sie erst einmal richtig in dieser Stadt und diesem Land angekommen, würde sie ihre Mutter finden. Eine Spur wenigstens, eine Ahnung, was mit Linn geschehen war …
Um zwölf Uhr am Spielbudenplatz, hatte Mickey gesagt, heimlich wie Spione. Greta lächelte, öffnete die Tür zu Ellens Zimmer, warf ihre Bluse und den Rock in ihre Ecke und ließ sich mit neuer Hoffnung auf die harte Matratze plumpsen.
Hamburg, 11. März 1954
«Stellenanzeigen?»
Trude wandte ihr den Rücken zu. Sie trug denselben Kittel wie gestern, heute Morgen drang allerdings ein feiner Duft von Zitronenwasser und Seife an Gretas Nase.
Mit raschem Klacken ging das Messer auf das Schneidebrett hinab. Immer wieder kullerte ein Möhrenscheibchen herunter und versteckte sich unter dem Spülschrank, unter dem es Trude seufzend hervorholte.
«Du willst dir also Arbeit suchen?»
Ihre Stimme klang gepresst, so als versuche sie gleichzeitig zu sprechen und den Atem anzuhalten.
Greta streckte die Beine. Sie hatte ihren ersten Morgen in Hamburg damit zugebracht, in einer Telefonzelle zu stehen und ihre kläglichen Ersparnisse dafür auszugeben, zahlreiche Schönheitssalons anzurufen. Eine höfliche, aber knappe Abfuhr nach der anderen hatte sie kassiert, bis sie nur noch Adressen herausgeschrieben hatte, um sich persönlich dort vorzustellen, das war doch sowieso das Beste. Dann konnte sie gleich ihr herausragendes Zeugnis vorzeigen. In Stockholm war Fräulein Lundells Schönheitssalon stadtbekannt. Mit etwas Glück hatte vielleicht sogar der eine oder andere hier in Hamburg davon gehört.
«Ich möchte euch nicht auf der Tasche liegen», erklärte sie Trude. «Und auch etwas zur Haushaltskasse beitragen.»
Das Klackern des Messers wurde schneller.
«Geht man zu einem Arbeitsbüro … einer Stellenvermittlung? Gibt es so etwas in Deutschland?»
Trude schien sie nicht gehört zu haben. Sie schnitt das Gemüse so hektisch, dass Greta fürchtete, gleich einen Aufschrei zu hören und Blut fließen zu sehen. Es war seltsam, dachte sie, dass alles, was sie sagte oder tat, das Falsche zu sein schien. Selbst ihr Bett, das sie nach dem Aufstehen sorgfältig gemacht hatte, wurde erneut ausgeschüttelt, der Quilt ihrer Mutter verschwand im Schrank, und eine ähnliche gehäkelte Tagesdecke, wie sie über Ellens Bett lag, wurde akkurat über das Federbett drapiert. Ebenso wenig hatte sich Ellen bei der Zubereitung des Frühstücks unterstützen lassen oder beim Abräumen.
Doch so schnell würde sich Greta nicht entmutigen lassen. Det går åt helvete i alla fall, hatte Annie gern gesagt: Es wird in jedem Fall zur Hölle gehen. Greta hatte dieses Motto immer gemocht. Es entband auf gewisse Weise davon, stets das Beste zu erhoffen oder zu erwarten. Wenn schlussendlich sowieso alles verloren war, konnte man in der Zwischenzeit ruhig einen Fehler nach dem anderen machen.
Trude klaubte ein weiteres Möhrenscheibchen vom Fußboden und hielt es unter den Wasserhahn. Unter Scheppern holte sie einen Topf aus dem Spülschrank, gab Fett hinein und hievte ihn auf die Küchenhexe. Augenblicklich begann das Öl auf dem Topfboden zu brodeln.
«Vielleicht könntest du bei deiner Arbeit fragen», fiel Greta ein. «Aber in einer Schule braucht man jemanden wie mich sicher nicht. Oder meinst du, ich könnte erst mal etwas ganz anderes machen, vielleicht so etwas wie … eine Art Hausmeister?»
«Hausmeister?»
Trude hatte sich zu ihr umgedreht, und ihr schlaffes, erschöpftes Gesicht wirkte mit einem Mal wie verlassen. Bloß in den Augen funkelte etwas, das Greta nicht deuten konnte.
«Es ist wohl verzeihlich, so naiv zu sein, wenn man bedenkt, dass du nicht hier aufgewachsen bist», sagte Trude so leise, dass Greta Mühe hatte, sie zu verstehen. «Du warst in Sicherheit, wo niemand in deinen Angelegenheiten rumgeschnüffelt und gesagt hat, du hast das Falsche getan. Du wärst falsch. Alles an dir. Dein Denken und deine Überzeugungen, die ein paar Jahre vorher noch richtig waren.»
«Ich …»
Trude hob die Hand und schüttelte mit dem Ausdruck unendlicher Müdigkeit den Kopf. «Aber dass du glaubst, du könntest hier hereinspazieren … Herkommen in dieses Land, das du gar nicht kennst. Und das wahrlich nicht auf dich gewartet hatte, Fräulein, um denen die Arbeit wegzunehmen, die gekämpft haben und ihr Bein oder ihren Verstand verloren haben.»
Nur langsam begriff Greta, was Trude ihr vorwarf.
«Das meinte ich nicht», wandte sie leise, aber bestimmt ein. «Du verstehst mich falsch. Ich will keinem Kriegsheimkehrer die Arbeit wegnehmen.»
«Ach nein?» Immer noch sprach Trude leise, was umso bedrohlicher klang. Sie schnaubte und fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. «Ich kenne Frauen wie dich. So hübsch und leichtfertig. So fröhlich, als gehöre ihnen die Welt. Und alle anderen stehen da und staunen, dass diesen Weibsbildern alles zufliegt, sogar das, was sie gar nicht haben wollen. Aber am Ende bekommt jede, was sie verdient.»
Greta blieb die Spucke weg. Warum hasste Trude andere Frauen bloß so? Oder meinte sie jemand Speziellen damit?
Womöglich ihre Mutter? Hatten die beiden einander kennengelernt? Zu gern würde Greta danach fragen. Aber die Atmosphäre in der Küche war auch so schon unterkühlt, zugleich lag eine geradezu drängende Spannung in der Luft. Sie täte wohl besser daran, jetzt nicht nachzubohren.
Ihre Stiefmutter schien das Gefühl zu genießen, die Oberhand gewonnen zu haben. Sie legte den Kopf schief und kräuselte die schmalen, spröden Lippen. Kalt und zornig wirkte sie, aber dennoch irgendwie mitleiderregend.
«Ich hingegen gehöre nicht zu den Menschen, denen alles zufliegt.» Mit dem Ausdruck von Stolz hob Trude den Kopf und reckte ihren weichen, faltigen Hals. «Aber ich wusste immer, was ich wollte und was ich leisten kann. Ich war eine herausragende Lehrerin. Vorträge habe ich gehalten. Junglehrerinnen angeleitet. Die Schulverwaltung wusste genau, was sie an mir hatte, sie hat die Opfer, die ich gebracht habe, gewürdigt. Und dein Vater, der war weg, in Brüssel und Oslo und ich … Er hilft immer noch nicht», sagte sie in drohendem Flüsterton. «Kann es nicht. So ist es auch weiterhin an mir, für alles zu sorgen. Ich gehe in die Schokoladenfabrik, um uns über Wasser zu halten. Obwohl ich Lehrerin bin!»
War daher gestern der weihnachtliche Geruch gekommen? Und hatte Trude deswegen so empfindlich reagiert, weil sie die Fabrik hasste? Aber wieso arbeitete sie nicht mehr in der Schule, fragte sich Greta, hütete sich jedoch davor, das laut auszusprechen.
«Halte dich also zurück, wenn du glaubst, du müsstest uns helfen. Du darfst hier wohnen, das hat Harald so entschieden, aber glaube nicht, dass wir dich in die Familie aufnehmen und dass du dieselben Rechte hast wie alle anderen in diesem Haushalt.»
Damit drehte sie sich wieder um und begann, die Möhrenscheiben kleinzuhacken.
Heftig blinzelnd schob Greta den Stuhl zurück.
«Es tut mir leid, dass es euch so schlecht ergangen ist. Trotzdem habe ich nicht verdient, dass du so mit mir redest. Ich bin ein Teil der Familie, wenn auch vielleicht nicht deiner, aber der meines Vaters und der von Mickey und ja, auch der von Ellen. Aber keine Sorge, ich werde euch nicht allzu lange belästigen.»
Schon war sie im Flur, dann in Ellens Zimmer, schnappte sich ihre Handtasche, schlüpfte im Laufen in ihren Mantel und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinab.
«Er heißt Michael!», klang noch dumpf Trudes Stimme an ihre Ohren.
Na, immerhin wusste sie jetzt, dass ihre Stiefmutter doch mehr als zwei Sätze sprechen konnte. Wenn auch nur, um ihren Zorn auf andere niederprasseln zu lassen.
Ohne darüber nachzudenken, wohin sie wollte, schlug Greta den Weg zum Hafen ein. Die Straße war nebelverhangen und schien am Ende ins Nichts zu verschwinden. Ein paar Schritte weiter führte eine Treppe zur Elbe hinab. Dort lehnte sich Greta an die Kaimauer und starrte wütend in den Dunst über dem Wasser.
Ihre Großmutter hatte Harald nie gemocht. Den traurigen Knacker, dem eine Nuss im Allerwertesten steckengeblieben war – so hatte Annie Gretas Vater genannt. Hätte sie erst Trude kennengelernt! Im Vergleich könnte man Harald Buttgereit ja glatt als freundlich und zugewandt bezeichnen. Allerdings hatte er sich gleich nach dem Frühstück in sein Studierzimmer verzogen und sich anschließend nicht mehr blicken gelassen. Was schon absonderlich war, fand sie, immerhin war gestern seine Tochter aufgekreuzt, die er anderthalb Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte.
Ein Schlepper kreuzte wenige Meter vor ihr das schäumende dunkelgraue Wasser. Aus dem Nebel drang rhythmisches Klopfen an ihr Ohr, die Rufe der Hafenarbeiter, das Surren von Maschinen und Kränen. Die Sehnsucht nach Stockholm nagte wie eine gierige Maus an ihr. Aber Stockholm ohne Annie war nicht mehr Gretas Stockholm – trotz ihrer Freundinnen und der Stelle in Fräulein Lundells Skönhetssalong.
Sie tupfte sich die Tränen aus dem Gesicht, was wegen des feinen Nieselregens eigentlich überflüssig war, und stieß sich von der Mauer ab. Sollten sich Trude und ihr Vater doch zum Donnerwetter scheren.
Nachdem sie die Treppe wieder hinaufgestiegen war, lief sie, ohne den Blick zu heben, die Antonistraße entlang auf den Hein-Köllisch-Platz zu und orientierte sich, mit der Elbe im Rücken, dorthin, wo sie die Reeperbahn vermutete. Sie stellte sich vor, wie sie im silbern schimmernden Kleid eines der anrüchigen Lokale besuchte. Ha, das wäre ein Spaß! Trude würde wahrscheinlich Zeter und Mordio schreien. Und Greta könnte zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Tisch tanzen, denn das tat man hier, glaubte sie einmal gelesen zu haben. Wie exotisch!
Sie erreichte die Amüsiermeile mit ihren leuchtenden Reklametafeln. Unzählige Wagen rollten über das schlaglochübersäte Pflaster, ein paar frühe Besucher schlenderten über die Gehsteige. Riesige Schriftzüge luden in Kaffeehäuser, Tanzsalons und Theater ein, und Greta wünschte sich, sie könnte einfach ein Stück Kuchen essen gehen.
Warum eigentlich nicht? Es war noch nicht einmal elf Uhr, sie hatte noch mehr als eine Stunde, bis sie Mickey treffen würde.
In einer Konditorei, die mit ihren tiefen Korbsesseln, Jugendstillampen und samtenen Tapeten wirkte wie einem Ozeandampfer der Kaiserzeit entsprungen, bestellte Greta ein Stück Ananastorte und, weil sie sich dabei fühlte, als würde sie Trude die Zunge herausstrecken, einen Portwein. Der Kellner notierte die Bestellung ohne jede Regung. Greta trank sonst nie vormittags Alkohol, aber in Sankt Pauli schien das ganz üblich.
Wenig später nahm sie genüsslich eine Gabel voll himmlisch süßer Cremigkeit und spülte sie mit einem Schluck Port hinunter. Sie saß zwischen einer Gruppe Damen, die in süddeutschem Dialekt miteinander plauderten, und einem jungen Mann auf der anderen Seite. Auf seinem Tisch stapelten sich Blätter mit farbigen Abbildungen. Neugierig lehnte sich Greta zur Seite, um einen genaueren Blick darauf zu erhaschen. Der junge, durchaus als attraktiv zu bezeichnende Herr schaute sie so missmutig an, dass sie sich mit gerunzelter Stirn wieder ihrer Torte zuwandte.
Was waren die Menschen hier unfreundlich! Sie hätte doch bloß gern über die botanischen Illustrationen auf seinen Blättern gefachsimpelt.
Mittlerweile war es zwanzig nach elf. Vierzig Minuten noch, bis sie Mickey traf. Sie nestelte ihr Portemonnaie aus der Tasche, sah, dass sie noch sieben Mark und zwanzig Pfennig besaß, und bestellte eine weitere Portion Torte mit Portwein.
Die Mundwinkel des jungen Herrn am Nachbartisch zuckten amüsiert. Doch er sah nicht zu ihr hinüber und vertiefte sich auch schon wieder voll und ganz in die Zeichnungen.
Mit jedem Schluck, der ihr ein warmes Gefühl im Bauch bescherte, wirkte er netter auf sie, obwohl er gar nichts zu ihr sagte. Doch er hatte schöne Augen, grün, wenn sie es in diesem Schummerlicht richtig erkennen konnte, dazu eine breite Nase, als sei er einmal zu häufig gegen einen Schrank gelaufen.
«Entschuldige», sagte sie. Ihre Stimme hörte sich seltsam nuschelig an. «Ich habe mit Interesse gesehen, dass du dich für Pflanzen interessierst.»
Das klang aber ungeschickt! Nun, es drückte trotzdem aus, was sie hatte sagen wollen, sei es also drum.
Er wirkte so verdattert, als wäre er lieber nicht angesprochen worden. Mit einer Hand sammelte er unbeholfen die Blätter ein, die ihm immer wieder entglitten, anstatt den anderen Arm zur Hilfe zu nehmen, der unter dem Tisch verborgen blieb. Weil sie ihn immer noch erwartungsvoll anstarrte, nickte er mit zusammengepressten Lippen.
«Hast du beruflich damit zu tun?», fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. «Na ja, ein bisschen», sagte er schließlich, was nicht wirklich erhellend war. Aber immerhin, er hatte gesprochen, was Greta als Aufforderung verstand.
«Ich hätte so gern Botanik studiert! Aber ich war in der Schule nicht gut genug, leider. Jetzt bin ich aber froh darum. Ich habe einen wundervollen Beruf, und da kann ich auch mit Kräutern und Blüten experimentieren und …»
Sein Gesicht war, während sie geredet hatte, immer röter geworden. Hektisch begann er nun, die Seiten auf einen Heftstreifen zu bannen, was einhändig überhaupt nicht funktionierte.
«Soll ich dir helfen?», fragte Greta
«Nein», erwiderte er barsch.
«Entschuldige», murmelte sie und winkte dem Kellner, um zu zahlen. Aber dann entschied sie, dass sie keine Lust hatte, das Lokal mit demselben Gefühl des Ärgers zu verlassen, mit dem sie hereingekommen war.
Sie beugte sich zu ihm und streckte die Hand aus.
«Ich heiße Greta. Hallo.»
«Uhlmann», sagte er, ignorierte aber stoisch ihre Hand, die weiterhin in der Luft hing.
«Das ist aber ein seltsamer Name.»
Unter gerunzelter Stirn warf er ihr einen bösen Blick zu.
«Entschuldige, ich finde bloß … Uhlmann klingt für mich wie ein Nachname, aber ich wohne ja auch noch nicht lange wieder in Deutschland.»
«Uhlmann ist ein Nachname», sagte er.
«Oh.» Dachte er im Gegenzug dann auch, sie hieße mit Nachnamen Greta? «Du magst mich wohl nicht besonders, was?»
Es musste am Alkohol liegen, dass sie dermaßen forsch war. Der junge Mann hob den Kopf. Etwas an seiner Art, sich zu bewegen, faszinierte sie: Alles war etwas langsamer, als dächte er gründlich nach, bevor er etwas tat, und sei es nur, sie anzusehen. Was er gerade derart intensiv machte, dass ihr noch ein wenig schwindeliger wurde.
«Was? Nein.» Seine Stimme klang mit einem Mal angenehm sanft. «Ich … Entschuldige. Ich heiße Felix. Felix Uhlmann. Hierzulande siezt man sich normalerweise. Aber wir können du sagen, wenn du möchtest.»
Sein Blick war nun ein klitzekleines bisschen freundlicher, doch das konnte sich Greta auch nur einbilden.
«Manchmal bin ich …», fuhr er leise fort und runzelte die Stirn. Neben seinen Augen, die tatsächlich grün waren, hatte sich ein Netz aus Fältchen gebildet. Ob er viel lachte? Oder waren sie die Frucht lauter Sorgen?
«Es ärgert mich manchmal, dass ich nicht so bin wie andere.»
«Ich auch nicht», gab sie fröhlich zurück. «Ich finde aber, das ist etwas, über das wir uns freuen sollten.»
Sie zahlte und stand auf.
«Auf Wiedersehen. Oder hej, wie man in Schweden sagt.»
«Hej», antwortete er, immer noch verwirrt, und erhob sich ebenfalls. Da bemerkte sie, dass ihm die andere Hand fehlte. Bloß ein leerer Hemdsärmel schlackerte dort und verschwand hinter seinem Rücken. Sie spürte, wie ihr vor Verlegenheit der Schweiß ausbrach. Sich darüber freuen, anders zu sein. Wie dumm von ihr! Aber wenn sie jetzt zu einer langatmigen Erklärung ansetzte, würde sie damit bestimmt für noch mehr Beklommenheit sorgen.
Wenn sie könnte, würde sie sich selber treten. Aber was brächte ihr das?
Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
«Ist schon gut», murmelte er. «Du musst jetzt nichts sagen.»
Mit brennenden Wangen hob Greta ein verirrtes Blatt mit der Illustration eines Granatapfels auf, legte es auf den Tisch und wiederholte leise ihren Abschiedsgruß.
«Hej», sagte auch er noch einmal.
Als Greta um Punkt zwölf den Spielbudenplatz erreichte, hing ihr die Begegnung mit dem jungen Mann noch nach. Sie war eine gute Viertelstunde ziellos umhergelaufen und hatte gar nicht gemerkt, wie der Regen langsam in ihren Mantelkragen troff.
Was war sie froh, Mickey zu entdecken, der, die Hände in die Hosentasche vergraben und mit einer Zigarette zwischen den Lippen, an einer Straßenlaterne lehnte. Als sie die Reeperbahn überquerte, lief sie beinahe vor ein Auto, das im letzten Augenblick auswich und heftig hupend an ihr vorbeizog. Anders als in Stockholm herrschte in Hamburg ja Rechtsverkehr! Das nächste Mal würde sie viermal in beide Richtungen gucken, bevor sie vom Bordstein trat.
Mickey empfing sie mit einem erschrockenen Lächeln. «Sag nicht, du bist betrunken.»
Konnte er etwa hellsehen? Wobei, betrunken würde sie sich nicht nennen, auch wenn zwei Gläser Portwein am Vormittag vielleicht etwas mutig gewesen waren.
«Bin ich nicht», gab sie zurück und stellte fest, dass sie trotzig klang.
Mickey betrachtete sie prüfend und brach in ein heiteres Prusten aus. Erleichtert lächelte sie. Warum übertrug sie ihren Ärger über sich selbst eigentlich auf ihren Bruder?
«Ein bisschen vielleicht», verbesserte sie sich.
Mickey schien sich große Mühe zu geben, vorwurfsvoll zu gucken.
«Es ist also wahr, was man über euch Schweden sagt?», fragte er. «Wikingererbe und so?»
«Ha», murmelte sie und knuffte ihn gegen die Schulter.
«Ha», sagte auch er und knuffte zurück. Dann wurde er nachdenklich. «Ist schon komisch, dass du auf einmal da bist. Wie ein Kaninchen, das aus dem Hut springt, aber nicht bloß ein normales Kaninchen, sondern ein hellgrünes oder knallrotes oder so.»
«Ich hoffe, ich bin knallrot mit Sternen. Oder Punkten.»
Er grinste. «Hätte ich dich früher schon gekannt, wäre ich mit elf ausgewandert. Dann wäre ich nach Stockholm gekommen und hätte bei dir gewohnt.»
Hinter ihnen rauschten die Autos vorbei, immer wieder trafen sie Spritzer aus den Pfützen, aber Greta hatte es nie weniger ausgemacht, im kalten Schmuddelwetter herumzustehen.
«Das wäre toll gewesen», sagte sie leise.
Wehmütig nickte er. Rauch kräuselte sich vor seinem Gesicht, und er blies ihn weg. «Ist es nicht gemein, dass mir Vater nie von dir erzählt hat? Du wusstest wenigstens, dass es Ellen und mich gibt.»
«Was denkst du, wieso hat er das getan? Ich kenne ihn ganz anders von früher. Er war damals fröhlich und lustig und …» Sie zuckte mit den Schultern.
«Tja, was die Zeit aus den Leuten macht, wie?» Es hatte wohl nonchalant klingen sollen, aber Greta hörte die Trauer in seiner Stimme.
«Ach du je», murmelte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr. «Wenn wir jetzt nicht losgehen, können wir es uns ganz sparen. Bist du bereit, Schwesterherz?»
«Kommt drauf an, wofür», erwiderte sie und hätte ihn am liebsten vor Freude umarmt, weil er sie Schwesterherz genannt hatte.
«An deinem ersten Tag hier kann ich dich unmöglich in der tristen Wohnung lassen. Aber es hilft nichts, ich muss arbeiten.» Er verzog das Gesicht, tat, als denke er nach, dann breitete sich ein übertriebenes Strahlen auf seinem Gesicht aus. «Rettung naht! Komm, ich weiß jemanden, mit dem du dich sicher blendend verstehst.»
In Greta begann Hoffnung zu prickeln.
«Du sprichst nicht zufällig von Marieke?», fragte sie.
Verwundert riss Mickey den Kopf herum. «Hat dir Ellen von ihr erzählt?»
Greta schüttelte den Kopf.
«Ich hab sie schon kennengelernt. Gestern. Bei euch im Hausflur.»
Sie schilderte die kurze Begegnung, und Mickeys Grinsen wurde breiter und breiter. Er besaß die Angewohnheit, sich mit der flachen Hand durchs Haar zu streichen, wenn er verlegen war. Es wirkte nicht eitel, sondern nachdenklich und jungenhaft.
«Na, dann mal los!»
Obwohl ihr nur ein klitzekleines bisschen schwindelig war, hakte sich Greta gern bei ihm unter, als er ihr seinen Arm anbot.
In der Straßenbahn bezahlte Mickey für sie beide und kümmerte sich nicht um ihre Proteste. Insgeheim war sie froh darüber. Schließlich hatte sie fast ihr gesamtes Geld, das sie gestern zu einem sicher verbrecherischen Kurs am Altonaer Bahnhof getauscht hatte, für eine Taxe, nutzlose Telefonate und Ananastorte mit Portwein verprasst.
Im Waggon war es angenehm warm. Hinter den beschlagenen Scheiben surrte Hamburg vorbei. Greta war dankbar dafür, Seite an Seite mit Mickey zu sitzen und sich langsam hin und her schaukeln zu lassen. Immer wieder huschte die Begegnung mit dem jungen Mann auf der Reeperbahn durch ihre Gedanken, doch sie wischte sie schnell wieder fort.
«Wir sind da. Fast jedenfalls», sagte Mickey nach vier oder fünf Stationen.