Die Stimmen der Toten - Stuart MacBride - E-Book
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Die Stimmen der Toten E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Vor acht Jahren hat der „Inside Man“ vier Frauen ermordet, drei weitere Opfer überlebten schwer verletzt. Allen wurde der Unterleib aufgeschlitzt und eine Puppe eingenäht. Dann brach die Serie ab. Ash Henderson war als Detective Inspector bei den Ermittlungen dabei, doch der Killer entkam. Mittlerweile sind Hendersons Familie und seine Karriere zerstört, nachdem er zum Spielball der gefährlichsten Unterweltgröße im schottischen Oldcastle wurde. Als nun erneut eine Frau tot aufgefunden wird, eine Plastikpuppe im Unterleib, bekommt Henderson die Chance, den Mörder doch noch zu fassen. Und sich zu rächen.

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Buch

Von sieben Frauen haben drei die »Operation« überlebt. Und wünschen, sie hätten es nicht getan. Jetzt ist der Killer zurückgekehrt …

Ex-Detective Inspector Ash Henderson sitzt hinter Gittern. Für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Doch nun braucht ihn die Polizei und ist bereit, Ash fürs Erste in die Freiheit zu entlassen. Ausgestattet mit einer elektronischen Fußfessel und einer Aufseherin soll er den Ermittlern helfen. Denn offenbar ist ein Serienkiller zurückgekehrt, der acht Jahre zuvor in Oldcastle vier Frauen getötet und drei schwer verletzt hat. Ash Henderson war nahe daran, ihn zu fassen, doch der Mörder entkam. Nun hat er wieder zugeschlagen – und Ash erhält eine zweite Chance …

Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Stuart MacBride

_____________________

Die Stimmen der Toten

Thriller

Aus dem Englischenvon Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»A Song for the Dying«bei HarperCollinsPublishers, London
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Stuart MacBride Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: plainpicture/Anja Weber-Decker Redaktion: Eva Wagner AB · Herstellung: Str Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-15366-3V002
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Lorna, Dave und James

das ende ist nah

Der Rabe sprach: Es ist so weit;Schließ deine Augen, sei bereitMit mir durchs öde Land zu gehn,Unter den Toten dort zu stehn.

William Denner, A Song for the Dying (1943)

1

»Also, ich sag ja nicht, dass er schwul ist – ich sag nicht, er ist ho-mo-sexuell, ich sag bloß, dass er ein totales Weichei ist. Das is’ ja wohl was anderes.«

»Nicht schon wieder das Thema …« Die Mondsichel reißt die Wolken auf wie eine Wunde und wirft fahles Licht auf die beiden, während Kevin sich seinen Weg durch das froststeife Gras bahnt, eine Atemwolke hinter sich herziehend. Seine Nippel sind wie zwei glühende Nadelstiche, und die Finger, die die Taschenlampe halten, schmerzen, wo sie aus dem Ärmel rausgucken. Die Bügel seiner Brille sind kalt an den Schläfen.

Hinter ihm ziehen die blau-weißen Lichter des Krankenwagens träge Kreise und lassen Schatten durch die Bäume am Straßenrand huschen. Die Lichtkegel der Scheinwerfer fallen auf ein Buswartehäuschen, werden von der geschwärzten und mit Blasen überzogenen Plexiglasscheibe reflektiert, die jemand anzuzünden versucht hat.

Nick schlägt die Tür des Krankenwagens zu. »Ich meine, im Ernst, schau ihn dir doch an: Das ist doch ein Weichei hoch drei, oder?«

»Jetzt sei endlich still und hilf mir.«

»Weiß gar nicht, worüber du dich so aufregst.« Nick kratzt sich mit Verve seinen Bart wie ein Hund mit Flöhen. Winzige Schuppen fallen aus der Gesichtsmatte und funkeln im Schein seiner Taschenlampe wie sterbende Glühwürmchen. »Ist bestimmt wieder so ein verdammter Telefonstreich, genau wie all die anderen. Ich sag’s dir, seit sie diese Frau mit den rausgerissenen Gedärmen in Kingsmeath gefunden haben, rufen sämtliche Idioten in der Stadt, die sonst nichts zu tun haben, bei der Polizei an und melden ausgeweidete Frauenleichen. Wenn das alles stimmen würde, müsste man hier alle paar Meter über ’ne tote Nutte stolpern.«

»Was ist, wenn sie irgendwo da draußen halbtot im Dunkeln liegt? Willst du nicht …«

»Und weißt du, warum Spiderman so ein Waschlappen ist?«

Kevin sieht ihn nicht an, er hält den Blick auf das Gras gerichtet. Es ist dichter hier, die spröden Halme durchsetzt mit rostroten Sauerampferblättern und abgestorbenen Disteln. Irgendetwas riecht hier muffig, schimmlig, vergammelt. »Was ist, wenn es doch kein Scherz ist? Sie lebt vielleicht noch.«

»Ja, ja, das redest du dir immer ein. Fiver sagt, sie existiert überhaupt nicht.« Seine Fingerspitzen durchkämmen wieder seinen Bart, während er durch einen raschelnden Laubhaufen stapft. »Also, zurück zu Spiderman: Die Tat ist seine Belohnung, so heißt’s doch, oder? Voll der Softie.«

Noch zwei Stunden, dann ist die Schicht um. Noch zwei Stunden lang dieses hirnlose Gewäsch ertragen …

Schaut da etwas unter diesem Stechginsterstrauch hervor?

Die langen dunklen Samenhülsen rasseln wie eine Klapperschlange, als Kevin die Zweige teilt.

Bloß eine Plastiktüte. Reif glitzert auf dem blau-roten Logo.

»Also, wenn ich so ein scharfes Weib aus einem brennenden Gebäude retten würde, dann würde ich erwarten, dass sie sich erkenntlich zeigt. Wenn schon nicht mit Geld, dann wenigstens mit einem Blowjob. Wann hast du zuletzt gesehen, dass Spiderman einen geblasen kriegt? Noch nie, das sag ich dir.«

»Nick, ich schwöre bei Gott …«

»Komm schon, wenn einer von uns im Pyjama rumlaufen und wildfremde Leute mit seinen klebrigen Körperflüssigkeiten bespritzen würde, dann käme er doch gleich ins Sexualstraftäter-Register, oder?«

»Kannst du nicht vielleicht mal fünf Sekunden die Klappe halten?«

Kevins Ohrmuscheln brennen, als ob jemand eine Zigarette darauf ausdrücken würde. Die Wangen allmählich auch. Er schwenkt den Strahl der Lampe hin und her. Vielleicht hat Nick ja recht, vielleicht ist das alles reine Zeitverschwendung. An einem Donnerstagabend im November irren sie hier draußen in der Schweinekälte rum, bloß weil irgend so ein blöder Arsch es für einen guten Witz hielt zu melden, dass da eine Frauenleiche am Straßenrand liegt.

»Er ist kein Superheld, er ist pervers. Und ein Weichei. Quod erat demonstrandum.«

Jedes Jahr erleiden hundertfünfzigtausend Leute einen Schlaganfall – warum kann Nick nicht einer davon sein? Und zwar auf der Stelle. Ist das wirklich zu viel verlangt?

Der haarige Blödmann wühlt in seinem Bart herum und zeigt auf den Boden. »Sieh mal an, da hat aber jemand einen Stich gemacht. Hab hier ’n ganzes Nest von Kondomen gefunden …« Er stochert mit der Stiefelspitze darin herum. »Mit Noppen, wie’s aussieht.«

»Schnauze.« Kevin kaut am Nagelhäutchen seines Zeigefingers herum, von seinem Atem beschlagen die Brillengläser. »Was hat der Anrufer gesagt?«

Nick schnieft. »Frau von Mitte zwanzig, möglicherweise innere Blutungen. A Rhesus-negativ.«

Der Asphalt knirscht unter Kevins Sohlen, als er vorsichtig um das Wartehäuschen herumgeht. »Woher weiß er das?«

»Dass sie hier liegt? Na, ich denke …«

»Nein, du Schwachkopf – woher weiß er ihre Blutgruppe …?« Kevin bleibt abrupt stehen. Da liegt etwas hinter dem Wartehäuschen, und es hat die richtige Größe für einen Menschen.

Er stakst darauf zu, rutscht auf dem vereisten Asphalt aus. Aber es ist nur ein großes Stück von einem Teppich, das verblichene grün-gelbe Schnörkelmuster mit dunkleren Flecken gesprenkelt. Weggeworfen von irgendeinem Dreckschwein, das zu faul war, zur städtischen Müllkippe zu fahren. Was denken sich diese Leute eigentlich dabei?

Es ist ja nicht so, als ob …

Da sind Schleifspuren im Gras, und sie führen von dem Teppich weg.

O Gott.

»Und von Superman will ich erst gar nicht reden!«

Kevins Stimme versagt. Also setzt er noch einmal an. »Nick …?«

»Ich meine, wie pervers muss einer sein, um in blauen Strumpfhosen zur Arbeit zu gehen …«

»Nick, hol den Notfallkoffer.«

»… mit ’ner knallroten Unterhose drüber? Ich meine, das schreit doch geradezu: ›Schaut auf mein Gemächt, ich bin der Mann aus Stahl!‹ Und er ist schneller …«

»Hol den Notfallkoffer!«

»… ’ne Gewehrkugel. Welche Frau will schon …«

»HOL ENDLICH DEN VERDAMMTEN NOTFALLKOFFER!« Und Kevin läuft los, schlittert durch das Gras an der Seite des Buswartehäuschens, pflügt durch die Wedel von erfrorenen Brennnesseln, immer den Schleifspuren nach.

Sie liegt auf dem Rücken, das eine Bein unter den Körper geklappt, der andere Fuß mit Dreck verschmiert. Ihr weißes Nachthemd ist ihr bis über die Oberschenkel hochgerutscht, ein gelbes Kreuz auf dem Stoff über ihrem angeschwollenen Unterleib – verformt durch das, was darin eingenäht ist. Scharlachrote Flecken tränken den Stoff, breiten sich aus wie dunkle Mohnblumen.

Ihr Gesicht ist bleich wie feines Porzellan, die Sommersprossen heben sich ab wie getrocknete Blutflecken, das kupferrote Haar wallt über das vom Frost gehärtete Gras. Eine goldene Kette glitzert an ihrem Hals.

Ihre Finger zittern.

Sie lebt …

Sechs Jahre später

2

Die Wand versetzte mir einen Schlag zwischen die Schulterblätter, dann tat sie das Gleiche mit meinem Hinterkopf. Eine Explosion aus gelbem Licht. Ein dumpfes Klonk in meinem Schädel. Aus meiner Kehle drang ein Grunzlaut. Und dann noch einmal, als Ex-Detective Sergeant O’Neil mir seine Faust in den Bauch rammte.

Glassplitter fetzten durch meine Innereien, rissen alles in Stücke.

Ein neuerlicher Fausthieb ließ meinen dröhnenden Kopf zur Seite fliegen, und meine Wange brannte wie Feuer. Nicht O’Neil diesmal, sondern sein ebenso hünenhafter Kumpel, Ex-Constable Taylor. Die beiden mussten den größten Teil ihrer Haft im Fitnessraum verbracht haben. Das hätte jedenfalls erklärt, wie sie es schafften, so verdammt hart zuzuschlagen.

Wieder eine Faust in die Magengrube. Der Schlag warf mich gegen die Wand des Flurs.

Ich wehrte mich mit einer rechten Geraden. Meine Knöchel schrien vor Schmerz, als sie in O’Neils Nase krachten, sie plattdrückten und seinen hässlichen, keilförmigen Kopf nach hinten schnellen ließen. Eine rote Fontäne spritzte durch die Luft, als der Mistkerl davonwankte.

Okay. Einen hatte ich immerhin kurzfristig kaltgestellt. Ein paar Sekunden würden schon reichen …

Ich schwang den Ellbogen nach Taylors großem rundem Gesicht. Aber er war schnell. Viel schneller, als einer von seiner Statur eigentlich sein dürfte.

Mein Ellbogen krachte in die Wand.

Dann klatschte seine Faust wieder in meine Wange.

KRACK – mein Kopf prallte wieder gegen die Wand.

Diesmal traf mein Ellbogen ihn genau auf den Mund. Ein Stromschlag jagte durch meinen Musikantenknochen, als ich ihm die Oberlippe zu Brei schlug. Wieder ein paar rote Farbtupfer in dem trostlosen Korridor. Das Blut rann ihm über sein Gefängnis-Sweatshirt und breitete sich auf dem grauen Stoff aus wie kleine rote Blüten.

Er wich einen Schritt zurück. Spuckte ein paar weiße Brocken aus. Wischte sich mit der Hand über den Mund und verschmierte das Blut. Die Zahnlücken machten seine Aussprache ganz feucht und lispelnd, als er zischte: »O Mann, du bitht ja tho wath von tot.«

»Glaubt ihr wirklich, zwei gegen einen wären genug?« Ich ballte die Rechte zur Faust. Ein stechender Schmerz schoss durch die Gelenke, bei jeder Bewegung war es, als ob jemand glühende Nadeln durch den Knorpel in die Knochen bohrte.

Dann hörte ich O’Neil brüllen. Er stürzte sich auf mich, sein Gesicht von purpurroten und schwarzen Striemen entstellt.

KRACK, und wieder knallte ich gegen die Wand. Alle Luft entwich in einem gewaltigen Ächzen aus meiner Lunge. Eine Faust landete in meinem Gesicht. Alles wurde unscharf.

Ich schlug blind zurück.

Wieder daneben.

O’Neil landete einen weiteren Treffer, und ein Chor von Geiern krächzte in meinem Schädel.

Ich blinzelte.

Bleib auf den Beinen. Wenn sie dich erst auf dem Boden haben …

Ich legte meine Hand über sein Gesicht und bohrte den Daumen in das, was von seiner Nase übrig war. Krallte ihn in den warmen, glitschigen Mansch.

Er schrie wie am Spieß.

Dann war ich wieder an der Reihe, als Taylor seinen Stiefel Größe 45 auf meinen rechten Fußrücken niederkrachen ließ. Irgendetwas da drin riss. Narbengewebe und Knochen lösten sich. Die Nähte platzten auf, das Einschussloch klaffte. Und alle Pläne, auf den Beinen zu bleiben, gingen in einer Welle höllischer, würgender Schmerzen unter.

Es war, als ob ich noch einmal eine Kugel in den Fuß bekäme.

Mein rechtes Bein knickte ein. Der granitfarbene Fußboden flog mir entgegen.

Einrollen. Arme und Beine anziehen, die lebenswichtigen Organe schützen, den Kopf decken …

Füße und Fäuste prasselten auf meine Oberschenkel, die Arme und den Rücken ein. Traten, boxten und stampften.

Und dann wurde es dunkel.

»– is’ nicht … mit …?«

»… verdammte Na … Scheiß …«

»… auf, er kommt zu s …«

Ein scharfer Ruck an meiner Wange.

Blinzeln.

Blinzeln.

Husten … Es war, als ob mir jemand einen Vorschlaghammer in die Rippen geschlagen hätte, und jedes krampfhafte Luftholen machte es noch schlimmer.

O’Neil grinste mit seinem blutverschmierten Gesicht auf mich herab, die Nase mit deutlicher Schlagseite nach links. Er hörte sich so verschnupft an, als ob er Werbung für Nasenspray machte. »Aufwachen, Prinzessin. Ich wette, du hast gedacht, du würdest mich nie wiedersehen, was?«

Taylor hatte ein Mobiltelefon am Ohr, er nickte, während er mit der Zungenspitze seine Zahnlücken inspizierte. »Okay, ich thtell Thie auf Lautthprecher.«

Er tippte auf das Display und hielt mir das Ding dann hin.

Ein schickes neues Telefon. Im Knast definitiv nicht erlaubt.

Das Display flackerte, und aus der verwaschenen hellen Fläche formte sich die Nahaufnahme eines Gesichts, die Züge verschwommen. Dann wich die Person zurück, und alles wurde plötzlich scharf.

Mrs Kerrigan. Ihre braunen Haare waren zu einem losen Knoten hochgebunden, an den Wurzeln waren graue Strähnen zu erkennen. Ein verkniffenes Gesicht mit knallroten Lippen und spitzen kleinen Zähnen. Ein Kruzifix baumelte in ihrem Ausschnitt. Sie setzte eine Brille auf und lächelte. »Ah, Mr Henderson … Oder sollte ich Sie jetzt ›Gefangener Henderson‹ nennen?«

Ich machte den Mund auf, aber O’Neil stellte seinen rechten Fuß auf meinen und drückte. Glühende Glasscherben bohrten sich in die Haut und verwandelten die Worte in ein hohes Zischen zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Folgendermaßen läuft es ab: Mr Taylor und Mr O’Neil werden Ihnen ab und zu einen kleinen Besuch abstatten und Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln. Und jedes Mal, wenn Ihre Entlassungsprüfung ansteht – Sie wissen schon, wenn die überlegen, ob sie Ihren armseligen Arsch wieder auf die Straße rauslassen sollen –, jedes Mal, wenn das passiert, werden die zwei Sie noch mal bearbeiten und dann überall herumerzählen, dass Sie angefangen haben.«

O’Neils Grinsen wurde breiter, und ein Faden aus blutiger Spucke seilte sich aus dem Winkel seines zerschmetterten Munds ab. »Jedes Mal.«

»Das haben Sie jetzt davon, dass Sie mir eine Pistole ins Gesicht gehalten haben, Sie kleiner Scheißkerl. Sie sind jetzt mein Lieblingsprojekt, ich werd Sie so lange triezen, bis es mir langweilig wird, und dann lass ich Sie umbringen.« Sie beugte sich vor, und ihr Gesicht wurde wieder unscharf, bis ihr roter Mund das ganze Display ausfüllte. »Aber keine Sorge, so schnell wird’s mir nicht langweilig. Ich hab vor, Sie noch ein paar Jahre zu triezen.«

Achtzehn Monate später

3

»Leider beobachten wir nach wie vor eine beklagenswerte Häufung von Gewalttaten seitens Mr Henderson.« Dr. Altringham klopfte mit den Knöcheln auf die Tischplatte, als wäre es ein Sargdeckel. Er blies sich die fransigen grauen Ponysträhnen aus den Augen und rückte seine Brille zurecht. »Ich kann eine Entlassung zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht empfehlen. Er stellt eindeutig eine fortgesetzte Gefahr für die Öffentlichkeit dar.«

Zwanzig Minuten ging das nun schon so, und noch immer hatte ich mich nicht aus meinem Stuhl gehievt, um zu ihm hinüberzuhumpeln und ihm mit meinem Krückstock den Schädel einzuschlagen. Was eine ziemliche Leistung war in Anbetracht meiner angeblichen »Gefährlichkeit«. Vielleicht war es der beruhigende Einfluss von Officer Barbara Crawford. Sie hatte sich rechts neben meinem orangefarbenen Plastikstuhl aufgebaut, und ihr dicker Schlüsselbund baumelte ein paar Zentimeter neben meinem Ohr.

Babs hatte eine Figur wie ein Kleiderschrank. Tattoos schauten unter ihren Ärmeln heraus, schlängelten sich um ihre Handgelenke und über die Rückseiten ihrer fleischigen Hände. Stacheldraht und Flammen. »FAITH« prangte auf den Knöcheln der einen Hand, »HOPE« auf der anderen. Ihre kurzen Haare standen in kleinen grauen Stacheln vom Kopf ab, die Spitzen blond gefärbt. Sehr trendy.

Wie üblich hatten sie die Möbel umgestellt, sodass der große Tisch einem einzelnen Stuhl in der Mitte des Raums gegenüberstand. Ich und Babs auf der einen Seite, der ganze Rest auf der anderen. Zwei Psychiater, ein abgerissener Sozialarbeiter mit großen eckigen Brillengläsern und die stellvertretende Gefängnisdirektorin, die sich wie für eine Beerdigung gekleidet hatte. Und alle redeten sie über mich, als ob ich gar nicht da wäre. Da hätte ich auch gleich in meiner Zelle bleiben und mir den Stress sparen können.

Wir wussten doch sowieso alle, worauf das hier hinauslief: Entlassung abgelehnt.

Meine Rippen knacksten von der gestrigen Schlägerei, als ich mich auf meinem Stuhl nach vorne lehnte. Jedes Mal dasselbe, mit ermüdender Regelmäßigkeit. Das Einzige, was sich änderte, war die Besetzung. O’Neil war vor vier Monaten in der Dusche abgestochen worden. Taylor war entlassen worden, nachdem er die Hälfte seiner Strafe abgesessen hatte. Danach waren es zwei andere primitive Gorillas, die mir in den Fluren auflauerten und mir Mrs Kerrigans »Botschaften« überbrachten. Und danach wieder zwei andere.

Ich konnte machen, was ich wollte, immer wieder landete ich hier, am ganzen Leib grün und blau geschlagen.

Entlassung abgelehnt.

Es war mir sogar gelungen, den Typen zu stellen, der O’Neil ersetzt hatte. Ich hatte ihn allein in der Gefängniswäscherei erwischt. Hatte ihm beide Arme und das linke Bein gebrochen, jeden einzelnen Finger ausgerenkt und dazu das Kiefergelenk. Mrs Kerrigan hat einfach jemand anders seinen Platz einnehmen lassen. Und ich kassierte noch eine Extra-Abreibung, sozusagen außer der Reihe.

Die stellvertretende Direktorin und die Psychologen konnten so viele Entlassungsprüfungenansetzen, wie sie wollten – es stand jetzt schon fest, dass ich diesen Knast nur in einem Leichensack wieder verlassen würde.

Ich schloss die Augen. Ließ es brennen.

Der Gedanke, hier nie mehr rauszukommen.

Der Krückstock war kalt zwischen meinen Fingern.

Ich hätte Mrs Kerrigan erledigen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Ihr die Hände um den Hals legen und sie würgen, bis ihr die Augen aus den Höhlen traten, die Zunge anschwoll und schwarz wurde, bis sie mit ihren Händen nach meinen krallte, während ich gnadenlos zudrückte und ihr Brustkorb sich hob und senkte, nach nicht vorhandener Luft ringend …

Aber nein. Das konnte ich doch nicht tun, oder? Musste ja den braven Jungen spielen. Den verdammten Idioten.

Und was hatte ich nun davon? Ich saß hier fest, bis es ihr irgendwann langweilig werden würde und sie mir von irgendwem die Kehle aufschlitzen ließ. Oder ein selbst gebasteltes Messer in die Nieren rammen, geschärft an einer Zellenwand und beschmiert mit Scheiße, damit die Wunde sich auch schön entzündete. Vorausgesetzt, ich überlebte den Blutverlust.

Keine albernen Entlassungsprüfungen mehr, nur ein kleiner Ausflug zur Krankenstation und von dort ins Leichenschauhaus.

Wenigstens würde ich dann nicht mehr hier sitzen und mir Altringhams Lügen anhören müssen, wenn er allen erzählte, wie gewalttätig und gefährlich ich sei …

Ich ließ meine Finger an dem Stock hochgleiten, bis sie den Griff umschlossen. Packte fest zu. Straffte die Schultern.

Warum nicht seinen Erwartungen gerecht werden – oder meinetwegen ungerecht – und seine selbstgefällige, verlogene Fresse ein bisschen ummodeln? Sicher könnte ich einigen Schaden anrichten, ehe sie mich wegzerrten. Hatte ja eh nichts zu verlieren. Und wenigstens hätte ich dann die Befriedigung, ihn …

Babs’ Hand landete auf meiner Schulter. Ihre Stimme war kaum laut genug, um als Flüstern durchzugehen. »Lassen Sie das mal schön bleiben.«

Na gut.

Ich ließ die Schultern wieder sacken.

Dr. Alice McDonald – Psychiaterin Nummer zwei – hob die Hand. »Augenblick mal, bitte: Das Verfahren wegen Mordes wurde eingestellt.« Ihr lockiges braunes Haar war zu einem losen Pferdeschwanz gebunden, ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst und schimmerten im Schein der Deckenbeleuchtung. Die Manschetten einer blassvioletten Bluse schauten unter den Ärmeln ihres Nadelstreifenkostüms hervor. »Mr Henderson hat seinen Bruder nicht umgebracht, die Beweise gegen ihn waren gefälscht. Das sind verbürgte Tatsachen. Der Berufungsrichter …«

»Ich spreche nicht vom Mord an seinem Bruder. Ich spreche hiervon.« Altringham nahm ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, und schwenkte es. »In den vergangenen achtzehn Monaten hat er siebzehn andere Gefangene angegriffen und ernsthaft verletzt. Jedes Mal, wenn seine Entlassung auch nur im Entferntesten zum Thema wird, schlägt er wieder jemanden zusammen.«

»Das haben wir doch alles schon diskutiert, es …«

»Gestern hat er einem Mann die Nase gebrochen, und ein anderer hat einen Jochbeinbruch davongetragen!« Altringham klopfte wieder auf den Sargdeckel. »Hört sich das nach dem Verhalten eines Mannes an, den wir auf eine ahnungslose Bevölkerung loslassen sollten?«

Genau: Ich hatte ein, zwei saubere Treffer landen können, ehe sie mich dann in eine Ecke gedrängt hatten. Sie hatten gegrinst und höhnisch gelacht. Hatten meine Schläge eingesteckt, damit es besser aussah, wenn sie sich über mich beschwerten. Aber was hätte ich denn tun sollen, einfach dastehen und alles über mich ergehen lassen?

Selbst nach so langer Zeit noch …

Alice schüttelte den Kopf. »Es ist ja wohl kaum Mr Hendersons Schuld, dass er immer wieder angegriffen wird. Wenn die Gefängnisleitung bei der Kontrolle der Interaktionen zwischen den Insassen bessere Arbeit leisten würde, dann müsste er sich nicht andauernd verteidigen.«

Die stellvertretende Direktorin kniff die Augen zusammen. »Wenn Sie andeuten wollen, dass diese Einrichtung ihre Pflichten vernachlässigt, wenn es um die Sicherheit der Inhaftierten geht, dann muss ich das entschieden zurückweisen.«

Altringham seufzte theatralisch. »Bei Mr Henderson kann sich niemand sicher fühlen. Er ist krankhaft unfähig, sich …«

»Das ist ganz und gar nicht der Fall, die Angriffe gegen Mr Henderson weisen ein eindeutiges Muster auf, das …«

»Ja, und dieses Muster ist seine selbstzerstörerische Persönlichkeit! Es geht hier um nichts weiter als um das simple Bedürfnis, sich selbst zu bestrafen, ausgelöst durch das Überlebenden-Syndrom. Es ist keine Verschwörung, es ist schlichte Psychologie, und wenn Sie über den Tellerrand Ihrer persönlichen Befangenheit in diesem Fall hinaussehen könnten, wüssten Sie das selbst.«

Alice bohrte Altringham den Finger in die Schulter. »Ich muss doch sehr bitten! Wollen Sie etwa andeuten, ich sei nicht in der Lage …«

Die stellvertretende Direktorin knallte ihre Aktenmappe auf den Tisch. »So, das reicht jetzt!« Sie funkelte Alice an, dann drehte sie sich um und bedachte auch Altringham mit einem bösen Blick. »Wir sind hier, um nach bestem Wissen und Gewissen über Mr Hendersons Entlassung oder die Fortsetzung seiner Haftstrafe zu diskutieren, und nicht, um uns zu zanken und zu streiten wie die kleinen Kinder. Also, damit wir endlich weiterkommen …« Sie streckte eine Hand aus. »Dr. McDonald, Sie haben Ihr Gutachten da?«

Alice nahm das oberste Blatt aus der Ledermappe, die sie vor sich liegen hatte, und reichte es ihr.

Die stellvertretende Direktorin überflog es mit gerunzelter Stirn, dann drehte sie es um und las die Rückseite, ehe sie das Blatt wieder auf den Tisch legte. »Und Dr. Altringham?«

Er schob ihr sein Gutachten zu, das sie ebenfalls eine Weile konzentriert studierte.

Officer Babs lehnte sich zu mir hin, sie sprach immer noch im Flüsterton. »Was macht die Arthritis?«

Ich beugte die Finger meiner rechten Hand. Die Knöchel waren ganz geschwollen und blau angelaufen von dem Schlag, der Ex-DI Graham Lumley das Jochbein gebrochen hatte. »Das war es wert.«

»Was sag ich Ihnen denn immer wieder? Gehen Sie mit den Ellbogen rein, oder zielen Sie nur auf die Weichteile.«

»Tja, nun …«

Die stellvertretende Direktorin legte Altringhams Gutachten auf das von Alice und setzte sich gerade auf. »Mr Henderson, nach sorgfältiger Abwägung …«

»Sparen Sie sich die Mühe.« Ich schob den Hintern auf meinem Plastikstuhl noch ein Stückchen weiter vor. »Wir wissen doch alle, worauf das hier hinausläuft. Warum kommen wir dann nicht gleich zu der Stelle, wo Sie mich wieder in meine Zelle zurückschicken?«

»Nach sorgfältiger Abwägung, Mr Henderson, und nachdem ich die Beweislage und alle Expertengutachten geprüft habe, gelange ich zu der Überzeugung, dass Ihre fortgesetzte Anwendung von Gewalt es erforderlich macht, Sie weiter in dieser Einrichtung zu behalten, so lange, bis eine umfassende Untersuchung der Vorfälle von gestern durchgeführt werden kann.«

Also wieder mal das Übliche.

Ich würde hier so lange sitzen, bis es Mrs Kerrigan irgendwann langweilig würde und sie mich kaltmachen ließ.

Gegenwart(Sechs Monate später)Sonntag

4

»… werden wir weiter berichten, sobald es etwas Neues gibt. Und nun nach Edinburgh, wo die Eltern der sechsjährigen Stacey Gourdon an die Entführer appelliert haben, die Leiche des Mädchens herauszugeben …«Der Fernseher im Gemeinschaftsraum war in seinem eigenen kleinen Käfig eingesperrt, hoch oben an der Wand, als ob die Gefängnisleitung befürchtete, er könne einen Ausbruchsversuch unternehmen.

Ex-Detective Superintendent Len Murray schnappte sich einen Plastikstuhl und pflanzte ihn neben meinen. Er machte es sich darauf bequem, und ein Grinsen verzog sein graues Robin-Hood-Ziegenbärtchen. Der kahle Schädel und die kleine runde Brille funkelten im Schein der Neonröhren. Ein großer, kräftiger Mann mit grollender Stimme. »Du wirst sie umbringen müssen. Das weißt du doch, oder?«

Die Frau in der Einzelzelle des Fernsehers nickte grimmig. »Stacey Gourdons blutbeflecktes Kleid und ihre Turnschuhe wurden von einem Suchtrupp der Polizei in einem Waldstück bei Corstorphine gefunden …«

Ich starrte ihn an. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

»Ash, diese irische Schlampe wird dafür sorgen, dass du hier drin bleibst, bis du dir die Kugel gibst oder sie jemanden schickt, der es für sie erledigt. Wird Zeit, dass du die Initiative ergreifst.«

»Ich meine, du hast schließlich noch wie viele Jahre abzusitzen – vier? Du solltest dir ein Hobby zulegen. Schreinern vielleicht oder Spanisch lernen.«

Der Fernseher zeigte jetzt ein heruntergekommenes kleines Reihenhaus in einer schäbigen Sozialsiedlung. Ein Rudel Reporter balgte sich um die besten Plätze, als die Haustür aufging und eine hohlwangige Frau erschien. Ihre Finger zitterten, als sie mit leerem Blick in die Kameras starrte. Hinter ihr war gerade so ein dicker Mann mit blutunterlaufenen Augen zu erkennen, der schniefte und auf seiner Unterlippe herumkaute.

Die Frau räusperte sich. Sah auf ihre zitternden Hände hinunter. »Wir …« Neuer Versuch. »Wir wollen sie doch nur wiederhaben. Damit wir sie begraben können. Damit wir Abschied nehmen können …«

Len lehnte sich zurück und ließ eine Hand auf meine Schulter fallen. Drückte zu. »Ich kenne da zwei Typen, die würden den Job für zwei Riesen übernehmen.«

Ich zog eine Braue hoch. »Für mickrige zweitausend Pfund würden die sich mit Andy Inglis anlegen? Sind die wahnsinnig oder was?«

»Sie sind nicht von hier. Und sie müssen sowieso das Land verlassen. Außerdem: Wer würde es je erfahren?«

»… bitte, sie ist unser kleines Mädchen … Stacey war doch das Ein und Alles für ihren Dad und mich …«

»Ich zum Beispiel.«

Den Job auf zwei hergelaufene Idioten abschieben? Kam überhaupt nicht infrage. Wenn Mrs Kerrigan sterben würde, dann mit meinen Händen um ihren Hals. Die sie würgten und …

Vorausgesetzt, ich käme je so weit.

Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu, wo Staceys Mutter gerade zusammenbrach, jeder Schluchzer im Blitzlichtgewitter eingefangen.

Zurück ins Studio. »… sachdienliche Hinweise haben, rufen Sie bitte die unten eingeblendete Nummer an.« Die Nachrichtensprecherin ordnete ihre Notizen. »Die Polizei von Oldcastle hat bestätigt, dass es sich bei der Toten, die gestern in den frühen Morgenstunden auf einem brachliegenden Grundstück im Stadtteil Blackwall Hill gefunden wurde, um Claire Young handelt, die als Kinderkrankenschwester im Castle Hill Infirmary arbeitete …«

Len schüttelte den Kopf. »Dein Problem ist, dass du glaubst, du müsstest selbst Hand anlegen, damit die Rache persönlich ist. Du hast nie richtig delegieren gelernt.«

»Ich delegiere nicht, wenn es darum geht, dieses Miststück …«

»Was spielt es für eine Rolle, wer es macht, solange sie am Ende tot ist?« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Du kannst sie nicht selbst umbringen, solange du noch hier einsitzt. Ein klassisches Dilemma. Und für zwei Riesen kannst du dir das ganze Problem vom Hals schaffen.« Len lud eine imaginäre Pumpgun durch und schoss der Nachrichtensprecherin ins Gesicht. »Denk drüber nach.«

»Ja, weil ich ja auch zweitausend Pfund in der Hosentasche habe, die ich unbedingt loswerden muss.«

»… appellierten an das Gewissen der Journalisten, den Wunsch der Familie nach Privatsphäre zu respektieren …«

Na, dann mal viel Glück.

»Könntest es dir ja leihen?«

»So bin ich doch überhaupt erst in diesen Schlamassel geraten.«

Die Tür des Gemeinschaftsraums wurde aufgestoßen, und eine schneidende Stimme übertönte den Fernseher. »Henderson!«

Ich drehte mich um und erblickte Officer Babs. Sie wies mit dem Daumen hinter sich. »Sie haben Besuch.«

Ein Mann in einer braunen Lederjacke schlenderte ins Zimmer, die Hände in den Hosentaschen. Er war mindestens einen Kopf kleiner als Babs, stark behaart, mit dichten Koteletten.

Er ging quer durch den Raum, bis er zwischen mir und dem Fernseher stand.

»Und nun der Sport mit Bobby Thompson …«

Der behaarte Knabe lächelte. »Soso, Sie sind also der Ex-DCHenderson, von dem ich schon so viel gehört habe?« Sein Akzent war eindeutig schottisch, aber irgendwie undefinierbar, als ob er eigentlich von nirgendwo stammte. »Also … Dann erzählen Sie mir doch mal von Graham Lumley und Jamie Smith.«

»Kein Kommentar.«

Officer Babs trat neben ihn und ließ ihn damit gleich noch kleiner wirken. »Detective Superintendent Jacobson will sich darüber schlaumachen, was da vor vierzehn Tagen vor der Wäscherei passiert ist. Also stellen Sie sich nicht quer und kooperieren Sie mit ihm.«

Ja, klar. »Ein ausgewachsener Detective Superintendent? Und Sie sollen eine Schlägerei auf einem Gefängnisflur untersuchen? Sind Sie da nicht ein klein wenig überqualifiziert?«

Jacobson legte den Kopf schief und starrte mich an. Beäugte mich von Kopf bis Fuß, als ob er überlegte, mich zum Tanzen aufzufordern. »Im offiziellen Bericht heißt es, Sie hätten die beiden angegriffen. Sie hätten geschrien und geflucht und geheult wie ein … Augenblick, dass ich nichts Falsches sage.« Er zog ein kleines schwarzes Polizei-Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. »›Wie eine aus der Klapse entlaufene Heulsuse.‹ Dieser Graham Lumley versteht es, sich auszudrücken, nicht wahr?«

Len verschränkte die Arme vor seinem mächtigen Brustkasten. »Lumley und Smith sind dreckige Lügner.«

Jacobson wandte sich zu Len um und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Lennox Murray, nicht wahr? Ehemals Chef des Oldcastle CID. Achtzehn Jahre wegen Entführung, Folter und Mord, begangen an einem gewissen Philip Skinner. Vielen Dank für Ihren Beitrag, aber ich würde gerne hören, was Mr Henderson zu sagen hat, okay? Wunderbar.«

Ich imitierte Len, verschränkte die Arme und legte die Beine übereinander. »Sie sind dreckige Lügner.«

Jacobson zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Er rückte ihn ein Stück vor, bis seine Knie fast meine berührten. Eine chemische Duftwolke umwaberte ihn – Rasierwasser Marke Old Spice. »Ash … Ich darf Sie doch Ash nennen, nicht wahr? Ash, der Gefängnispsychiater sagt mir, dass Sie eine selbstzerstörerische Persönlichkeit hätten. Dass Sie sich selbst sabotieren, indem Sie jedes Mal, wenn die Entscheidung über Ihre vorzeitige Haftentlassung ansteht, eine Schlägerei anzetteln.«

Nichts sagen. Einfach nur schweigen.

Jacobson zuckte mit den Achseln. »Dr. Altringham scheint mir zwar ein ziemlicher Idiot zu sein, aber was will man machen?« Er hob einen Finger, dann wies er über seine Schulter in die Richtung, wo der Fernseher hing. »Haben Sie den Bericht über die Krankenschwester gesehen, die hinter Blackwall Hill tot aufgefunden wurde?«

»Was soll mit der sein?«

»Eine tote Krankenschwester. Die Leiche irgendwo in der Pampa abgelegt. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Krankenschwestern jedes Jahr in Oldcastle verschwinden? Die Ärmsten müssten eigentlich eine Gefahrenzulage kriegen.«

»Smith und Lumley haben Sie ganz schön zugerichtet, was? Okay, da sind die Blutergüsse auf der Wange und die schiefe Nase, aber ich nehme mal an, dass die richtig schweren Prellungen sich alle auf die Oberschenkel und den Rumpf beschränken, hab ich recht? Wo man sie nicht sehen kann?« Wieder ein Schulterzucken. »Außer wenn Sie sich ausziehen, natürlich.«

»Ich fühle mich geschmeichelt, aber Sie sind nicht mein Typ.«

»Claire Young: vierundzwanzig, brünett, eins einundsiebzig, zweiundsiebzig Kilo. Nicht unattraktiv, wenn man auf den stämmigen, grobknochigen Typ steht.« Er breitete die Hände aus und hielt sie links und rechts von seinen Hüften. »Gebärfreudiges Becken, wenn Sie wissen, was ich meine?«

Ich sah zu Babs hinüber. »Haben Sie nicht mal über eine Karriere im Gesundheitswesen nachgedacht? Ich wette, niemand würde sich trauen, Sie zu überfallen.«

Sie lächelte mich an. »Vielleicht muss ich das sogar – wegen der Sparmaßnahmen. Es wird einem schon nahegelegt, freiwillig zu kündigen.«

Jacobson stand auf. »Ich glaube, ich würde jetzt gerne Mr Hendersons Zelle sehen.«

Es war alles andere als ein geräumiges Zimmer – die zwei Stockbetten passten gerade so hinein. Wenn man sich ein bisschen streckte, konnte man die anstaltsgrau gestrichenen Wände links und rechts gleichzeitig berühren. Ein kleiner Tisch am hinteren Ende, ein Stuhl, ein Waschbecken und eine abgetrennte Ecke für die Toilette. Offiziell groß genug als gemeinsame Unterkunft für zwei ausgewachsene Männer für die Dauer von vier Jahren bis lebenslänglich.

Oder für einen ausgewachsenen Mann, der definitiv keinen Zellengenossen wollte. Komisch, dass sie alle immer so zu Unfällen neigten. Dauernd fielen sie hin und brachen sich irgendwas. Arme, Beine, Nasen, Hoden …

Officer Babs stand breitbeinig in der Tür, die Arme verschränkt, das Gesicht wie eine Granitplatte, während Jacobson in die Mitte der Zelle trat, die Hände vor sich ausgestreckt, als ob er sie segnen wollte.

»Home, sweet home.« Dann drehte er sich um und schob sich ganz dicht an den Tisch heran, beugte sich vor und betrachtete das einzelne Foto, das darüber mit Blu-Tack an die Wand geheftet war: Rebecca und Katie am Strand von Aberdeen. Sie grinsten in die Kamera, im Hintergrund die düstere Nordsee. Schulpullover über den orangefarbenen Badeanzügen. Eimer und Schaufeln. Katie war vier, Rebecca neun.

Elf Jahre und zwei Leben war das her.

Er senkte den Kopf um ein paar Zentimeter. »Das mit Ihren Töchtern tut mir sehr leid.«

Tja, allen tat es immer leid.

»War sicher nicht einfach – um sie trauern zu müssen, während Sie hier eingesperrt waren. Weil man Ihnen den Mord an Ihrem Bruder angehängt hatte. Und dann auch noch regelmäßig verprügelt zu werden …«

»Kommen Sie vielleicht mal auf den Punkt?«

Er griff in seine Lederjacke und zog eine Ausgabe der Castle News and Post hervor, die er auf die untere Koje warf. »Von letzter Woche.«

Ein Foto nahm den größten Teil der Titelseite ein: eine Nahaufnahme eines grobschlächtigen Frauengesichts, gerahmt von roten Locken, mit einem dicken Streifen Sommersprossen über der Nase wie eine Art schottische Kriegsbemalung. Zwei Fotografen spiegelten sich in den Gläsern ihrer Sonnenbrille, man sah ihre Blitzlichter aufflackern. Sie hatte eine Hand erhoben, als ob sie ihr Gesicht vor den Kameras abschirmen wollte, es aber nicht rechtzeitig geschafft hatte.

Die Schlagzeile zog sich in großen Blockbuchstaben über das Bild: »›WEIHNACHTSWUNDER!‹ OPFER VON INSIDE MAN ERWARTET BABYFREUDEN.«

Du liebe Zeit, da holte mich die Vergangenheit aber schlagartig wieder ein.

Ich hängte meinen Krückstock ans Bettgestell, setzte mich auf die Matratze und griff nach der Zeitung.

EXKLUSIV

Laura Strachan (37), das fünfte Opfer des als Inside Man bekannten Täters und die erste Frau, die das Martyrium überlebte, wartet mit einer fantastischen Neuigkeit auf. Acht Jahre, nachdem sie von dem kranken Triebtäter überfallen wurde, der vier Frauen ermordete und drei weitere verstümmelte, erwartet die tapfere Laura ihr erstes Kind.

Die Ärzte waren sicher, dass sie nach den erlittenen Verletzungen nie mehr Kinder bekommen könnte – der Inside Man hatte sie aufgeschnitten und ihr eine Spielzeugpuppe in den Unterleib eingenäht. Eine Quelle im Castle Hill Infirmary sagte: »Es ist ein Wunder. Es galt als undenkbar, dass sie je ein Kind würde austragen können. Ich freue mich so für sie.«

Und es kommt noch besser: Wie es aussieht, wird der kleine Wonneproppen ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für Laura und ihren Ehemann Christopher Irvine (32) sein.

Ausführlicher Bericht auf Seite 4

Ich blätterte weiter auf Seite 4. »Ich dachte, bei ihr wäre innen drin alles kaputt.«

»Sie waren an der ursprünglichen Ermittlung beteiligt.«

Ich überflog den Rest des Artikels. Der Schreiber kompensierte die dürftige Faktenlage mit jeder Menge Zitaten von Laura Strachans Freunden und einem Wettbewerb, bei dem man den Namen des Babys erraten sollte. Nichts von Laura oder dem werdenden Vater. »Die haben nicht mal mit der Familie geredet?«

Jacobson lehnte sich an den Tisch. »Lauras Mann hat dem Fotografen eine gescheuert und dann gedroht, dem Reporter die Kamera hinten reinzuschieben.«

Ich faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben mich auf die Matratze. »Bravo.«

»Es hat zwei Jahre gedauert, mit mehreren Operationen und einer massiven Fertilitätsbehandlung, aber jetzt ist sie tatsächlich im achten Monat. Der Geburtstermin ist in der letzten Dezemberwoche. Irgendeiner von diesen untadeligen und aufrechten Journalisten hat ihre Krankenakte in die Finger bekommen.«

»Abgesehen davon, dass das eine rührende Geschichte vom Triumph einer Frau über alle Widrigkeiten ist, wüsste ich nicht, was das Ganze mit mir zu tun hat.«

»Sie haben ihn entkommen lassen – den Inside Man.«

Mein Rücken wurde steif, meine Hände ballten sich zu Fäusten, die Knöchel schmerzten. Ich spie die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sagen Sie das noch einmal.«

Officer Babs schüttelte den Kopf und zischte mit warnendem Unterton: »Schön ruhig bleiben …«

»Sie waren der Letzte, der ihn gesehen hat. Sie waren ihm auf den Fersen, und er ist Ihnen entkommen.«

»Ich hatte ja wohl keine Wahl.«

Jacobsons Mundwinkel zuckten nach oben. »Das nagt immer noch an Ihnen, was?«

Laura Strachan starrte mich von der Titelseite der Zeitung an.

Ich sah weg. »Nicht mehr als all die anderen, die uns entwischt sind.«

»Er hat vier Frauen umgebracht. Dann überlebt Laura Strachan. Dann Marie Jordan. Und wenn Sie ihn geschnappt hätten, als Sie die Chance hatten … Na ja, Sie können von Glück sagen, dass er nur eine weitere Frau verstümmelt hat, bevor er verschwand.«

Ja, klar, ich war ja so ein Glückspilz.

Jacobson steckte die Hände unter die Achseln und wippte auf den Fußballen. »Haben Sie sich je gefragt, was der Dreckskerl so treibt? Acht Jahre, und man hat keinen Mucks mehr von ihm gehört. Wo hat er die ganze Zeit gesteckt?«

»Im Ausland oder im Knast, oder er ist tot.« Ich lockerte die Fäuste und legte die Hände in den Schoß. Die Gelenke brannten. »Also, sind wir jetzt fertig? Ich hab nämlich noch zu tun.«

»Oh, Sie haben ja keine Ahnung.« Jacobson wandte sich an Officer Babs. »Ich nehme ihn mit. Lassen Sie ihm eine elektronische Fußfessel anlegen und seine Sachen packen. Draußen wartet ein Wagen auf uns.«

»Was?«

»Wir haben es noch nicht offiziell bekannt gegeben, aber bei der Kinderkrankenschwester, die gestern tot aufgefunden wurde, war eine ›My-First-Baby‹-Puppe in den Unterleib eingenäht. Er ist wieder da.«

Meine Hände ballten sich wieder zu Fäusten.

5

Ein kalter Windstoß erfasste eine Handvoll leerer Chipstüten und ließ sie über den dunklen Parkplatz tanzen. Pickled Onion, Prawn Cocktail und Co. führten fünfzehn Zentimeter über dem Asphalt einen Ringelreihen auf und verschwanden dann in der Nacht.

Jacobson ging durch die Autoreihen voran zu einem großen schwarzen Range Rover mit getönten Scheiben. Er öffnete die hintere Tür und deutete eine Verbeugung an. »Ihre Kutsche wartet.«

Das Radio lief, und eine Stimme mit akzentfreier BBC-Aussprache driftete hinaus in die kalte Nachtluft. »… dauert die Geiselnahme in der Iglesia de la Azohía im spanischen La Azohía nun schon den vierten Tag an. Die Polizei von Cartagena bestätigt, dass eine der Geiseln ermordet wurde …«

Ich stieg ein und verstaute den schwarzen Müllsack, der praktisch meine gesamten Habseligkeiten enthielt, im Fußraum. Bevor ich mich wieder aufrichtete, kratzte ich mich noch schnell am linken Knöchel, an dem die schwere elektronische Fußfessel hing.

»… durch drei bewaffnete Männer, während die Gemeinde einen Bittgottesdienst abhielt …«

Ein uniformierter Constable saß am Steuer. Sein Blick zuckte zum Innenspiegel, und er musterte mich kritisch, während Jacobson auf den Beifahrersitz kletterte.

»… womit die Zahl der Opfer auf sechs steigt …«

Jacobson schaltete das Radio aus. »Ash, das ist Constable Cooper. Er ist einer von Ihrer Truppe. Hamish, sagen Sie hallo zu Mr Henderson.«

Der Constable drehte sich auf seinem Sitz um. Dürr, mit langer Hakennase, die Haare so kurz geschoren, dass sie wie ein Dreitagebart wirkten. Er nickte. »Sir.«

So hatte mich schon lange niemand mehr angeredet. Und wenn es auch nur so ein miesepetriges Würstchen wie Cooper war.

Jacobson schnallte sich an. »So, Ash, ich sage Ihnen jetzt, was ich Hamish gesagt habe, als er zu uns versetzt wurde. Es ist mir egal, wie lange Sie Ihre Kumpels von der Oldcastle Police schon kennen, Sie erstatten mir Rapport und niemandem sonst. Wenn ich auch nur ein Mal Wind davon bekomme, dass Sie sich bei einem von denen verplappern, wandern Sie schnurstracks dorthin zurück, wo ich Sie gefunden habe. Das hier ist keine Vergnügungsreise und auch keine Gelegenheit, Sabotage zu üben oder persönlichen Ruhm einzuheimsen, das hier ist eine Teamaufgabe, und Sie werden den Job verdammt noch mal ernst nehmen.« Er lächelte. »Willkommen bei der Operation Tigerbalsam.« Er lehnte sich zu Cooper und klopfte ihm auf die Schulter. »Fahren Sie. Und wenn ich nicht pünktlich um acht Uhr dort bin, können Sie sich auf was gefasst machen.«

Der Constable lenkte den Range Rover vom Gefängnisparkplatz auf die Straße. Ich schwenkte auf meinem Sitz herum, um durch die Heckscheibe zuzusehen, wie das Gebäude im Dunkel verschwand. Draußen. Frei. Keine Entlassungsprüfungen mehr. Keine willkürlich angezettelten Schlägereien.

Keine Gitter.

So viel zu Lens »klassischem Dilemma«.

Meine Hände an ihrem Hals. Zudrücken …

Ich fing das Grinsen ein, ehe es sich noch weiter ausbreiten konnte, und lehnte mich in meinem Sitz zurück. »Also, werde ich jetzt wieder eingestellt, oder was?«

Jacobson ließ eine Mischung aus Lachen und Schnauben hören. »Bei Ihrem Vorstrafenregister? Keine Chance – es gibt in ganz Schottland keine Polizeidivision, die Sie auch nur mit der Kneifzange anfassen würde. Sie sind draußen, weil Sie für mich nützlich sind. Wenn Sie Ihre Sache gut machen und mir helfen, den Inside Man zu fassen, sorge ich dafür, dass Sie auf Dauer draußen bleiben. Aber wenn Sie Mist bauen, wenn Sie sich blöd anstellen, wenn ich auch nur den Hauch eines Verdachts habe, dass Sie nicht hundertzehn Prozent geben, dann lasse ich Sie fallen wie einen radioaktiven Hundehaufen.«

Wunderbar.

Er klappte das Handschuhfach auf und nahm einen braunen Umschlag heraus, den er mir nach hinten reichte, während Cooper den Wagen um den Kreisverkehr lenkte. Er bog in eine ruhige Landstraße ein, mit Straßenlaternen am Ende, die in der Dunkelheit glitzerten.

»Die Entlassungsbedingungen?«

»Die Akte Claire Young. Lesen Sie sie. Ich will, dass Sie auf dem Laufenden sind, wenn wir in Oldcastle ankommen.«

Na, warum nicht. Wenn ich mitspielte, würde ich vielleicht lange genug draußen bleiben, um Mrs Kerrigan in die Finger zu bekommen …

Ich schlug die Mappe auf und fand eine Liste von Zeugenaussagen sowie einige Tatortfotos. »Wo ist der Obduktionsbericht? Und der Kram von der Kriminaltechnik – Faserspuren, Fingerabdrücke, DNS und so weiter?«

»Ah. Das ist ein bisschen …« Er beschrieb eine kreisende Geste mit der Hand. »Kompliziert. Um die Ermittlung nicht unzulässig zu beeinflussen, greifen wir auf diese Unterlagen nicht zu.«

»Nicht? Wieso denn das? Sind wir zu blöd?«

»Lesen Sie einfach nur die Akte.« Er richtete den Blick wieder nach vorne, rieb die Schultern an der Lehne hin und her und stellte sie dann ein Stück zurück. »Und seien Sie leise dabei. Ich muss zu einer Pressekonferenz, wenn wir wieder zurück sind – einer Ihrer idiotischen Kumpels in Oldcastle hat beim Daily Record geplaudert. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«

Die A90 dröhnte unter den Reifen des Range Rover, während Jacobson mit offenem Mund auf dem Beifahrersitz schnarchte. Ein kleiner Spuckefaden glitzerte im Schein der Armaturenbeleuchtung. Cooper hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, die Hände in Zehn-vor-zwei-Stellung am Lenkrad. Rückspiegel, Schulterblick, Blinker setzen.

Die hellen Lichter von Dundee hinter uns wurden mit jedem Kilometer schwächer.

Die Tatortfotos waren alle gestochen scharf, vom Blitzlicht grell ausgeleuchtet. Claire Young lag auf dem Rücken auf einem zerknitterten Laken, in das ihre Beine und ihr Rumpf eingeschlagen waren. Ein Arm war um den Kopf gelegt, als ob sie nur schliefe – doch ihre Augen waren offen und starrten mit leerem Ausdruck in die Kamera. Um den linken Mundwinkel herum war eine Schwellung zu erkennen, und ein Bluterguss von der Größe einer Untertasse hatte sich auf ihrer linken Wange ausgebreitet.

Auf der linken Seite war das Laken zusammengeschoben, sodass das helle Nachthemd darunter zu sehen war. Zwei gekreuzte Reihen von Flecken zogen sich über den Stoff wie ein kleines »t«. Ein Kruzifix ohne den Jesus. Schwarz, mit einem Saum aus Blutrot und Gelb. Das Nachthemd wölbte sich unter den Flecken, angeschwollen und verzerrt durch das, was darunter eingenäht war. Eine Nahaufnahme ihrer Handfläche ließ in der Mitte Bissspuren erkennen – ein Bogen aus dunkellila Flecken, der sich vom Mittelfinger zum Ansatz des Daumens zog. Kein Blut.

Ich wandte mich wieder der Zeugenaussage zu.

Eine Frau parkt ihren Wagen am Rand eines Waldgebiets namens Hunter’s Thicket, lässt ihren Labrador aus dem Laderaum und geht mit ihm spazieren. Sie leidet an Schlaflosigkeit, weshalb es nicht so ungewöhnlich ist, dass sie um drei Uhr früh mit Franklin Gassi geht. Deswegen hat sie sich ja den Hund zugelegt. Weil sie nicht von irgendwelchen perversen Triebtätern überfallen werden will. Aber Franklin rennt weg, verschwindet bellend im Gebüsch und kommt nicht mehr zurück. Sie stapft hinterher und findet ihn, wie er gerade an Claire Youngs ausgestreckter Hand zerrt.

Sie gerät in Panik, fängt sich aber wieder und alarmiert die Polizei.

Claire Youngs Mutter ist auch keine große Hilfe. Claire war ein wunderbares Mädchen, alle haben sie geliebt, sie war ihr Ein und Alles, wo sie hinkam, ging die Sonne auf … Mehr oder weniger das Gleiche, was alle trauernden Eltern sagten, wenn ihr Kind tot aufgefunden wurde. Nie hörte man irgendwen sich beklagen, was für eine Nervensäge sie doch gewesen war oder dass sie nie getan hatte, was man ihr sagte. Dass sie mit einem Arschloch namens Noah ins Bett gegangen war, obwohl sie noch nicht mal dreizehn war. Dass man sie nie wirklich gekannt hatte …

Ich blinzelte. Ließ einen langgezogenen, flatternden Seufzer entweichen.

Legte die Zeugenaussagen weg.

Und schob dann alles wieder in die Aktenmappe.

Es sah ganz nach ihm aus. Die kreuzförmige Narbe, die eingenähte Puppe, der Leichenfundort …

»Cooper, wie kommt es, dass hier nichts über den Entführungsort steht?«

Im Innenspiegel sah ich, wie die Augen des Constables sich weiteten. »Schsch!«

»Ach, nun machen Sie sich doch nicht ins Hemd. Wieso steht hier nichts darüber, wo er sie in seine Gewalt gebracht hat?«

Coopers Stimme war nur ein Zischen, als ob jemand ihm die Luft rauslassen würde. »Ich wecke den Super nicht auf. Jetzt bleiben Sie still sitzen, und geben Sie Ruhe, ehe Sie uns noch beide in Schwierigkeiten bringen.«

Herrgott noch mal! »Seien Sie nicht so ein Weichei.«

»Meinen Sie, ich wüsste nicht, wer Sie sind? Bloß weil Sie Ihre Karriere in den Sand gesetzt haben, muss ich noch lange nicht …«

»Na schön.« Ich nahm meinen Krückstock, drückte den Gummifuß gegen Jacobsons Schulter und stieß ihn ein paarmal an. »Hallo, aufwachen!«

»Gnnnffff …?«

Ich stupste ihn noch ein, zwei Mal. »Wieso steht da nichts über den Entführungsort?«

Cooper fand seine Stimme wieder, allerdings war sie eine ganze Oktave höher als sonst. »Ich habe versucht, ihn daran zu hindern, Sir, ich habe ihm gesagt, dass er Sie nicht stören soll.«

»Nnnggh …« Jacobson rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Wie spät ist es?«

Ich stieß ihn wieder mit dem Gummifuß an und wiederholte die Frage.

Er spähte zwischen den Sitzen hindurch zu mir nach hinten, das Gesicht gerötet und angeschwollen. »Weil sie ihn noch nicht gefunden haben, deswegen. Kann ich jetzt vielleicht …«

»Eine Frage noch: Wer verfolgt uns?«

Im ersten Moment blieb ihm der Mund offen stehen. Dann kniff er die blutunterlaufenen Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Verfolgt uns?«

»Drei Autos hinter uns. Ein schwarzer BMW-Geländewagen. Hängt schon seit Perth an uns dran.«

Er sah Cooper an. »Tatsächlich?«

»Ich … Äh …«

»Biegen Sie bei der nächsten Abzweigung rechts ab. Die da: Happas Road.«

Rückspiegel, Schulterblick, Spurwechsel. Cooper lenkte den Range Rover auf den Rechtsabbiegerstreifen und ließ ihn ausrollen. Er wartete, bis sich im Verkehr in Richtung Dundee eine Lücke auftat, dann überquerte er in einem Zug die Gegenfahrbahn und bog in die Landstraße ein. Bäume ragten zu beiden Seiten der von Schlaglöchern übersäten Fahrbahn auf, gezackte Silhouetten vor dem Nachthimmel.

Jacobson spähte wieder durch die Heckscheibe. Dann lächelte er. »Das macht das Gefängnis mit einem. Verfolgungswahn gehört zu …« Das Lächeln schwand, und er drehte sich wieder nach vorne um. »Fahren Sie weiter.«

Durch ein Waldstück, wo die Kiefern starr und stumm standen, dann weiter durch kahle Felder, grau und schwarz im Schein des wolkenverhangenen Mondes. Sterne funkelten in den Lücken, und zu beiden Seiten der Straße glommen die Fenster von Bauernhöfen wie Katzenaugen.

Cooper räusperte sich. »Er ist immer noch hinter uns.«

Ich gab Jacobson die Akte zurück. »Natürlich ist er immer noch hinter uns. Wo sollte er auch sonst hinfahren? Bis jetzt sind wir noch an keiner Abzweigung vorbeigekommen.«

Ein schmaler Riegel aus Bäumen tauchte wie eine Wand vor uns auf, dahinter kamen wieder Felder. Wir fuhren durch Ackerland, gesäumt von einer Reihe Kiefern, dann bog Cooper links ab. Die Scheinwerfer hinter uns schwenkten auch nach links. Dann wieder scharf rechts.

Weiter durch einen winzigen Weiler zur Abzweigung. An der Grundschule links. Und dann waren wir auf dem Weg zurück zur A90. Sobald wir das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung erreicht hatten, trat Cooper das Gaspedal durch, der Motor des Range Rover röhrte, und die verschwommenen Felder rauschten an den Fenstern vorbei.

Der Wagen hinter uns beschleunigte ebenfalls. Hielt das Tempo, als die Nadel sich der 130-km/h-Marke näherte.

Ich schnallte mich an. Ohne Cooper zu nahe treten zu wollen, aber er sah aus, als wäre er gerade mal zwölf Jahre alt. »Entweder ist unser Verfolger wirklich ein absolut blutiger Anfänger, oder es ist ihm scheißegal, ob wir ihn sehen oder nicht.«

»Hmmm …« Jacobson rieb wieder seine Schultern an der Sitzlehne, während er es sich bequem zu machen versuchte. »In dem Fall sind es entweder diese Arschlöcher von der Specialist Crime Division oder Ihre trotteligen Kollegen aus Oldcastle. Wollen wohl die Konkurrenz im Auge behalten.«

Ich sah hinter mich, als wir unter der Brücke hindurchrasten und dann links abbogen. Die Reifen kreischten, das Heck brach kurz aus, dann rauschten wir die Auffahrt hinauf und wieder auf die Schnellstraße in Richtung Norden.

Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs …

Die Scheinwerfer des Verfolgers tauchten wieder hinter uns auf, als er sich drei Autos hinter uns einreihte.

Diese Specialist-Crime-Typen, die Kollegen vom CID Oldcastle – oder etwas sehr viel Schlimmeres.

Cooper hielt am Straßenrand gegenüber einem mit Brettern vernagelten Pub am östlichen Rand von Cowskillin, wo der Ort mit Castle Hill verschmolz.

Von dem schwarzen BMW war weit und breit nichts zu sehen.

»Okay.« Jacobson drehte sich auf seinem Sitz um und zeigte mit einem haarigen Finger auf mich. »Sie gehen da rein und warten, bis ich von dieser blöden Pressekonferenz zurück bin. Und vergessen Sie nicht – Sie gehören jetzt zu einem Ermittlungsteam und teilen nicht mehr die Dusche mit einem primitiven Vergewaltigerschwein aus Dunkeld. Also schlagen Sie niemanden zusammen, wenn’s geht.«

Ich stieß die Autotür auf und stieg vorsichtig aus. Mein verdammter rechter Fuß tat weh, als ob die Spitze einer rotglühenden Messerklinge ganz langsam durch den Knochen getrieben würde. Das hatte ich davon, dass ich fast zwei Stunden lang in derselben Haltung in einem warmen Auto gesessen hatte. Der Krückstock musste ein bisschen mehr Gewicht tragen als sonst. »Wieso sind Sie eigentlich so sicher, dass ich nicht einfach abhaue?«

Er ließ sein Fenster herunter und zwinkerte mir zu. »Ehrlichkeit, Anstand und die Tatsache, dass in Ihre Fußfessel ein GPS-Ortungsgerät eingebaut ist.« Er klappte das Handschuhfach wieder auf, holte ein kleines Plastikkästchen mit einer Antenne hervor und drückte einen Knopf auf der mattschwarzen Oberfläche. Es piepste. »So, das war’s schon – Verknüpfung hergestellt. Also, wenn Sie sich an dem Ding zu schaffen machen oder wenn es einen Abstand von mehr als hundert Metern zu dem Gerät registriert, das Ihr Bürge trägt, ist sofort die Hölle los.«

»Mein Bürge?«

Er legte das Kontrollgerät wieder ins Handschuhfach. »Gehen Sie rein, dann wird Ihnen alles klar.«

Ich schlug die Wagentür zu und humpelte ein paar Schritte. Cooper setzte den Blinker, legte den Gang ein und fuhr in die Nacht davon. Ich blieb ganz allein mit meinem Gepäck-Müllsack zurück. Und mit meiner elektronischen Fußfessel.

Hundert Meter.

Was sollte mich also davon abhalten hineinzugehen, meinen »Bürgen« bewusstlos zu schlagen, ein Auto kurzzuschließen, ihn in den Kofferraum zu schmeißen und loszufahren, um Mrs Kerrigan einen spätabendlichen Besuch von der Sorte abzustatten, die selbst einem Jeffrey Dahmer Alpträume verursachen würde? Danach konnten sie mich wieder wegschließen, so lange sie wollten. Wen würde es jucken?

War ja nicht so, als ob mich draußen noch irgendwas halten würde …

Ich bückte mich mit knarzenden Gelenken, hob den Müllsack auf und warf ihn mir über die Schulter.

Das Postman’s Head war eingezwängt zwischen einem geschlossenen Teppichgeschäft und einem leerstehenden Buchladen, der laut dem Schild im Fenster »ZU VERKAUFEN ODER VERMIETEN« war. Dahinter ragte der schroffe Granitfelsen des Castle Hill in den dunkel-orangeroten Himmel auf – die verschlungenen viktorianischen Gässchen von historischen Laternen beleuchtet, die Burgruine auf dem Gipfel in grellweißes Scheinwerferlicht gebadet. Von hier unten sah das Gemäuer aus wie ein vom Schädel abgerissener Unterkiefer.

Über dem Eingang des Pubs hing ein altmodisches Holzschild, das einen abgetrennten Kopf mit einer blauen Postboten-Mütze zeigte. Alle Fenster waren mit Sperrholzplatten vernagelt. Von der Tür blätterte die Farbe ab.

Die Baustelle gegenüber war offensichtlich stillgelegt; die Absperrung aus Spanplatten war mit Graffiti und Warnhinweisen bedeckt, und ein Schild mit einer verblassten künstlerischen Darstellung eines Wohnblocks verkündete: »LEAFYBROOK BETREUTES WOHNEN: ERÖFFNUNG 2008!« Von dem Vorhängeschloss und der Kette zogen sich Rostschlieren über die lackierten Holzpfosten. Wahrscheinlich war es seit Jahren nicht geöffnet worden.

Ein Wasserpünktchen landete auf meinem Handrücken. Dann noch eins. Keine großen Tropfen, nur winzige Tupfen. Das Vorspiel zu einem Nieselregen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt den Regen so richtig auf meinem Gesicht gespürt hatte … Ich starrte zum Himmel auf. Schwere, dunkle Wolken reflektierten den Schein der Natriumdampflampen, und mit jeder Sekunde wurde der leichte Regenschleier dichter und dichter.

Der Wind frischte auch auf, er fegte durch die Straße, rüttelte an dem Wellblechzaun, der parallel dazu verlief, und zerrte an den daran befestigten Schildern mit der Aufschrift »BETRETEN VERBOTEN – LEBENSGEFAHR!« Der abgetrennte Kopf des Postboten schwang quietschend hin und her.

Das wurde mir doch zu blöd.

Ich humpelte über die Straße, ächzend bei jedem Schritt, und drückte die Pubtür auf. Dahinter kam ein kleiner Windfang zum Vorschein. Licht fiel durch die zwei Milchglasscheiben in der inneren Tür. Ich ging durch.

Weiß der Himmel, wann ich zuletzt im Postman’s Head gewesen war. Wahrscheinlich damals, als wir die Tür aufbrechen mussten, um Stanley-Knife Spencer zu verhaften. Wir waren mit fünfzehn Mann angerückt, von denen sechs den Rest der Nacht in der Notaufnahme verbringen mussten, um sich das Gesicht wieder zusammenflicken zu lassen.

Damals war das Lokal eine Bruchbude gewesen, und jetzt sah es noch übler aus. Zwei Wände bestanden nur noch aus dem nackten Mauerwerk, mit Holzlatten, aus denen rostige Nägel ragten – an manchen hingen noch kleine Fetzen Gipskarton. Der zerkratzte Tresen, der sich über die ganze Länge des Raums zog, war übersät mit Papierstapeln, die Hebel der Zapfanlage ragten kreuz und quer in die Luft. Ein kleines Häufchen Werkzeug – Schraubendreher, Schraubenschlüssel, ein Hammer – lag neben einem Teebecher aus feinem Porzellan mit dem Logo der Glasgow Rangers.

Jemand hatte den größten Teil der alten Holzmöbel in der Ecke vor einem ausgedienten Glücksspielautomaten gestapelt und nur eine Handvoll Stühle stehen lassen, im Halbkreis um zwei Staffeleien herum arrangiert. Die eine trug ein Whiteboard, die andere ein Flipchart, beide Flächen mit Aufzählungspunkten und Pfeilen übersät.

Portraitaufnahmen der sieben ursprünglichen Opfer waren neben den Toilettentüren aufgehängt. Über sechs davon hing je eine verwaschene Kopie eines handgeschriebenen Briefs. Kein bisschen Weiß auf dem Papier, nur Grau und körniges Schwarz. Sie waren so oft kopiert worden, dass die Schrift unscharf geworden war und die Buchstaben ineinanderflossen. Über dem Zigarettenautomaten hing ein nagelneuer Flachbildfernseher, darunter lagen auf dem Boden kleine Häufchen von Gipsstaub.

Weit und breit kein Mensch zu sehen.

Ich warf meinen Müllsack auf den nächstbesten Tisch. »KUNDSCHAFT!«

Von irgendwo hinter dem Tresen antwortete eine tiefe, sonore Stimme. »Ah, perfektes Timing. Seien Sie doch so lieb und reichen Sie mir den Engländer, ja?«

Lieb?

Ich trat an den Tresen und nahm den verstellbaren Schraubenschlüssel von dem Werkzeughaufen. Ich wog ihn in der Hand und ließ ihn in meine linke Handfläche klatschen. Ganz brauchbar, um jemandem eine Gehirnerschütterung zu verpassen. Dazu musste ich aber erst mal an ihn rankommen.

Ich stellte meinen heilen Fuß auf die Metallstange und stemmte mich hoch, um über die Theke in die Lücke dahinter zu spähen.

Ein groß gewachsener Mann lag auf dem Rücken am Boden, die Ärmel des frisch gebügelten weißen Hemds hochgekrempelt, die rosa Krawatte zwischen zwei Hemdknöpfen eingesteckt. Staub hing an seiner schwarzen Nadelstreifenhose und nahm den ledernen Halbschuhen etwas von ihrem Glanz. Er sah mich und hob eine buschige blaugraue Augenbraue, die farblich zu dem Fassonschnitt und dem militärischen Schnauzbart passte. »Sie müssen der Ex-Detective-Inspector sein, von dem wir so viel gehört haben.« Er setzte sich auf und klopfte sich den Staub von den Händen, dann hielt er mir die rechte hin. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie der Bursche, der den Inside Man hat entkommen lassen.«

Frecher Kerl. Ich verweigerte ihm den Handschlag, stattdessen reckte ich das Kinn und straffte die Schultern. »Ich habe schon seit Tagen niemanden mehr zum Krüppel geschlagen – wollen Sie sich freiwillig melden?«

»Interessant …« Er lächelte. »Man hat mir nie gesagt, dass Sie so empfindlich sind. Sagen Sie, waren Sie schon immer so oder erst, seit Sie Ihre Tochter an den Gratulator verloren haben? Sind Sie jedes Mal, wenn wieder eine Karte in Ihrem Briefkasten gelandet ist, noch ein bisschen schlimmer geworden? Weil Sie zusehen mussten, wie er sie zu Tode gefoltert hat, Foto für Foto? Liegt es daran?«

Ich packte den Schraubenschlüssel fester. Presste die Worte heraus, die Zähne so fest zusammengebissen, dass die Sehnen in meinem Hals sich straff spannten. »Sind Sie mein Bürge?«

Bitte, sag ja. Es würde mir ein Vergnügen sein, ihm den Schädel einzuschlagen.

6

»Ihr Bürge?« Er gluckste amüsiert. »O du lieber Gott, nein. Sagen Sie, Ex-Detective-Inspector, verstehen Sie zufällig etwas von Zapfanlagen?«

»Und wer ist es dann?«

»Wissen Sie, ich hatte bisher eher weniger mit diesen Apparaten zu tun – stehe persönlich mehr auf Gin Tonic –, aber ich bilde mir ein, dass ich eigentlich ein ziemlicher Universal-Heimwerker bin. Also, haben Sie ihn absichtlich laufen lassen, oder war es nur ein Fall von gewöhnlicher Inkompetenz?«

Okay, das reichte jetzt.

Und dann eine Stimme hinter mir: »Ash?«

Alice. Sie hatte das Kostüm gegen ein grau-schwarz gestreiftes Top und eine hautenge schwarze Jeans getauscht, aus der unten ein Paar knallrote Converse-Sneakers herausschauten. Eine Ledertasche, schräg umgehängt, lag an ihrer Hüfte. Ihr lockiges braunes Haar, aus dem Pferdeschwanz befreit, wippte, als sie quer durch das Lokal stürmte und sich auf mich stürzte. Sie schlang die Arme um meinen Hals, schmiegte ihr Gesicht an meine Wange und drückte mich. »O Gott, du hast mir so gefehlt!« Ich spürte, wie meine Haut von ihren Tränen feucht wurde.

Ihre Haare rochen nach Mandarinen. Genau wie die von Katie früher …

Etwas klickte tief in meiner Brust. Ich schloss die Augen und erwiderte ihre Umarmung. Und was immer da geklickt hatte, breitete sich in meinem Brustkorb aus und ließ ihn anschwellen.

Der Arsch in Hemd und Krawatte schnalzte mit der Zunge. »Also, wenn ihr unbedingt Unzucht treiben müsst, macht es doch bitte nicht hier. Geht nach oben, dann hole ich schon mal die Videokamera.«

Alice zog den Kopf zurück und grinste mich an. »Ignorier ihn, er versucht nur, eine Reaktion zu provozieren. Am besten lässt man ihn einfach gewähren, bis es ihm irgendwann langweilig wird.« Sie drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. »Du siehst dünner aus. Willst du etwas essen, ich meine, ich könnte was besorgen, was zum Mitnehmen von irgendwo, oder wir könnten in ein Restaurant gehen, ach nein, können wir nicht, Bear will ja, dass wir hier warten, bis er von der Pressekonferenz zurück ist, ich bin so froh, dass du draußen bist!« Das alles, ohne ein Mal Luft zu holen.

Sie drückte mich noch ein letztes Mal, ließ dann los und deutete auf den Typen hinter dem Tresen. »Ash, das ist Professor Bernard Huntly, er ist unser Spurensicherungs-Experte.«

Huntly straffte sich. »Spurensicherungs-Guru, wenn ich bitten darf.«

Ihre Hand war warm an meiner Wange. »Geht es dir gut?«

Ich warf Huntly einen vernichtenden Blick zu. »Geht schon.«