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Er hat über die Straße geschrieben. Jetzt erzählt er, wie schwer es ist, sie zu vergessen.Dominik Bloh hat es geschafft. Er ist heute kein Straßenjunge mehr. Trotzdem das Leben auf dem Asphalt lässt ihn nicht los. Du glaubst, du kennst ihn?Dieses Buch zeigt dir, wie tief seine Narben wirklich gehenIn Die Straße im Kopf erzählt er eindringlich und ehrlich, wie seine Reise weitergeht: Die Straße hat ihn geprägt, jetzt kämpft er mit der Normalität. Mit den Hürden des Alltags, den er nie erlernen durfte.Ein Bett, das er nicht benutzt.Wie lebt es sich in einer Wohnung mit Waschmaschine, Kühlschrank und Bett, wenn das Leben auf der Straße nicht vergessen werden kann? Wie fühlt es sich an, in zwei Welten zu leben? Wie gelingt es, mit der Überlebensschuld umzugehen? Und wie lebt man ein neues Leben, wenn noch Tausende auf dem Asphalt zurückgeblieben sind?Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme.Dominik bleibt nicht bei seiner eigenen Geschichte stehen. Er öffnet dem Leser die Augen für das Paralleluniversum, (das genau vor seiner Nase) existiert, aber meist nicht wahrgenommen wird. Und ganz ohne Klagen und Anprangern macht er klar, was passieren muss, um wirklich etwas zu verändern."Das Leben nach der Straße: Ein Kampf, den man nicht kommen sieht."Ein Buch, das mehr erzählt, als du erwartest.
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
TEIL 1
NEUE WELT
Kein Zuhause
Ich habe mich wieder mal verloren, irgendwo zwischen Park und Sky Suite Lounge. Zwischen Oberhausen und Dresden. Zwischen Talkshow und Traphouse. Zwischen Bühne und Straße.
Ich bin voll und das macht mich leer. Ich bin satt, da ist kein Hunger, da ist nur Appetit auf mehr.
Alles um mich herum ist in Bewegung, nur ich bleib stehen, dabei laufe ich immer noch hin und her, fahre quer durch das ganze Land, bin heute hier und morgen da. Hamburg, Berlin, München. Daueraufenthalt in anderen Städten. Generelle Kostenübernahme, kenne viele Mitarbeitende in den Hotels mit Namen.
Ich habe eine Wohnung, aber kein Zuhause.
Wache auf in weißer Bettwäsche und kann die Berge sehen.
Wache auf in weißer Bettwäsche und kann das Meer sehen.
Wache auf in weißer Bettwäsche und kann den Fernsehturm sehen. Aus dem Panoramafenster-Ausblick aus dem 37. Stock, da ganz unten, unter den Lichtern der Brücke, sehe ich die Schlafsäcke.
Kann jeden Tag in meinem neuen, mein altes Leben erkennen.
Ich trage Überlebensschuld mit mir.
Das könnte ich sein, denke ich immer wieder.
Wieso bin ich nicht mehr da, sondern plötzlich hier?
Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme.
Ich dachte, ich werde keine 30 Jahre alt. Schau, was heute ist.
Premiere
Das erste Buch bekommt immer der Fahrer. So ist es Tradition beim Verlag. Gerade ist der Laster der Druckerei aus Regensburg angekommen. „Unter Palmen aus Stahl“ ist da. Es ist Montag. Ich fahre mit der Fähre, oben auf dem Deck. Es weht heftig, der Regen peitscht in mein Gesicht. Niemand anderes steht mehr hier oben. Ich gucke hoch zu den Palmen im Park, auf die Lichter der Stadt und zurück zu den Landungsbrücken. Gleich werde ich meinen Verlagsleiter treffen.
Kurz darauf halte ich mein Buch zum ersten Mal selbst in der Hand. Ich blättere die Seiten durch, um den Geruch von frisch Gedrucktem aufzuschnappen. Ich dachte, so macht man das wohl mit seinem ersten Buch. Gefühlt habe ich nichts dabei. Da ist kein Stolz.
„Innerhalb von einem Jahr von der Straße ins Rampenlicht.“ So titelt die Hamburger Morgenpost nach meiner Buchvorstellung im „Gruenspan“. Die Konzerthalle, in die ich mich oft über den Seiteneingang zu Konzerten reingeschlichen habe, weil ich das Geld für eine Karte nicht hatte, aber meine Liebe zum Rap so groß war, dass ich zumindest versuchen musste, irgendwie reinzukommen. Wenn gar nichts ging, blieb ich auch einfach vor der Tür stehen und hörte von draußen zu. An diesem Abend sitze ich im Backstage-Bereich. Ich höre lautes Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern. Die Hunderten Stühle sind bis in die letzte Reihe besetzt.
Vieles von dem, was ich erzähle und aus meinem Buch vorlese, stand lange vor diesem Abend schon einmal auf einem Stück Papier. Skizzen, Schnipsel, Texte, alle über die Jahre im Kopf geblieben und nun zusammengefasst, veröffentlicht in meinem Erstlingswerk. Nach der Lesung signiere ich Bücher. Ich mache Fotos. Ich werde um O-Töne fürs Radio gebeten und „Hier bitte noch einmal hingucken“ für ein weiteres Pressebild. Menschen gratulieren mir, lachen mich an, erklären mir, woher sie mich kennen, erzählen von ihrem Leben, ihren persönlichen Geschichten, fragen nach meinen. Alle sagen etwas. Ich höre zu. Es sind viele Gesichter, die vor mir auftauchen. Noch eine letzte Signatur ins Buch. Alles ausverkauft.
Der Abend ist vorbeigerauscht. Als alles vorbei ist, mache ich mich vom Kiez auf den Heimweg. So wird es sich in den nächsten Jahren noch oft anfühlen: Erst ist da ein Raum voller Menschen, zum Schluss laufe ich allein durch die Straßen zurück.
Ich komme an einer Sparkasse vorbei und will noch schnell Geld ziehen. Drinnen sehe ich zwei Männer. Ich überlege kurz, ob ich lieber draußen Geld abheben soll. Dann gehe ich doch hinein und lerne Jakub und Martin kennen. Beide zusammen haben Haftstrafen von zwanzig Jahren wegen Rauchen von Cannabis in der Öffentlichkeit aufgebrummt bekommen. Sie sind aus Polen geflohen und bauen nun ihren Schlafplatz in der Bank auf. Jakub fragt nach Tabak. Wir drehen uns alle eine Kippe, rauchen und quatschen. Ich erzähle, wo ich gerade herkomme. Wir verstehen uns eigentlich nur mit Händen und Füßen, aber wir lachen. Ich verabschiede mich. Martin macht seinen Rucksack auf. Er holt Brot und Wurst und eine Handvoll Duplos heraus. Er möchte sich für den Tabak bedanken. Er zeigt auf seinen Rucksack. Genug da. Die Jungs haben wenig und teilen trotzdem. Das erlebe ich immer wieder. Ich nehme zwei Duplos und gehe.
35, 5, 15, 25
Als ich mein erstes Buch geschrieben habe, wollte ich meine ganze Lebensgeschichte erzählen. Dazu versuchte ich, so weit zurückzuschauen, wie ich mich erinnern konnte. Viele Tage und Nächte verbrachte ich damit, mir meine frühesten Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen.
5
Da sind drei Ausschnitte, die immer wieder in meinen Kopf kommen, wenn ich darüber nachdenke, was meine früheste Erinnerung ist:
Mein Stiefvater schlägt mich mit einem Gürtel, der eine silberne Adlerschnalle hat.
Meine Mutter versohlt mir den Hintern im Auto auf dem Parkplatz beim Friedhof.
Ich liege im Bett, im Kinderzimmer bei meinen Großeltern. Mein Opa liest mir Gute-Nacht-Geschichten vor.
Wenn mein Opa aus dem Zimmer ging, blieb die Tür immer einen Spalt offen. Ich zog ein gelbes Heft unter meinem Kopfkissen hervor. In meinem Bett hatte ich eine Taschenlampe liegen. Ein paar Stifte hatte ich zwischen Lattenrost und Matratze geklemmt. Ich schnappte mir die Schreibsachen, zog die Bettdecke über meinen Kopf und knipste die Taschenlampe an. Inspiriert von den Märchen, die mein Opa mir vorgelesen hatte, fing ich an, meine eigenen Geschichten aufzuschreiben. Ich kann noch immer die gekritzelten Großdruckbuchstaben vor mir sehen.
15
Ein paar Jahre zuvor noch hatte ich nur Einsen von der Schule mit nach Hause gebracht. Alles, was ich damals wollte, war, meine Mama stolz zu machen. Sie hatte uns schon einmal verlassen, und ich wollte, dass sie nie wieder weggeht. Meine Oma hat mich stets den Glauben daran bewahren lassen, dass ich gut bin. Meiner Mutter wollte ich es beweisen.
Jetzt saß ich in der Hauptschule. Ich hatte viel Kummer zu der Zeit und war oft traurig. Mir wurde vieles egal. Ich blieb oft einfach in meinem Zimmer. Da gab es ein Bett, einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch, einen Kassettenrekorder, einen Nachttisch mit einer Lampe darauf, ein paar Hefte und Blöcke und einige Stifte, die verstreut herumlagen. Ich hatte Musik und das Schreiben. Ich schrieb Seiten voll mit Reimen und Gedichten, brachte meine Gefühle aufs Blatt, weil da so viel Schmerz war, der rausmusste. Ich wollte nichts mehr hören – nicht von meiner Mutter, die mich von einem zum nächsten Kinderpsychiater geschickt hatte, nicht von meinen LehrerInnen, die mich verdächtigten, drogenabhängig zu sein. Sie machten unangekündigt einen Drogentest mit mir und waren unangenehm überrascht, als das Ergebnis negativ war. Am allerwenigsten wollte ich noch irgendetwas von meinem Stiefvater hören, bei dem ich mich alle zwei Wochenenden irgendwie durchquälen musste. Ich versank in der Welt der Wörter.
Die Schule langweilte mich nur noch. Alles belanglos, alles blabla. Statt mich auf den Frontalunterricht zu konzentrieren, schrieb ich Prosa und Poesie unter dem Tisch, den Collegeblock auf meinem Schoß. Mein Kopf war mit den eigenen Wörtern beschäftigt und nicht mit dem Lehrstoff. Ganze Blöcke habe ich in einem Schuljahr vollgeschrieben. Für den Unterricht selbst hatte ich meistens weder eine Mappe noch ein Heft dabei.
Ich war auf einmal immer müde, besonders morgens.
Meine Mutter war oft nicht mehr da, wenn ich zur Schule gehen sollte. Sie war bereits auf ihrer Arbeit. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Ich blieb einfach liegen. Ich war so müde. Manchmal kam ich zur dritten Stunde, häufig auch erst zur fünften. Manchmal nur in den Pausen, um meine Freunde zu sehen. In den Nächten konnte ich oft nicht einschlafen. Dann knipste ich die Nachttischlampe an, suchte ein unbeschriebenes Blatt und füllte eine Seite. Irgendwann, oft schon, wenn die Vögel begonnen hatten zu zwitschern und der Morgen dämmerte, fielen meine Augen zu, die endlich schwerer wurden als mein Kopf.
25
Wer im Dunkeln lebt, weiß, was Licht bedeutet. Es ist Leben.
Draußen war in vielen Nächten das einzige Licht das der Straßenlaterne. Es war funktionell wichtig, um ein Buch oder die Zeitung lesen zu können, um die Nacht rumzukriegen, oder um unter dem Licht der Laterne schreiben zu können. Doch es war noch viel mehr. Es war über Jahre das einzige Licht, das mir ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit geben konnte.
In meiner Zeit draußen war Schreiben wie eine Selbsttherapie, um das, was ich auf der Straße erfahren habe, besser ertragen zu können. Es musste raus aus meinem Kopf, ich schrieb es auf die Zettel vor mir, die auf meinem Schoß lagen. Ich habe versucht, immer Stift und Papier dabei zu haben, eingewickelt in meine Klamotten, verstaut in der Tasche, in der ich mein ganzes Leben getragen habe.
Auf der Straße geht alles verloren. Also schrieb ich oft auf irgendwelchen Unterlagen, um meine Gedanken herauszulassen, auf Schachteln, Kartons, Zeitungspapieren, Bierdeckeln. Ich schrieb auf den Treppenstufen unter der Straßenlaterne, die lange Zeit zu meiner Nachttischlampe wurde, bis meine Hände in eisigen Nächten anfingen zu zittern, sodass meine Schrift wieder so aussah wie damals, als ich als kleiner Junge unter der Bettdecke kaum lesbare Großdruckbuchstaben aufgeschrieben habe. Ich war blass, meine Augen rot. Oft war es schon so früh, dass die Vögel bereits begannen zu zwitschern und der Morgen dämmerte.
Für mich ging es weiter, rastlos.
35
Ich bin in meiner Wohnung.
Ich sitze vor dem MacBook.
Ich tippe im Kerzenschein an meinem Manuskript. Es ist früh, die Vögel haben bereits begonnen zu zwitschern und der Morgen dämmert.
In ein paar Wochen wird im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit mir zu lesen sein. Heute werde ich als Bestsellerautor bezeichnet.
Ich schreibe schon, solange ich denken kann, mit 5 Jahren, mit 15 Jahren, 25 Jahren und heute mit 35 Jahren. Ich war schon immer ein Geschichtenerzähler. Fast 30 Jahre lang habe ich geglaubt, dass mich niemand sieht. Es war, als wäre ich unsichtbar. Auf einmal wurde ich wahrgenommen für das, was ich schon immer war.
Ich bin Schriftsteller.
Einzug
03. April 2016
Da war keine große Vorfreude auf dem Weg zur Wohnungsübergabe. Im Gegenteil, ich habe es eher rausgezögert und bin erst verspätet eingetroffen, schon ungeduldig erwartet. Als Erstes stehe ich da in diesem leeren Raum, nur mit meiner Tasche, in der ich alles verstaut hatte, was ich besaß. Eine kurze Begehung. Ein schneller Blick in alle Zimmer. Ich mag, wie das Licht in den Raum fällt. Es ist mit Sicherheit das größte Zimmer, das ich bisher hatte. Für manche klingen zwanzig Quadratmeter klein. Für mich ist die kleine Einzimmerwohnung unmöglich zu füllen.
Einen Balkon gibt es auch, nach hinten zum Garten raus, in dessen Mitte ein Baum in die Höhe ragt. Nach der Tour mit der Hausverwaltung kriege ich die Schlüssel überreicht. „Glückwunsch zum Einzug.“
Seit langer Zeit halte ich wieder meine eigenen Schlüssel in der Hand. Hier wohne ich jetzt also. Ich schaue mich noch ein bisschen allein um, bleibe aber nicht lange. Am Abend werde ich nicht zurückkommen, auch nicht am nächsten Tag, ebenso wenig wie in der kommenden Woche und der Woche darauf.
Knapp einen Monat nach der Schlüsselübergabe stehe ich wieder vor der weißen Tür mit dem blauen Rahmen. Das Schild des vorherigen Mieters hängt noch daran. Jetzt gehe ich rein. In meine neue Wohnung. Hier ist es ungewohnt. Geschrieben habe ich schon als Kind, aber eine eigene Wohnung hatte ich noch nie.
„Die Straße im Kopf und noch nicht ganz angekommen. Aber ich mache Fortschritte. So gut wie noch nie. Es ist seltsam: Auf der Straße war ich immer in Bewegung, hin und her, aber es hat sich nichts bewegt. Beschäftigt damit, zu überleben. Jetzt gibt es einen Ort, an dem ich bleiben kann, und somit kommen Dinge in Bewegung. Ich stehe nicht mehr vor verschlossenen Türen. Türen sind offen, und ich kann hindurchgehen.“
3 nach 9
Freitag. Die ganze Woche wieder nicht Wäsche gewaschen. Dreckige Klamotten in verschlossenen Taschen. Eine der Sachen, die ich noch immer nicht richtig auf die Reihe kriege. Also gehe ich noch schnell los und kaufe Shirts, Socken und Boxershorts. Mist, Fast Fashion unterstützt, denke ich und reiße die Pakete mit schlechtem Gewissen auf.
Ich schmeiße alles in eine Tasche. Laptop. Kulturbeutel. Los.
Bevor ich zum Bahnhof fahre, springe ich noch schnell beim Friseur rein. Meine Leute sagen schon lange, es wäre mal wieder Zeit. Seit Wochen will ich gehen. Heute mache ich es. Ich werde Gast in der Sendung 3 nach 9 sein.
Park-Hotel Bremen. Ich stehe im Aufzug mit einem Mann, der eine Kamera in der Hand hält und ziemlich tief atmet. „Du pustest aber ganz schön dolle”, sagte ich lachend zu ihm. Er lacht zurück und sagt: „So ist das immer.“ Eine halbe Stunde später treffe ich den Mann in unserem Aufenthaltsraum im Sender wieder. Er begrüßt die Runde und streckt auch mir die Hand entgegen. „Armin Rohde“, stellt er sich vor. Ich habe ihn nicht gekannt. Am nächsten Tag nimmt er mich mit, in seinem Auto fahren wir zurück nach Hamburg. Toller Typ.
Es sind viele Menschen hier. Fernsehen ist eine andere Welt für mich. Ich beobachte erst einmal alles. Einer nach dem anderen trifft ein. Ich sitze Harald Glööckler gegenüber. Seine Ringe blenden mich. Ich glaube, das soll so. Es wird keinen Moment an diesem Abend geben, an dem ich näher an ihn herankommen werde. Das verwundert mich. Auf der Straße muss man eine gewisse Art der Menschenkenntnis erlangen, diese Fähigkeit prägt sich aus. Doch an diese Person komme ich kein Stück heran. Das beeindruckt mich. Ich denke, die Figur Harald Glööckler, die er in der Öffentlichkeit darstellt, spielt er bis zur Perfektion. Dahinter steckt mit Sicherheit ein sehr interessanter Mensch.
Ebenfalls zu Gast an diesem Abend ist ein Milliardär. Einer der reichsten Menschen des Landes, einer der reichsten Menschen auf der ganzen Erde. Neben ihm ist ein Platz frei und weil er so weit weg von meiner Lebensrealität ist, will ich mit ihm sprechen.
„Hallo, Herr Rossmann“, sage ich.
„Dirk! Ich heiße Dirk.“ Die leicht scharfe Korrektur schreckt mich nicht ab, ich habe Fragen, die ich loswerden will.
Wir sind schnell bei ziemlich großen Themen, Arm und Reich natürlich. Es gibt einen Zeitpunkt, an dem er das Gespräch unterbricht und sich von mir wegsetzt. Dennoch führen wir im Laufe des Abends unsere Unterhaltung fort. Bis heute haben wir Kontakt und ich habe Dirk in Hannover besucht.
Judith Rakers sagt mir Hallo. Ich habe mich so sehr darauf gefreut, sie kennenzulernen. Wir reden kurz. Das ist einer dieser irrealen Momente: Die Frau aus der Tagesschau spricht mit mir und ist auch noch total herzlich. Ich bin wirklich nervös. Kurz vor Beginn kommt sie noch einmal zu mir. Sie lacht mich an und sagt, dass ich nicht aufgeregt sein muss und dass sie sich um mich kümmern wird.
Es geht ins Studio. In den zwei Minuten, bevor es losgeht, kreisen nur zwei Gedanken durch meinen Kopf: Bitte lass es mich stolperfrei zu meinem Sitzplatz schaffen. Und hoffentlich strahlen die Scheinwerfer nicht so stark, dass ich anfange zu schwitzen und nachgepudert werden muss. So eine Sendung zu unterbrechen, weil mir Schweißtropfen von der Stirn gewischt werden müssen, ist ein Augenblick, den ich mir ersparen möchte.
Als Nächstes bin ich dran. Ab zum Markierungspunkt. Der schwarze Vorhang. Die Maskenbildnerin tupft noch einmal über mein Gesicht. Die Tontechnik checkt, ob ich richtig verkabelt bin.
Als Letzte eingetroffen ist unsere ehemalige Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Sie kommt erst kurz vor der Sendung und begrüßt mich noch schnell vorab. „Sie sind Herr Blohm?“
„Guten Abend, Frau Klöckner. Nein. Mein Name ist Dominik Bloh.“
Sie fährt fort. „Ach so. Und sie sind in Hamburg geboren?“
„Nein. Ich bin in Neu-Ulm an der Donau geboren.“
Eine andere Frau steht bei ihr, die die Arme hin und her schwingt. Es sieht leicht abwinkend aus. Wer weiß, vielleicht die Medienberaterin, die ein falsches Briefing signalisieren will.
Die zwei oberflächlich falschen Fragen reichen aber auch aus, um zu dem überzuleiten, was mir die Ministerin wohl wirklich noch mit auf den Weg geben will: „Herr Bloh, Sie wissen aber schon, dass in diesem Land niemand obdachlos sein muss. Jeder hat Anspruch auf ein Obdach.“
„Unser nächster Gast, einen großen Applaus für ...“ erklingt es im Studio. Noch bevor ich meinen ersten Schritt getan habe, also, bevor mein Fuß den Boden berührt, habe ich eine Antwort für die Ministerin parat: „Einen Anspruch zu haben ist nutzlos, wenn er nicht geltend gemacht werden kann.“
Jetzt muss ich aber in die Sendung und meinen Platz finden. Erst mal gucken, wo ich bin. Ah, okay. Da ist die Bühne. Hoffentlich finde ich den Weg. Viel Applaus, viele Lichter. Ruhig bleiben. Freu dich. Alles ist gut.
Zum Glück zeigt mir jemand noch einmal, wo ich sitze. Ich habe es stolperfrei zu meinem Platz geschafft. Erst einmal bequem machen. Beim ersten Hochgucken schießen mir Blitze ins Gesicht. „Hierher gucken. Bitte hierhin. Jetzt noch einmal genau in diese Linse.“ Blitzlichtgewitter. So ist das also.
Die Sendung geht los. Die Runde gefällt mir. Ich höre interessanten Menschen zu und mache mir meine Gedanken zu dem Gesagten. Ich schweife gar nicht ab. Nur die Angst, dass mir zu heiß werden könnte, wegen der starken Scheinwerfer, verschwindet nicht ganz. Die Sendung geht schnell vorbei. Es gibt noch einen Ausklang. Man merkt, dass alle entspannter sind, auch die Fernsehprofis. Jetzt wird viel lockerer miteinander geredet. Nach einer Weile verlasse ich den Sender und werde zurück ins Hotel chauffiert.
Später denke ich darüber nach, was die Ministerin gesagt hat. Denkt sie wirklich, in Deutschland müsste kein Mensch obdachlos sein? Sieht sie die Menschen auf den Straßen nicht? In Deutschland sind fast eine halbe Million Menschen wohnungslos. Mindestens 50.000 davon leben auf der Straße.
Das ist die Realität. Und es werden immer mehr Menschen.
Das Thema Wohnen wird eine der größten Herausforderungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Zukunft sein.
Ich bin erschrocken, dass eine Ministerin, die im Bundeskabinett sitzt und eine der wichtigsten Amtsträgerinnen unseres Landes ist, so eine Einstellung hat. Ich liege noch lange wach und kann nicht richtig einschlafen.
Am Morgen treffe ich im Frühstückssaal Dirk und seine Frau wieder. Wir frühstücken zusammen. Armin Rohde kommt gut gelaunt hereinspaziert. Dann fahren wir zusammen nach Altona.
In Hamburg angekommen geht es erstmal zum Geldautomaten. Der Kontostand sieht gut aus. Auszahlbar sind aber nur 20 Euro. Hat wohl wieder ein Gläubiger mein Bankkonto pfänden lassen. Mein Konto ist andauernd gesperrt.
Na gut, dann gibt’s heute nur Suppe. Ich laufe zur Reeperbahn. Die Straßen sind voll. Menschen lächeln mich nett an. Manche sprechen mich an. Ich mache sogar ein Selfie mit jemandem. Für mich gehen auch Türen auf, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.
Wohnkrise
Sie hat gerade die Treppenstufen in unserem Stockwerk gewischt. Ich sagte Hallo. Sie begrüßt mich freundlich und fragt, ob ich neu eingezogen bin. Ich zeige auf meine Wohnung und antworte: „Genau unter Ihnen.“
Ich habe meine Nachbarin bereits ein paar Mal gesehen, aber nur im Vorbeihuschen oder auf Entfernung für ein lächelndes Nicken. Das ist unsere erste Unterhaltung. Sie erzählt, dass sie die älteste Mieterin im Haus ist. Inzwischen sind es schon über 30 Jahre. Sie kenne jeden im Haus und die meisten, die vorher hier gewohnt haben, ob für kurze oder lange Zeit. Sie plaudert einfach gern, und sie liebt Kochen. In den letzten zehn Jahren sind die Menschen ein und ausgegangen, sie sind aus verschiedenen Gründen nicht mehr hier. Aber am Ende vereint alle doch ein wesentlicher Grund: Die Miete steigt immer weiter, viele können sich das nicht mehr leisten.
Der Letzte, der gegangen ist, war der Mann, der vor Ihnen in Ihrer neuen Wohnung gelebt hat. Er war vielleicht Anfang 50. Ein Lagerarbeiter, der jeden Tag hart arbeitete, zwölf Stunden war er manchmal weg. Oft auch für eine Doppelschicht. „Ich bin Frühaufsteherin, aber dieser Mann war immer schon vor mir wach.“
Nach dem zweiten Bandscheibenvorfall ging es nicht mehr für ihn, der Rücken hat nicht mehr gehalten. Trotz seiner Anstrengungen reichte sein Gehalt kaum aus, um die Miete für die kleine Wohnung zu zahlen. „Ich habe auch öfter mal was für ihn gekocht. Der Mann musste sich ja für so einen harten Job stärken. Habe ihn immer nur mit Tiefkühlsachen unterm Arm gesehen. Hat immer seine Pflicht getan. So schlimm, dass das Geld ihn letztlich krank gemacht hat. Er ist dann irgendwann nicht mehr rausgegangen. Er hat Depressionen bekommen. Als die Miete letztes Jahr nochmal erhöht wurde, ist er ausgezogen. Es ist eine Unverschämtheit, wenn ich überlege, was ich vor dreißig Jahren noch für eine Miete gezahlt habe. Ich meine, die Wohnungen sind ja nicht größer geworden. Und moderner? Na ja. Zum Glück bin ich gut abgesichert, aber so viele sind das ja einfach nicht. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen. Wen ich hier alles schon kommen und gehen sehen habe.“
„Ich hoffe niemand von diesen Menschen ist jetzt auf der Straße gelandet“, sage ich. Mietschulden sind nach wie vor der häufigste Grund, warum Menschen wohnungslos werden.
Sie erzählt weiter: „Vor ein paar Jahren kam eine Frau mit ihrem kleinen Kind hierher. Beide herzallerliebst, auch ganz ruhig, aber die Mutter hatte eine schwierige Trennung hinter sich. Er hatte sie schlecht behandelt, den Unterhalt zahlte er auch nicht. Das konnte ich sie durch die Wände schreien hören, wenn sie telefonierte.
Ich sah sie oft im Treppenhaus stehen und weinen. Sie wollte wohl vor dem Kind keine Schwäche zeigen und ist deshalb vor die Wohnungstür gegangen. Ich habe den beiden öfter einen Kuchen gebacken, darüber haben sie sich gefreut. Die Zutaten habe ich bei ihr gekauft. Also, nicht direkt bei ihr, sondern im Supermarkt um die Ecke, dort war sie Kassiererin. Sie hat dort an vier Wochentagen gearbeitet, während das Kind in der Kita war. Ich bin irgendwann immer zu ihrer Schicht einkaufen gegangen. Als die Pandemie kam und das Kind zu Hause bleiben musste, konnte sie erstmal nicht mehr arbeiten. Es gibt viele, die bereits Schlange stehen für so einen Job, auf dich wartet keiner da draußen. Sie wurde schnell ersetzt. Es ist so traurig, sie kam schon mit der Teilzeitstelle kaum aus. Sie und ihr Kind sind jetzt in einem geförderten Frauenhaus.
Oder Herr Müller, der war bereits Rentner und davor der langjährigste Mieter im Wohnhaus. Seine Frau ist schon früh verstorben. Nach einem langen Arbeitsleben in der Fabrik musste er dennoch von einer bescheidenen Rente leben. Die steigenden Lebenshaltungskosten machten ihm zu schaffen. Er hatte sein ganzes Leben in derselben Wohnung gelebt und wollte nicht umziehen. Doch als die Miete wieder erhöht wurde, begann er zu bezweifeln, dass er es sich leisten konnte, dort zu bleiben. Das hat ihm oft Sorgen gemacht, außerdem wollte er in der Nähe vom Friedhof bleiben, wo er doch immer schlechter zu Fuß wurde. Als die Mieten auch die Jahre darauf stiegen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wohnung zu verlassen. Ich habe von einer anderen Nachbarin gehört, er sei kurz darauf in einer Seniorenresidenz verstorben. Ganz alleine war der Mann. Ich habe ihm immer mal eine Suppe vorbeigebracht und ein bisschen geredet.
Ich weiß, wie das ist. Ich komme auch in das Alter, in dem meine Freunde nicht mehr mobil sind oder sterben, so ist das eben. Manchmal ist es schon einsam, dann gucke ich irgendwelche Kochsendungen.
Wissen Sie, ich höre immer wieder einen Satz: Es könnte jeden treffen. Ich halte davon nicht viel. Ich sag ihnen, Christian Lindner sitzt nicht in drei Monaten auf der Straße. Es scheint aber so, als wäre es egal, welches Alter man hat, egal, ob alt oder jung – die Gefahr besteht, seine Miete nicht mehr zahlen zu können. Damit geht es doch los, und das kann wirklich sehr vielen Menschen passieren. Die Menschen verdienen nicht mehr als vor zehn oder zwanzig Jahren, die Löhne stagnieren, die Mieten aber steigen ständig. Es tut mir leid um die ganzen Menschen, die hier ausziehen müssen, weil das Gehalt nicht mehr ausreicht, um die Miete aufzubringen.
Im zweiten Stock hat eine junge Studentin gewohnt, die ich sehr gemocht habe. Sie hatte immer ein Buch in der Hand. Eine sehr kluge junge Frau, mit ihr habe ich keine oberflächlichen Gespräche geführt. Zwei Nebenjobs hat sie gemacht. Für eine Förderung durch BAföG war sie nicht berechtigt. Ihre Eltern verdienen eigentlich nicht so viel, aber sie liegen ein paar Euro über der Einkommensgrenze. Deshalb waren sie auch nicht wirklich in der Lage, sie finanziell zu unterstützen, also ging sie neben dem Studium noch arbeiten. Sie hatte nur ein geringes Budget. Als die Energiepreise und Nebenkosten explodierten, konnte sie nicht mehr zahlen. Ich habe ihr einmal selbstgemachte Marmelade geschenkt, da hat sie gesagt, sie hat früher bei ihren Eltern auch Beeren von den Sträuchern gepflückt, sie würde wohl wieder zu ihren Eltern zurückgehen, weil sie die Wohnung mit den horrenden Nebenkosten nicht mehr bezahlen kann.”
Ganz besonders oft denkt sie noch an den jungen Mann aus Syrien. „Er war ein ganz toller Mensch. Seine Augen haben immer so geleuchtet, dabei muss er so viel Schreckliches erfahren haben. Ich kenne noch die Geschichten von meinen Eltern aus der Kriegszeit. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, aus einem anderen Land vor Krieg und Krisen geflüchtet zu sein und auf einmal in einem Rotklinker in Hamburg zu leben. Ich verstehe nicht, wieso er nicht arbeiten durfte. Er war so motiviert. Er hat mir auch immer geholfen, sei es, meine Einkäufe zu tragen oder den Müll für mich runterzubringen. Dafür habe ich ihm öfter etwas zu essen rübergebracht. Ich muss sagen, das war der einzige Nachbar in all den Jahren, der auch mal bei mir geklingelt hat und mir ein Gericht aus seiner Heimat zubereitet hat. Es war köstlich. Sein Traumberuf war Koch. Doch er durfte weder eine Ausbildung machen noch arbeiten. Er tat es trotzdem, er spülte Geschirr in einer Küche, in der Hoffnung, dass ihm jemand das Kochen beibringt, das beichtete er mir einmal, und dass er Angst habe, erwischt zu werden. Seine Papiere … das habe ich nie ganz verstanden: mal hat man einen Status und Aufenthaltsrecht und Genehmigungen und im nächsten Moment wieder nicht. Mir kam es sehr willkürlich vor, wie mit diesem Menschen umgegangen wurde. Er hat alles gemacht, was verlangt wurde. Das Jobcenter hatte die Miete eine Zeitlang übernommen, dann nicht mehr. Er war verzweifelt und sagte, er würde in der Gastro schon wieder nur Absagen erhalten wegen der Saisonarbeit, und dass jetzt gerade so wenig los wäre, man bräuchte ihn nicht. Er zeigte mir den Brief der Hausverwaltung mit der Wohnungskündigung und den anderen mit der Räumungsklage. Wir haben noch versucht, etwas zu unternehmen. Es war aussichtslos. Es ist doch unfair, dass die Menschen keine richtige Chance bekommen. Ich verstehe das nicht, dieser junge Mensch hat es doch verdient, sich hier ein Leben aufzubauen. Er musste raus. Er ist wieder in einer Notunterkunft.
Nun ja, eins weiß ich genau: So kann es nicht weitergehen. Sonst muss hier irgendwann das ganze Haus ausziehen. Das mit den Mieten ist doch der reine Wahnsinn. Da steht doch der Profit eindeutig über dem Allgemeinwohl. Wohnraum sollte kein Luxusgut sein, sondern für alle zugänglich.
Ich will Sie aber gar nicht länger aufhalten, ich muss auch noch zu Ende wischen. Ich putze einmal in der Woche das gesamte Treppenhaus. Da habe ich auch immer mal wieder einen netten Wortwechsel. Kommen Sie gut in Ihrer Wohnung an.
Ach, warten Sie. Ich habe heute Morgen Bananenbrot gemacht. Ich gebe Ihnen etwas davon. Warten Sie kurz. Ich bin gleich zurück.”
Wohngerechtigkeit
In vielen Augen ist der Verlust des eigenen Wohnraums gleichbedeutend mit persönlichem Scheitern und mangelnder Leistungsfähigkeit. Wohnungslose Menschen sind täglich gefordert im praktischen Überleben – und gleichzeitig müssen sie mit dem Stigma der gescheiterten Existenz zurechtkommen. Deshalb werden die Menschen auf den Straßen aus den Köpfen verdrängt.
Ich finde, dass Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit genauso verdrängt werden, wenn es um das Thema Wohnen geht. Wohnen ist ein Grundbedürfnis und Menschenrecht. Das betrifft uns alle und sollte nicht abgegrenzt behandelt werden.