Die Stoikerin - Anne Gehrmann - E-Book

Die Stoikerin E-Book

Anne Gehrmann

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Beschreibung

Der Stoizismus, eine lebensphilosophische Schule, die im antiken Griechenland entstand, bietet seit mehr als 2000 Jahren wertvolle Ratschläge für mehr Widerstandsfähigkeit und Ausgeglichenheit im Alltag. Obwohl aus der Antike nur Schriften von männlichen Stoikern überliefert sind, ist die Philosophie für Frauen nicht weniger anwendbar. Frauen unterliegen oft Mehrfachbelastungen durch Beruf, Familie und weitere Aufgaben und müssen einem hohen Erwartungsdruck gerecht werden. Gerade für sie ist es besonders wichtig, ihre innere Kraft zu finden und zu kultivieren. Dieses Buch leitet dich mithilfe der Lehren der antiken Stoa an, ein glücklicheres und zufriedeneres Leben zu führen. Zahlreiche Ratschläge zeigen dir auf, wie Stoizismus ganz konkret in deinen Alltag zu integrieren ist. Hierbei unterstützen dich hilfreiche, praktische Übungen sowie ein Monatsprogramm mit Denkanstößen und Impulsen. Du lernst, wie eine Stoikerin durchs Leben zu gehen.

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Seitenzahl: 281

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Anne Gehrmann

Die Stoikerin

Dein Weg zu innerer Stärke, Gelassenheit und Glück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe, 1. Auflage 2024

© 2024 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagfoto: Alicia Minkwitz

Satz: Zerosoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-714-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-382-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-383-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort: Mein Schiffbruch-Moment

Teil 1: Der stoische Weg

Kapitel 1: Eine Lebensphilosophie – wer braucht denn so was?

Kapitel 2: Begriffsklärung und Fehlinterpretationen

Kapitel 3: Grundlagen des Stoizismus

Kapitel 4: Die Dichotomie der Kontrolle

Kapitel 5: Stoisch erziehen

Kapitel 6: Stoischer Realismus statt Wunschdenken

Kapitel 7: Emotionen

Kapitel 8: Leben mit Tugend

Kapitel 9: Vorbilder und Freundschaft

Kapitel 10: Stoische Achtsamkeit

Kapitel 11: Vom Zusammenleben mit unseren Mitmenschen

Teil 2: Stoische Übungen

Übung 1: Abendroutine/Reflexion

Übung 2: Premeditatio malorum

Übung 3: Härte dich ab

Übung 4: Wechsle die Perspektive (»Der Blick von oben«)

Übung 5: Memento mori

Übung 6: Mach dich nicht abhängig von externer Validierung

Übung 7: Überprüfe deine Eindrücke

Übung 8: Distanziere dich von deinen Gedanken

Übung 9: Tue Gutes – und rede nicht darüber

Übung 10: Lass dich inspirieren

Teil 3: Dein Monat als Stoikerin – tägliche Impulse für ein stoisches Mindset

Woche 1: Im Einklang mit dir selbst

Woche 2: Im Einklang mit deinen Mitmenschen

Woche 3: Im Einklang mit der Welt

Woche 4: Bewusster Leben/Stoische Achtsamkeit

Anmerkungen

Glossar

Buchempfehlungen

Vorwort

Mein Schiffbruch-Moment

Meinen Schiffbruch-Moment habe ich noch bildlich vor mir: Ich saß auf dem Teppich im Wohnzimmer unseres kleinen Hauses in Kalifornien, das aussah wie viele andere in unserer Straße, und weinte hemmungslos – so ein unschönes Weinen, wenn einen keiner sieht, nicht das niedliche, bei dem ein, zwei Tränen die Wange herunterrollen. Es war Anfang Mai 2020 und die Welt, wie ich (und Millionen andere Menschen) sie kannten, gab es nicht mehr. Seit Wochen waren wir im Lockdown, umgeben von einer unsichtbaren Bedrohung, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand sagen konnte, wie gefährlich sie war oder wie lange sie bleiben würde. Mein Mann, gewohnt entspannter Hanseat mit Ruhepuls unter 60 und grundsätzlicher Optimist, war der Meinung, dass in wenigen Monaten eine Impfung gefunden sein und der ganze Spuk sich in Luft auflösen werde.

Aber ich spürte ganz stark, dass das nicht stimmte. Eine Wand aus Angst und Panik baute sich in mir auf. Meine Gedanken kreisten: Was wäre, wenn wir beide gleichzeitig dieses Virus bekämen? Wer würde sich um unsere kleinen Kinder kümmern? Unsere Familie aus Deutschland durfte nicht mehr einreisen. Wie viele Menschen würden sterben? Wie sollte unsere Gesellschaft so funktionieren? Ich wollte Kontrolle über die Situation gewinnen und betrieb, was als »Doomscrolling« einen eigenen Ausdruck bekam: Ich konsumierte so viele Nachrichten wie nur möglich, hörte stundenlang Experteninterviews. Frauen mit Autoimmunerkrankungen sollen besonders gefährdet sein für schwere Verläufe? Ich sah mich mit einem Bein im Grab. Je mehr ich in mich aufsog, umso angespannter und ängstlicher wurde ich.

Dazu kam, dass das Eingesperrtsein im eigenen Haus bei mir starke Gefühle von Beklemmung und Panik weckte. Im Vergleich zu vielen anderen lebten wir privilegiert – immerhin hatten wir ausreichend Platz und einen Garten, in dem die Kinder toben konnten. Trotzdem rief dieser Zustand Erinnerungen an eine Zeit hervor, die ich lieber vergessen wollte: Es waren die wochen- und teilweise monatelangen Episoden der vergangenen Jahre, in denen die Wälder in Kalifornien nah und fern in Flammen standen und die Luftqualität so schlecht war, dass sie ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellte. Im Herbst 2018 war es besonders schlimm und ich hochschwanger, hinsichtlich der Auswirkungen auf das Baby voller Sorge. Ich blieb im Haus, in dem in jedem Wohnraum Tag und Nacht Luftreiniger liefen. Das Leben in Kalifornien war nicht nur sonnig.

Zu Beginn der Pandemie jedenfalls machte mich die Ungewissheit in der neuen Situation unruhig, launisch und ständig gereizt. Ich suchte nach etwas, das mir Halt, Ruhe und Vertrauen gab. Unsere Krankenkasse, amerikanisch schnell und patent, bot einen kostenlosen Zugang zu einer Meditations-App an. Ich hatte noch nie meditiert, war aber bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. In der App stieß ich auf eine sogenannte Masterclass, Stoic Wisdom for Modern Life, with Bestselling Author and Expert on Stoicism Ryan Holiday. Stoizismus? Was war das noch mal? Ganz dunkel meldete sich in meinem Gedächtnis die Erinnerung an den Lateinunterricht. Stoizismus klang streng und ernst und so gar nicht entspannt. Was hatte das mit meinem Ziel, innere Ruhe zu finden, zu tun? Was hatte das Thema in einer Meditations-App zu suchen? Mein Interesse war geweckt.

Was ich in den nächsten knapp 40 Minuten hörte, änderte mein Leben. Es klingt pathetisch, aber so war es. Es war, als ob sich eine Tür geöffnet hätte zu einer neuen Welt. Kein Thema hatte mich zuvor je so fasziniert wie diese antike Philosophie, über die ich mehr und mehr erfahren wollte – eine Philosophie, die Menschen vor 2000 Jahren auf der Suche nach einem guten Leben geholfen hat und die dabei so unglaublich modern und zeitgemäß ist. Ich verschlang Fachbücher und Originaltexte, belegte einen Kurs an der Stanford Universität zum Thema, besuchte viele Online-Workshops und brachte mich in die immer größer werdende Online-Community von Menschen, die sich für die Philosophie begeistern, ein. Als gelernte Juristin war ich es gewohnt, mich mit komplexen theoretischen Zusammenhängen zu beschäftigen – aber dieses philosophische Denksystem war gleichzeitig so lebensnah. Ich konnte meine Erkenntnisse unmittelbar in meinem Alltag umsetzen.

Stoizismus gab mir die Kraft und die innere Stärke, um mit den nächsten Schicksalsschlägen umzugehen – und die sollten kommen, diesmal persönlichere als eine Pandemie. Er lehrte mich, klarer über die Welt an sich und meine Rolle darin nachzudenken. Er half mir, mich bewusster mit meinen eigenen Gefühlen, in erster Linie den negativen, auseinanderzusetzen. Er gab mir praktische Werkzeuge an die Hand, mit denen ich mich meinen Ängsten und Sorgen stellen konnte. Er schärfte meine Aufmerksamkeit dahingehend, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Wo ich meine Kraft einsetzen soll und wo sie verschwendet ist. Er brachte mir bei, wie wichtig es ist, nicht vorschnell zu urteilen, sondern eine gedankliche Pause einzulegen, bis man eine Situation besser einschätzen kann.

Ich bin durch den Stoizismus ruhiger und gelassener geworden, reflektierter und klarer im Denken. Dadurch, dass ich so viel über mich und meine Gedanken gelernt habe, haben sich meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen verbessert – in meiner Kernfamilie, meiner erweiterten Familie, meinem Freundeskreis. Es machte mich zu einer »besseren« Tochter, Schwester, Partnerin, Mutter, Freundin, Kollegin und zu einem besseren Teil der Gesellschaft im Ganzen, da ich meine Rollen klarer definieren kann und in ihnen seitdem mehr aufgehe.

All diese Dinge kann Stoizismus auch in deinem Leben bewirken, und dieses Buch wird dir zeigen, was die Schlüssel dazu sind. Im ersten Teil werde ich die Grundzüge der antiken Philosophie aufzeigen, ohne deren Kenntnis keine praktische Ausführung möglich ist. Im zweiten Teil stelle ich die wichtigsten stoischen Übungen vor, denn es handelt sich um eine praktische Philosophie, die durch Wiederholung und konkrete Anwendung im täglichen Leben erst ihren Sinn entfaltet. Der dritte Teil leitet dich durch einen Übungsmonat, in dem du dich ganz konkret als Stoikerin1 üben kannst, indem du dich mit den darin vorgeschlagenen Fragen und Themen beschäftigst.

Die im Übungsmonat enthaltene Zusammenstellung von Denkanstößen ist innovativ und dabei einfach in den Alltag zu integrieren. In unserem vollgepressten, oft hektischen Tagesablauf macht nur ein Plan Sinn, der auch realistisch umgesetzt werden kann. Oft ist es neben unseren vielfältigen Verpflichtungen und Aufgaben schon herausfordernd, nur eine kleine Zeiteinheit für sich selbst abzuzwacken. Deswegen sind täglich nur wenige Minuten für diese philosophischen Übungen vorgesehen.

Du wirst feststellen, was auch nur eine kurze Einheit der Achtsamkeit und Reflexion für Auswirkungen auf dein gesamtes Denken und Fühlen haben wird. Wie Studien zeigen, dauert es mehrere Wochen, um eine neue Routine zu entwickeln, um neue Gewohnheiten in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Mit diesem Übungsmonat wird es dir leicht gemacht, am Ball zu bleiben, denn du wirst an der Hand genommen und es wird dir immer leichter fallen, dich in der philosophischen Selbstreflexion zu üben.

Warum habe ich meine erste Begegnung mit Stoizismus gerade als »Schiffbruch-Moment« bezeichnet? Neben dem Ausdruck, nach dem jemand in einer schwierigen Lebenssituation einen Schiffbruch erleidet, hat dieses Bild im Stoizismus noch einen weiteren Grund. Ohne einen tatsächlich stattgefundenen Schiffbruch hätte sich die stoische Philosophie womöglich nie entwickelt.

Und so ist das manchmal im Leben. Ein Ereignis, das im ersten Moment und instinktiv schlecht wirkt, entpuppt sich später als Wendepunkt, der dem Leben eine neue, positive Richtung gegeben hat. Als Herausforderung, an der man wachsen kann. Manchmal sogar als das Beste, was einem je passiert ist. Wie die Trennung, die dazu führt, dass wir uns aus einem toxischen Beziehungsgeflecht befreien. Die Kündigung, die zu einer neuen beruflichen Richtung führt. Die Krankheit, die uns realisieren lässt, dass unsere bisherige Prioritätensetzung uns nicht gutgetan hat. Aber eben erst aus der Retrospektive, der Betrachtung, die erfolgt, nachdem einige Zeit vergangen ist. In dem Moment des vermeintlichen Unglücks selbst geraten wir ungebremst in eine negative Gedankenspirale.

Das liegt daran, dass wir allen Geschehnissen sofort ein Werturteil zuordnen. Wir geben den Situationen ein Etikett, ein Label wie »schlimm«, »katastrophal« oder »fürchterlich«. Dabei wissen wir ganz einfach nicht, was das Schicksal noch für uns bereithält. Sich in diesen Momenten genau das zu vergegenwärtigen ist schwierig, aber man kann es erreichen. Und egal, was es ist, das uns entgegengeschleudert wird: Die innere Einstellung, die wir zu den Geschehnissen einnehmen, ist das Wesentliche. Und diese Einstellung kann nicht genommen oder vorgeschrieben werden, hierin liegt unsere persönliche Freiheit. Wir entscheiden, welche Lesart wir wählen.

Die positiven Auswirkungen der stoischen Lebensphilosophie habe nicht nur ich erfahren. Sie sind bereits empirisch nachgewiesen worden, und zwar von der Non-Profit-Organisation Modern Stoicism. Diese in Exeter, UK, im Jahr 2012 von Wissenschaftlern und Psychotherapeuten gegründete Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Anwendung der antiken stoischen Philosophie auf unser modernes Leben zu erforschen und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ein wesentlicher Teil des angebotenen Programms ist die Stoic Week, eine jährlich stattfindende Online-Aktionswoche, in der man unter Anleitung sieben Tage lang wie ein(e) Stoiker(in) lebt. Über 40.000 Teilnehmer zählt das Experiment bislang, und die Ergebnisse unter den Absolventen sind beeindruckend: Nach nur einer Woche nahmen positive Emotionen zu (ein durchschnittlicher Anstieg von 1 Prozent), negative Emotionen nahmen ab (eine Verringerung um durchschnittlich 14 Prozent) und die Lebenszufriedenheit stieg an (im Durchschnitt um 13 Prozent).2

Wer hätte gedacht, dass die Beschäftigung mit Philosophie so schnell etwas an persönlichem Lebensglück ändern kann? Die schnelle und (wenn man Stoizismus als Lebensphilosophie für sich wählt und einübt) nachhaltige Wirkung liegt in erster Linie daran, dass diese Art von Philosophie keine abstrakte Elfenbeinturm-Akademikerbeschäftigung darstellt, sondern konkrete Lebenshilfe ist. Jeden Tag. In jeder Situation.

Dieses Buch ist kein akademisches Werk, ich habe weder Philosophie studiert noch bin ich eine ausgebildete Therapeutin, die vertieftes Wissen über Kognitive Verhaltenstherapie, einer auf Stoizismus beruhenden Therapieform, besitzt. Für einen vertieften wissenschaftlichen Einstieg in die Schule der Stoa gibt es Bücher von exzellenten Wissenschaftlerinnen und Expertinnen, auf die ich im Anhang hinweise. Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, meine bisherigen Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen mit der stoischen Philosophie auf eine praxisorientierte Weise mit anderen zu teilen, in der Hoffnung, dass sie daraus einen Nutzen für ihr Leben ziehen können.

Stoizismus ist bislang im englischsprachigen Raum sehr viel bekannter als bei uns. Eigentlich überrascht das, da die Philosophie in Griechenland und dem Römischen Reich, also dem europäischen Mittelmeerraum, in der Antike zu Hause war. Die Gründe für die im Vergleich dazu langsame Wiederentdeckung in Deutschland sind vielfältig. Vielleicht haben die Amerikaner weniger Skrupel, die Philosophie aus der Akademikernische ins Licht der Mitte der Gesellschaft zu holen. Vielleicht fehlen in Deutschland noch schillernde Gallionsfiguren wie Ryan Holiday und Massimo Pigliucci in den USA. Fakt ist, dass wir Deutschen eine rationale und soziale Lebensphilosophie genauso brauchen wie alle anderen. Gerade in Zeiten wie heute, in denen man aufwacht und plötzlich herrscht Krieg in Europa. In denen der hausgemachte Klimawandel den Planeten bedroht und seine Auswirkungen selbst für Verdränger und Ewiggestrige nicht mehr zu ignorieren sind. In der die gesellschaftliche Spaltung, die Diskriminierung von Minderheiten und hoher Alltagsstress allgegenwärtig sind.

Stoizismus steht jedem Menschen offen. Es gibt im Kern der Philosophie nichts, das sie weniger anwendbar für Frauen macht als für Männer. Historisch kulturell bedingt sind uns allerdings aus der Antike nur Schriften von männlichen Stoikern überliefert. So wie Frauen allgemein über die Jahrhunderte hinweg aus dem Kanon der Philosophie ausgeschlossen wurden. Sogar im Modernen Stoizismus sind männliche Stimmen oft zahlreicher und lauter. Dies gilt insbesondere in den Online-Netzwerken, in denen sich bis zu 100.000 an der Philosophie und ihrer Anwendung Interessierte in Gruppen sammeln. Ähnlich sieht es in der Literatur aus: Es schreiben überwiegend männliche Autoren, vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur. Und obwohl Frauen sich von diesen Werken auch angesprochen fühlen, ist es ein Manko, dass überwiegend die weibliche Perspektive fehlt. Damit meine ich die weibliche Erfahrung, den Blickwinkel auf die Welt aus der Sicht einer Frau.

Denn die Erfahrung, Frau zu sein, weicht von der männlichen Erfahrung ab: Als Frau in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden bringt Erwartungsdruck auf vielen verschiedenen Ebenen mit sich. Die gesellschaftliche Erwartungshaltung fängt im Kindesalter an und zieht sich durch das ganze Leben hindurch. Ist eine Frau zu weiblich oder nicht weiblich genug? Soll sie Kinder bekommen? Wenn ja, wann und wie viele? Wie viel Sorgearbeit übernimmt sie, wie beruflich erfolgreich ist sie? Es werden ständig Rollenerwartungen an uns herangetragen, erst von außen seitens der Gesellschaft, und irgendwann hat man diese dann verinnerlicht. Die divergierenden Rollen bauen Stress auf. Die eigene Erwartungshaltung ist so hoch, dass sie enttäuscht werden muss. In den Köpfen herrschen vielfach noch Stereotypen vor, wie das der egoistischen, kinderlosen Karrieristin oder das der selbstlosen, wirtschaftlich keinen erheblichen Beitrag leistenden Hausfrau und Mutter, die einander gegenübergestellt werden. Ungefähr 80 Prozent der Mütter arbeiten heute in Voll- oder Teilzeit und viele davon reiben sich an beiden Fronten auf. Egal, welche Lebensform Frauen wählen, sie müssen sich mehr dafür rechtfertigen als Männer. Oder heißt es etwa »die Junggesellinnen-Bude« und »der alte Jungfer«?

Trotz des gesellschaftlichen Fokus, den die Thematik im Rahmen der »#MeToo«-Bewegung erfahren hat, erleben heute immer noch viel zu viele Frauen sexuelle, psychische und körperliche Gewalt. 35 Prozent der Frauen in Deutschland haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Partner oder eine andere Person seit ihrem 15. Lebensjahr erfahren. Im europäischen Durchschnitt sind es 33 Prozent.3 Dazu kommen Erfahrungen von sexueller und geschlechtsbedingter Diskriminierung am Arbeitsplatz, obwohl dies gegen geltendes Recht verstößt. Auch hält sich hartnäckig eine Ungleichheit in der Bezahlung von Frauen und Männern bei gleicher Arbeit, bekannt als Gender Pay Gap. Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen sind also, wie die Zahlen zeigen, keineswegs Nischenprobleme.

Diese Probleme und unhaltbaren Zustände müssen gesamtgesellschaftlich angegangen werden. Es sind ungerechte Umstände, gegen die sich auch die stoische Philosophie wendet, bei der die Gerechtigkeit, also der faire Umgang mit anderen, eine Kardinaltugend darstellt. Keineswegs dürfen Frauen lediglich in die Verantwortung genommen werden, sich selbst Coping-Strategien zu suchen, oder dazu verdammt sein, diese Umstände einfach ertragen zu müssen. Trotzdem ist es unerlässlich, etwas für die eigene psychische Gesundheit zu tun. Es ist wichtig, seine innere Kraft zu entdecken und zu kultivieren. Die stoische Philosophie kann uns dabei ermächtigen und unterstützen, trotz widriger Umstände Glück und Gelassenheit zu finden.

Frauen kümmern sich viel um andere. Sie tun das in der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen, sie erledigen Hausarbeit und engagieren sich im Ehrenamt. Dabei zeigen Erhebungen, dass Frauen pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer aufwenden, eine Diskrepanz, die als Gender Care Gap bezeichnet wird.4 Bei so viel Kümmern um andere bleibt oft die berühmt-berüchtigte Selbstfürsorge auf der Strecke. Die Folgen sind Erschöpfung und gesundheitliche Probleme. Institutionen wie das Müttergenesungswerk registrieren seit der Pandemie eine Flutwelle von Kuranträgen. Einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2019 in Auftrag gegebenen Studie zufolge hatten bundesweit 24 Prozent aller Mütter (und immerhin 18 Prozent der Väter) von Kindern unter zwölf Jahren bereits vor der Pandemie Kurbedarf, eine Situation, die sich weiter zugespitzt hat.5

Philosophische Selbstfürsorge kann nicht alle diese Probleme lösen, aber sie kann dabei helfen, sich selbst nicht zu verlieren, bei sich zu bleiben und seine innere Mitte zu finden. Nur wer sich selbst die Sauerstoffmaske zuerst aufsetzt, kann weiter für andere da sein. Stichwort Selbstfürsorge: Angefangen zu meditieren habe ich übrigens trotzdem. Man sollte nicht nur auf ein Pferd setzen. Aber nichts hat mein Leben so nachhaltig verändert wie Stoizismus. Ich hoffe, dass die Philosophie auch dein Leben bereichern wird.

Also lass uns anfangen.

Teil 1

Der stoische Weg

Kapitel 1

Eine Lebensphilosophie – wer braucht denn so was?

Erst einmal müssen wir klären, was es überhaupt mit dem Begriff der Lebensphilosophie auf sich hat. Denn manchmal weiß man nicht, dass einem etwas fehlt, bis man es gefunden hat. So ging es mir jedenfalls mit Stoizismus als Lebensphilosophie. Ich hatte noch nie über die Frage konkret nachgedacht, was meine Lebensphilosophie war, und hätte auch nicht gewusst, wo mir eine solche einen Mehrwert gebracht hätte. Nähern wir uns dem Thema mithilfe von IKEA.

»Wohnst du noch oder lebst du schon?« – erinnerst du dich noch an diesen eingängigen Slogan des Einrichtungshauses, in dem man schon so manchen Samstag mehr oder weniger freiwillig verbracht hat? Die Werbeagentur hat damit den Nagel buchstäblich auf den Kopf getroffen. Will ich etwa nur schnöde wohnen? Es handelt sich offensichtlich um eine rhetorische Frage, denn wir wollen nicht nur vor uns hin wohnen, nein, wir möchten LEBEN, und zwar voll und aus ganzen Zügen und so gut es nur eben geht. Also her mit der neuen IKEA Ektorp Couch und dem Hocker dazu, und dann wandern auch noch 24 Duftkerzen auf dem Weg zur Kasse in den Korb, die kann man immer gebrauchen (mein Mann sieht das allerdings anders). Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem zufriedeneren und glücklicheren Leben. Oder auch nicht.

Die Stoiker (und andere antike Philosophen) würden auf keinen Fall versuchen, uns zu mehr Konsum zu verleiten – ganz im Gegenteil. Ihre Frage an uns wäre eine leicht, aber entscheidend andere: Lebst du – oder lebst du ein gutes Leben?

Das ist ein qualitativer Unterschied, der über den Sitzkomfort einer neuen Couch weit hinausgeht. Was meinen sie damit? Lebst du vor dich hin, nimmst jeden Tag, wie er kommt, ohne ein klares Ziel? Oder lebst du ein gutes Leben? Ein Leben, das nicht lediglich durch die Befriedigung von momentanen Begierden geprägt ist, sondern einen dauerhaften Zustand der tiefen Zufriedenheit und Ausgeglichenheit darstellt? Ein Leben, das im Einklang mit den von dir gesetzten Werten steht und dir ein Gefühl von Erfüllung gibt? Wie bei der IKEA-Werbefrage ist auch hier die zweite Alternative eindeutig attraktiver. Es stellt sich nur die Frage: Wie mache ich das genau, ein gutes Leben leben?

Hilfreich wäre auch hier eine Bedienungsanleitung. Jeden Tag prasselt so viel auf uns ein an Ratschlägen für ein gutes beziehungsweise »verbessertes« Leben. Die eine verwirklicht sich hier, die andere dort, so viele Möglichkeiten und Chancen scheinen nur auf der Straße zu liegen. Ins Gesicht schreit einem das ganze selbstverwirklichte Glück in den sozialen Medien. Der Eindruck drängt sich auf, dass überall um uns herum das Glück nur so floriert, auch wenn wir rational wissen, dass das alles eine Scheinwirklichkeit ist. Stell dir vor, du bist glücklich und keiner sieht deinen Beitrag in den sozialen Medien – warst du dann überhaupt glücklich? Viele Wege zum Glück, viele Coaches, viel Optimierungsrat, wie ich schöner, reicher und erfolgreicher werde.

Aber ist das überhaupt das, was ich will und brauche? Ist mein Leben besser messbar mit diesen neuen Sneakern? Sinnvoller, wenn ich 1000 Follower mehr habe? Bin ich glücklicher, wenn ich fünf Kilo abgenommen habe und endlich einen Yoga-Kopfstand beherrsche? Eine bessere Version meiner Selbst, wenn ich mir die empfohlene Augencreme appliziert habe, essenzieller Bestandteil einer achtteiligen koreanischen Skincare-Routine? Wenn ich endlich »that girl« bin, die, die ihr Leben im Griff hat und dabei all die richtigen Produkte benutzt? Offensichtlich ja nicht, und trotzdem ist es schwierig, aus diesem Zirkus auszubrechen.

Eine Lebensphilosophie, wie ich sie meine, ist auch kein Allheilmittel zum Glück und alleiniger Schlüssel zum guten Leben, aber sie gibt dir ein Grundgerüst an Prinzipien, auf deren Basis du handeln kannst. Sie gibt dir moralische Richtlinien, ohne dogmatisch zu sein. Sie gibt dir einen Kompass für Entscheidungen und gleichzeitig ein Fundament, auf das du dich zurückziehen und verlassen kannst. Sie ist immer bei dir, begleitet dich bei jedem Schritt. Sie macht dich ruhiger, stärker und unempfindlicher gegen Druck, Einfluss, kurz gesagt: Lärm von außen.

Also her mit der Lebensphilosophie. Nur welche? Zahlenmäßig verbreitet ist der Hedonismus – quasi die »Philosophie« unseres Zeitalters. YOLO (You only live once), man lebt nur einmal! Unser Leben ist begrenzt, also möchte ich jetzt und hier genauso viel Spaß wie nur eben möglich haben, koste es, was es wolle. Die Rechnung zahle ich (oder jemand anders) später. Angesichts der Probleme, mit denen wir täglich konfrontiert werden, wie Klimaerwärmung, Massenmigration und globale Pandemien, um nur mal ein paar zu nennen, hinterlässt Hedonismus, bei den meisten mindestens einen fahlen Beigeschmack.

Dazu kommt ein Phänomen, das als »hedonistische Tretmühle« beschrieben wird: Der Mensch arbeitet auf ein meist materielles Ziel hin und verspürt, wenn er es erreicht, eine kurzfristige Zufriedenheit. Diese Befriedigung hält allerdings nur kurz an und schon braucht er das nächste, bessere Produkt oder Erlebnis. Ein tiefes, anhaltendes Glücksgefühl kann dabei nicht entstehen, man strampelt wie auf einem Hometrainer auf der Stelle. Auch »hedonistische Adaption« genannt, besagt das von Psychologen erstmals in den 1970er-Jahren beschriebene Phänomen also, dass ein bestimmter Grad unseres Glücksgefühls konstant bleibt. Nach kurzen Ausschwüngen nach unten oder oben pendelt sich unser gefühltes Glück wieder auf dem bisherigen Level ein. Äußere Einflüsse sind demnach nur kurzfristig hilfreich, was bleibt, ist die berühmt berüchtigte innere Einstellung. An der zu arbeiten, das erfordert Disziplin und Beständigkeit. Um nicht als »Auffang«-Lebensphilosophie auf dem Hedonismus hängen zu bleiben, muss man sich aber damit auseinandersetzen, was einem wirklich wichtig ist.

Früher gab Religiosität vielen Menschen Sinn und Richtung, dazu kam eine Gemeinschaft, in der sie sich einbringen konnten, sich aufgehoben und angenommen fühlten. Religionen stellen im weiteren Sinne ebenso Lebensphilosophien dar wie Strömungen in der Philosophie. Denn eine Lebensphilosophie, so hat es der Autor und eine der einflussreichsten Stimmen im Modernen Stoizismus, Massimo Pigliucci, beschrieben, setzt sich grundsätzlich aus mindestens zwei Bereichen zusammen: einer Metaphysik und einer Ethik.6 Die Metaphysik umfasst ein Modell, nach dem die Welt funktioniert, zum Beispiel im Christentum einen allmächtigen Gott, der die Welt und die Menschen erschaffen hat. Die Ethik beinhaltet Leitlinien, wie wir uns in der Welt zu verhalten haben (im Christentum die zehn Gebote und die Lehre von Jesus Christus). Als weitere Komponente kommt eine Praxis hinzu. Praktische Übungen stellen die eigentliche Ausübung der Lebensphilosophie dar, die Einübung der Theorie. Im Christentum beten die Gläubigen, besuchen Gottesdienste, lesen die Bibel oder sind in der Gemeinde aktiv. Der Stoizismus setzt sich aus diesen drei Teilbereichen zusammen, der Physik, der Logik und der Ethik, wobei sich dieses Buch zum größten Teil mit der Ethik beschäftigen und die anderen Bereiche nur streifen wird.

Selbst wenn man nicht direkt christlich erzogen worden ist, so sind die Werte des Christentums in unserer Gesellschaft schon immer von herausragender Stellung gewesen, Werte wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Barmherzigkeit. Allerdings haben viele von uns, sei es aufgrund von nicht aufgearbeiteten Missbrauchsskandalen oder dem Umgang mit Frauen und der LGBTQIA*-Community, inzwischen Probleme mit den kirchlichen Institutionen und können sich damit nicht mehr identifizieren. Interessanterweise finden sich im Christentum sehr viele Ideen des Stoizismus wieder. Manche Zitate des großen stoischen Denkers Seneca könnten Zitate aus der Bibel sein, besonders wenn es um Nächstenliebe geht. Die Anfänge des Christentums überschneiden sich zeitlich kurz mit dem antiken Stoizismus, der offiziell mit dem Tod des letzten großen Stoikers, Kaiser Mark Aurel, 180 n. Chr. endete. Das Christentum hat sich dann in Europa und großen Teilen der Welt durchgesetzt, wohingegen der Stoizismus in der Versenkung verschwunden ist. Zur Klarstellung: Stoizismus als Philosophie und Religionen wie das Christentum schließen sich nicht aus, sondern werden von vielen Menschen komplementär gelebt.7

Einige zumindest oberflächliche Parallelen hat Stoizismus auch mit dem Buddhismus, weswegen die Philosophie auch manchmal als »Buddhismus des Westens« bezeichnet wird. Ob und inwieweit sich die beiden Denkschulen gegenseitig beeinflusst haben, ist heute schwer nachvollziehbar. Ohne mich in der Tiefe mit Buddhismus beschäftigt zu haben, scheint es Gemeinsamkeiten zu geben: Auch im Buddhismus geht es darum, sich von den Fesseln der äußeren Einflüsse und unseres Verlangens zu entfernen, um zu Freiheit zu gelangen. Ziel ist es, auch angesichts widriger Umstände ausgeglichen und unbeschädigt zu bleiben. Bei beiden gibt es ein Ideal, das anzustreben ist: im Buddhismus der erleuchtete Buddha, im Stoizismus der oder die Weise. Beide Traditionen legen den Schwerpunkt auf die Gegenwart, auf das Jetzt und Hier, die Buddhisten durch Meditation, die Stoiker durch andere tägliche praktische Übungen. In beiden Traditionen wird Wut als eine besonders zerstörerische Emotion betrachtet, die es zu vermeiden gilt. In beiden setzt man sich mit dem Thema Vergänglichkeit oft und aktiv auseinander.

Eine Lebensphilosophie, wie ich sie beschreibe, hat einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der theoretische Teil, also das intellektuelle Wissen, bildet die Grundlage für die praktische Ausübung und ist unerlässlich. Wie kann man handeln, wenn man gar nicht versteht, auf welchen grundlegenden Überlegungen die eigene Überzeugung fußt? Ohne die praktische Anwendung hingegen ist alle Theorie nutzlos. Nur wer seine Überzeugung auch in die Tat umsetzt oder es zumindest versucht (wie wir sehen werden, ist es sehr anspruchsvoll, im stoischen Sinne perfekt zu werden), macht Fortschritte und lebt seine Philosophie.

Der Moderne Stoiker William B. Irvine nennt in seinem Buch A Guide to the Good Life noch einen weiteren Grund dafür, sich zu überlegen, wie die eigene Lebensphilosophie genau aussieht: damit einen am Ende des Lebens nicht das ungute Gefühl beschleicht, das Leben verschwendet zu haben. Unendlich ist es nicht, unser Leben, das wissen wir alle (außer Cryonics, das sind die, die sich einfrieren lassen, da sie darauf hoffen, mithilfe zukünftiger Medizin zu ewigem Leben zu finden, aber das ist nicht nur eine Minderheit, das Verfahren hat auch eine nicht sehr hohe Erfolgsaussicht). Die Zeit, die uns zur Verfügung steht, wollen wir gut nutzen.

Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware beschreibt in ihrem Buch The Top Five Regrets of the Dying, welche Dinge Menschen auf dem Totenbett am meisten bereuen. Ihr zufolge bereuen viele Menschen, wenn sie ihrem Tod entgegentreten, dass sie sich nicht erlaubt haben, glücklicher zu sein. In unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft arbeiten wir andauernd auf Ziele hin, mit deren Erreichen wir uns vorstellen, glücklich zu sein. Wenn ich erst die neue Position im Job habe. Wenn ich erst mal ein eigenes Haus gekauft habe (was für die meisten sowieso heutzutage ein unerreichbarer Traum bleibt). Dann wird alles besser – oder auch nicht. Es ist leichter gesagt als getan, aus diesem Hamsterrad auszubrechen und den Moment zu genießen, in dem einem das Glück auf dem Schoß liegt. Kein Glück empfunden zu haben, ohne es sich nach externen Parametern wie einem Karriereschritt, Kontostand oder anderen Statussymbolen »verdient« zu haben, das bedauern viele Menschen am Ende ihres Lebens. Mit einer zu uns passenden Lebensphilosophie als Leitlinie können wir versuchen, diese Falle zu umgehen.

Kurz gesagt

Es ist dringend und wichtig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Leitlinien, welche Werte und Annahmen dein Leben bestimmen sollen, und gemäß diesen Prinzipien zu leben. Ansonsten besteht die Gefahr, zu spät zu merken, dass man Prioritäten falsch gesetzt und sein volles Potenzial für ein glückliches Leben nicht entfaltet hat.

Eine Lebensphilosophie bietet dir ein in sich stimmiges System, das dir aufzeigt, wie die Welt funktioniert und wie du dich am besten in ihr verhältst. Sie besteht grundsätzlich aus einer Metaphysik, einer Ethik und einer Praxis.

Kapitel 2

Begriffsklärung und Fehlinterpretationen

Als ich neulich die Serie You anschaute, bei der ein dauerverliebter Serienkiller von einer extremen Situation in die nächste gerät, tauchte es wieder auf, das Wort, auf das ich sofort entzückt reagiere: stoisch. Die Hauptdarstellerin, eine britische Kunstgaleristin namens Kate, beschreibt damit das Verhalten, das ihre Mutter von ihr in ihrer Kindheit erwartet hat, selbst angesichts von Schicksalsschlägen wie dem Tod der Großeltern. Keine Miene verziehen, ungerührt weitermachen wie bisher, sich keine emotionalen Entgleisungen leisten, dafür steht das Wort »stoisch« im modernen Sprachgebrauch. Teilweise wird der Begriff sogar mit Gleichgültigkeit oder Gefühlskälte assoziiert. Das klingt nicht attraktiv für eine Lebensphilosophie, oder?

2.1 Der Begriff »Stoizismus«

2.1.1 Was »stoisch« wirklich bedeutet

Die Bedeutung des Wortes in der Netflix-Serie hat allerdings nur sehr wenig mit der philosophischen Schule der Stoa zu tun. Über die Jahrhunderte hinweg hat sich die Bedeutung des Wortes geändert. Woher kommt eigentlich der Begriff »stoisch«? Als Zenon in Athen seine Schüler um sich sammelte, tat er das in der stoa poikile. Die Stoa war eine Säulenhalle im antiken Griechenland, in der sich Menschen trafen, um sich auszutauschen. So ein bisschen wie die sozialen Medien heute, sozusagen die Kommentarecke von Athen. Daher stammt also der Name, weil es eine Philosophie aus der Mitte der Gesellschaft war, die auf einem offenen Versammlungsplatz gelebt wurde, wo politische und gesellschaftliche Entwicklungen diskutiert werden. Hier gab es nicht nur Philosophen, sondern auch Bettler, Gaukler und Händler. Statt die Anhänger der Schule nach ihrem Kopf »Zenonier« zu nennen, setzte sich der Begriff »Stoiker« durch. Der Kult um eine Person, die keine Heilige oder, wie die Stoiker sagen, keine Weise, ist, passt nicht zu dieser Philosophie.

Dass sich die Assoziationen zu einem Begriff geändert haben, ist interessanterweise gleich mehreren antiken Philosophieschulen passiert. Aufbauend auf der Lehre des Philosophen Sokrates bildeten sich verschiedene sogenannte hellenistische Schulen. Unter den bedeutendsten waren, neben den Anhängern von Plato und seinem Schüler Aristoteles, die Kyniker und die Epikureer. Die Begriffe »zynisch« (die Kyniker) und epikureisch (Anhänger des Philosophen Epikur) haben ein ähnliches Schicksal erlitten wie der Begriff »stoisch«.

Die Kyniker waren jedoch keine Fieslinge, die andere grausam verspotteten, wie der heutige Sprachgebrauch nahelegen würde, sondern davon überzeugt, dass man auf jeglichen Besitz verzichten soll, um ein glückliches Leben zu führen. Außerdem waren ihnen gesellschaftliche Konventionen egal (Sex in der Öffentlichkeit war beispielweise durchaus praktikabel). Einen berühmten Kyniker haben wir schon kennengelernt, es ist Krates von Theben, der Lehrer von Zenon von Kitium. Wir können uns also vorstellen, dass Zenon sich einiges von Krates dem Kyniker abgeschaut hat, aber ich nehme es vorweg: So radikal wie die Kyniker waren die Stoiker nicht, man darf durchaus Besitz sein Eigen nennen. Auf offener Straße masturbieren oder in Fässern schlafen, so bunt trieben es die Stoiker ebenfalls nicht.

Epikur wiederum und seine Freunde waren keine genusssüchtigen Gourmets, die sich in Pendants zu Michelin-Restaurants der Antike herumtrieben, sondern sie hielten sich zurückgezogen in einem Garten vor den Toren Athens auf und praktizierten die Freude an den einfachen Dingen. Ihr Fokus lag darauf, möglichst schmerzfrei zu leben. Und da das schwierig ist, wenn man sich in politische Kämpfe involviert, wählten sie den Rückzug in die Ruhe und ins Private. Das war der Hauptunterschied zu den Stoikern, von denen viele politisch aktiv waren und sich mit den Mächtigen ihrer Zeit anlegten. Teilweise brachte diesen ihr Einsatz politisches Exil ein, eine unangenehme Angelegenheit, bei der man auf steinigen Inseln hausen musste, weit weg von Freunden und Heimat. Noch unangenehmer als ins Exil vertrieben zu werden war allerdings der aufgezwungene Selbstmord, ein Schicksal, das beispielsweise den großen stoischen Denker Lucius Seneca ereilte.