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Würzburg im Jahr 1425. Zu Besuch bei seinem ehemaligen Lehrer wird Bruder Hilpert mit einer Verbrechensserie konfrontiert, die den Detektiv im Mönchshabit vor schier unlösbare Rätsel stellt. Nicht genug damit, dass die Opfer brutal gefoltert werden, hinterlassen die Täter auch noch ein Brandmal auf deren Stirn: „DIA - Damnatus in Aeternum“, zu Deutsch „Verdammt seist du in alle Ewigkeit“. Eine Spur führt Bruder Hilpert und seinen Gefährten Berengar von Gamburg in die Domschule …
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Seitenzahl: 319
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Uwe Klausner
Die Stunde der Sühne
Bruder Hilperts achter Fall
Mein ist die Rache Würzburg 1425, drei Tage vor Kiliani. Eine brutale Mordserie erschüttert die Stadt und stellt Bruder Hilpert, der zu Besuch bei seinem ehemaligen Lehrer ist, vor ein schier unlösbares Rätsel. Nicht genug damit, dass die Opfer brutal gefoltert werden, hinterlassen die Täter auch noch ein Brandmal auf deren Stirn: „DIA – Damnatus in Aeternum“, zu Deutsch „Verdammt seist du in alle Ewigkeit“. Wer sich hinter dem Kürzel verbirgt, bleibt dem Detektiv im Mönchshabit und seinem Gefährten Berengar von Gamburg zunächst verborgen. Doch dank der Hilfe der Wirtstochter Radegundis beginnt sich der Schleier des Mysteriösen zu lüften. Die Spur führt in die Domschule, wo es eine geheime Bruderschaft gibt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Missbrauch an einem Mitschüler zu rächen – und das auf eigene Faust, ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz …
Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt Uwe Klausner mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter »Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder«, »Prophet der letzten Tage«, »Mensch, Martin!« und erst jüngst »Anonymus«, einen Zweiakter über die Autorenschaft der Shakespeare-Dramen, der 2019 am Martin-Schleyer-Gymnasium in Lauda uraufgeführt wurde.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung/E-Book: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rogier_van_der_Weyden_-_Portrait_of_a_Woman_with_a_Winged_Bonnet_-_Google_Art_ProjectFXD.jpg
ISBN 978-3-8392-7290-9
FÜR ADRIANA, AMALIA, NELIO UND AMIRA
Agnes, Bettlerin
Aleandrius von Ingelheim, Vikarius des Bischofs
Angelus, Domschüler
Baldur Schachtmeister, sein Gefährte
Bartholomäus Fries, Stadtschreiber
Berengar von Gamburg, Vogt des Grafen von Wertheim
Columbanus, Dominikanermönch
Gideon Diepholz, Goldschmiedemeister
Gunthram Schwertfeger, Bettelvogt
Heribert Kammscherer, Bürgermeister
Hilpert von Maulbronn, Bibliothekarius und Kriminalist
Johann II. von Brunn, Fürstbischof von Würzburg (1411- 1440)
Kilian Schneidmüller, genannt Sanctus, Domschüler
Lambert Melzer, Müllkärrner
Leonhard Struck, städtischer Leichenbeschauer
Liudolf, Kesselflicker
Lutz Büttner, Auftragsmörder und Krimineller
Melchior von Greiffenclau, Domkapitular
Michel, Pförtner und Faktotum
Narben-Heiner, ein Auftragsmörder
Pirmin von Ochsenfurt, Hilperts ehemaliger Lehrer
Radegundis, Kilians Freundin
Sieglinde, Heriberts Frau
Veit Rebstöckl, Kammscherers Sozius
Waltraudis Fries, Ehefrau des Stadtschreibers
Von
Bis
1. Stunde
04.00 Uhr
05.20 Uhr
2. Stunde
05.20 Uhr
06.40 Uhr
3. Stunde
06.40 Uhr
08.00 Uhr
4. Stunde
08.00 Uhr
09.20 Uhr
5. Stunde
09.20 Uhr
10.40 Uhr
6. Stunde
10.40 Uhr
12.00 Uhr
7. Stunde
12.00 Uhr
13.20 Uhr
8. Stunde
13.20 Uhr
14.40 Uhr
9. Stunde
14.40 Uhr
16.00 Uhr
10. Stunde
16.00 Uhr
17.20 Uhr
11. Stunde
17.20 Uhr
18.40 Uhr
12. Stunde
18.40 Uhr
20.00 Uhr
Würzburg, am Wochenende vor Kiliani (8. Juli 1425)
Und die Männer wandten sich von dort weg und gingen nach Sodom; Abraham aber blieb noch vor dem HERRN stehen. Und Abraham trat hinzu und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen wegraffen? Vielleicht sind 50 Gerechte innerhalb der Stadt; willst du sie denn wegraffen und dem Ort nicht vergeben um der 50 Gerechten willen, die darin sind? Fern sei es von dir, so etwas zu tun, den Gerechten mit dem Gottlosen zu töten, so dass der Gerechte sei wie der Gottlose; fern sei es von dir! Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben. Und der HERR sprach: Wenn ich in Sodom, innerhalb der Stadt, Gerechte finde, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. (…) Ich will nicht verderben um der 10 willen.
1. Mo 18,22-33
»Ich weiß, viele Menschen glauben uns nicht mehr.
Und ich habe dafür Verständnis.«
(Kardinal Marx im September 2018)
Henkershaus in der Sander Vorstadt, Donnerstag vor Kiliani, eineinhalb Stunden nach Sonnenuntergang
[23.30 Uhr]
»Auge um Auge, so steht es geschrieben«, hechelte er gepresst, zurrte die Lederriemen fest, die sich um die Gelenke des verhassten Malefizbuben schlangen, und trat zurück, um sich an seinem Werk zu ergötzen. Fürs Erste zufrieden, atmete er erleichtert auf, und wie er so dastand, breitete sich tiefe Genugtuung in ihm aus. Die Folterbank würde ihren Zweck erfüllen, von hier unten, aus dem Keller des abgebrannten Scharfrichterhauses, kein Laut in die Gefilde der Lebenden dringen. »Willkommen im Vorhof der Hölle, du wurdest bereits erwartet!«
Doch Obacht: Noch war er nicht am Ziel. Gerade jetzt, wo die Stunde der Vergeltung schlug, kam Akribie an erster Stelle. Der geringste Lapsus, und sein Vorhaben wäre zum Scheitern verdammt. Eine Wendung, an die er jetzt, dem Erfolg zum Greifen nah, lieber nicht dachte. »Wohlan, der Tag des Gerichts ist gekommen. Bringen wir es hinter uns.«
»Sag mal, bist du eigentlich noch ganz bei Trost, was … was fällt dir Scheißkerl eigentlich ein«, würgte der beleibte Delinquent hervor, dessen Fettwülste über die Kante der Streckbank quollen. Ein Anblick, der ihn mit namenlosem Ekel erfüllte. »Weißt du überhaupt, wen du vor dir hast?«
»Aber gewiss doch«, erwiderte er gedehnt, bemüht, den aufkeimenden Groll zu unterdrücken. Dann trat er hinter die Tür, die sich an der Schmalseite des fensterlosen Gewölbekellers befand, horchte nach draußen und höhnte: »Einen Halunken, der seinesgleichen sucht, noch tiefer zu sinken dürfte schwierig sein!«
»Sagt wer?«
»Mein Name tut nichts zur Sache«, gab er mit drohendem Unterton zurück, trat ans Fußende der Streckbank und musterte den Gefangenen näher. Einfach widerlich, wie ihn der Zwei-Zentner-Klumpen taxierte. Von dem Odem, den er verströmte, nicht zu reden. Feistes Gesicht, träge blinzelnde Augen, Karpfenmaul mit vorgeschobener Unterlippe, dazu der platt gedrückte, blau geäderte Riechkolben, an dessen Wurzel zwei erbsengroße Pusteln klebten: Abstoßender ging es wirklich nicht. »Doch ich kann dich beruhigen: Du wirst Gelegenheit haben, mich kennenzulernen.«
»Und was, wenn mich dein Geschwätz nicht interessiert?«
»Ich fürchte, dir bleibt keine Wahl«, versetzte er unterkühlt, zurrte seine Stoffmaske zurecht und tat so, als pralle die Erwiderung an ihm ab. In Wahrheit fiel es ihm schwer, die Fassung zu bewahren, nicht weiter verwunderlich, wenn er sich die Schandtaten der Kanaille ins Gedächtnis rief. Und dann erst die Ausdünstungen, die dem fettstrotzenden Rumpf entströmten, eine Mixtur aus Schweiß, Weindunst und Urin, weitaus ekelhafter als der Kellermief ringsum. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, mit deinem Gewinsel dringst du bei mir nicht durch.«
»Was soll das werden, etwa ein Verhör durch die Heilige Inquisition?«
Kaum vorstellbar, dass der Fettwanst erst 30 Lenze zählte, sah seine Haut doch wie ein vergilbter Pergamentbogen aus. »Und wenn wir gerade dabei sind: Ich bin es, der hier die Fragen stellt, und nicht du.«
»Na, dann viel Glück – und gutes Gelingen!«
»Wenn ich du wäre, ich würde den Mund nicht so voll nehmen«, hielt er auch jetzt, da sich die Galle in seinem Innern dem Siedepunkt näherte, mit seinen Rachegelüsten hinterm Berg, legte die Hand auf die Winde und tat so, als habe er die Bemerkung überhört. »Ich schlage vor, du beantwortest meine Fragen, und zwar ausführlich, wie es sich geziemt.«
»Das wirst du bereuen, so wahr ich …«
»Spar dir die Worte, sie werden dir nichts nützen«, fiel er dem Galgenvogel harsch ins Wort und machte eine herrische Gebärde, die ihre Wirkung auf den Fleischhaufen nicht verfehlte. Fast augenblicklich kehrte wieder Ruhe ein, und wie er den Todgeweihten so musterte, keimte Genugtuung in ihm auf.
Auge um Auge, so stand es geschrieben.
Das Leben der Pestbeule war verwirkt.
Doch zuvor, davon hing das Gelingen seines Vorhabens ab, musste er ihn zum Sprechen bringen, ihm Hoffnungen auf einen profitablen Kuhhandel machen. Denn nur so, indem er ihn mit den eigenen Waffen schlug, würde er es schaffen, die Machenschaften seiner Mitverschworenen ans Tageslicht zu bringen.
Die Rache ist mein, und ich werde Vergeltung üben.
Fünftes Buch Mose, Kapitel 32, Vers 35.
Der Leitspruch für das bevorstehende Unternehmen.
Allein, seine Skrupel ließen ihn auch jetzt nicht los. Du sollst nicht töten, auch das stand geschrieben, und wer war er, dass er sich erdreistete, die Gebote zu übertreten, sich zum Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen?
»Warum so zögerlich«, hallte ihm die Stimme aus dem Halbdunkel entgegen, triefend vor Hohn, gefolgt von einem selbstgewissen Grunzen. »Jetzt komm schon, lass uns vernünftig miteinander reden. Ich bin mir sicher, hier liegt eine Verwechslung vor, anders kann ich mir dein Getue nicht erklären.«
»Du irrst.«
Der Gefangene schien die Replik überhört zu haben. »Wer hat dich geschickt, doch nicht etwa der Prahlhans von einem Hurenbändiger?«
»Wieder falsch. Die Rivalitäten unter deinesgleichen interessieren mich nicht.«
»Und was dann, Hochwohlgeboren?«
Anstatt zu antworten, winkte er seinen Gefährten herbei, auch er mit einer schwarzen Stoffmaske bekleidet, die ihm das Aussehen eines Sendboten aus dem Jenseits verlieh. Am Kopfende der Folterbank angekommen, nahm er einen feuchten Stofflappen zur Hand, breitete ihn über dem Gesicht des Delinquenten aus und sprach: »Gunthram der Bettelvogt, wenn ich mich nicht irre?«
»Und wenn schon, was kümmert es dich, du elende Vogelscheu…«
Weiter als bis hierhin, als sich ein Schwall Wasser über sein Gesicht ergoss, kam der Angesprochene nicht.
»Das zum Thema Verstocktheit«, fuhr er den nach Luft ringenden Halunken an, hob die Hand, um dem maskierten Gefährten Einhalt zu gebieten, und sagte: »Falls dir der Sinn nach einer erneuten Abkühlung steht, lass es uns wissen. Und wenn wir gerade dabei sind, noch ein paar Worte über das Konstrukt zu meiner Rechten. Nur eine halbe Umdrehung der Winde, und du wirst deine Gliedmaßen nicht mehr spüren, eine ganze, und deine Sehnen werden wie Bindfäden entzweigerissen. An den Händen und deinen Füßen, damit auch alles seine Richtigkeit hat. Im Klartext, wenn du nicht auspackst, wirst du als Krüppel enden, wie die Jammergestalten auf der Freitreppe vor dem Dom. Ein Invalide auf einem Rollbrett, angewiesen auf fremde Hilfe, wehrlos wie ein Siecher aus dem Leprosenhaus. Genügt das, oder soll ich weitermachen?«
»Wenn dir danach ist – nur zu.«
»Glaub mir, die Impertinenz, die du an den Tag legst, wird dir vergehen, von nun an bis zum Jüngsten Tag.« Die Hand vor der Brust verschränkt, atmete er hastig durch. Bei dem, was er sich zu tun anschickte, war ihm nicht wohl in seiner Haut, aller Abgeklärtheit nach außen zum Trotz. Es stand ihm nicht zu, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, dessen war er sich vollauf bewusst. Ganz gleich, was der Bettelvogt auf dem Kerbholz hatte. Allein, ihm blieb keine andere Wahl. Um die Schandtaten der Verbrecherbrut ans Tageslicht zu bringen, war er gezwungen, in das Gewand des Finsterlings zu schlüpfen. Wider Willen zwar, doch mit eiserner Entschlossenheit.
Zum Schurken werden, um die Missetäter, die sich hinter der Maske der Sittsamkeit verbargen, für immer hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
»Wohlan, das Prozedere kann beginnen. Erste Frage: Mit wem steckst du unter einer Decke, raus mit der Sprache, aber ein bisschen plötzlich!«
»Ihr … Ihr sprecht in Rätseln«, wimmerte der klitschnasse Vogt, nach Luft ringend wie ein Ertrinkender, von einem Strudel unrettbar in die Tiefe gezogen. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, wenn ich es Euch doch sage. Bei meiner Ehre, das ist die Wahrheit!«
»Ehre!«, ließ er seiner Häme freien Lauf, wartete ab, bis sich der nächste Schwall über dem Vogt ergoss, und ließ den Blick durch das feuchte Gewölbe schweifen, an dessen Wänden unstet blakende Fackeln steckten. Ein Hauch von Moder durchdrang den schummrigen Raum, vermischt mit dem Gestank nach Rattenkot, der aus dem Halbdunkel zum ihm herüberwehte.
Ein Ort so recht zum Fürchten, fuhr es ihm beim Anblick der Gefährten durch den Sinn, die im Halbdunkel wie wandernde Untote erschienen. Kein Wunder, stand die Ruine doch im Ruf, verwunschen zu sein. »Und das aus deinem Mund, hat man dergleichen schon einmal erlebt!«
Die Hand auf der Winde, fügte er hinzu: »Auge um Auge, du willst es anscheinend nicht anders.«
Der Bettelvogt rang verzweifelt nach Luft, nur mehr ein Häuflein Elend, die Krötenzunge senkrecht in die Höhe gestreckt. »Wartet, jetzt fällt es mir wieder ein!«
»Wurde aber auch Zeit. Ich höre?« Wäre es nach ihm gegangen, er hätte dem Lumpen den Garaus gemacht, hätte ihm die Verachtung in die schrundige Fratze geschrien. Allein, Rache zu üben war eine Sache, einen Sumpf auszutrocknen weitaus schwieriger. Hier und heute ging es nicht darum, ein Exempel zu statuieren, so berechtigt das Ansinnen auch erschien. Was zählte, war, die Unholde im Schatten ans Licht zu zerren. Sie für das, was sie getan hatten, zur Verantwortung zu ziehen. Ihnen die Verwerflichkeit ihres Tuns vor Augen zu führen.
Die Biedermänner hatten ausgespielt.
So sich die Zunge ihrer Handlanger lösen würde.
»Was ist, du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt?«
Der Mann auf dem Streckbrett begann zu hecheln. Auf seiner Zunge hatte sich ein dünner Schleimfilm gebildet, übersät mit eitrigen Ekzemen, die wie ein todbringender Gifthauch aus der Kehle drangen. »Auf … Auf keinen Fall, wo denkt Ihr hin«, wimmerte der fettleibige Koloss, in dem eine spürbare Verwandlung vorgegangen war. Kaum imstande, ein Wort hervorzubringen, wurde er von einem unkontrollierten Zucken übermannt, nur mehr ein Schattenbild, das im Widerschein der Fackeln an die Wand geworfen wurde. »Ich … ich werde … ich schwöre es: Ich werde Euch alles sagen, was ich …«
»Du sagtest, es habe einen Mittelsmann gegeben. Wie heißt er?«
»Bartho… Bartholomäus.«
»So heißen viele. Geht’s vielleicht ein bisschen präziser?«
»Fries.«
»Moment mal, du meinst doch nicht etwa den …«
»Dddoch«, nahm ihm der Bettelvogt die Worte aus dem Mund, hechelte wie ein räudiger Köter und starrte ihn mit hervortretenden Augäpfeln an. Es war ein Blick, wie er ihn schon oft erlebt hatte, ein schwaches Aufglimmen, das dem Flackern einer erlöschenden Kerze glich. Der Mann hatte nicht mehr lange zu leben, und wie es aussah, musste er sich sputen. »Den … den … genau den meine ich«, stammelte der Fettwanst vor sich hin, den Blick starr geradeaus gerichtet, auf einen Punkt, der nur in seiner Fantasie existierte. »Nehmt Euch vor dem Kerl in Acht, der würde nicht zögern, seine Mutter abzu…«
Ein halblautes Röcheln, dann war es vorüber.
FREITAG VOR KILIANI
(6. Juli 1425)
Mainbrücke, eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang
[19.30 Uhr]
»Aus dem Weg, Pfaffe – aber ein bisschen plötzlich!« Aus seinen Gedanken gerissen, wich Bruder Hilpert dem heranholpernden Fuhrwerk aus. Der Weinhändler, Urheber der groben Schelte, sah ihm wutschnaubend ins Gesicht, behielt das Schimpfwort, das ihm auf der Zunge lag, jedoch für sich, auf dem Weg zur Kontrollstelle neben dem Torbogen, um den Zoll für die Überquerung der Mainbrücke zu entrichten.
Zum Umfallen müde, seufzte der Bibliothekarius auf. Dass der Ruf der Kleriker zu wünschen übrigließ, damit musste er notgedrungen leben. Ob Dominikaner, Franziskaner oder die Mitbrüder vom Orden der Zisterzienser, wer ein Habit trug, der benötigte ein dickes Fell. In einer Stadt, wo die Klöster besonders zahlreich waren, gehörten die Schmähungen schon fast zum Alltag, so beklemmend das Faktum auch anmutete. Dass die Animositäten, mit denen die Kleriker immer häufiger konfrontiert wurden, jedoch nicht von ungefähr kamen, dessen war er sich vollauf bewusst. Cucullus non facit monachum – das Sprichwort kam gewiss nicht von ungefähr.
Vor dem Torbogen angekommen, wo sich die Wartenden in einem Pulk zusammendrängten, wischte sich Hilpert den Schweiß von der Stirn. Der Tag hatte es wahrhaftig in sich gehabt, und was die mit Blasen übersäten Füße betraf, waren die Spuren der Mühsal nicht zu übersehen. Bereits kurz nach der Prim, am Ende seines Aufenthalts im Kloster Bronnbach, hatte er sich auf den beschwerlichen Weg gemacht. Beschwerlich vor allem deshalb, weil die Hitze beinahe unerträglich wurde, von den Fährnissen einer Reise nicht zu reden.
Gefahren lauerten bekanntlich überall, und was die Schnapphähne betraf, die auf leichte Beute lauerten, stellten Ordensbrüder ein beliebtes Opfer dar. Glück für den Bibliothekarius, dass er an einen umherziehenden Kesselflicker geriet, der danach lechzte, ihm seine Erlebnisse zu schildern. Später am Tag, auf halbem Weg zwischen Taubertal und Main, hatte sich ihnen eine Gruppe von Pilgern angeschlossen, auch sie auf der Reise nach Würzburg, um den Reliquien von Sankt Kilian die Reverenz zu erweisen.
Allein, der Fußmarsch hatte sich in die Länge gezogen. Schattige Wegstrecken waren rar, wohin man auch blickte, nichts als Hitzeflimmern, Staub und Dürre. Kein Lüftchen weit und breit, wohl dem, dem es vergönnt war, mit dem Pferd unterwegs zu sein. Kurz vor dem Verdorren, hatten die Ähren ihre goldgelbe Farbe eingebüßt, und was die Dörfer betraf, die sich in die Mulden der sanft gewellten Hügel duckten, war der Eindruck ein überaus trister gewesen. Von einer Straße, die den Namen verdiente, konnte zudem keine Rede sein. Wenn überhaupt, dann von einer holprigen Piste, zerfurcht von den Spuren der Fuhrwerke, die sich wie Narben in die staubverkrustete Trasse fraßen.
Doch dann, als sich die Sonne dem westlichen Horizont zuneigte, waren in der Ferne die Konturen des Marienberges aufgetaucht, verborgen hinter Hitzeschleiern, die ihm das Aussehen eines flirrenden Trugbildes verliehen. Auf seinem Gipfel thronte das Domizil des Bischofs, der es vorzog, hinter sicheren Mauern zu residieren.
Der Kesselflicker, vierschrötig und verwahrlost, wenngleich redselig gegenüber jedermann, hatte bei ihrem Anblick wütend die Faust erhoben. Und hatte, an die Adresse des Bibliothekarius gewandt, hinzugefügt: »Herzog von Franken und Herrscher von Gottes Gnaden, dass ich nicht lache. Das kann die bigotte Sippschaft sonst wem erzählen. Denen glaubt doch keiner mehr, außer ein paar alten Hutzelweibern!«
»Bei allem Verständnis für Eure Gemütslage, Meister Liudolf, aber findet Ihr nicht, das geht zu weit?«
»Sehe ich so aus?«, hatte der Vollbartträger barsch erwidert. Nur um einen Grunzlaut hervorzustoßen, der seinesgleichen suchte, begleitet von einer obszönen Geste, die Bruder Hilpert geflissentlich ignorierte. »Ich will ja niemandem zu nahe treten, und schon gar nicht Euch oder unseren wonnetrunkenen Begleitern. Aber …«
»Das spricht für Euch«, war Bruder Hilpert dem Kesselflicker ins Wort gefallen, nicht willens, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Umso mehr, da er die Vorbehalte des Weggefährten teilte. Unter den Dienern Gottes, das war ihm mehr denn je bewusst, gab es eben solche und solche. Nicht eben ermutigend, aber nicht zu ändern.
Blieb die Frage, wie lange der Krug noch zum Brunnen gehen würde. Im Volk hatte es merklich zu gären begonnen, und wenn es so weitergehen würde wie bisher, war der Tag der Vergeltung nicht mehr fern. Ein Szenarium, das er sich ausgerechnet jetzt, wo die Strapazen der Reise schier übermächtig geworden waren, lieber nicht vor Augen führen wollte. »Ich schlage vor, wir reden über etwas anderes, der Fußmarsch war anstrengend genug.«
Die Bitte hatte ihre Wirkung verfehlt. Einmal in Fahrt, war der Heißsporn außer Rand und Band geraten, die Augen sprühend vor Hass, der ihm das Aussehen eines tobsüchtigen Kobolds verlieh. »Nichts für ungut, Bruder. Aber nach allem, was man über den hochwohlgeborenen Bischof hört, scheint er es mit den Geboten nicht übermäßig genau zu nehmen. Will heißen, er kümmert sich einen feuchten Kehricht darum.«
»Inwiefern?«
Anstatt zu antworten, spie der Gnom in hohem Bogen aus.
»Sagen wir es mal so: Um mir ein Urteil bilden zu können, kenne ich ihn nicht gut genug. Im Übrigen habe ich genug zu tun, die Arbeit als Bibliothekarius füllt mich aus.«
»Jetzt tut doch nicht so, Bruder«, hatte der Vagant das Ablenkungsmanöver durchschaut, einen prall gefüllten Weinschlauch in der Hand, an dem er sich lautstark gütlich tat. Kaum verwunderlich, dass die Labsal in ein kehliges Rülpsen gemündet war, zum Entsetzen der frommen Schar, die von nun an deutlich auf Abstand ging. Kaum war die nächste Weggabelung erreicht gewesen, als sich ihre Spur in der sonnendurchglühten Hochebene verlor. »Von wegen Abgeschiedenheit hinter Klostermauern, wer’s glaubt, dem ist nicht zu helfen. Ihr Mönche seid über alles auf dem Laufenden, machen wir uns nichts vor. Und was die Kapriolen des Herrn Bischofs betrifft, so was spricht sich rum, sogar bis nach Maulbronn, das wisst Ihr so gut wie ich. Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten, aber wenn ich mir die Zunft der Würdenträger so anschaue, dann überkommt mich die blanke Wut.«
»Ihr wisst ja, Zorn ist kein guter Ratgeber.«
Darauf der Handwerker, ein Schmunzeln im stark geröteten Gesicht: »Es ehrt Euch, wenn Ihr so denkt, aber was diese scheinheiligen Kirmesprediger betrifft, die Sippschaft habe ich gefressen. Und zwar mit Haut und Haaren. Anwesende ausgeschlossen, ist ja klar.«
»Deo gratias, dann besteht ja noch Hoffnung.«
»Findet Ihr?«
Mit der Geduld am Ende, hatte sich der Bibliothekarius in Schweigen gehüllt. Doch je einsilbiger er in der Folge wurde, desto mehr war der Choleriker in Fahrt gekommen. »Schaut Euch doch bloß mal ihre Paläste an«, hatte er ungestüm drauflosgewettert, ohne Rücksicht auf den ermatteten Gefährten, dem das Unbehagen ins ausgezehrte Antlitz geschrieben stand. »Dann wisst Ihr, was die Stunde geschlagen hat. Die da oben auf dem Marienberg, die leben wie die Maden im Speck. Auf der faulen Haut liegen, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und herumhuren, dass es eine Schande ist: Mehr kriegen die Tagediebe doch nicht zustande. Also, wenn das in Ordnung ist, dann fällt mir zu dem Thema nichts mehr ein.«
Wie wahr. Kurz davor, seine Zurückhaltung aufzugeben, hatte Hilpert die Erwiderung hinuntergeschluckt. Knapp eineinhalb Jahrzehnte im Amt, war der Bischof bereits mehrfach ins Gerede gekommen. Und das, wie der Bibliothekarius aus sicherer Quelle wusste, nicht zu jedermanns Nutz und Frommen. Mit anderen Worten, was seinen Ruf als Schürzenjäger betraf, hatte der Landesherr für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Nicht genug damit, hatte er die Gulden nur so zum Fenster hinausgeworfen, der Ebbe in den Geldschatullen zum Trotz. Betrachtete er es doch als selbstverständlich, die Ratsherren nach Belieben zur Kasse zu bitten, zum Ärger der Betroffenen, deren Unmut kurz vor dem Siedepunkt stand.
»Was das betrifft, das kann ich Euch nachfühlen«, hatte Bruder Hilpert mit nachdenklicher Miene erwidert, den Blick auf die nahe Mainbrücke gerichtet, deren Bögen sich über das seichte Flussbett spannten. Die Hitze hatte ein wenig nachgelassen, und als wolle sie ihre Strapazen lindern, strich ein Windhauch über die Häupter der Reisegefährten hinweg.
Der Moment des Abschieds war gekommen. Seit seinem letzten Besuch, während der Suche nach den geraubten Kiliansreliquien, waren mehrere Jahre ins Land gegangen, und Bruder Hilpert freute sich darauf, alte Bekannte aufzusuchen. Das Wiedersehen mit seinem alten Lehrer, dessen Priesterweihe sich zum 50. Mal jährte, hatte die Vorfreude auf den Besuch komplett gemacht. »Aber sagt es nicht weiter, sonst lande ich auf dem Scheiterhaufen.«
»Darüber macht Euch keine Gedanken, Bruder«, hatte der Kesselflicker prompt versichert, ein verschmitztes Lächeln im kantigen Gesicht, dessen Rötung den passionierten Weintrinker verriet. »Solltet Ihr Hilfe benötigen, lasst es mich wissen.« Am Mainufer angekommen, wo sich der Hohlweg in entgegengesetzte Richtungen gabelte, deutete er nach Süden und verkündete: »So, Bruder, das war’s. Hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns bald wieder. In Heidingsfeld wohnt ein Vetter von mir, kommt mich billiger als die Herbergen in der Stadt. Nichts gegen die vielen Pilger, aber im Moment ist mir in Würzburg zu viel los. Wie dem auch sei, Bibliothekarius: Gehabt Euch wohl – und bleibt so, wie Ihr seid!«
*
»Jetzt steht hier nicht rum und haltet Maulaffen feil – ihr Betbrüder seid nicht allein auf der Welt!«
Auf seinen Wanderstab gestützt, fuhr der Bibliothekarius in die Höhe. Mit der Zeit hatte er sich zwar ein dickes Fell zugelegt, aber damit war es leider nicht getan. Speziell heute, am Ende eines anstrengenden Fußmarsches, hätte er es vorgezogen, von Anfeindungen und Anpöbelungen verschont zu bleiben. Vor allem dann, wenn er keinen Anlass dazu bot.
»Mitnichten, und das ist auch gut so«, schluckte Bruder Hilpert die Widerworte, die in ihm aufkeimten, hinunter, zeigte dem Schreihals die kalte Schulter und trat auf das äußere Maintor zu. Die Umstehenden, in der Mehrzahl Pilger aus dem Fränkischen, taten es dem Bibliothekarius gleich. Die Stimmung war merklich aufgeheizt, und wie ein Blick in die staubverkrusteten Gesichter verriet, hatten die Wartenden das Schlangestehen satt. Ein Strohlager für die Nacht, ein Dach über dem Kopf und der eine oder andere Schlummertrunk: Das war ja wohl nicht zu viel verlangt.
Leichter gesagt, als getan. Schon jetzt, das hatte sich in Windeseile herumgesprochen, platzten die Herbergen in der Stadt aus allen Nähten. Glücklich derjenige, dem das Kunststück gelang, einen Schlafplatz zu ergattern, wurden vor Kiliani doch wahre Wucherpreise verlangt. Nicht genug damit, war das Brückengeld gegenüber dem Vorjahr verdoppelt worden, zum Ärger der dichtgedrängten Menge, aus deren Mitte es Flüche und Beschimpfungen hagelte.
Die Stadtknechte focht dies jedoch nicht an, und was den Tonfall ihres vierschrötigen Anführers betraf, war von Gastfreundschaft nicht viel zu spüren. »Der Nächste!«
An der Kontrollstelle angekommen, blieb der Bibliothekarius unschlüssig stehen. »He, du da, bist du taub? Ich rede mit dir!«
Kurz davor, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, schluckte Bruder Hilpert die Erwiderung hinunter, deutete mit dem Zeigefinger auf sein Habit und entgegnete: »Meint Ihr mich?«
»Wen denn sonst, herrje noch mal«, kanzelte der Obrist den hageren Zisterzienser ab, kahl geschoren, rundgesichtig und kurzbeinig, in puncto Köpergewicht jedoch klar im Vorteil. »Jetzt macht schon, Ihr haltet mir ja den ganzen Verkehr auf.«
»Nichts läge mir ferner, Hochwohlge…«
»Spart Euch die Worte – und gebt Antwort«, fiel der Obrist seinem Gegenüber ins Wort, verlagerte das Gewicht auf die Fußspitzen und schnarrte: »Name?«
»Hilpert von Maulbronn.«
»Alter?«
»43.«
»Wie ich sehe, reist Ihr ohne Begleitung?«
Der Bibliothekarius nickte knapp.
»Lasst mich raten: Ihr seid auf Einladung Eurer Ordensbrüder hier.« Der Obrist würgte ein abschätziges Grunzen hervor. »Ich bin mir sicher, im Stadthof wird es Euch gefallen, der Bankettsaal des Bischofs ist nichts dagegen.«
»Irrtum. Es handelt sich um einen Privatbesuch.«
»Aus welchem Grund?«
»Das Priesterjubiläum meines ehemaligen Lehrers.«
»Hat der Griffelspitzer auch einen Namen?«
»Freilich.« Um eine ironische Replik nicht verlegen, rang Bruder Hilpert seinen Unmut nieder, setzte ein Lächeln auf, das einem Possenreißer auf dem Markt zur Ehre gereicht hätte, und vollendete mit spitzer Zunge: »So Euch Bruder Pirmin, Doktor der Theologie und Leiter der Domschule, ein Begriff sein sollte.«
»Nie gehört.«
»Wie schade, von ihm könntet selbst Ihr noch etwas …«
Wie um Hilpert vor drohendem Ungemach zu bewahren, traten die Umstehenden schweigend näher. Stutzig geworden, sah sich der Bibliothekarius um. Auf der Brücke, wo es wegen der Verkaufsstände fast kein Durchkommen gab, hatte sich eine schmale Gasse gebildet, gesäumt von zahllosen Passanten, deren Blicke auf die gegenüberliegende Flussseite gerichtet waren. Fast gleichzeitig ertönte ein Schrei, gefolgt vom Gezeter einer Greisin, die ein zerschlissenes Kleid aus Wollstoff trug. Die Frau, vom Aussehen her jenseits der 60, hatte aschgraues und in Strähnen herabhängendes Haar, stolperte mehr, als dass sie ging, und trug nur noch eine Sandale am Fuß. Wie seine Besitzerin, deren Gesicht vor Schmutzflecken nur so strotzte, hatte der Schuh schon bessere Tage gesehen. Ihr Kleid, wo sich ein Flicken an den nächsten reihte, rundete den Eindruck ab.
Bruder Hilpert kniff verwirrt die Augen zusammen. Zwei Stadtknechte, die sich nicht scheuten, sie mit ihren Holzknüppeln zu traktieren, trieben die Greisin wie bei einer Treibjagd vor sich her, der eine sichtlich bezecht, weswegen er wiederholt ins Schlingern geriet, der andere die Inkarnation eines Raufbolds, dem die Freude an der Marter ins Gesicht geschrieben stand.
Weit davon entfernt, klein beizugeben, wehrte sich die Frau nach Kräften, fluchte, was das Zeug hielt, und wehrte die Hiebe mit den Armen ab. Die Ordnungshüter ließen sich jedoch nicht beirren, packten die Alte an den Schultern und schleiften sie mit sich fort. Am Westende der Brücke angekommen, stießen sie die Bettlerin zu Boden, zum Entsetzen von Bruder Hilpert, der sich den Schlägern entschlossen in den Weg stellte. »Beim Heiligen Bernhard, haltet ein!«, fuhr er die Grobiane an, umringt von einer Handvoll Bewaffneter, die ihn mit wutentbrannter Miene taxierten. »Eine wehrlose alte Frau mit Schlägen zu traktieren, ihr beiden solltet euch was schämen!«
»Darf man fragen, was Euch das angeht, Bruder … Verzeiht, wie war doch gleich Euer Name?«, mischte sich der Obrist mit unverhohlener Häme ein, einen Ochsenziemer in der Hand, den er mit lässigem Gestus durch die Luft wirbeln ließ. »Wisst Ihr, was Vertreter des geistlichen Standes betrifft, lässt mich mein Gedächtnis des Öfteren im Stich.«
»Haltet ein, oder Ihr lernt mich kennen!«
»Findet Ihr nicht, das geht zu weit?« Nur eine Armlänge von Bruder Hilpert entfernt, ließ der Obrist den Ziemer in die behaarte Pranke fallen, blies Bruder Hilpert den weindurchtränkten Atem ins Gesicht und genoss es, ihn vor den Umstehenden lächerlich zu machen. »Ein Wink von mir, und Ihr landet hinter Gittern. Im Angstloch unter dem Grafeneckart ist noch Platz, dort warten sie nur auf Euch.«
»Für den Fall, dass Ihr beabsichtigt, mich einzuschüchtern«, blieb die Antwort von Bruder Hilpert nicht aus, der sich nicht scheute, dem Fettwanst Paroli zu bieten, »ich halte das für keine gute Idee. Bedenkt bitte, Ihr habt es nicht mit einem x-beliebigen Mönch zu tun, falls Ihr versteht, was ich damit zum Ausdruck bringen möchte.«
»Sondern mit wem?«
»Mit einem ehemaligen Inquisitor und Visitator der Kurie, wenn Ihr es genau wissen wollt. Reicht das, oder gelüstet Euch nach mehr?«
Der Anführer spie verächtlich aus. Und fügte mit Blick auf seine Waffengefährten hinzu: »Und was, bitte schön, hat das mit der verlausten alten Vettel zu tun?«
»Eine Menge.«
»Inwiefern?«
»Gegenfrage: Seid Ihr Euch dessen bewusst, dass Euer Verhalten eines Ordnungshüters unwürdig ist?«
Ermuntert durch das Gelächter seiner Kameraden, schnitt der Obrist eine höhnische Grimasse. »Zu Eurer Information, Ihr Schlaumeier: Das Weibsstück ist keine Unbekannte für uns. Will heißen, sie fällt auf wie ein bunter Hund, wo auch immer sie gerade herumstreunt. Auch für Bettlerinnen gibt es nämlich Spielregeln, und das ist auch gut so. Ich weiß ja nicht, wie es in Eurem Kloster zugeht, Bruder, aber was die hiesigen Gepflogenheiten betrifft, ist für Unruhestifter kein Platz. Das bedeutet, Verstöße werden prompt geahndet. Und da wäre noch etwas: Ohne Lizenz darf hier nicht gebettelt werden, ob es dem Zankteufel in den Kram passt oder nicht. Und selbst dann gibt es feste Regeln, aber die gibt es in Eurem Kloster ja auch. Möglicherweise.«
»Die da wären?«
»Wo gebettelt wird, bestimmen wir. Mit anderen Worten, hier kann nicht jeder machen, was er will. Klar, vor dem Dom rumlungern möchten sie alle, dort kommen auch die meisten Leute vorbei. Aber das geht nicht, sonst würde es ein wüstes Durcheinander geben. Kurzum, entweder du greifst nach den Brotkrumen, die dir angeboten werden, oder du bekommst es mit der Stadtwache zu tun. So einfach ist das. Wo kämen wir da auch hin, wenn sich das Pack nach Belieben breitmachen würde. Ordnung muss sein, und wem das nicht passt, der möge sich von hinnen schleichen.« Die Arme vor seinem Lederkoller verschränkt, schnalzte der Obrist genüsslich mit der Zunge, sah sich beifallheischend um und zischte: »Ihr seht, für unser Einschreiten gibt es gute Gründe, ob wir Euren Segen haben oder nicht. Damit das ein für alle Mal klar ist: Hier haben wir das Sagen – und nicht Ihr. So, und nun tretet beiseite – die Pflicht ruft.«
»Die worin besteht?«
»Dem Abschaum zu zeigen, wo es langgeht, was habt Ihr denn gedacht«, rief der Anführer der Torwache aus, gab seinen Gefährten einen Wink, ihm zu assistieren, und ergänzte: »Will heißen, wenn sie sich weigert, die Stadt aus freien Stücken zu verlassen, sehen wir uns gezwungen, ein bisschen nachzuhelfen. Habt Ihr das jetzt endlich kapiert? Gebt den Weg frei, sonst …«
Nach außen hin die Ruhe in Person, ließ Bruder Hilpert den Obristen nicht ausreden, öffnete den Schnürbeutel, den er unter seinem Habit verwahrte, und fischte eine abgegriffene Silbermünze heraus, die er dem Torwächter lächelnd in die Hand drückte. »Fünf Gulden dürften reichen, um eine Konzession zu bekommen, oder was meint Ihr dazu? Und wenn wir gerade dabei sind, was ist denn mit dem hiesigen Bettelvogt? Es läge mir zwar fern, Euch Vorschriften zu machen, aber haltet Ihr es für klug, ihn zu übergehen? Ich meine, was Streitfälle wie den jetzigen betrifft, hat er ja wohl ein Wörtchen mitzureden.«
»Hatte.«
Bruder Hilpert stutzte, fing sich jedoch rasch wieder. »Wie darf ich das verstehen?«
Der Obrist atmete geräuschvoll aus, schob sich bis auf Ellenlänge an Bruder Hilpert heran und knurrte: »Ich weiß zwar nicht, was Euch das angeht, Bruder Honigzunge, aber schenkt man den Gerüchten Glauben, die gerade in Umlauf sind, weilt Meister Gunthram nicht mehr unter uns.«
»Sagt wer?«
Der Obrist ging über die Frage hinweg. »Es heißt, er wurde ermordet.«
»Ermordet?«
»Sagt man.«
»Und von wem?«
»Selbst wenn ich es wüsste«, erwiderte der Obrist gespreizt, ließ die Fünf-Gulden-Münze in die Brusttasche seines Lederkollers gleiten und machte Anstalten, sich der malträtierten Greisin zuzuwenden, »selbst dann wäre ich nicht befugt, einen Kommentar abzugeben, schon gar nicht gegenüber einem Klugscheißer wie Euch. Ich hoffe, das war deutlich genug, Bruder … Verflixt, jetzt habe ich doch glatt wieder Euren Namen vergessen, ja, hat man denn so was schon erlebt!«
»Und was, wenn ich mich beim Stadtrat um eine Konzession bemühe?«
»Konzession oder nicht, das Weibsstück wird der Stadt verwiesen, und zwar auf der Stelle. Und jetzt räumt endlich das Feld – oder Ihr seid als Nächster an der Reihe.«
»Wenn Ihr Euch da mal nicht irrt«, erwiderte Bruder Hilpert barsch, half der am Boden kauernden Greisin auf und warf den Umstehenden einen Blick zu, der nichts Gutes verhieß. »Apropos, wenn wir gerade über meinen Werdegang reden: Im Gegensatz zu etlichen meiner Brüder habe ich das Waffenhandwerk erlernt, bevor ich mich entschloss, dem Zisterzienserorden beizutreten. Solltet Ihr darauf bestehen, dass ich eine Kostprobe meiner Fertigkeiten gebe, an mir soll das Kräftemessen nicht scheitern. So, von meiner Seite aus wäre es das gewesen, oder haben die Herren Ordnungshüter noch Fragen?«
Sankt Burkard, zur gleichen Zeit
[19.30 Uhr]
»Na endlich, wurde aber auch Zeit«, murmelte der Kleriker auf dem Betschemel vor sich hin, zog die Kapuze mit einem Ruck in die Stirn und reckte die fettbepackten Glieder. Der Schemel, für einen Mann mit seiner Körperfülle nicht geeignet, knarzte unter dem enormen Gewicht, und für einen Moment hatte es den Anschein, als verliere der Prälat die Balance. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, ich hatte dir doch ausrichten lassen, es sei dringend!«
»Ich wurde aufgehalten, soll nicht wieder vorkommen«, ließ der Säumige, der sich wie eine Raubkatze durch das Nordportal in die Kirche schlich, den Rüffel kommentarlos an sich abprallen, vergewisserte sich, ob es unerwünschte Zuhörer gab, und schlenderte gemächlich auf den Mittelgang zu. Dort angekommen, hielt er abwartend inne. Erst danach, etliche Atemzüge später, setzte er sich erneut in Bewegung, nahezu lautlos, wie ein Nachtjäger auf der Suche nach Beute. »Du weißt ja, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Da kann schon mal was dazwischenkommen, ein Magistrat ist eben immer im Dienst.«
»So kann man es natürlich auch ausdrücken«, entgegnete der Kleriker verstimmt, fast zur Gänze in einen dunklen Umhang gehüllt, dessen Spangen aus purem Gold gefertigt waren. Anstatt sich zu dem Neuankömmling umzudrehen, blickte er dabei nach vorn, eine Gebetskette in der Hand, an deren Ringfinger ein blutroter Rubin steckte. »Aber warum rege ich mich überhaupt auf, um Ausflüchte warst du ja noch nie verlegen, darin bist du ein Meister.«
»Wenn du willst, kann ich ja wieder gehen. Und merk dir eins: Ich bin nicht dein Lakai, also halte dich gefälligst zurück.«
»Nur zu, da hinten befindet sich die Tür«, erwiderte der Würdenträger brüsk, bekleidet mit einer scharlachroten Robe, deren Spitzkragen ihm fast den Hals abschnürte. Das Triptychon mit den Wundertaten von Sankt Burkard, welches die Mensa aus geädertem Marmor überragte, war ins Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends gehüllt, eine Szenerie wie vor dem Sündenfall, als die Kirche in den Endkampf gegen die Heiden zog. »Du und deine galanten Abenteuer, dazu fällt mir wahrhaftig nichts mehr ein.«
»Das sagt gerade der Richtige«, war der Angesprochene um eine Replik nicht verlegen, gekleidet wie ein junger Geck, wiewohl bereits in mittleren Jahren. An seinem Habitus, der den selbstgefälligen Prahlhans verriet, änderte sich dadurch nichts. »Ohne dir zu nahe treten zu wollen, was deinen Verschleiß an Chorknaben betrifft, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Zuvorkommend ausgedrückt. Aber mach dir keine Sorgen, auf meine Verschwiegenheit ist Verlass.«
»Spar dir die Zoten für deine Hübschlerinnen auf«, fauchte der Prälat zurück, das Gesicht flammend rot, als drohe ihm die schwarze Galle überzulaufen. »Warte nur ab, auch dir wird das Lachen bald vergehen, darauf verwette ich meine Pfründe.«
»Die wahrhaftig nicht von schlechten Eltern ist«, gab der affektierte Schürzenjäger amüsiert zurück, fläzte sich auf die nächstgelegene Bank und zupfte sein Wams aus Brokatstoff zurecht. »Du siehst so leidend aus, irgendetwas nicht in Ordnung mit dir?«
»Wenn ich du wäre, würde ich nicht so große Töne spucken. Du weißt ja, Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Falls du beabsichtigst, mir die Leviten zu lesen: Versuch es gar nicht erst«, kanzelte der Stutzer den zürnenden Prälaten ab, dessen Augen wie Glasmurmeln hin und her irrten, überwölbt von nachgezogenen Brauen, die den Zügen einen femininen Anstrich verliehen. Die markante Falsettstimme, deren Echo in den hintersten Winkel drang, trug das Ihrige zu dem bizarren Anblick bei. »Mir kann keiner etwas anhaben, wie auch.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst.«
Argwöhnisch geworden, gab der Geck seine entspannte Haltung auf. »Ich schlage vor, wir reden nicht weiter um den heißen Brei herum. Und du sagst mir endlich, was Sache ist.«
»Dann mach dich auf einiges gefasst.«
»Du liebst es, die Leute auf die Folter zu spannen, kann das sein?«
Der Prälat schnaubte verächtlich durch die Nase.
»Jetzt rede schon, was ist passiert?«
»Gunthram ist tot.«
Der Stutzer erwiderte das Schnauben. »Na und, was kümmert’s mich? Um den Hundsfott ist es weiß Gott nicht schade, möge er auf ewig in der Hölle schmoren.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
Der Angesprochene griente matt. »So ziemlich. Ein Halunke weniger, was soll’s. Was mich betrifft, ich weine ihm keine Träne nach. Der Strolch hat es nicht anders verdient, das wissen wir ja wohl beide.«
»Wohl gesprochen.«
»Und worin liegt dann das Problem?«
»Darin, dass er meuchlings ermordet wurde.«
»Und wenn schon«, verzog der Lackaffe keine Miene, rückte sein Barett zurecht und sagte: »Wer sich mit zwielichtigem Gesindel umgibt, der darf sich nicht wundern, wenn er zwischen die Fronten gerät. Wie das Sprichwort sagt: ›Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.‹«
Der Prälat ging über die Antwort hinweg. »Respektive zu Tode gefoltert, um genau zu sein.«
»Was sagst du da, zu Tode gefoltert?« Gerade eben noch die Gleichgültigkeit in Person, schnellte der Stutzer abrupt in die Höhe. »Da muss aber jemand ziemlich verärgert gewesen sein.«
»Zu Tode gefoltert und in die Sickergrube vor dem Pleichertor geworfen, wo er heute Morgen von einem Müllkärrner aufgefunden wurde.«
»Und woher weißt du das?«