Die stille Zeugin - Kate London - E-Book

Die stille Zeugin E-Book

Kate London

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Beschreibung

"Intelligent, atmosphärisch und hochspannend - dieses Buch lässt Sie nicht mehr los." - Rosamund Lupon.

Ein Polizist und ein junges Mädchen stürzen von einem Londoner Hochhaus in den Tod. Als die Polizei am Tatort eintrifft, entdeckt sie auf dem Dach des Gebäudes eine junge Polizistin, die kurz darauf spurlos verschwindet. Warum war sie am Tatort? Ihre Kollegin Sarah Collins setzt alles daran, die einzige Zeugin zu finden - und begibt sich dabei auf die Spur eines rätselhaften Falls, der sie immer tiefer in die dunklen Abgründe der Polizeiarbeit eintauchen lässt und zu einem entsetzlichen Geheimnis führt ...

Das fesselnde Krimidebüt einer ehemaligen Polizistin.

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Seitenzahl: 480

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

17 . April

1

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18 . April

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19 . April

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20 . April

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21 . April

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30 . April

50

51

Dank

Über die Autorin

Kate London machte ihren Abschluss an der Cambridge University. Anschließend folgte eine Theaterausbildung in Paris. Sie profilierte sich als Schauspielerin und Regisseurin und schrieb bereits, ehe sie Mitbegründerin der international auftretenden Tottering Bipeds Theatre Company wurde. 2006 trat Kate London in den Polizeidienst des Metropolitan Police Service (MET) in London ein, wo sie zunächst als uniformierte Ansprechpartnerin arbeitete, um später zur Kriminalpolizei zu wechseln. Sie bestand die Prüfung zum Detective Constable und machte Praktika bei der Police Nationale in Frankreich. Ihre Polizeikarriere beendete sie als Mitglied der Mordkommission der MET. Im August 2014 gab sie den Polizeidienst auf, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. DIE STILLE ZEUGIN ist ihr erster Roman.

KATE LONDON

DIE STILLE ZEUGIN

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ulrike Werner-Richter

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Kate LondonTitel der englischen Originalausgabe: »Post Mortem«Originalverlag: Corvus, an imprint of Atlantic Books Ltd., London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergTitelillustration: © plainpicture/NTB scanpixUmschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, BerlinE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2979-7

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Uri

17. April

1

Detective Sergeant Sarah Collins und Detective Constable Steve Bradshaw waren ganz in der Nähe, als der Anruf kam. Sie brauchten nur wenige Minuten zum Ort des Geschehens, trotzdem blockierten die Einsatzfahrzeuge der Sanitäter schon die Zufahrtsstraße zum Portland Tower. Collins stellte den Wagen mitten auf der Straße ab und ließ das Blaulicht eingeschaltet.

»Du bleibst hier und behältst alles im Auge«, sagte sie. »Ich gehe aufs Dach.«

Collins spurtete los. Bradshaw war behäbiger, ging langsam zum Kofferraum, um seine Tasche herauszuholen. Collins zückte ihren Dienstausweis und bahnte sich einen Weg durch die Gaffer, die nach vorn drängten. Sie schlängelte sich zwischen ihrem Schweißgeruch, ihren spitzen Ellbogen und ihrer atemlosen Neugier hindurch.

»Polizei. Aus dem Weg.«

Als sie den Vorplatz erreichte, fuhr sie beim Anblick der Leichen zurück, die für jedermann sichtbar mitten auf dem Asphalt lagen.

Der eine Tote war ein weißer uniformierter Polizist. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Übergewichtig, vielleicht Ende vierzig, Anfang fünfzig. Ein Arm lag zerschmettert unter seiner Brust. Der andere, weit ausgestreckt, war offensichtlich gebrochen. Aus dem Bauch des Mannes war Blut ausgetreten und hatte sich auf dem Boden ausgebreitet.

Neben ihm lag ein Mädchen im Teenageralter mit dem Gesicht nach oben, die Arme weit ausgebreitet, der Mund offen, wie eine Puppe, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Der gepunktete rosa Rucksack ein paar Schritte von ihr entfernt wirkte auf dem Pflaster irgendwie deplatziert. Das Mädchen war dunkelhäutig, wahrscheinlich Nordafrika, dachte Collins. Die Tote trug Jeans und ein T-Shirt mit einer aufgedruckten Katze. Der Kopf der Katze war im Vergleich zum Körper viel zu groß, mit noch größeren Augen. Der Schwanz ringelte sich über die Schulter des Mädchens. Das Blut des toten Mannes war über das T-Shirt und das Gesicht des Mädchens gespritzt. Es sah unheimlich aus, wie sie da so unberührt lagen.

Collins bemühte sich, die Angst zu verdrängen, die ihr plötzlich den Rücken hinaufkroch. Einen Augenblick blieb sie hilflos wie festgenagelt stehen. Die Sanitäter räumten bereits ihre Ausrüstung zusammen. Man hatte sie nur der Vollständigkeit halber gerufen: Irgendwer musste den Tod offiziell feststellen. Collins blickte hinauf in den hellen, kalten, graublauen Himmel. Ihr wurde schon schwindelig, wenn sie sich den unaufhaltbaren Sturz nur vorstellte. Das Hochhaus ragte mächtig neben ihr auf und warf einen langen, dunklen Schatten. Den beiden dort war nicht mehr zu helfen, sagte sie sich. Aber sie hatte einen Job zu erledigen, und darauf würde sie sich konzentrieren. Steve sicherte derweil die Umgebung.

Ein Sergeant in Uniform wies schockiert aussehende Polizisten an, die Leute zurückzudrängen. Er trug blaue Latexhandschuhe und hatte ein blauweißes Absperrband in der Hand. Unmittelbar vor Collins stand ein junger Polizist, der sehr mitgenommen aussah. Dem Aussehen nach stammte er wohl aus Asien. Collins hielt ihm ihren Dienstausweis vor die Nase und sprach so ruhig mit ihm, als wollte sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.

»Detective Sergeant Collins, Abteilung Sonderermittlung. Mein Kollege Detective Constable Steve Bradshaw wird gleich hier sein und Ihnen bei der Sicherung helfen.«

Der Polizist winkte sie durch. Eilig überquerte sie den Platz und ging um das Gebäude herum zum Eingang. Ihr Herz schlug wie wild. Sie wiederholte das Mantra aller Ermittler: Immer eins nach dem anderen. Immer nur eine Entscheidung treffen. Jedes Detail konnte von Bedeutung sein, und jede ihrer Entscheidungen konnte später vor einem unpersönlichen, unerbittlichen Gericht schwerwiegende Folgen haben. Die Welt drehte sich weiter. Am liebsten hätte sie sie angehalten und sich um jedes Detail gekümmert, es mit viel Zeit untersucht und langsam bei Licht von allen Seiten betrachtet. Jede menschliche Handlung wirkte kontaminierend. Trotzdem würde sie auf das Dach gehen. Wenn sie weiter zögerte, gingen womöglich Beweise verloren. Zum Beispiel musste sie feststellen, wer sich jetzt gerade dort oben aufhielt.

Die Tür zum Treppenhaus war nur angelehnt und blockiert worden, damit sie nicht zufiel. Collins blieb stehen, begutachtete die Coladose, die jemand zwischen Tür und Rahmen geklemmt hatte, und rief Steve an.

»Ich brauche jemanden an der Tür, und zwar schnell. Keiner rührt sich von der Stelle, und niemand darf rauf oder runter. Hier ist eine Coladose, die untersucht werden muss.«

Sie kramte in ihrer Hosentasche und förderte ein Paar blaue Latexhandschuhe zutage, wie sie auch der Sergeant getragen hatte. Während sie sie überstreifte, ließ sie den Blick über die Seite des Gebäudes und die Überwachungskamera wandern, die auf die Tür gerichtet war. Dann betrat sie die Eingangshalle. Glasbausteine in der Außenmauer sorgten für ein trübes Licht. Links entdeckte sie eine verwaiste Hausmeisterloge, vor ihr lagen zwei dunkle Aufzugtüren, und rechts befand sich der Aufgang zur Treppe. Collins blieb kurz stehen und überlegte, welchen Weg die beiden Opfer nach oben genommen hatten – Aufzug oder Treppe? Sie würde ein Team rufen, um den gesamten Bereich auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Zunächst aber würde sie die Kontamination riskieren und den stinkenden Lift nehmen. Sie zog einen Stift aus ihrer Tasche und drückte damit den Knopf.

Die Aufzugwände bestanden aus scheckigem, schmierigem Metall. Auf dem Boden lag verbrannte Alufolie. Wenn nur der Lift nicht den Geist aufgab! Knirschend setzte er sich in Bewegung. Seine Vibrationen hallten im gesamten Aufzugschacht wider. In der obersten Etage angekommen, öffneten sich die Türen. Eine Treppe führte noch weiter nach oben, schwach erhellt von einem Lichtviereck. Das musste die Türöffnung zum Dach sein.

Auf dem Weg zum Dach hörte sie in einiger Entfernung leise Stimmen. Als sie aus der Türöffnung trat, schlug ihr der Wind entgegen. Angesichts dieser Höhe wollte sie am liebsten sofort umkehren. Wolken fegten über den blauen Himmel. Von ihrem Standort aus war kein Boden zu sehen, nur die weiße Betonfläche des Dachs und der wirbelnde Himmel.

Nicht einmal einen halben Meter vom Rand entfernt stand ein männlicher uniformierter Beamter vor einem weiblichen, ebenfalls uniformierten Police Constable. Die Frau war jung, höchstens zweiundzwanzig, schlank und athletisch gebaut. Sie trug keine Uniformmütze. Collins konnte ihr blondes, zu einem Zopf geflochtenes Haar sehen. Die Polizistin saß auf dem Boden. Auf dem Schoß hielt sie einen kleinen Jungen in einem Bärenkostüm, der seinen Arm um ihren Hals gelegt hatte.

Collins zeigte ihren Dienstausweis. »Detective Sergeant Sarah Collins.«

Der Inspector trat auf sie zu. Er war groß, in seinem Haar zeigten sich erste graue Strähnen. »Was wollen Sie hier? Das ist ein Tatort.«

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen, Sir.«

Ein Anflug von Wut huschte über sein Gesicht.

»Kieran Shaw, diensthabender Ermittler. Was ich hier zu tun habe, ist doch wohl klar. Einer meiner Beamten ist tot. Eine weitere Beamtin aus meinem Team befindet sich hier oben allein mit einem als vermisst gemeldeten Kind. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass nicht noch jemand von diesem verdammten Dach stürzt.« Er wandte sich ab und sprach in sein Funkgerät. »Zentrale, hier Inspector Shaw. Sofort die Treppe mit Absperrband sichern. Alle anderen Eingänge ebenfalls unzugänglich machen. Niemand darf rauf oder runter. Wir haben hier einen kritischen Zwischenfall.« Dann wandte er sich wieder der jungen Beamtin und dem kleinen Jungen im Bärenkostüm zu. »Und jetzt bringen wir euch beide hier runter.«

Collins betrachtete die junge Polizistin. Am liebsten hätte sie sofort mit ihr gesprochen, um sie von ihrem Vorgesetzten abzulenken und zu erfahren, was genau geschehen war, ehe jemand anderer sie befragen konnte. Doch die junge Frau war kreidebleich und hatte blaue Lippen. Außerdem zitterte sie unkontrolliert, als wäre sie viel zu lange in zu kaltem Wasser gewesen. Collins griff zu ihrem eigenen Funkgerät. »Zentrale, hier spricht DS Collins von der Dienstaufsichtsbehörde DSI. Ich übernehme hier. DC Steve Bradshaw kümmert sich um die Tatortsicherung. Wir brauchen medizinische Versorgung für eine weibliche Erwachsene, die offenbar einen Schock erlitten hat. Sie atmet und ist bei Bewusstsein. Ich erwarte den Rettungswagen unten an der Treppe.«

Collins verließ die Beamtin erst, als sie im Krankenwagen saß und von den Sanitätern versorgt wurde. Den Namen hatte sie sich aufgeschrieben: Police Constable Lizzie Griffiths.

Die Mutter des kleinen Jungen wartete auf dem Rücksitz eines Polizeifahrzeugs. Collins ließ die Hand des kleinen Bären los und blickte ihm nach, als er zu seiner Mutter rannte. Kaum hatte die Mutter ihn entdeckt, riss sie die Tür auf und lief ihm entgegen. Sie hob ihn in die Luft, presste ihn an sich und drückte ihr Gesicht so fest an seines, dass er aufschrie: »Mami!« Sie streifte ihm die Bärenkapuze vom Kopf und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Collins fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihn loslassen konnte. Die uniformierten Beamten am Steuer gaben den beiden ein wenig Zeit, ehe sie sie wieder in den Wagen schoben und damit den Blicken der begierig wartenden Presse entzogen. Collins sah dem Wagen nach, der sich langsam entfernte.

Sie wusste, von jetzt an ging es um jede Minute. Kein Beweisstück durfte übersehen werden. Es war, als sammelte man Muscheln, ehe die Flut kam und sie in ewiges Vergessen hinwegspülte. Obwohl – es ging nicht einfach nur um das Sammeln. Die verdammten Dinger mussten außerdem katalogisiert und erfasst werden. Sie blickte nach oben. Der Himmel war inzwischen grau geworden. Das Wetter verschlechterte sich, und die Frühlingssonne verblasste immer mehr. Sie würden sich beeilen müssen. Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück und holte einen weißen Overall und einen Protokollblock aus dem Kofferraum.

Steve wartete am Rand des Vorplatzes auf sie, zündete zwei Zigaretten an und reichte ihr eine. Schweigend rauchten sie und sahen zu, wie einige Polizisten sich damit abmühten, weiße Zelte aufzustellen, die in aller Eile geliefert worden waren.

»Haben immer wieder ganz schön Mühe damit«, stellte Steve fest.

Zusammen gingen sie die anstehenden Aufgaben durch. Es gab viel zu tun. Die Familien mussten informiert werden, man musste entscheiden, wie die Kollegen von der Kriminaltechnik vorgehen sollten, Nachbarn und Zeugen mussten befragt, die Bilder der Überwachungskameras ausgewertet und die Rettungsmannschaft vernommen werden. Steve rief die Busgesellschaft und die zuständige Firma wegen der Überwachungsvideos an. Er würde mit einem anderen Beamten versuchen, das Filmmaterial noch sicherzustellen, ehe die Belegschaft nach Hause ging. Collins warf einen Blick auf die Uhr. Es ging auf Feierabend zu, bald würde es schwierig werden, die Leute, die sie brauchten, noch anzutreffen. Schulkinder liefen auf dem Heimweg mit ihren abgestoßenen Taschen und staubigen Schuhen an dem Platz vorbei.

2

Im Krankenwagen redete ein Sanitäter auf Lizzie ein und füllte dabei ein gelbes Formular auf einem Klemmbrett aus. Er beugte sich vor und streifte ihr die Manschette des Blutdruckmessgeräts über den Oberarm. Sie spürte, wie die Manschette sich aufblähte und den Blutstrom behinderte. Ihr war, als würde alles jemand anderem passieren. Der Sanitäter sagte etwas zu ihr. Sie begriff nicht, was er von ihr wollte, aber es handelte sich definitiv um eine Frage. Er lächelte, während er sprach.

Sie sagte »Okay« und lächelte ebenfalls.

Das Klemmbrett fesselte ihr Interesse, und sie überlegte, wie schwierig es wohl wäre, die beiden Flügel der Klemme zusammenzudrücken, um sie zu öffnen. Manche dieser Klemmen gingen ganz schön schwer. Die Türen des Krankenwagens öffneten sich. Davor stand ihr Sergeant und sprach in sein Funkgerät. Er nickte ihr zu und sie nickte zurück. »Sarge.« Nachdenklich kaute sie auf ihrer Oberlippe herum. Es fühlte sich an, als hätte man sie betäubt.

Ein dürrer Mann mit knittrigem Gesicht bestieg den Krankenwagen. Er trug einen dunkelblauen Anzug, zeigte den Sanitätern seinen Dienstausweis und setzte sich ihr gegenüber. Sie bemerkte Nikotinflecken auf seinem Mittelfinger. Der Sanitäter und der unbekannte Mann redeten miteinander, aber Lizzie begriff nichts von dem, was gesagt wurde. Schließlich beugte sich der Mann nach vorn, legte sanft die Hand auf ihre Schulter und sagte:

»Lizzie. Sie heißen doch Lizzie, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hier ist meine Karte, Lizzie. Ich bin DC Steve Bradshaw. Wären Sie so nett, mir kurz ihren Dienstausweis zu überlassen? Ich stecke meine Karte hinein, dann wissen Sie immer, wo sie ist. Mein Mobiltelefon ist Tag und Nacht eingeschaltet, und Sie dürfen mich jederzeit anrufen. Wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung, sobald die Sanitäter uns grünes Licht geben.«

»Ja, vielen Dank.«

Er lächelte. »Okay, dann mache ich mich wieder auf den Weg.«

Und dann war er auch schon wieder fort. Der Sanitäter befestigte etwas an ihrem Zeigefinger. Wieder eine Klemme. Sie bemerkte ein rhythmisch zuckendes rotes Licht an der Klemme. Das war ihr Puls, ihr Herzschlag. Sie schloss die Augen und fühlte sich, als läge sie auf dem Grund eines Schwimmbeckens und blicke nach oben. Sie gestattete sich, zu entspannen und die Wasseroberfläche zu betrachten, die sich zu beweglichen blauen Vielecken verformte. Aber plötzlich blitzte vor ihrem inneren Auge wieder das Dach auf und das Mädchen, Farah, und Ben in seinem Bärenkostüm, der blaue Himmel über ihnen und die vorbeifliegenden Wolken.

Lizzie verkrampfte sich, als würde ihr übel. Sie bemerkte, dass der Sanitäter ihr sofort eine Schüssel hinhielt, und registrierte sein breites, freundliches, müdes Gesicht, das tröstliche Grün seiner Uniform und die Hosen mit den Seitentaschen. Auch sie selbst hatte solche Taschen, fiel ihr ein, aber ihre Hose war nicht grün, sondern schwarz. Sie winkte ab. »Geht schon, vielen Dank.« Entschlossen wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Klemmbrett zu und dachte darüber nach, wie altmodisch diese Dinger doch waren. Wer hätte gedacht, dass die Sanitäter sie noch benutzten?

Inspector Shaw stieg ein. »Alles in Ordnung, Lizzie?«

Sie nickte.

Sie beobachtete ihn. Er gab sich betont effizient. Das verstand sie sehr gut. Er organisierte alles für sie. Und er kümmerte sich um sie.

3

Krankenwagen und Feuerwehren waren fort. Collins hatte ihren Wagen inzwischen innerhalb der Absperrkette geparkt. Sie saß auf dem Fahrersitz, arbeitete sich durch die Ausdrucke der Polizeiberichte und schrieb sich einiges in ihrem Notizbuch auf.

Jemand klopfte ans Fenster. Detective Chief Inspector Baillie beugte sich zu ihr hinunter. Sein schmales, intelligentes Gesicht war mit Sommersprossen übersät, und seine blassblauen Augen blickten unter einem Büschel flachsfarbener Haare hervor. Er grinste, weil er sie überrascht hatte. Sie drückte auf den Türöffner, damit er auf der Beifahrerseite einsteigen konnte. Als er die Motorhaube des Wagens umrundete, sah sie, wie sein Nadelstreifenanzug um seine schmalen Schultern schlotterte. Er schob den Sitz so weit wie möglich nach hinten und streckte seine Beine im Fußraum aus.

»Es gibt da ein Problem, Sarah. Keine Ahnung, ob Sie schon davon wissen. Als wir die Familien informieren wollten, stellte sich heraus, dass sich Younes Mehenni, der Vater des toten Mädchens, derzeit in Polizeigewahrsam befindet und morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden soll.«

Sofort fühlte sich Collins auf dem falschen Fuß erwischt. Das hätte sie wissen müssen. »Tut mir leid, Sir …«

»Schon gut, Sie hatten wirklich viel zu tun. Ich habe Alice beauftragt, Kontakt zur Familie zu halten. Sie ist gerade auf der Wache und organisiert, dass er aus familiären Gründen entlassen wird. Morgen begleiten wir ihn zu Gericht und sehen, was wir tun können. Anscheinend ist rechtlich nichts anderes möglich. Wie es aussieht, handelt es sich um keine schwerwiegende Angelegenheit: Sachbeschädigung in Tateinheit mit übler Nachrede. Wir versuchen gerade, Genaueres herauszubekommen. Wissen Sie schon etwas über den toten Beamten?«

»Sein Name ist PC Hadley Matthews, Sir. Zweiundfünfzig Jahre alt. Er hätte nur noch drei Jahre bis zur Pensionierung gehabt. Inspector Shaw, Matthews’ direkter Vorgesetzter, informiert gerade die Familie. Er war heute der Verantwortliche für das Team.«

Baillie nickte. »Ja, ich bin Kieran Shaw schon einmal begegnet.«

»Haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?«

»Nein, keineswegs. Machen Sie sich keine Sorgen, es gibt da keinen Interessenskonflikt. Nach allem, was ich gehört habe, soll er ein guter Mann sein.« Baillie streckte die Arme hinter seinem Kopf. »Also gut, Sarah, ich lasse Sie weitermachen. Wir nehmen die Wache Farlow als Basis für die ersten Rückmeldungen. Wir treffen uns dann auch dort für genauere Instruktionen. Wie viel Zeit brauchen Sie noch? Schaffen Sie es bis zwanzig Uhr?«

»Geht in Ordnung, Boss.«

Baillie machte eine widerwillige Kopfbewegung hin zur äußeren Absperrung, wo die Reporter herumlungerten. »Inzwischen muss ich mich denen da stellen. Irgendwelche Vorschläge, was ich ihnen sagen könnte?«

Collins wandte den Kopf in die Richtung, in die er zeigte, und blickte in einen ganzen Wald aus Teleobjektiven, die sich auf den Vorplatz richteten.

»So wenig wie möglich. Wir ermitteln ja noch. Vielleicht etwas in der Art wie: Wir verfolgen alle denkbaren Spuren.«

Eine kurze Pause. Baillie schloss die Finger fest um seine Autoschlüssel, ehe er schließlich die Wagentür öffnete.

»Tja«, meinte er. »Unser erster gemeinsamer Fall, und dann gleich so ein dickes Ding. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen.«

4

Der Polizeiwagen fuhr bis vor Lizzie Griffiths’ Wohnung. Arif saß am Steuer, Lizzie neben ihm. Arif stellte den Motor ab.

»Bist du ganz sicher, dass du klarkommst?«

»Aber ja doch. Ist schon gut.«

Arif war ebenso wie Lizzie noch ziemlich neu im Dienst. Weil Lizzie jedoch zwei Monate mehr Erfahrung mitbrachte, stand sie in der Hierarchie einen winzigen Schritt über ihm. Sie wusste, dass er als Erster am Ort des Unglücks gewesen war, möglicherweise sogar den Sturz gesehen hatte, und fragte sich, wie er damit zurechtkam. Schweigend saßen sie nebeneinander.

»Ich weiß nicht«, sagte Arif schließlich. »Es fühlt sich nicht richtig an, dich jetzt allein zu lassen. Wenn du willst, bleibe ich noch eine Weile. Wir könnten zusammen Tee trinken.«

Lizzie schwieg.

»Oder was Stärkeres.«

»Nein, Arif. Ist schon gut. Alles in Ordnung. Trotzdem danke.«

Sie stieg aus dem Wagen und war sich bewusst, dass Arif wartete und ihr nachsah, während sie die Auffahrt hinaufging und nach ihren Schlüsseln kramte. Dabei hatte sie das lächerliche Gefühl, dass sie nur so tat, als würde sie die Tür aufschließen. Als sie im Flur stand, drehte sie sich um und winkte: Alles paletti. Trotzdem zögerte er noch kurz, ehe er nickte und davonfuhr.

Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, ließ sie sich auf den Boden sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Lizzie saß regungslos auf dem Rand des Bettes. Sie wusste nicht, wie lange sie schon dort saß, und hatte auch keine Ahnung, wie sie vom Flur in ihr Schlafzimmer gekommen war. Ihr Kopf fühlte sich vollkommen leer an. Sie griff nach ihrem Telefon und starrte auf die Anzeige. Sieben Anrufe hatte sie versäumt. Sie konnte sich undeutlich erinnern, dass das Telefon geklingelt hatte, aber es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dranzugehen.

Sie rief ihre Fotos auf und scrollte durch die Bilder, bis sie eines fand, auf dem sie mit PC Hadley Matthews zu sehen war. Er hatte den Arm um sie gelegt. Sie starrte das Foto an, bis das Telefon erneut klingelte und das Bild verschwand.

Unbekannte Nummer.

Sofort drückte sie das Gespräch weg. Ihr fiel niemand ein, mit dem sie hätte sprechen wollen. Eigentlich fiel ihr überhaupt nichts ein.

Aber sie versuchte, sich zusammenzunehmen.

Im Krankenwagen hatte ein weiblicher Detective Constable ihre Uniform an sich genommen und sie als Asservat in eine braune Papiertüte gepackt. Jetzt trug Lizzie ein weißes Oberteil, Jogginghosen und schwarze Schuhe, die die Beamtin ihr gegeben hatte, als sie die Uniform ausgezogen hatte. Lizzie kannte diese Kleidungsstücke. Solche bekam man im Polizeigewahrsam, wenn einem die eigenen Kleidungsstücke zur Sicherung von Spuren weggenommen wurden.

Ihr Verstand kam ihr vor wie ein langsames Computersystem, das vergeblich nach etwas suchte. Oder wie das Standbild einer DVD. Die Dachkante, der Wind, der darüber hinwegfegte. Vergeblich überlegte sie, ob es eine Möglichkeit gab, alles ungeschehen zu machen, es zu korrigieren wie einen Traum, den man ein zweites Mal träumt. Fast konnte sie die Sanduhr in ihrem Kopf sehen, die sich drehte und drehte, ohne dass etwas geschah. Keine Treffer. Die Festplatte war unwiderruflich beschädigt.

Plötzlich empfand sie die fremden Klamotten als abstoßend. Sie stand auf und zog ihre eigene Jogginghose und ein T-Shirt an. Die anderen Kleidungsstücke warf sie in den Mülleimer.

Die kurze Anstrengung hatte sie erschöpft. Sie legte sich auf das Bett und starrte an die Decke.

5

Collins trat aus dem Zelt, das man über dem Leichnam von PC Hadley Matthews errichtet hatte. Sie streifte ihren Overall bis zur Taille hinunter, zog die Latexhandschuhe aus und griff nach ihren Zigaretten. Die beiden Toten waren bereit zum Verpacken in einem Leichensack und den Abtransport.

Immer noch standen Schaulustige an der äußeren Absperrung. Collins fragte sich, worauf um alles in der Welt sie wohl warten mochten. Außer den Zelten und ein paar Kriminalbeamten in weißen Overalls gab es nichts zu sehen. Trotzdem war es die übliche Menschentraube, die sich bei jeder Katastrophe versammelte. Kleine Jungen in Hoodies wuselten herum und machten dem Aufsichtsbeamten an der Absperrung das Leben schwer. Eine ältere Dame in Hidschab und Strickjacke starrte mit konzentrierter Aufmerksamkeit auf den Menschenauflauf. Collins nahm sich vor, einen der Polizisten zu bitten, die Personalien dieser Frau aufzunehmen. Ein Weißer in einem mit Farbe bespritzten Arbeitsanzug und Anstreicherschuhen filmte alles mit dem Handy. Ein Fernsehkameramann lungerte ebenfalls noch herum und hoffte vermutlich auf Bilder von den beiden Leichen, wenn sie herausgetragen und fortgefahren wurden. Sie sollte die Leute von der KTU vor ihm warnen, damit sie die Vans möglichst dicht an die Zelte fuhren und die Leichensäcke vor neugierigen Blicken schützen konnten.

Collins zündete sich ihre Zigarette an und ging zu ihrem Wagen. Sie lehnte sich dagegen, zog ihr Notizbuch hervor und überflog ihre To-do-Liste. Die Worte »PC Lizzie Griffiths« waren mit Ausrufezeichen in ein Kästchen gemalt. Die junge Polizistin vom Dach musste sie sich als Nächstes vornehmen.

Collins funkte die Zentrale an und wartete, während ihr Gegenüber den Bericht durchblätterte.

»PC Griffiths ist nicht in der Klinik, Sarge.«

»Nicht in der Klinik?«

»Nein, Sarge.«

»Okay, was steht denn in diesem Bericht? Wo ist sie jetzt?«

Collins kratzte sich verärgert den Kopf, während sie auf die genauere Auskunft wartete. Endlich krächzte das Funkgerät wieder. »Die Beamtin wurde von ihren Aufgaben entbunden. Das Einsatzleitsystem zeigt mir, dass sie in einem unserer Wagen nach Hause gefahren wird.«

»Nach Hause? Wer hat das veranlasst?«

»Der Diensthabende, Sarge. Mr. Shaw.«

Collins warf ihre Zigarette auf den Boden und zündete sich mit nur einer Hand gleich die nächste an. »Okay, danke, Zentrale.« Sie tippte in ihr Mobiltelefon. »Steve, Lizzie Griffiths, die junge Beamtin …«

»Ich habe schon selbst nachgehakt, Sarah. Ich habe im Krankenwagen versucht, mit ihr zu sprechen, aber der Sani sagte, sie wäre noch nicht so weit. Offenbar ist sie jetzt allein. Keine Ahnung, was Shaw sich dabei gedacht hat. Ich bin jetzt gleich bei ihr, biege gerade in ihre Straße ein.«

»Gott sei Dank. Bring sie rüber in die Wache im Victoria House. Wir sollten sie möglichst von ihrer eigenen Wache fernhalten. Ich komme rüber, sobald ich mit Baillie gesprochen habe.«

6

Lizzie lag wie benommen da. Als sie das Klopfen an der Wohnungstür hörte, schreckte sie auf und verharrte sekundenlang stocksteif. Dann aber handelte sie schnell. Sie warf ihr Smartphone, zwei Hosen, zwei T-Shirts, Wäsche und ihre Stromrechnung in einen kleinen Rucksack. Der Deckel ihres Briefkastens hob sich, und sie hielt inne. Das konnte nur ein Polizist sein. Von der Vorderseite ihrer Wohnung aus gab es keinen Zugang zum Garten. Wenn sie sich beeilte, würde es klappen.

Eine Männerstimme rief in den Flur:

»Lizzie?«

Sie hielt inne und hoffte, der Mann draußen merkte nicht, dass sie zu Hause war. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Lizzie, ich bin es, Steve. Erinnern Sie sich? Wir haben im Krankenwagen miteinander gesprochen …«

Der Briefkastenschlitz wurde geschlossen. Lizzie bückte sich und schlüpfte geräuschlos in ein Paar Turnschuhe. Ihr Telefon klingelte. Anfängerfehler. Sie hörte, wie der Deckel des Briefkastens wieder geöffnet wurde.

»Lizzie, ich weiß, dass Sie da sind. Ich kann Ihr Telefon hören.«

Lizzie griff in ihren Rucksack, nahm das Telefon heraus, drückte den Anruf weg und schaltete es aus. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und lief in den Flur. Anders war es nicht möglich, durch die bodentiefen Fenster in den Garten zu gelangen. Sie sah die Finger eines Mannes, die den Deckel des Briefkastens offen hielten, und hörte seine Stimme. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Lizzie. Ich kann Sie doch sehen! Und ich finde es wirklich unnötig, dass ich versuche, durch den Briefschlitz mit Ihnen zu reden, während Sie versuchen, fortzulaufen. Das ist doch lächerlich! Wir machen uns hier beide zum Narren.«

Lizzie zögerte. Der Mann redete weiter. »Hören Sie, Lizzie, ich verstehe Sie ja. Sie fühlen sich furchtbar, aber das liegt am Schock. Bleiben Sie und sprechen Sie mit mir. Sie können mir vertrauen …«

Sie wandte sich von der Eingangstür ab und lief den Flur hinunter. Hinter sich hörte sie, wie der Polizist versuchte, gewaltsam in ihre Wohnung einzudringen. Die Tür erbebte in ihrem Rahmen. In einer Minute ist er drin. Hastig öffnete sie die hohen Fenster und schlüpfte in den Garten. Der Seiteneingang war mit einem hohen Zaun gesichert, das Tor ganz hinten führte in den Park. Sie zog sich die Kapuze ihrer Trainingsjacke über den Kopf. Es wurde schon dunkler, und der blasser werdende Himmel war mit Kondensstreifen und Wolken überzogen. Lizzie rannte los und durchquerte den dämmrigen Park in Richtung der nächsten Hauptverkehrsstraße.

Ihre Bank war bereits geschlossen, aber am Automaten hob sie die höchstmögliche Summe ab. Instinktiv schaute sie sich nach Überwachungskameras um, beschloss dann aber, dass es keine Rolle spielte.

Sie verließ die Geschäftsstraße wieder und rannte durch Nebenstraßen zu den Büros unter den Eisenbahnbögen.

7

Ein fetter Beamter zeigte Collins, wohin sie sich wenden musste. Baillie hatte ein Büro in der Polizeiwache Farlow zum Hauptquartier erklärt. Man erreichte es, indem man ein paar Treppen hochstieg und einen Flur entlangging. Während Collins ihren schweren, alten Laptop und ihre Papiere nach oben schleppte, konnte sie die Blicke der Polizisten auf ihrem Namensschild fast spüren. Die Tür des Büros bestand zur Hälfte aus Glas. Bereits vor dem Klopfen erkannte sie den Rücken von Inspector Shaw. Er saß mit dem Gesicht zum Schreibtisch, an dem vermutlich Baillie saß, der allerdings verdeckt war. Sie zögerte kurz, dann klopfte sie und trat ein.

Baillie lächelte: »Hallo, Sarah.«

»Hi, Boss.«

Inspector Shaw war aufgestanden, drehte sich um und reichte Collins die Hand. Sein oberster Hemdknopf stand offen, und er hatte seine Polizeikrawatte gelockert und unten festgesteckt. Er wirkte erschöpft, sah aber, wie sie erst jetzt feststellte, ausgesprochen gut aus. Hochgewachsen und athletisch mit grauen Strähnen im Haar.

»Guten Abend, Sergeant. Collins, nicht wahr?«

Sie spürte, wie er sie musterte. »Sarah«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand.

»Okay, Sarah«, nickte er. »Ich heiße Kieran.« Mit einer Geste forderte er sie auf, auf seinem Stuhl Platz zu nehmen. »Setzen Sie sich ruhig. Ich bin ohnehin auf dem Sprung. Ich wollte nur den Chef auf Stand bringen, ehe ich Feierabend mache. Oder brauchen Sie mich noch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Shaw wandte sich an Baillie. »Sie gestatten, Sir?«

»Aber natürlich. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Shaw wandte sich zum Gehen, zögerte jedoch noch einmal kurz. »Hören Sie, Sarah, unser Fehlstart vorhin tut mir leid. Aber ich war selbst völlig schockiert.«

Collins nickte. »Klar.«

»Ich habe noch nie einen Beamten verloren.«

»Natürlich, ich verstehe das vollkommen. Es ist schrecklich.«

Er schwieg einen Moment. »Das soll trotzdem keine Entschuldigung dafür sein, dass ich mich unprofessionell verhalten habe«, fuhr er schließlich fort. »Was hat man uns damals auf der Schule noch beigebracht?«, er versuchte ein Grinsen. »›Du hast nur eine Chance, einen ersten Eindruck zu hinterlassen.‹« Die abgedroschene Phrase entlockte ihm ein Lächeln. Er spielte damit auf gemeinsame Erfahrungen an – die Polizeischule, die vielen Jahre im Dienst –, und vielleicht appellierte er auch an Collins’ Mitgefühl. Doch sowohl das Klischee als auch seine Vertraulichkeit waren ihr alles andere als angenehm. Denn auch sie selbst hatte einen ersten Eindruck bei ihm hinterlassen, und sie war sich ganz sicher, dass der ebenfalls nicht besonders gut ausgefallen war.

»Stimmt«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.

»Bekommen Sie alle Hilfe, die Sie brauchen? Zeigt sich mein Team kooperativ?«

»Ja, vielen Dank.«

»Gut, dann verlasse ich Sie jetzt. Rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben.«

»Gerne. Danke.«

Collins’ Augen wanderten unwillkürlich zu ihrem Chef hinüber. Er hielt ihren Blick, bis sich die Tür hinter Kieran geschlossen hatte.

»Sie mögen ihn nicht«, stellte Baillie fest.

Collins zuckte die Schultern. »Ich habe noch keine Meinung. Ich kenne den Mann doch kaum.«

Sie brauchten einige Zeit, bis sie den Laptop zum Laufen brachten. Zunächst wollte er das Passwort nicht annehmen, aber schließlich öffnete sich das Medienprogramm. Beide beugten sich über das Display.

Die ersten Bilder des Überwachungsvideos waren sogar in Farbe. Farah und Ben im Bus. Ein dunkelhäutiges junges Mädchen mit einem Katzen-T-Shirt und ein kleiner Junge im Bärenkostüm. Farah hielt sich an den Haltegriffen fest. Der kleine Junge saß auf einem der hohen Sitze ganz vorn in ihrer unmittelbaren Nähe. Passagiere stiegen ein und aus. Farah half Ben, von seinem Sitz zu hüpfen. Die nächste Datei war in Schwarz-Weiß. Farah und Ben, die Hand in Hand über das Gelände gingen. Die beiden am Eingang. Ein anderer Blickwinkel, weiter entfernt: ein schmales junges Mädchen und ein kleiner Junge überquerten den großen Platz. Eine andere Kamera hatte Bilder von zwei Polizeiautos geliefert, die auf das Gelände fuhren. Ihr eingeschaltetes Blaulicht führte zu Überbelichtungen.

Der Bildschirm wurde schwarz. Collins beendete das Programm.

Baillie fragte: »Das ist alles?«

»Jawohl, Sir. Mehr haben wir bisher nicht bekommen.«

»Immerhin, nicht schlecht. Gibt es noch irgendwelche Besonderheiten?«

Collins griff nach dem Papierstapel, den sie auf den Sessel gelegt hatte, und reichte ihn Baillie. »Da wäre noch der Zeitabgleich, Sir.«

Ein fast misstrauischer Ausdruck, der sich bei ihm sonst nur sehr selten zeigte, huschte über Baillies Gesicht. Wer es bis zum DCI bringt, muss seine Seele gestählt haben, dachte Collins. Baillie saß am Schreibtisch, setzte seine Lesebrille auf und warf einen Blick auf die Unterlagen. Nach einer Minute nahm er die Brille wieder ab, behielt sie aber in der rechten Hand. Er blickte Collins an.

»Ich glaube, es geht schneller, wenn Sie es mir erklären.«

»Im ersten Protokoll steht, dass die Mutter des Jungen, Mrs. Stewart, um fünfzehn Uhr achtundvierzig die Polizei anrief, um Ben vermisst zu melden. Um fünfzehn Uhr einundfünfzig wird die Nachricht mit einer Beschreibung des Jungen über Funk rausgegeben, jemand wird beauftragt, die Mutter zu Hause aufzusuchen und einen Bericht zu erstellen. Zu diesem Zeitpunkt kennt niemand Bens Aufenthaltsort. Vermutlich befindet er sich da bereits mit dem Mädchen Farah im Portland Tower. Die Überwachungsvideos aus dem Bus zeigen ihn nämlich vor dem Notruf der Mutter. Auf jeden Fall wird nach Ben gefahndet. Um fünfzehn Uhr fünfundfünfzig werden Einheiten zur Suchaktion in der Umgebung der Wohnung des Jungen abkommandiert.«

Baillie blätterte weiter. »Okay.«

»Das nächste Protokoll stammt von fünfzehn Uhr sechsundfünfzig. Eine Anruferin meldet der Notrufzentrale zwei Gestalten auf dem Dach des Portland Tower. Die Informantin kann keine genaue Beschreibung liefern, glaubt aber, dass eine der beiden Personen ein Kind sein könnte. Weil sie für den Anruf ins Haus gehen musste, kann sie das Dach nicht mehr sehen. Der Anruf wird als Selbstmordgefahr eingestuft, und um sechzehn Uhr werden zwei Einheiten mit Blaulicht losgeschickt. Zu diesem Zeitpunkt sieht zumindest offiziell noch niemand eine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen.«

Collins spürte, wie Baillie sie ansah, und schluckte. Auf keinen Fall durfte sie jetzt aufgeregt wirken.

»Weder PC Hadley Matthews noch PC Lizzie Griffiths waren in Bereitschaft für den Anruf, sie waren für andere Aufgaben abgestellt. Ich habe die Liste der beiden kontrolliert – das ist der vierte Bericht. PC Matthews sollte einen unverdächtigen Todesfall kontrollieren und war zu seinem Einsatzort unterwegs. PC Griffiths hielt sich auf der Wache auf, war aber beschäftigt, weil sie eine unvollständige Akte für ein Gerichtsverfahren zu bearbeiten hatte. Bisher wissen wir nicht, warum sie plötzlich alles stehen und liegen ließ und mit Blaulicht – wozu sie im Übrigen nicht autorisiert ist – zum Portland Tower fuhr.

Im früheren Protokoll sehen Sie, dass der erste Wagen den Portland Tower um sechzehn Uhr sieben erreichte und sich um sechzehn Uhr neun bei der Zentrale mit der Aussage meldete, drei Personen auf dem Dach zu sehen. Zwei, die dicht beieinanderstehen, und eine ein Stück weiter entfernt. Die entfernt stehende Person trägt eine Polizeiuniform. Der Beamte am Boden identifiziert diese Person mit Vorbehalt als PC Matthews.

Die Zentrale funkt daraufhin PC Matthews an, doch er antwortet nicht. Dem Protokoll über den Funkverkehr – der letzte Ausdruck – können Sie entnehmen, dass PC Matthews um sechzehn Uhr zehn sein Funkgerät abgeschaltet hat.«

Baillie legte die Papiere auf den Tisch. »Was hat das alles zu bedeuten, Sarah?«

»Der Zeitabgleich dürfte eigentlich nur die üblichen Protokolle eines Teams enthalten, das auf einen Notruf reagiert, Sir. Aber hier passt nichts zusammen. Das Fahrtprotokoll von PC Matthews’ Wagen zeigt, dass er ohne die Zentrale zu informieren um fünfzehn Uhr siebenundfünfzig von seiner ursprünglichen Einsatzroute abgewichen ist. Das ist nur eine Minute, nachdem die Beobachtung eines drohenden Suizids durchgegeben wurde. Also muss Hadley Matthews im Augenblick des Funkspruchs beschlossen haben, sein Ziel zu ändern. Und er muss einen ganz schönen Zahn draufgehabt haben, denn er kam bereits um sechzehn Uhr am Portland Tower an, also vier Minuten nachdem er von den Personen auf dem Dach gehört hatte, und sieben Minuten, ehe der nächste Einsatzwagen eintraf. Anders gesagt, das Verhalten von PC Matthews und PC Griffiths scheint mir ungewöhnlich, Sir. Beide waren viel zu schnell am Portland Tower.«

Baillie ordnete die Ausdrucke und sortierte sie in die Akte. »Ehrlich gesagt, ist das nicht gerade viel. Für einen Verdacht brauche ich eine ganze Menge mehr als zwei Polizisten, die besonders schnell am Einsatzort sind.«

»Natürlich. Ich verstehe.«

Völlig unpassend klingelte in diesem Augenblick Collins’ Telefon. Steves Name erschien auf dem Display. Baillie nickte ihr zu, den Anruf anzunehmen.

»In Ordnung, okay. Danke, Steve. Ich sage es gleich dem DCI, ich sitze gerade bei ihm. Sag Jez, sie soll dir eine Vollmacht für eine Durchsuchung außerhalb der Dienstzeiten besorgen. Ich melde mich gleich wieder.«

Sie beendete den Anruf.

»Eine Vollmacht für eine Durchsuchung außerhalb der Dienstzeiten?«, fragte der DCI. »Wozu das denn?«

Es führte kein Weg daran vorbei.

»Leider habe ich schlechte Nachrichten, Sir.«

8

Lizzie kannte den Laden mit seiner großen, orangefarbenen Leuchtreklame zwar vom Sehen, war aber noch nie drin gewesen. Sie wusste, dass Dealer hier oft Autos mieteten, wenn sie Ware zu verkaufen hatten. Der Mann hinter der Theke lehnte sich ein wenig zurück, als wollte er sie besser in Augenschein nehmen.

»Wolverhampton Wanderers«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Sie tragen die Farben des Fußballvereins Wolverhampton Wanderers.«

»Oh.«

Sein Scherz schien ihm zu gefallen, denn er grinste selbstgefällig in sich hinein, als hätte er etwas wirklich Witziges von sich gegeben. Für den Papierkram und die Kontrolle von Lizzies Führerschein nahm er sich viel Zeit.

»Das Foto kann aber nicht mit dem Original mithalten«, meinte er, als er ihr den Führerschein zurückgab. Dabei ließ er seine Blicke anerkennend über ihr Äußeres wandern. »Haben Sie ein bestimmtes Ziel?«

»Eigentlich nicht.«

»Hätten Sie Lust auf Begleitung?«

Lizzie lachte und sagte: »Sie müssen arbeiten.«

»Hab gleich Feierabend. Sie haben Glück, dass überhaupt noch geöffnet war. Ich muss noch auf einen Kunden warten, aber dann schließe ich.«

Er reichte ihr das Kartenlesegerät. Sie gab eine Nummer ein, schüttelte aber sofort den Kopf. Wie dumm konnte man denn sein? Erneut versuchte sie es, aber ihr fiel tatsächlich die PIN ihrer Kreditkarte nicht ein.

»Nicht zu fassen«, sagte sie.

»Probieren Sie’s besser nicht noch mal, sonst wird die Karte gesperrt.«

»Oh, Sch…eibenkleister.«

»Haben Sie vielleicht noch eine andere Karte?«

»Nein. Soll ich es noch mal riskieren?«

»Wie Sie meinen.«

»Bargeld nehmen Sie wahrscheinlich nicht an, oder?«

»Ist gegen die Vorschriften. Ich brauche die Kartendaten als Sicherheit.«

»Mist. Ich muss morgen ganz früh bei einer Beerdigung sein und brauche dafür unbedingt ein Auto. Meines hat plötzlich den Geist aufgegeben. Vermutlich die Kupplung.«

»Das tut mir wirklich leid, Süße.«

»Falls es Ihnen weiterhilft …« Sie zückte ihren Dienstausweis.

»Oh, verstehe.« Er wirkte irgendwie enttäuscht. »Das hätte ich nie und nimmer vermutet.« Er taxierte sie, als würden sich Dienstausweis und ihr Äußeres widersprechen. »Machen Sie das ehrenamtlich? Sie sind doch viel zu hübsch, um Leute festzunehmen.«

Sie lächelte ihn an. »Hören Sie, mir ist klar, dass es nicht unbedingt den Vorschriften entspricht, aber ich könnte bar bezahlen und Ihnen die Kreditkartennummer für die Sicherheit hinterlegen.«

Er trommelte mit dem Zeigefinger auf seine Wange. »Einverstanden. Wie lange brauchen Sie das Auto?«

»Nur zwei Tage.«

»Das wären aber mehr als zweihundert Pfund. Haben Sie so viel bei sich?«

Sie öffnete ihre Geldbörse. »Noch mal vielen Dank. Sie haben alle meine Angaben und wissen, dass Sie mich jederzeit finden können. Immerhin bin ich Polizistin. Nur gerade ein wenig verwirrt.«

Selbst zu dieser nächtlichen Stunde kroch der Verkehr. Langsam rollten die Vorstädte vorüber: mit Rollläden verschlossene Boutiquen, rund um die Uhr geöffnete, mit Metallgittern gesicherte Läden, leere Riesenparkplätze vor Supermärkten. Lizzies Hände zitterten am Lenkrad.

Nach einer Dreiviertelstunde parkte sie und betrat ein Café, das die ganze Nacht geöffnet hatte. Es roch nach altem Frittierfett. In einer Ecke saß eine übergewichtige Frau, die sich einen violetten Chiffonschal um den Kopf geschlungen hatte. Auf dem Schoß hatte sie einen kleinen weißen Hund, dessen Augen tränten und dessen rosa Haut durch sein Fell schimmerte. Der Mann hinter dem Tresen drückte hastig seine Zigarette aus und versteckte den Aschenbecher. In einem vergeblichen Versuch, den Rauch zu verteilen, wedelte er mit den Händen.

»Entschuldigen Sie.«

Lizzie schüttelte den Kopf. »Kein Problem. Ich hätte gern Toast mit Butter und einen Kaffee.«

»Wir haben nur Weißbrot.«

»Geht auch.«

Auf dem Tisch lag ein zerfledderter Evening Standard, den vermutlich ein anderer Kunde dagelassen hatte. Sie nahm die Zeitung und stellte fest, dass die Story es auf die Titelseite der Spätausgabe geschafft hatte. Polizist und junges Mädchen stürzen in den Tod. Der Mann kam mit ihrer Bestellung, und sie legte die Zeitung beiseite. Er wischte den Tisch mit einem schmutzigen Tuch ab.

»Sie sehen aus, als könnten Sie etwas mehr als nur Kaffee und Toast gebrauchen.«

»Nein, vielen Dank. Sieht lecker aus.«

Sie starrte auf das Foto auf der Titelseite des Standard. Es war das übliche Bild von einem Tatort: blau-weißes Absperrband, der große Vorplatz, Gestalten im weißen Overall und das Hochhaus im Hintergrund.

Der Anruf, mit dem vor vielen Wochen alles begonnen hatte, war über Funk gekommen, mit der Einstufung Bald überprüfen. Auch an diesem Tag schlich der Verkehr im Schneckentempo, und der Einsatzwagen kam nur langsam vorwärts. Es ging nicht um einen Notfall, sondern nur um eine unerledigte Anfrage vom Vortag, die der Nachtdienst noch nicht bearbeitet hatte. Ein Routineeinsatz, den jeder andere auch hätte übernehmen können.

Die morgendlichen Straßen waren geschäftig. Angestellte hasteten zur Arbeit, Ladenbesitzer öffneten die Gitter und rollten Gemüsestände auf die feuchten Bürgersteige. Hochhäuser warfen scharfe, kalte Schatten wie bei einer Sonnenuhr auf die erwachenden Straßen. Der Name London Road legte nah, dass man sich nicht in der City, sondern ein Stück weit entfernt davon befand – ein Ort, zu dem man früher von einem Dorf aus wanderte. Aber die Straßen mit ihren oft immer noch ländlichen Namen wie Heath Road (Heidestraße), Chase Road (Jagdstraße) und The Green (Das Grün) waren längst ein Teil der Metropole geworden. Alle bestanden aus Beton und Asphalt und wurden von Halal-Imbissbuden, Secondhandläden, Ein-Pfund-Geschäften und Supermärkten gesäumt.

An einem Shop entdeckte Lizzie ein Schild: Wir entsperren Ihr Smartphone. Hierher brachten Diebe ihre Beute, die Blackberrys und iPhones, deren Verlust ihre ursprünglichen Eigentümer plötzlich verwundbar und furchtsam machte. Das Ladenlokal war geschlossen; die Lieferanten schliefen vermutlich noch. Lizzie starrte auf die kalten Straßen und stellte sich die Diebe in ihren viktorianischen Wohnungen, Häusern aus den 1930ern und Hochhäusern aus den 1970er-Jahren vor, wie sie auf ungemachten Betten, auf Sofas oder auf dem Boden lagen und die Nachwehen von nächtlichen Schlägereien oder ihrem Crack-Konsum ausschliefen. Nur die Polizei war immer im Dienst und schon früh auf den Beinen. Gnadenlose Wecker zwangen die Beamten vor Tau und Tag aus ihren Betten; leise zogen sie sich im Nebenzimmer an, um ihre Partner nicht zu wecken. Polizeiautos kreuzten ziellos durch die Straßen, bis sie sich zu fünft bei einem dringenden Funkruf trafen, der Action versprach. Streifenpolizisten wanderten im morgendlichen Sonnenlicht durch die Straßen wie müde Krähen, warteten, ob sie gebraucht wurden, und träumten von einen ausgiebigen Frühstück.

Sie hätte den Funkruf einfach überhören können, wie es im Übrigen alle anderen Streifenfahrzeuge getan hatten, aber sie liebte ihre Arbeit und wollte, dass das Team genau das mitbekam. Daher meldete sie sich auf den langweiligen Auftrag, den alle anderen vermieden hatten.

»Ist das okay?«, fragte sie Hadley. Er schaltete das Blaulicht ein, um sich Platz zu schaffen und den Wagen in Richtung des Anrufs zu wenden.

»Klar, warum nicht?«

Kenley Villas Nr. 5 war ein viktorianisches Reihenhaus in einer der gentrifizierten Straßen des Bezirks, wo Medienleute direkt neben Drogendealern lebten. Eine Straße, die Ärger verhieß. Lizzie stellte fest, dass das Haus noch eine schöne alte Tür aus Hartholz mit Bleiverglasung im oberen Teil besaß.

Hadley schaltete den Motor aus.

»Wir erledigen das und fahren dann zum Frühstück in die Zentrale«, erklärte er. »Schaffst du es, die Angelegenheit in einer Viertelstunde zu regeln? Ich stoppe mit meiner Armbanduhr. Wenn du es schaffst, lade ich dich zum Frühstück ein, wenn nicht, musst du bezahlen.«

Lizzie stieg schnell aus, Hadley folgte ihr langsamer. Sozusagen als Geste der Höflichkeit zog er seine Hose hoch, allerdings nicht mit dem gewünschten Erfolg. Hadleys Gürtel verlor fast immer den Kampf gegen seinen Bauch. Seine physische Präsenz erinnerte an eine Wassermelone, seine Statur vermittelte grundsätzlich den Eindruck einer gewissen Trägheit, ganz gleich, wie dringlich der Einsatz war.

Carrie Stewart öffnete die Tür. Sie war auf wohlhabende, gebildet wirkende Art nachlässig gekleidet: in Leggings und grüner Strickjacke, das blonde Haar mit einem Tuch zurückgebunden. Ihr ungeschminktes Gesicht war hübsch, leicht sommersprossig und wirkte müde. Ein Spaniel sprang hinter ihr hoch. Ein kleiner Junge mit der gleichen Haarfarbe wie seine Mutter zog den Hund am Halsband zurück und sagte »Charlie, Charlie«. Der Junge trug ein Bärenkostüm. Seine Wangen waren leicht gerötet, und er starrte die Polizisten neugierig an. Der Hund wedelte begeistert mit dem Schwanz.

»Er weigert sich, es auszuziehen«, sagte die Frau und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter. Sie ging durch den Flur voraus. Der Boden war aus Holz, und an den Wänden hingen große, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos: Schaukeln mit Kindern, deren Füße durch die Perspektive riesengroß wirkten, und Carrie Stewart selbst in weißem Leinen und einem ein klein wenig zu groß geratenen Hut, mit der Ausstrahlung des Glamours, der auch an diesem Haus und an ihrer Kleidung erkennbar war. »Er schläft sogar darin. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«

Sie betraten die Küche.

»Möchten Sie einen Tee?«, erkundigte Carrie sich mit leiser Stimme und einem Akzent, der von einer guten Schule zeugte.

»Nein, danke«, lehnte Hadley ab.

»Ein Glas Wasser wäre schön …«

Carrie griff nach einem Glas und wandte ihnen dabei den Rücken zu. Auf den Regalen stand nichts von Delia Smith oder Jamie Oliver, sondern eine Nummer besser – abgegriffene Ausgaben von River Café und mit Olivenöl bekleckerte Kochbücher von Marcella Hazan. Daneben stapelten sich Romane, Werke von Literaturpreisträgern, ein Kommentar über den Mittleren Osten und eine Geschichte des Osmanischen Reichs. Durch die holzgerahmten Fenster wirkte der Garten schattig. Moosige Steine. Eine schmiedeeiserne Gartenbank, neben der ein vergessener Roman auf dem Boden lag. Ein Kasten mit Blauglöckchen, die noch nicht aufgeblüht waren. Ein rotes Kinderdreirad aus Plastik. Hadley fing Lizzies Blick auf und klopfte leicht auf seine Uhr.

Während Mrs. Stewart das Glas füllte, meinte Lizzie: »Erzählen Sie mir doch kurz, worum es geht.«

Es ging um ein unwichtiges Ärgernis, über das Mrs. Stewart viel zu detailliert berichtete. Hadley lauschte geduldig und mit versteinerter Miene, während die Frau ein großes Notizbuch aufklappte. Lizzie ließ sich jedoch von seiner Haltung nicht täuschen. Hadleys Geduld war die eines Menschen, der in vielen Berufsjahren die Verrücktheiten anderer Leute hatte ertragen müssen. In dem Buch hatte die Frau in schräger Handschrift mit schwarzer Tinte Namen und Zeiten vermerkt. Carrie erklärte, sie hätte sich die Daten sowie die zunehmende Häufigkeit und Heftigkeit der Schäden an ihrem Grundstück notiert. Der Übeltäter war ihr Nachbar. Allerdings wusste sie nicht, was er gegen sie hatte. Sie sei immer freundlich gewesen. Irgendwann hätte sie seinen Sommerflieder zurückgeschnitten, der in seinem Garten vor sich hinwucherte und ihr das Licht nahm, sie könne sich aber nicht vorstellen, dass das der Grund für seine Wut sei. Sein Garten sei nicht besonders gepflegt, und der Sommerflieder habe sich vermutlich selbst ausgesät. Es war eines dieser rosa Exemplare, die gern an Bahndämmen wuchsen. Außerdem habe sie nur Zweige weggeschnitten, die auf ihr Grundstück reichten. Sie sei sehr vorsichtig gewesen und hätte die abgeschnittenen Zweige nicht auf sein Grundstück geworfen. Wahrscheinlich verlangte es das Gesetz, es war ihr aber so unhöflich erschienen. Sie blätterte in ihren Aufzeichnungen. Hadley blickte Lizzie an und verdrehte die Augen. Lizzie war klar, dass sie die Frau dazu bringen musste, sich zu beeilen, sie wusste aber nicht, wie.

Schließlich sagte Hadley: »War es das?«

»Noch nicht ganz. Ich habe mit seinem Hausverwalter gesprochen und ihn gebeten, der Nachbar möge einiges von dem Zeug wegräumen, das er auf dem Bürgersteig lagert. Er hatte es dort entsorgt, und es war ziemlich unangenehm, daran vorbeizugehen. Aber niemand hat sich darum gekümmert. Dabei ist es doch wirklich keine unverschämte Bitte, eine Hausfront einigermaßen in Ordnung zu halten. Ich will mich weiß Gott nicht einmischen, aber inzwischen sehe ich keine andere Möglichkeit mehr, als den Mann anzuzeigen. Ich habe doch nichts getan, um ein solches Verhalten zu provozieren.«

»Wie lange wohnen diese Leute schon dort?«

»Noch nicht sehr lange. Vielleicht einen Monat? Ich kann Ihnen die Nummer des Verwalters geben, falls Sie sie brauchen.«

»Danke, aber das ist nicht nötig«, meinte Lizzie.

Hadley rutschte auf seinem Stuhl herum. Eine kurze Pause entstand.

»Sind Sie ganz sicher, dass es Ihr Nachbar war?«, fragte Lizzie schließlich.

»Absolut.«

Ein unangenehmer Fall. Schwelender Nachbarschaftsstreit; ein gebildetes Opfer, das nicht so schnell aufgeben würde; ein geringfügiges Vergehen ohne Belege, die eine Festnahme oder ein Bußgeld gerechtfertigt hätten.

»Haben Sie Beweise?«, erkundigte sich Lizzie.

Zu ihrer Überraschung hatte Carrie tatsächlich welche. Zum ersten Mal hellte sich ihr Gesicht auf, und Lizzie erkannte ihre Entschlossenheit, die sie bisher unter einer höflichen Unbestimmtheit verborgen hatte. »Ja, ich habe Fotos. Möchten Sie sie sehen?«

Ihr Mac befand sich auf einem Schreibtisch in einem kleinen Schlafzimmer. Vor dem Fenster stand der Kirschbaum in voller Blüte. Der Bildschirmschoner zeigte eine Abfolge von Urlaubsfotos. Ein Junge, der Handstand machte. Kinder, die an einem breiten, grünen Fluss mit Eimern und Netzen spielten. Dieses Haus ist eine Oase, dachte Lizzie, ein Kraftfeld voller Annehmlichkeiten. Sie kannte die Verbrechensstatistik des Viertels. Eigentlich war es verrückt, dass diese Familie ausgerechnet hier wohnte. Aber es gab sie, diese Mittelklasse-Abenteurer, die das Viertel kolonisierten, verwandelten, die örtliche Schule verbesserten und die Grundstückspreise in die Höhe trieben. Und hier bekamen sie ja auch viel mehr für ihr Geld.

»Setzen Sie sich doch bitte«, sagte Carrie.

Lizzie setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Hadley klemmte sich in den Türrahmen, der dadurch ein wenig wie der Rahmen eines Cartoons wirkte und ihn selbst wie eine abgemilderte Version von Obelix aussehen ließ. Carrie lehnte sich über Lizzie, bewegte die Maus und blätterte durch die Bilder. Auf ordentlich zusammengestellten, aussagekräftigen Fotos war ihr unbekannter Nachbar zu sehen.

Der Mann war dunkelhäutig, dünn und trug die übliche Straßenuniform: Jeans, Kapuzenpulli und Turnschuhe. Auf den Bildern sah man außerdem ein Kind, ein Mädchen mit dunkler Haut und langen dunklen Locken. Auf einem Foto wandte sie sich gerade ab. Auf einem anderen sah man sie zu drei Vierteln der Kamera zugewandt, aber mit gesenktem Kopf. Sie hätte hübsch sein können, wäre da in ihrem Gesicht nicht etwas Flüchtiges, Wachsames, Nervöses. Das Mädchen mochte etwa vierzehn Jahre alt sein. Vater und Tochter hielten auf den Fotos inne, als eine Frau einen Buggy vorbeischob. Der Vater blickte sich um. Er griff zu einer Farbdose und sprühte etwas. Eine Nahaufnahme zeigte das Wort: Arschlöcher.

Es war die perfekte Dokumentation eines Vergehens. Plötzlich war aus einem langweiligen Bericht ein leicht zu ermittelnder Fall geworden.

»Wer ist das Mädchen?«, wollte Lizzie wissen.

Mit dem Cursor blätterte Carrie in den Fotos zurück, bis sie zu einem Bild des jungen Mädchens kam, auf dem es zurücktrat und zusah.

»Das ist seine Tochter«, antwortete sie. »So viel ich weiß, heißt sie Farah. Sie spricht mindestens drei Sprachen. Ärgerlich, dass er sie da mit hineinzieht.«

»Darf ich?«, fragte Lizzie und griff nach der Maus.

»Bitte sehr.«

Lizzie zoomte das Bild heran, aber das Foto wurde dabei unscharf und zerfiel in Pixel.

Hadleys Uhr begann zu piepsen. Lizzie zuckte zusammen.

»Was ist das?«, fragte Carrie und blickte auf. »Müssen Sie gehen?«

Hadley blickte Lizzie an und grinste. Sie schuldete ihm ein Frühstück.

»Keine Ahnung«, sagte Lizzie. »Meine Uhr ist es nicht. Hadley?«

Hadley lächelte. »Entschuldigung«, sagte er unbekümmert. »Wahrscheinlich habe ich sie versehentlich eingeschaltet.«

Carrie blickte zwischen den beiden hin und her, als spürte sie etwas Unausgesprochenes.

Lizzie stand auf. »Ich glaube, wir haben alles beisammen.«

Carrie trat in den Flur. »Eins verstehe ich einfach nicht«, sagte sie und schien erst jetzt zum Knackpunkt zu kommen, zu dem, was ihr wirklich Sorgen bereitete. »Warum tut er das? Warum nur? Das macht mir wirklich zu schaffen. Wenn wir mit ihm reden könnten …«

»Wir werden ganz sicher mit ihm reden.«

»Verstehe. Trotzdem frage ich mich, ob Sie nicht vielleicht … nun ja, eine Art Mediation anbieten könnten.«

Jetzt schritt Hadley ein. »Wir sind die Polizei, Madam. Wir kümmern uns um Vergehen. Mediation gehört nicht zu unseren Aufgaben.«

Der kleine Junge stand in seinem Bärenkostüm auf dem Treppenabsatz hinter Hadley und sah ihn misstrauisch an. Als Hadley den Ton veränderte, klammerte sich der Kleine instinktiv an das Bein seiner Mutter. Lizzie wurde klar, wie beeindruckend sie auf den Jungen wirken mussten: Zwei uniformierte Beamte mit Handschellen und Tränengas, deren Funkgeräte in diesem kleinen Zimmer im Schatten des blühenden Kirschbaums leise vor sich hinplapperten.

»Schon gut, Ben«, sagte die Mutter mit aufmunterndem Lächeln. »Die Polizisten sind hier, um uns zu helfen.«

Im Gegensatz zu vielen anderen Häusern, die Lizzie aufgesucht hatte, wo die Kinder sie aus ihrer Deckung hinter den Beinen der Eltern misstrauisch beobachtet oder sie mit unverhohlenem, vererbtem Hass angestarrt hatten, schien dieser kleine Junge eine vertrauensvolle Neugier an den Tag zu legen. Vermutlich hatte man ihm erklärt, dass Polizisten seine Freunde waren. Es gehörte vermutlich zu seiner Erziehung und war wichtig fürs Überleben. Kinder von Grenzbewohnern mussten auf die Polizei vertrauen. Sie mussten lernen, nicht zu versuchen, selbst mit Unannehmlichkeiten fertigzuwerden, sondern sich sofort an die Polizei zu wenden, wenn sie im Bus angepöbelt wurden oder ein anderes Kind ihnen an der Straßenecke ihr Handy wegnahm. Es war die eigenartige Macht der Privilegierten, sich nicht auf die Ebene von Handgemengen herabzulassen. Lizzie hörte das Hornsignal und sah sich vor ihrem inneren Auge mit Hadley wie eine seltsame Kavallerie über den Hügel reiten. Das arme Pferd, das Hadley zu tragen hätte, würde sich wohl das Kreuz brechen. Aber das Bild ließ sie auch zusammenfahren, denn ihre Sympathie hatte immer den Indianern gehört und nicht den Siedlern, die eine Wagenburg bildeten und sich darauf vorbereiteten, eine Prärie in Besitz zu nehmen, die ihnen nicht gehörte.

Eine Frau kam ihr in den Sinn, die vor einer halben Ewigkeit an die Tür ihrer Eltern geklopft hatte. Lizzie erinnerte sich noch, wie sie mit verbissenem Lächeln im Türrahmen gestanden hatte.

»Kann ich deine Mummy oder deinen Dad sprechen?«

Damals hatten sie in einer neu gebauten Doppelhaushälfte mit Blick über ehemals landwirtschaftliches Gelände gewohnt, das inzwischen in einen Park und Spielplätze umgewandelt worden war. Dieses Haus zu kaufen, war ein Schritt nach oben auf der sozialen Leiter gewesen. Als ihr Vater die Frau in Augenschein nahm, hatte sich auf seinen Zügen eine Art befriedigte Wut gespiegelt.

»Das fahrende Volk war schon lange vor diesen Häusern hier«, sagte er.

Die Frau wand sich unbehaglich, als ob ihre Unterwäsche kneifen würde und sie sich nicht traute, sie zurechtzuziehen. »Aber warum sind sie so unsauber?«, protestierte die Frau empört, weil sie so direkt und unerwartet zurechtgewiesen worden war.

»Tut mir leid«, sagte Lizzies Vater und war schon dabei, die Tür zu schließen. »Sie sind mit Ihrer Petition hier falsch.«

Lizzie betrachtete den kleinen Jungen im Bärenkostüm. Was hatte das alles mit ihm zu tun? Plötzlich sagte er »Mummy« und hob die Arme. Als Carrie ihren erhitzten kleinen Bären auf den Arm nahm, als käme die Sonne hinter einer staubigen Wolke hervor, begriff Lizzie plötzlich den Unterschied und schämte sich. Wie sehr musste sich diese Frau vor dem willkürlichen und unerklärlichen Hass ihres Nachbarn fürchten! Die Sache war gar nicht so kompliziert. Der Mann wohnte gleich nebenan. Carrie Stewart war mit einem kleinen Kind zu Hause und gab damit ein leichtes Ziel ab. Und sie war nicht neu hier – die Wahrscheinlichkeit, dass sie in London geboren war, lag ungleich höher als bei dem Mann, der ihr das Leben schwer machte. Carrie wollte nichts anderes, als ihre Familie – diesen süßen Kleinen in seinem Bärenkostüm – vor einem unerklärlichen Hass beschützen. Dieses Haus war ihr Zuhause, und sie hatte jedes Recht der Welt, ohne Angst darin zu wohnen.

»Sie haben die Polizei gerufen«, sagte Lizzie, »also liegt Ihnen nicht wirklich an Mediation. Sie wollen, dass es aufhört. Sie wollen sich nicht hinsetzen und mit diesem Mann diskutieren. Eigentlich wollen Sie so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben. Sie wollen, dass er Sie und Ihre Familie in Ruhe lässt. Deswegen haben Sie die Polizei gerufen, und deswegen sind wir hier. Wir werden gegen ihn ermitteln und ihn vielleicht festnehmen. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Carrie lächelte erleichtert. Es war ein Lächeln, das Vertrauen und Zuversicht versprach. »Sie haben recht. Natürlich haben Sie recht. Ganz herzlichen Dank.«

»Mediation«, knurrte Hadley, als Lizzie auf den Fahrersitz glitt und den Motor anließ. »Vielleicht hätte sie mal mit dem Nachbarn reden sollen, anstatt sich gleich an die Hausverwaltung zu wenden. Was soll das Ganze?«

»Ich meine, sie hätte gesagt, dass sie versucht hat, mit ihm zu reden.«

»Weißt du was, Lizzie? In ein paar Tagen kräht kein Hahn mehr danach. Machen wir die Sache nicht komplizierter, als sie ist: Sachbeschädigung, Festnahme, Geldbuße.« Er hielt einen Augenblick inne, ehe er laut herauslachte: »Mediation! Pass auf, am Ende will diese Carrie Stewart den Kerl nicht nur hängen sehen, sondern möchte auch noch diejenige sein, die den Stuhl wegtritt.«

9

Das Zwielicht schimmerte in Orange, wie es nur in Städten vorkam. Collins setzte das Blaulicht auf das Dach ihres Wagens und fuhr aus dem Hof. Im Licht entgegenkommender Autoscheinwerfer fuhr sie quer durch London.

Das Verschwinden von PC Griffiths war vielleicht die Gelegenheit, auf die Baillie gehofft hatte. Es verschaffte ihm einen Vorteil.

»Himmel noch mal, Sarah, warum haben Sie sie nicht im Auge behalten? Was haben Sie sich dabei gedacht?«

Obwohl Collins sich hätte verteidigen können – immerhin war es Shaw gewesen, der Lizzie nach Hause geschickt hatte –, musste sie Baillie tief in ihrem Innern zustimmen. Jeder Polizist hätte bestätigt, dass sie nicht gut genug aufgepasst hatte. Sie hatte sich nicht genügend um Lizzie Griffiths gekümmert, was rückblickend die wichtigste Aufgabe überhaupt gewesen wäre. Baillies Auftrag lautete jetzt, die junge Polizistin zu finden, ehe noch mehr schiefging. Er hatte sich sogar einen kleinen Wutausbruch gestattet. Vielleicht war es nur Show gewesen, vielleicht aber auch nicht.

»Und wenn Sie schon dabei sind, dann finden Sie auch bitte gleich heraus, was dieser fette Polizist, das arme Schwein, da oben auf dem Dach zu suchen hatte. Nicht, dass Sie mich missverstehen, Sarah. Seien Sie gründlich, aber machen Sie schnell. Demnächst steht die Beisetzung an, und jeder will natürlich wissen, ob der Polizist eine saubere Weste hatte. Ich für mein Teil würde gern am Grab stehen und etwas Nettes über ihn sagen können, das hieb- und stichfest ist. Und falls es Ihnen entgangen sein sollte: Die Journalisten sitzen uns ebenfalls im Nacken. Die machen natürlich auch nur ihren Job. Aber Ihre Strategie, ihnen einfach gar nichts zu sagen, werden sie nicht lange hinnehmen. Bis jetzt könnten wir ihnen allenfalls mitteilen, dass wir nach dem tragischen Ereignis am Portland Tower leider unsere einzige Zeugin nicht mehr finden können, die obendrein auch noch aktive Polizistin ist. So was macht sich nicht gut, Sarah. Gar nicht gut.«