Die Stimme des Herzens - Barbara Cartland - E-Book

Die Stimme des Herzens E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Wohlhabend, beliebt und gutaussehend, liegt dem Herzog von Atherstone die Welt und die meisten Schönheiten der Society zu Füssen.. Dennoch, als seine Yacht im Hafen von Algiers ankommt, ist er unzufrieden. Wenn er doch nur eine Frau finden könnte, die ihn so vollendet wie die seines weisen und überaus glücklichen russischen Freundes Nikolaj Wlastow. Als sie zusammen einen Sklavenmarkt besuchen, bemerkt der Herzog ein junges Mädchen das völlig anders ist als die anderen. Sie flüstert ihm auf Englisch etwas zu – nun weiß er dass sie Engländerin ist und sie Hilfe braucht. Und so fängt seine und Felicias Flucht vor den Sklavenhändlern von Algiers an, die sie bis nach Monte Carlo führt und sie beide in Gefahr bringt.

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1887

Der Herzog von Atherstone stand an Deck seiner Yacht „Sea Lion”, die in den Hafen von Algier dampfte. Es war früh am Morgen, und den Himmel überzog das merkwürdig durchsichtige Licht, das in Nordafrika den Sonnenaufgang anzukünden pflegt.

Die Bucht mit den terrassenförmig angelegten, blendend weißen Häusern und den smaragdgrünen Hügeln im Hintergrund, die in die Dunstschleier über dem azurblauen Meer überging, war von beinahe unwirklicher Schönheit.

Doch die Stirn des Herzogs war gerunzelt, und seine Augen blickten hart, während er beobachtete, wie seine Yacht langsam auf den Kai zu glitt, auf dem sich wie üblich eine große Menschenmenge zur Begrüßung des Schiffs versammelte. Er hatte in der Nacht vorher schlecht geschlafen, und noch immer kochte der Zorn in ihm, der ihn in Monte Carlo in den Hafen getrieben hatte, wo er dem Kapitän befahl, sofort in See zu stechen.

Es war kennzeichnend für das wohlorganisierte Leben des Herzogs, daß er jederzeit einer plötzlichen Laune oder einem überraschenden Entschluß nachgeben konnte. In seinen zahlreichen Häusern war stets alles für seine Ankunft bereit.

Er reiste ohne Gepäck, denn er hatte an jedem seiner Wohnsitze eine komplette Garderobe. Obwohl sein Sekretär und sein Kammerdiener zu seinem persönlichen Gefolge gehörten, hatten sie Stellvertreter, die ihren Platz einnehmen konnten, wenn der Herzog einmal ohne sie reiste.

Schon hatte der Herzog den Ruf, ein Perfektionist zu sein, was für einen Mann von vierunddreißig Jahren recht ungewöhnlich war, und im Bewußtsein seiner Bedeutung sorgte er dafür, daß sein Wohlergehen seinen Angestellten vor allen anderen Dingen am Herzen lag.

Und doch war sein Leben, das eigentlich hätte wolkenlos sein müssen, unerwartet in einen Sturm geraten. Und dieser Sturm hatte ihn gestern nacht seine Beherrschung verlieren lassen und ihn ganz unüberlegt in den alten Hafen von Algier geführt.

Mit viel Lärm und Geschrei von den Bootsleuten und den Matrosen am Kai, die wie eine Bande von Piraten und Halsabschneidern aussahen, wurde die „Sea Lion” längsseits gebracht und vertäut.

Der Herzog stieg unter Deck. Im Salon war bereits der Frühstückstisch gedeckt, und er nahm mit der Miene eines Menschen Platz, der nicht erwartete, etwas zu finden, das seinen Appetit anregte. Nach dem Frühstück schien er jedoch ein wenig entspannt, und als die gut geschulten Stewards sich lautlos zurückgezogen hatten, blieb er noch in dem luxuriösen Salon der Yacht sitzen, die auf der Welt ihresgleichen suchen mochte.

Die „Sea Lion” war dem Herzog erst vor einem Jahr geliefert worden, und als er in der vergangenen Nacht aus dem Kasino gestürmt war, hatte er sich trotz seines Zorns daran erinnert, daß sie im Hafen lag.

Seine Kutsche hatte vor dem Kasino gewartet, und als er einstieg, waren sein Sekretär und sein Haushofmeister Oberst Grayson die Freitreppe des Kasinos heruntergelaufen gekommen.

„Sie wollen doch nicht schon gehen, Euer Gnaden?” hatte er mit einem Unterton von Ungläubigkeit gefragt.

„Doch”, erwiderte der Herzog einsilbig.

„Haben Sie die Gesellschaft vergessen? Sie wurde auf Ihren Wunsch arrangiert.”

„Sagen Sie sie ab.”

Oberst Grayson sah ihn überrascht an, sagte jedoch nur: „Selbstverständlich, Euer Gnaden.”

„Sagen Sie dem Kutscher, er soll mich zur Yacht bringen”, ordnete der Herzog an. „Und werfen Sie alle Leute aus meiner Villa hinaus, Grayson. Mit Ausnahme von Mrs. Sherman selbstverständlich.”

Einen Augenblick schien es, als wolle Oberst Grayson protestieren, dann fragte er: „Sollen sie sofort abreisen, Euer Gnaden?”

„Sofort morgen früh”, antwortete der Herzog, und es klang endgültig.

Oberst Grayson trat zurück, und der Lakai, der die in England weithin bekannte Livree des Königshauses trug, schloß die Wagentür, an der das Wappen der Atherstones prangte. Er wartete offensichtlich auf weitere Instruktionen, und Oberst Grayson sagte mühsam: „Seine Hoheit wünscht zur Yacht gebracht zu werden.”

„Sehr wohl, Sir.”

Der Lakai stieg auf, der Kutscher schwang die Peitsche, und die Pferde zogen an, die steile Hügelstraße hinunter, die zum Hafen führte.

Als die Yacht auslief, sah der Herzog nicht das in ein märchenhaftes Licht getauchte Monte Carlo und auch nicht die Sterne, die ihm zu Häupten funkelten. Er war ausschließlich mit dem Zorn beschäftigt, der ihn erfüllte.

Wie war es möglich, fragte er sich, daß er in eine so unerträgliche Lage geraten war, ohne vorherzusehen, was ihm drohte?

Der Herzog hatte schon als Junge gewußt, daß er eines Tages eine der erstrebenswertesten Partien der Britischen Inseln sein würde. Der Status seines Vaters war nur dem eines Mitglieds des Königshauses vergleichbar, und er hatte schon mit drei oder vier Jahren gewußt, daß eines Tages alles ihm gehören würde.

Die unzähligen Morgen Landes, die Schloß Atherstone umgaben, die an Wildvögeln reichen Hochmoore in Schottland, das Jagdhaus in Leicestershire, die Ruinen des Ahnenschlosses in Cornwall und das Land, das zu ihnen gehörte, Atherstone House in London – all das würde ihm gehören. Und es war nur ein kleiner Teil der zahllosen Besitztümer, die man sich unmöglich merken konnte.

Außerdem noch die ausländischen Besitzungen – ein Haus in Paris, ein Château in den Ardennen, wo er Wildschweine jagen konnte, ein Palazzo in Venedig und eine Villa in Monte Carlo.

War es möglich, so viel zu besitzen und doch nicht glücklich zu sein?

Das Haar in der Suppe waren, wie er natürlich erfuhr als er älter wurde, all die Frauen, die die Freuden seines Besitzes mit ihm teilen wollten. Als er Eton verließ, lagen bereits unzählige Mütter auf der Lauer. Wenn der Herzog guter Laune war, lachte er über einige der Tricks, die sie versuchten, um ihm die ersehnten Worte abzuringen, die ihn sein Leben lang an eine einzige Frau binden würden. Er beschloß, erst zu heiraten, wenn er den Wunsch dazu hatte.

Doch die Sitten der viktorianischen Gesellschaft machten es einem Junggesellen schwer, den Hinterhalten und Fallstricken listenreicher Damen auszuweichen. Wenn er sich länger als ein paar Minuten allein mit einer unverheirateten jungen Dame unterhielt, kam das einem Eheversprechen gleich.

Kein Wunder, daß Männer, die ihre Freiheit behalten wollten, Debütantinnen mieden wie die Pest und ihre Zuneigung verheirateten Frauen schenkten. Es war viel weniger gefährlich, es mit einem eifersüchtigen Ehemann aufzunehmen, als sich eine ehestiftende Mutter auf den Hals zu hetzen.

Außerdem duldete die Gesellschaft nicht nur diskrete Liaisons zwischen der reiferen Jugend, sie billigte und förderte sie sogar.

Der Herzog hatte natürlich alle Freuden genossen, die herausfordernde, erfahrene Lippen und halb verhüllte, fragende Blicke ihm boten. Er hatte von einer schönen Frau zur anderen übergewechselt oder, wie ein Kritiker es formuliert hatte, „von Boudoir zu Boudoir”, bis er Lady Millicent Wealdon begegnet war.

„Millie”, wie sie von allen genannt wurde, hatte ihn vom ersten Augenblick an entzückt. Sie war dunkel, geschmeidig wie eine Gerte und hatte die volle Gestalt und die schmale Taille, die die Mode im Moment erforderte.

Die Tochter eines Herzogs, war sie, seit sie das Schulzimmer verlassen hatte, in so mancher Beziehung mehr als unbekümmert gewesen und hatte sich hemmungslos über herrschende Sitten hinweggesetzt. Doch sie war schön und wußte, daß ihr die Welt zu Füßen lag, warum sollte sie nicht darauf treten?

Ihre Eltern, die Böses ahnten, verheirateten sie mit siebzehn an einen Mann, der dreißig Jahre älter war als sie. Lord Wealdon war reich, bedeutend, persona grata bei Hofe und gräßlich langweilig.

Er war jedoch auf die Schönheit seiner Frau sehr stolz, und Lady Millie war klug genug, ihm einzureden, sie genieße die Bewunderung ihrer Verehrer en masse und sei an keinem einzigen persönlich interessiert.

Das mochte bis zu einem gewissen Grad zutreffen, bis sie dem Herzog begegnete.

In dem Augenblick, in dem sie sich ansahen, loderte in ihren Augen ein unverkennbares Feuer auf, und das leidenschaftliche Verlangen, das sie zueinander zog, sprengte alle Fesseln der Beherrschung.

Der Herzog hatte viele Frauen geliebt, doch nie zuvor war eine so unersättlich, so fordernd und so leidenschaftlich erregend gewesen wie Lady Millie.

Es war unmöglich, ihre Verliebtheit zu verhehlen, und die Welt wußte vom ersten Augenblick an von ihrer Liaison.

Solange Lord Wealdon sich blind stellte, gab es wenige, die ihr Benehmen verdammten, obwohl man sie mehr oder minder versteckt belächelte.

Dann starb Lord Wealdon plötzlich an einem Herzanfall.

Lady Millie war in tiefer Trauer, für die Königin Viktoria beispielgebend gewesen war. Es war daher für den Herzog schwierig gewesen, Lady Millie zu sehen, und vor allem während der ersten sechs Monate konnten sie sich immer nur ein paar Stunden stehlen.

In der zweiten Hälfte des Trauerjahres wurde es leichter.

Sie wurden gemeinsam zu Hauspartys eingeladen, und ihre Gastgeberinnen sorgten dafür, daß ihre Zimmer nicht allzu weit auseinander lagen. Lady Millie durfte noch nicht zu allen Lustbarkeiten bei Hof erscheinen, bei Pferderennen oder Gartenfesten zum Beispiel, doch sie hielt sich in London in einem Haus auf, das nur einen Steinwurf von Atherstone House entfernt war.

Ihre Liebesaffäre lebte wieder auf, genauso feurig erregend und dramatisch wie früher, und trotzdem war der Herzog unzufrieden, weil der Zwang zum Heimlichtun ihn langweilte und weil Lady Millie versuchte, ihn an sich zu binden.

Er war es gewohnt, sich völlig frei zu bewegen, je nach Laune von London aufs Land zu fahren, von Pferderennen zu Cricket Turnieren, von Cowes, wo er gewöhnlich ein paar Rennen gewann, nach Epsom, wo seine Pferde trainiert wurden.

Lady Millie begann zu schmollen, wenn er abreiste, und sie schmollte, wenn er wiederkehrte. Sie ging ihm ziemlich auf die Nerven.

Als das Trauerjahr fast zu Ende war, beschloß sie, ohne von ihm dazu aufgefordert worden zu sein, zu ihm nach Monte Carlo zu kommen.

Die riesige Villa über der Stadt mit ihren phantastischen und exotischen Gärten hatte sein Vater erbauen lassen. Sie war groß genug, um fünfzig Gäste zu beherbergen, doch nach einer anstrengenden Wintersaison freute der Herzog sich auf ein paar Wochen der Ruhe.

„Es wird mir Spaß machen, wieder einmal in Monte Carlo zu sein”, erklärte Lady Millie mit großer Entschiedenheit, „und wir können dieses lächerliche Versteckspiel auch nicht mehr weiterführen. In einem Monat darf ich meine schwarzen Handschuhe ablegen und bin wieder frei.”

Was sie mit „frei” meinte, war nicht mißzuverstehen, und der Blick, mit dem sie den Herzog ansah, war die unverblümte Aufforderung, sich zu erklären.

Trotzdem wollten ihm die Worte nicht über die Lippen.

Im Hintergrund seines Bewußtseins war ihm immer klar gewesen, daß er Lady Millie heiraten mußte, doch irgendetwas hinderte ihn daran, das auch auszusprechen.

Er sagte sich, es sei töricht, von einer Liebesgeschichte, die schon so lange dauerte, noch Überraschungen zu erwarten, aber ebenso spürte er, daß kein Geheimnis sie mehr umgab, daß alle Erregung verebbt war.

Millie würde eine passende Ehefrau sein, mehr nicht. Gesellschaftlich ebenbürtig, wie die Zeit es verlangte, bildschön im Schmuck der Familienjuwelen und eine hervorragende Gastgeberin. Im Innersten jedoch wußte er, daß etwas fehlte – obwohl er nicht sagen konnte, was es war.

In Monte Carlo angekommen, stellte er fest, daß es ihm unmöglich war, sie gewissermaßen unter den Augen seiner anderen Gäste zu lieben. Er konnte sich diesen plötzlichen Widerwillen selbst nicht erklären.

Er verabscheute den wissenden Blick in den Augen seiner Freunde, das leichte Lächeln auf den Lippen der anderen Frauen, die Art, es als selbstverständlich vorauszusetzen, daß er die Nacht in Millies Schlafzimmer verbringen würde.

Auch lehnte sich etwas in ihm dagegen auf, daß er nachts durch seine eigenen Flure schleichen, heimlich Millies Schlafzimmer betreten und leise die Tür hinter sich schließen mußte.

Er wußte, daß sie auf ihn wartete, beinahe wie eine Tigerin auf ihrem Lager, die Arme nach ihm ausgestreckt.

In den ersten Tagen ihres Aufenthalts in Monte Carlo sagte Lady Millie nichts, obwohl er den nachdenklichen, allmählich immer gereizter werdenden Ausdruck ihres Gesichts wohl zu deuten wußte. Doch sie war zu erfahren und zu klug, um ihm Vorwürfe zu machen oder Fragen zu stellen. Aber jedes ihrer Worte enthielt eine versteckte Anklage.

Der Herzog konnte, wenn er wollte, sehr eigensinnig und rücksichtslos sein, wollte sich weder zu etwas zwingen noch in etwas hineinmanövrieren lassen, was nicht seinen Wünschen entsprach. Und doch wußte er, daß Lady Millie sich einbildete, ein Recht auf ihn zu haben – ein Recht, das ihrer Meinung nach in Kürze durch eine Heirat bestätigt werden würde.

Die Sonne schien warm und golden in Monte Carlo, der Garten war ein Traum an Blütenpracht und Schönheit, und im Kasino tummelten sich unzählige Freunde und Bekannte.

Das österreichische Kaiserpaar, die Witwe des Zaren, die Könige von Schweden, Belgien und Serbien und die Königin von Portugal waren im Hotel de Paris abgestiegen.

Im Kasino traf man russische Erzherzöge und Maharadschas mit ihren mit funkelnden Juwelen behängten Geliebten aus der Demi-Monde.

Schulter an Schulter mit ihnen drängte sich die Beau Monde an den Roulettetischen und lauschte auf das Klicken der weißen Kugel.

„Das Spiel ist ein großer Gleichmacher”, sagte jemand ironisch zum Herzog. Aber es war auch ein Nervenkitzel, der seine Wirkung nie verfehlte.

Dann war gestern abend der Herzog im Kasino der Herzogin von Minthorpe, einer grand dame der alten Schule und engen Freundin von Königin Viktoria in die Arme gelaufen. Sie gehörte zu den wenigen Gastgeberinnen in London, die es wagen durften, den leichtsinnigen und lebenslustigen Kreis um den Prinzen von Wales und seine schöne dänische Gemahlin zu mißbilligen.

Die Herzogin hatte den Herzog sehr herzlich begrüßt, und er hatte sich überaus liebenswürdig mit ihr unterhalten, bis sie mit ihrer klaren, wohl lautenden Stimme gesagt hatte: „Wie ich höre, haben sie vergangene Woche auf dem Ball der Marquise von Salisbury mit meiner Enkelin Daphne getanzt.”

Mit einiger Anstrengung erinnerte sich der Herzog an eine farblose und schüchterne Debütantin, die ihm von der Marquise vorgestellt worden war, weshalb er sich auch verpflichtet gefühlt hatte, mit ihr zu tanzen.

„Ich glaube, Sie haben auch mit ihr soupiert”, fuhr die Herzogin fort.

Es kostete den Herzog wieder einige Mühe, sich zu erinnern, daß seine Tischdame zwar eine verheiratete Frau gewesen war, das junge Mädchen aber an seiner anderen Seite gesessen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, ob er sich mit der Kleinen unterhalten hatte, war hingegen durchaus bereit zu glauben, daß sie dagewesen war.

„Ja, ja, natürlich”, sagte er. „Es ist ihre erste Saison, glaube ich.”

„Das stimmt”, bestätigte ihm die Herzogin, „und ich habe Seiner königlichen Hoheit von Ihrem Interesse an Daphne berichtet. Der Prinz war angenehm überrascht und sagte mir, er und Prinzessin Alexandra erwarteten, als erste von der Verlobung unterrichtet zu werden.”

Die Herzogin von Minthorpe lächelte, neigte anmutig den Kopf und entfernte sich. Der Herzog starrte ihr halb betäubt nach.

Was sie ihm da nahegelegt hatte, konnte doch nicht wahr sein! Und doch wußte er, daß es zutraf und daß die Herzogin ihm das Leben sehr schwer machen konnte. Er hatte nicht vergessen, daß sein Freund, der Marquis von Dorset, auf ähnliche Weise von einer ehrgeizigen Mutter, die sich die Unterstützung des Prinzen von Wales gesichert hatte, zur Heirat gezwungen worden war.

Der Marquis war mit dem jungen Mädchen ein einziges Mal bei einer Hausparty im Garten spazieren gegangen.

„Sie bringen das Mädchen ins Gerede”, hatte Seine königliche Hoheit daraufhin erklärt wozu er selbstverständlich von der Mutter aufgestachelt worden war. „Sie müssen sich wie ein Gentleman benehmen und die Kleine heiraten.”

Dorset hatte klein beigegeben, doch der Herzog von Atherstone hatte nicht die Absicht, sich auf dieselbe Weise einfangen zu lassen. Er war wütend, denn er hatte sich große Mühe gegeben, nicht mit einem jungen Mädchen in Verbindung gebracht zu werden und auf diese Weise einer kupplerischen Mama in die Hände zu spielen.

Über die Begegnung mit der Herzogin von Minthorpe sehr erregt, ging er zu den Roulettetischen hinüber und suchte Lady Millie. Sie stand da und beobachtete das sich drehende Rad, und sie sah, wie er fand, wunderschön aus.

Sie trug eine Reiherfeder im Haar und ein smaragdgrünes Kleid mit einem überaus gewagten Dekolleté. Die Juwelen an ihrem Hals und in ihren Ohren funkelten mit ihren Augen um die Wette. Jemand hatte Lady Millie einmal gesagt, sie gliche prickelndem Champagner, und das hatte sie nicht vergessen. Sie war witzig, amüsant, und bezauberte mit ihrem Charme unzählige Verehrer.

Dem Herzog, der das Gefühl hatte, von der Herzogin von Minthorpe einen Schlag über den Kopf bekommen zu haben, schien sie in diesem Augenblick ein vertrauter, sicherer Hafen, ein Teil jener Welt, die er verstand – einer Welt, die sehr weit entfernt war vom Heiratsmarkt der Gesellschaft, auf dem junge Mädchen vorgeführt wurden wie Pferde in einer Arena.

Er gesellte sich zu der Gruppe von Männern, die sich mit Lady Millie unterhielten, und sie machten ihm sofort bereitwillig Platz, womit sie seine Besitzrechte anerkannten.

„Hier bist du ja, Lionel”, sagte Lady Millie. „Ich habe dich gesucht. Gib mir bitte fünftausend Francs, ich habe mein ganzes Geld verloren.”

Der Herzog entnahm seiner Brieftasche das Geld und reichte es ihr. Sie nahm es langsam und ohne Hast entgegen, blickte ihm dann in die Augen und sagte: „Wenigstens bist du reich.”

Der verborgene Sinn dieser Worte und der Ausdruck enttäuschten Grolls in ihren Augen waren nicht mißzuverstehen. Der Herzog sah sie einen Augenblick schweigend an, dann machte er kehrt und verließ das Kasino. Er wußte sehr gut, daß Millie ihn attackierte, weil sie in den letzten Nächten vergeblich auf ihn gewartet hatte. Daß sie ihn auf diese Weise um Geld gebeten hatte, sollte ihre Autorität beweisen, sollte den Anwesenden zeigen, daß sie einen Anspruch auf seinen Reichtum hatte.

Wenn die Worte der Herzogin von Minthorpe ihn nicht schon so erzürnt hätten, hätte Lady Millies Spott ihn vielleicht nicht so erregt, daß er glaubte, die Beherrschung verlieren zu müssen, wenn er auch nur eine Sekunde länger im Kasino bliebe. Der Herzog war auf seine Selbstbeherrschung immer sehr stolz gewesen. Nie hatte er die Stimme gegen einen Diener erhoben, noch nie einen Streit mit Worten ausgetragen.

Wenn er sich ärgerte, wirkte er eisig und abweisend, was viel wirksamer war als lautes Geschrei. Seine Stimme konnte klingen wie ein Peitschenhieb, wenn auch die Worte, die er sagte, nicht beleidigend waren. Generationen des Stolzes und der Autorität ließen ihn ehrfurchtgebietender erscheinen, wenn er schwieg.

Im Augenblick haßte er Lady Millie und die ganze Gesellschaftsstruktur, von der er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Doch er wollte kämpfen, um ihr zu entrinnen.

Lange Zeit stand er an Deck, bis das Schiff weit draußen auf dem Meer war, und, Monte Carlo in der Ferne wie ein zur Erde gefallener Stern aussah. Dann ging er hinunter.

Nicht, um zu schlafen, sondern um über sich selbst und über eine Zukunft nachzudenken, die voller Tücken, Hindernisse und Gefahren schien.

In Algier angekommen, war es eine Erleichterung für ihn zu denken, daß er die ganze Weite des Mittelmeeres zwischen sich und die Welt gelegt hatte, der er angehörte. Er war schon früher hier gewesen, und ihm schien, als brauche er den Kontakt zwischen dem glitzernden, oberflächlichen Spielplatz der Gesellschaft in Europa und der orientalischen Mystik Afrikas. Ihm war, als riefe die Kasba ihn nach der Eleganz und dem Luxus des Kasinos.

Er kannte die engen Gässchen, die manchmal so finster waren, daß ein Fußgänger in Versuchung geriet, sich vorwärts zu tasten, und in denen Männer und Frauen in ihren heimischen Trachten kauften, verkauften, schliefen, beteten, spielten. Er kannte den Duft der schweren arabischen Parfüms, der merkwürdigen Gerichte, die im Freien zubereitet wurden, des Weihrauchs, der durch den Basar zog, und er kannte den trockenen, ätzenden Geruch der Wüste, der den Menschenleibern zu entströmen schien.

In seiner Vorstellung hieß ihn alles willkommen. Aber er wußte, daß er, bevor er in der Stadt umher streifte, seinen Freund besuchen mußte. Einen langjährigen Freund, der untrennbar mit Algier verbunden war.

Obwohl es für einen Besuch noch sehr früh war, ließ der Herzog sich mit einem Mietwagen nicht in den arabischen Teil von Algier bringen, wo einst blutrünstige heidnische Piraten Tausende christliche Sklaven gefangen gehalten hatten, sondern in das moderne französische Viertel, wo die weißen Villen wie Juwelen im samtenen Grün der Gärten lagen.

Vor einer einfachen weißen Villa von bescheidener Größe ließ der Herzog den Wagen anhalten. Der Ausblick über die Bucht war von hier oben atemberaubend schön. Im Garten loderte üppige Blütenpracht, und auf der Terrasse, auf die ein Diener den Herzog führte, saßen ein Mann und eine Frau.

Einen Augenblick sahen sie ihn ungläubig an, dann sprang der Mann auf.

„Lionel, du bist es wirklich!”

„Überrascht es dich, mich zu sehen?” fragte der Herzog und reichte dem anderen die Hand.

„Überrascht? Ich bin erstaunt”, antwortete Nikolaj Wlastow. „Erstaunt und überglücklich.”

Nikolaj Wlastow war ein paar Jahre älter als der Herzog. Er sah gut aus und besaß jenen unbeschreiblichen russischen Charme, der Männer wie ihn zu faszinierenden Gesellschaftern machte. Er ergriff die Hand des Herzogs mit beiden Händen, legte ihm dann einen Arm um die Schultern und zog ihn näher, zum Tisch.

„Irina, meine Liebe”, sagte er, „das ist unser Freund Lionel Atherstone.”

„Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen”, sagte Madame Wlastow.

Obwohl der Herzog Nikolaj Wlastow seit vielen Jahren kannte, war er Madame Wlastow nur einmal begegnet, und zwar kurz nachdem die beiden miteinander durchgebrannt waren.

Es war damals ein großer Skandal gewesen.

Nikolaj Wlastow war russischer Attaché am Hof von St. James gewesen, sehr beliebt und hoch respektiert. Er war nach Rußland auf Urlaub gefahren und ohne Vorwarnung und unerklärlicherweise mit der Frau eines älteren Diplomaten geflohen, die er eben erst in St. Petersburg kennengelernt hatte.

Das Paar hatte sich in Algier niedergelassen, und es dauerte fünf Jahre, bevor Irinas Gatte in die Scheidung willigte und sie den Mann heiraten konnte, den sie liebte.

Es waren Jahre der Demütigung und der Ächtung gewesen, niemand sprach mit ihnen, und man verfolgte sie wegen ihres schamlosen Benehmens. Der Herzog jedoch hatte den Freund nie aus den Augen verloren und hatte ihn während der ersten Jahre finanziell unterstützt, denn manchmal hatte Wlastow buchstäblich nicht gewußt, woher er das Geld für die nächste Mahlzeit nehmen sollte.

Dann hatte er angefangen zu schreiben.

Er gab sein erstes Buch dem Herzog, der es las und dann zu einem Verleger brachte, mit dem er befreundet war. Er hatte erwartet, seinen Einfluß geltend machen zu müssen, doch nachdem der Verleger Wlastows Buch gelesen hatte, war er überzeugt, auf ein bisher unentdecktes Genie gestoßen zu sein. Er irrte sich nicht, der Roman wurde ein großer Erfolg, und auch die beiden nächsten waren Verkaufsschlager, nicht nur in England, sondern in der ganzen Welt.

Sie wurden sogar ins Russische übersetzt, was für Wlastow ein persönlicher Triumph war. Jetzt war er ein reicher Mann, aber er vergaß nie, wer ihm in den schweren Jahren beigestanden hatte.

Als der Herzog am Frühstückstisch Platz genommen und eine Tasse Kaffee entgegengenommen hatte, fragte Nikolaj Wlastow: „Was führt dich hierher? Warum hast du dich nicht angemeldet?”

„Das ist eine lange Geschichte und keine besonders interessante”, antwortete der Herzog. „Erzähle mir lieber etwas von dir. Was schreibst du gerade?” Aber noch bevor Nikolaj Wlastow antworten konnte, stellte der Herzog eine weitere Frage: „Seid ihr glücklich?”

Madame Wlastow legte die Hand auf die seine. “Wir leben in unserem ureigensten Paradies”, sagte sie. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen schildern, wie herrlich es ist.”

Sie war sehr schön, und der Herzog zog ihre langen, schmalen Finger an die Lippen, bevor er sagte: „Nikolaj ist ein Glückspilz. Ich beneide ihn.”

„Ich muß versuchen, für dich eine Frau zu finden, die genauso bezaubernd ist wie Irina”, sagte Nikolaj Wlastow lächelnd.

„Nein, nein!” wehrte er ab. „Keine Ränke schmiedenden, listenreichen Frauen mehr. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin hier, weil ich vor ihnen davongelaufen bin.”

„Da du allein gekommen bist, habe ich mir das so halb und halb gedacht”, erwiderte sein Freund.

Er wußte vielleicht besser als jeder andere, wie die Frauen den Herzog verfolgten, bestürmten und bedrängten, denn sie hatten in London und Paris zusammen so manche fröhliche Nacht durch gebummelt. Manchmal war es nur seiner russischen Findigkeit zu verdanken gewesen, daß der Herzog sich aus unmöglichen Situationen oder vor drohenden Skandalen retten konnte.

„Ich möchte mich in Afrika versenken”, sagte der Herzog. „Welche Amüsements habt ihr einem Mann zu bieten, den die Vergnügen europäischen Lebens kalt lassen, weil er übersättigt ist?”

Nikolaj Wlastow warf den Kopf zurück und lachte.

„Lionel, du wirst ein Buch schreiben müssen”, sagte er. „Allein deine blumige Sprache würde es zum Verkaufsschlager machen.”

„Wie deine Bücher?” entgegnete der Herzog.

„Er hat so großen Erfolg”, sagte Irina Wlastow mit ihrer sanften, melodischen Stimme. „Die Kritiker schmeicheln ihm so, daß er am Ende noch eitel werden wird.”

„Nicht, solange du meine Frau bist, denn du bist meine strengste Kritikerin”, sagte Nikolaj Wlastow. „Du entdeckst die winzigsten Fehler, so daß ich mich nie allzu stark aufblähen kann.”