Die Sucht nach Verbrechen - Christian, Dr. phil. Hardinghaus - E-Book

Die Sucht nach Verbrechen E-Book

Christian, Dr. phil. Hardinghaus

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Beschreibung

Auf der Jagd nach Gerechtigkeit Von den sensationshungrigen Polizei-Gazetten viktorianischer Gassen bis hin zum modernen Podcast-Storytelling: True Crime ist heute Ausdruck morbider Popkultur. In den letzten zehn Jahren boomt das Genre so gewaltig, dass Wissenschaftler von einer Obsession sprechen und die Nachfrage an Geschichten über realen Mord und Totschlag mit der steigenden Kriminalitätsrate in Verbindung bringen. Warum zieht True Crime vor allem das weibliche Publikum an? Kann uns die Auseinandersetzung mit wahren Verbrechen davor schützen, selbst Opfer zu werden? Sind die Grenzen der Geschmacklosigkeit erreicht, wenn Fans über ihre "Lieblings-Serienmörder" sprechen? Aus der Faszination für True Crime erwächst inzwischen ein weiteres Phänomen: das Websleuthing. Internetdetektive machen sich zwischen Bits und Bytes auf die Jagd nach Gerechtigkeit und versuchen über sogenanntes Crowdsolving den Strafverfolgungsbehörden entscheidende Informationen zur Ergreifung eines Täters zu liefern. Erste Studien bilanzieren ein positives Bild, warnen aber auch vor Gefahren wie Falschverdächtigungen und Selbstjustiz. Beides veranschaulicht dieses Buch durch den Rückgriff auf eine Vielzahl von Fallbeispielen. Eine Detailanalyse bietet Hardinghaus anhand von 18 kuriosen Fällen: Mysteriöse Cold Cases, unauffindbare Personen und nicht identifizierte Tote – jeder Fall ist ein Puzzle, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden. "Die Sucht nach Verbrechen" ist ein Pionierwerk, das nicht nur für eingefleischte Fans des Genres, sondern auch für jene, die sich für die Psychologie der Kriminalität und die Auswirkungen der digitalen Welt auf die Strafverfolgung interessieren, unverzichtbar ist.

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EUROPAVERLAG

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1. eBook-Ausgabe 2024

© 2024 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Pexels

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Redaktion: Franz Leipold

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-565-8

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede

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INHALT

KAPITEL 1 TRUE-CRIME-BOOM UND WEBSLEUTH-PHÄNOMEN

KAPITEL 2 DIE PSYCHOLOGIE HINTER DER FASZINATION TRUE CRIME

Angst und Prävention

Infotainment und Voyeurismus

Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssuche

Faszination für das Böse

Lust am Rätseln

KAPITEL 3 EINE MÖRDERISCHE GESCHICHTE

Von der Krimiliteratur zum eigenen Genre

Wahre Verbrechen in Serie: Mordermittlung in TV und Stream

Storytelling und Emotionalisierung: der True-Crime-Podcast

KAPITEL 4 PHÄNOMEN WEBSLEUTHING

Digitale Vigilanten oder Hilfssheriffs?

Werkzeuge und Arbeitswelten der Hobbyermittler

Täter gefasst, Opfer identifiziert: die Erfolge der Websleuths

Dem Falschen auf der Spur: Websleuth-Pannen

KAPITEL 5 TÄTER GESUCHT: COLD CASES

Rasende Wut: die mysteriösen Morde vom Bodom-See

Das verfluchte Schiff: der Hammermord auf der Viking Sally

Schaurige Anrufe aus Paderborn: Wer tötete Frauke Liebs?

Der Fluch der Schildkröte: die mysteriösen Koh Tao Morde

KAPITEL 6 OPFER GESUCHT: SPURLOS VERSCHWUNDEN

Das Polaroid-Mädchen: Wer entführte Tara Calico?

Twin Peaks in den White Mountains: keine Spur von Maura Murray

»Oh Shit!«: Brandon Swanson vom Erdboden verschluckt

Der Fall des hässlichen Thunfischs: kein Ausgang für Brian Shaffer

KAPITEL 7 IDENTITÄT GESUCHT: OPFER OHNE NAMEN

Im Eis verbrannt: das Rätsel um die Isdal-Frau

Die Tote aus Zimmer 2805: Wer ist Jennifer Fergate?

Der Mann mit der lila Plastiktüte: Wer kennt Peter Bergmann?

Australiens größtes Rätsel: der Somerton Man

KAPITEL 8 MYSTERIÖSE TODESFÄLLE: MORD, SELBSTMORD ODER UNFALL?

Berg der Toten: der wirklich unerklärliche Vorfall am Djatlow Pass

Der Junge im Kamin: Wie kam Joshua Maddux durch den Schornstein?

Selbstmord im Paradies? Der unglaubliche Fall der Magdalena Zuk

Ein schlafwandelnder Albtraum: Phoebe Handsjuk im Müllschlucker

NACHWORT

ANHANG

Bücher und Zeitschriften

Serien und Filme

Podcasts

Frauke Liebs: Telefonanrufe

Kommentare und Quellen

KAPITEL 1 TRUE-CRIME-BOOM UND WEBSLEUTH-PHÄNOMEN

»True Crime is crime fact that looks like crime fiction.«

Mark Seltzer

Die Erkenntnis, dass Verbrechen sich nicht lohnen, mag zwar als moralischer Kompass in das kollektive Bewusstsein eingegangen sein und die Grundlage globaler Rechtssysteme bilden, doch paradoxerweise hat sie in der Unterhaltungsbranche eine ganz andere Resonanz gefunden. Die Faszination für echte Kriminalfälle ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt, und ein Anstieg der Kriminalitätsraten korreliert oft mit einem erhöhten Konsum von True-Crime-Inhalten in den Medien. Dieser Trend, der sich in einem stetigen Aufschwung des Genres manifestiert, spiegelt möglicherweise die zunehmende Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft wider. Die Anziehungskraft, die wahre Verbrechen auf Menschen ausüben, ist ein komplexes Phänomen, das sich einer einfachen Erklärung entzieht.

Obwohl es an einer präzisen wissenschaftlichen Definition mangelt, besteht Konsens darüber, True Crime als ein literarisches Genre zu beschreiben: Es befasst sich mit authentischen Kriminalfällen, die in der Vergangenheit von realen Personen verübt worden sind. Im Zentrum dieser non-fiktionalen Erzählungen stehen oft die spektakulärsten, brutalsten oder außergewöhnlichsten Fälle, insbesondere Serienmorde, während Raubüberfälle, Entführungen und Vergewaltigungen, die nicht tödlich enden, seltener thematisiert werden. Natürlich können erzählte Geschichten und inszenierte Bilder aber nie eine tatsächliche Wahrheit abbilden, sondern sind immer dazu gezwungen, zu interpretieren oder aus dramatischen Gründen fiktionale Elemente einzubinden. Daher bezeichnet man True Crime auch als Hybridgenre, in dem einzelne Formate nah an der Realität sein können, andere sich mehr künstlerischer Freiheit bedienen. Zwingendes und gemeinsames Kennzeichen aller genrespezifischen Produktionen sind allerdings wahre Begebenheiten, die hauptsächlich dokumentarisch aufgearbeitet werden sollen, also nicht einfach mediale Nachstellungen der Realität sind. Die Gattung weist eine Nähe zu journalistischen Darstellungen auf, und die Glaubwürdigkeit einzelner Formate bemisst sich an tiefgründiger Recherche und Sorgfalt. True Crime gehört heute medienübergreifend und weltweit zu den beliebtesten Genres, und die Statistiken insbesondere der letzten zehn Jahre zeigen eine kontinuierliche Popularität. Die literarische Definition des auch so bezeichneten »amerikanischen Genres« haben maßgeblich die Literaturwissenschaftler Mark Seltzer und Jean Murly sowie der Radiomoderator und Podcaster Ian Case Punnett geprägt. In den USA ist das Interesse an Geschichten über realen Mord und Totschlag – historisch betrachtet – immer schon am ausgeprägtesten gewesen. Während sich True Crime auf dem US-Buchmarkt als das am schnellsten wachsende Genre des 21. Jahrhunderts etabliert hat, hat sich ab 2014, bedingt durch die zunehmende Nutzung von Podcastformaten und Streamingdiensten, ein regelrechter Boom innerhalb der neuen Medien entwickelt. Mittlerweile ist das Format Podcast das mit Abstand bevorzugte Medium für amerikanische True-Crime-Konsumenten.1 Etwa 24 Prozent aller Top-Produktionen für Apple und Spotify entfallen 2022 laut Umfrage des Pew Research Centers auf Inhalte mit realen Verbrechen und machen diese damit zum häufigsten Thema.2 Auch im Filmbereich kommt kein Streaming-Anbieter noch ohne entsprechende Angebote aus. Im Jahr 2022 geben US-Nutzer insgesamt 738510-mal den Begriff True Crime in die Suchmasken ihrer Bezahldienste ein.3 Fast die Hälfte der Amerikaner gibt an, das Genre zu mögen, ein Drittel, entsprechende Sendungen einmal wöchentlich zu konsumieren, und ein Viertel mehrmals in der Woche. Der Meinungsredakteur der New York Times Spencer Bokat-Lindell hat sich jüngst zu den Gründen des Genre-Booms geäußert:

Seit dem Aufkommen des Buchdrucks haben die Menschen eine morbide Faszination dafür entwickelt, über die Fähigkeit der Menschheit zum Bösen zu lesen. Aber in den letzten zehn Jahren hat sich das wahre Verbrechen – dieses einst relativ nischenhafte Genre der Erzählung, das reale Berichte über Missetaten in erzählerisches Gold verwandelt – zu einem kulturellen Giganten entwickelt: Der Verkauf von Büchern über wahre Verbrechen ist in den Vereinigten Staaten sprunghaft angestiegen. In der Welt der Dokumentarfilme ist True Crime heute sowohl das gefragteste als auch das am schnellsten wachsende Genre. Als ich Ende letzter Woche meine Podcast-App überprüfte, drehten sich vier der fünf meistgehörten Sendungen um Mord.4

Im digitalen Zeitalter produzieren die amerikanischen True-Crime-Macher natürlich längst für den internationalen Markt, der mitwächst und nachzieht. Nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse von 2023 erreichen in Deutschland Podcasts zu wahren Kriminalfällen mit 9,32 Prozent den zweitgrößten Marktanteil, knapp hinter Nachrichteninhalten mit 10,13 Prozent. Vier der zehn reichweitenstärksten Podcasts fallen in den Bereich True Crime.5

Eine überragende Besonderheit des Genres sticht weltweit heraus: Es ist weiblich. In den USA konsumieren 2022 laut YouGov-Umfrage Frauen mit 58 Prozent häufiger True Crime als Männer mit 42 Prozent und geben doppelt so oft an, dies sei ihr Lieblingsgenre.6 In Deutschland scheint das Gefälle noch erheblich größer zu sein. 93 Prozent der True-Crime-Hörer sind nach einer deutschen True-Studie von 2022 Frauen.7 Experten sprechen von einem weiblichen Phänomen, das Medienwissenschaftler und Psychologen gleichermaßen aufhorchen lässt, denn dies steht im Kontrast zu anderen gewaltzentrierten Genres, die allesamt signifikant von männlichen Konsumenten dominiert werden. Auch die Macher der Shows, die international als Hosts bezeichnet werden, sind mehrheitlich feminin: 8 der 15 beliebtesten True-Crime-Podcasts in Deutschland werden von einem weiblichen Duo gehostet, fünf von einem gemischten Doppel und nur zwei von Männern.8 Auch in anderen Formaten überwiegen die weiblichen Konsumenten auffällig deutlich. Die auflagenstärkste True-Crime-Zeitschrift Stern-Crime etwa wird zu 81 Prozent von Frauen gelesen.9 Es ist nicht ganz leicht, Erklärungen für diese Besonderheit zu finden; diskutiert werden aber die allgemein angenommene höhere Empathiefähigkeit von Frauen und ihr ausgeprägteres Interesse an Menschen, Schicksalen und Beziehungen. Dies erklärt auch, warum weibliche Leser in der gesamten Belletristik überrepräsentiert sind, während männliche generell Sachthemen bevorzugen. Nach den bisherigen Ergebnissen einer 2023 erhobenen True-Crime-Studie des Instituts für Psychologie der Universität Graz geben 75 Prozent der befragten Frauen an, das Genre zu mögen, weil sie dadurch verstehen wollen, was Menschen antreibt, grausame Dinge zu tun. Die Forscher, die die psychologischen Auswirkungen des True-Crime-Konsums auch mithilfe von EKG-Messung und MRI-Gehirnscans ergründen, finden aber noch eine andere, den Teilnehmern weniger bewusste Interpretation für die Geschlechterdifferenz. Studienleiterin Corinna Perchtold-Stefan sagt:

Die Furcht davor, Opfer von Gewalt zu werden, ist weltweit bei Frauen deutlich ausgeprägter. Forschungsbefunde zeigen auch, dass Frauen eine grundsätzlich höhere Tendenz zum Aufsuchen von negativen und Krisenrelevanten Informationen haben. Eine Erklärung für den häufigeren True-Crime-Konsum ist demnach der adaptive Nutzen. Frauen wollen an Beispielen wahrer Verbrechen lernen, wie sie sich selbst am besten gegen Gewalt im echten Leben schützen können. Psychologisch spricht man vom Resilienzfaktor der defensiven Vigilanz. Damit ist eine verteidigende Wachsamkeit gemeint, die mit dem Erlernen von Sicherheitsstrategien im Alltag verknüpft ist. Etwas überspitzt könnte man den Nutzen von True Crime als eine Art weibliche Überlebensstrategie verstehen.

Neben dieser Schutzfunktion gibt es eine Reihe weiterer psychologischer Faktoren, die erklären, warum wir uns so oft und gerne mit wahren Verbrechen beschäftigen. In Kapitel 2 sollen sowohl die individuellen Antriebe, die generell zum Konsum von True-Crime-Inhalten führen, als auch die soziologischen Entwicklungen, die das gesellschaftliche Interesse an realen Kriminalfällen fördern, untersucht werden. In Kapitel 3 werfen wir einen genauen Blick auf die geschichtliche Evolution der Gattung True Crime. Dabei werde ich nicht nur auf die Meilensteine und gesellschaftsbedingten Zusammenhänge eingehen, sondern die bedeutenden literarischen Werke, TV-Serien und Podcasts der USA und Deutschlands in den Blick nehmen. Zusätzlich habe ich in Anhang 1 eine Übersicht prägender Werke spezifischer Medienformate aufgelistet. Ich möchte auch auf ethische und moralische Aspekte eingehen und anschließend aufzeigen, dass die Faszination für True Crime maßgeblich das sich neu abzeichnende Phänomen des Websleuthings begünstigt hat – das zweite zentrale Untersuchungsobjekt dieses Buches, dem Kapitel 4 gewidmet ist.

Beschrieben wird mit Websleuth eine Person, die selbstständig oder im Verbund mit Gleichgesinnten alle informationstechnologischen Möglichkeiten des Internets nutzt, um Verbrechen aufzuklären beziehungsweise um Ermittlern Hinweise oder Beweise zu liefern, die zur Lösung eines laufenden Kriminalfalles beitragen oder rechtfertigen, dass ein ungeklärter Fall (Cold Case) neu aufgerollt werden kann. Der Name geht vermutlich auf die 1999 gegründete Online-Detektiv-Community Websleuths zurück, die heute mit über 230000 Mitgliedern eines der größten auf ausschließlich wahre Verbrechens- und Vermisstenfälle spezialisierte Foren stellt.

Eine wissenschaftliche Definition für den im Internet geprägten Begriff gibt es bis heute nicht. Noch schwieriger ist es, einen einheitlichen Namen für das Phänomen zu finden, so sprechen beispielsweise verschiedene Quellen auch von Internet Sleuths oder Online Sleuths. Der Teilbegriff Sleuth (Schnüffler) scheint sich allerdings etabliert zu haben, obwohl englische Medien auch weiterhin klassische Beschreibungen wie Armchair Detectives (Hobbydetektive) benutzen, die an die Figur des Sherlock Holmes angelehnt sind. Einige Organisationen sind bestrebt, die Arbeit der Sleuths zu professionalisieren, und versuchen, neue Begriffe einzuführen. So spricht etwa die True-Crime-Community Uncovered von Citizen Detectives (Bürgerdetektive).

In Deutschland hat sich aus unterschiedlichen Gründen bislang kein passendes Pendant zu Websleuth etabliert. Zum einen ist der Begriff Privatdetektiv noch fest mit kommerziellen, nichtpolizeilichen Ermittlungsdiensten verknüpft. Zum anderen könnte eine wörtliche Übersetzung wie Internetschnüffler missverständlich sein, da sie nicht die positive Konnotation von Verbrechensbekämpfung trägt, die mit dem Websleuthing verbunden ist. Solange hier kein Name gefunden ist, kommen für den deutschen Begriff am ehesten die althergebrachten Bezeichnungen Hobbydetektive oder Hobbyermittler infrage. Allerdings fehlt hier die Anknüpfung an das digitale Zeitalter und die hauptsächliche Arbeitsweise der Websleuths mithilfe des Internets, was wiederum für die Benennungen Internetdetektive oder Online-Detektive spricht. Alle vier genannten Termini werde ich in diesem Buch synonym benutzen, um die Arbeitswelt der Websleuths zu beschreiben.

Websleuths sammeln Presseerzeugnisse und Polizeimeldungen, überwachen soziale Medien und Foren, greifen auf forensische Datenbanken zurück und werten auch Leaks offizieller Strafverfolgungsbehörden aus. Websleuthing hebt sich deutlich ab von der Popkultur des True Crime. Betreibt man es richtig, bedeutet das vor allem eines: viel Arbeit, manchmal Monate und Jahre. Im Vordergrund steht kein Hype, sondern der Wunsch, Opfern zu helfen und Gerechtigkeit herzustellen. Internetdetektive ertragen es nicht, dass in den USA knapp 30000 Morde ungeklärt sind und einfach liegen bleiben. Im Gegensatz zum Genre True Crime, das häufig Täter und Tat ins Zentrum stellt, versuchen Websleuths, den Opfern ein Gesicht zu geben. Eines der größten und auch erfolgreichsten Betätigungsfelder, in der es enge Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden gibt, ist daher die Identifizierung unbekannter Toter. Dabei ist es durchaus Anspruch der Websleuths, sich auf die kleinen, namenlosen Kriminalfälle aus der Nachbarschaft zu stürzen, Opfern, die sich keine Hilfe leisten können, entgegenzukommen oder von offiziellen Behörden im Stich gelassene Angehörige in ihrem Anliegen zu unterstützen, ihre Fälle im öffentlichen Diskurs präsent zu halten. Aber natürlich arbeiten viele Websleuths auch an den »großen Fällen« und träumen davon, einem echten Serienkiller das Handwerk legen zu können.

Ein weiteres Ziel der Online-Detektiv-Gemeinschaft ist es, auf Fehler der Behörden oder Lücken in Ermittlungen hinzuweisen und so eine Kontrollfunktion auszuüben. Außerdem wollen Internetdetektive in der Gesellschaft das Bewusstsein für Kriminalität und den Umgang mit ihr schärfen. Die Abgrenzung des Begriffs Websleuth ist ähnlich schwierig wie die des Journalisten, da sich prinzipiell jeder als solcher bezeichnen kann, der recherchiert und Medieninhalte erstellt. Vergleichbar damit können sich theoretisch alle Menschen, die sich auf irgendeine Weise an der Aufklärung von Verbrechen mittels Internetrecherche beteiligen möchten, als Websleuth ausgeben. Genauso wie bei den Eigenbezeichnungen als Journalist oder Redakteur wirft die eigenständige Betitelung als Websleuth notgedrungen immer wieder Fragen zu Professionalität und Verantwortung entsprechender Kreise auf und bedingt ihre gesellschaftliche Anerkennung.

Im Verlaufe des Buches werde ich versuchen zu zeigen, wie dringend notwendig eine konkrete Namensfindung und Abgrenzung verschiedener Gruppen in Zukunft sein wird. Ersten wissenschaftlichen Ansätzen nach würde man nämlich Personen, die sich in Online-Foren im gesellschaftspolitischen Sinne über Straftaten austauschen oder True-Crime-Fans, die die letzte Folge ihrer Lieblingssendung diskutieren, nicht unter dem Terminus einordnen. Steht jedoch der feste Entschluss im Vordergrund, aktiv an der Lösung des Verbrechens mitzuwirken, wäre der Begriff schon angebrachter. Die Ermittlungsmöglichkeiten des modernen Internetdetektivs sind heute vergleichbar mit denen des professionellen Privatdetektivs. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass Websleuths ihre Arbeit unentgeltlich und ehrenamtlich verrichten und andererseits unabhängig von den zeitlichen Vorgaben und Anforderungen von Klienten agieren können. Wie bei Journalisten, die über ganz unterschiedliche Ausbildungen und Qualifikationen verfügen können, gibt es diese Abstufungen auch bei Hobbyermittlern, die im besten Fall zur Lösung des Verbrechens eigene fachliche, im Besonderen kriminalistische Expertise einbringen können. Der Maßstab für ihre Professionalität ist letztendlich die Umgebung, in der sie arbeiten. Internetdetektive haben beispielsweise auch das Doe-Network ins Leben gerufen. Dieses Freiwilligennetzwerk arbeitet heute eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen, um vermisste Personen mit Profilen nicht identifizierter Personen, die kriminalistisch unter John Doe (männlich) und Jane Doe (weiblich) erfasst werden, miteinander zu verknüpfen.

Der Ansatz aller qualifizierten Internetdetektivgemeinschaften ist es, Verbrechensaufklärung mittels Crowdsolving zu betreiben. Dabei gehen sie davon aus, dass sie durch eine Armee unendlich vieler kluger Köpfe und Experten den Strafverfolgungsbehörden über Schwarmwissen gesammelte Ressourcen zur Verfügung stellen können, die diese selbst nie aufbringen könnten.

Der Fall der im Jahr 2004 in New Hampshire verschwundenen Krankenpflegestudentin Maura Murray zählt zu den frühesten und bekanntesten Mysterien der Plattform Websleuths. Der Vermisstenfall, der sich zugetragen hat, als die Geburtsstunde von Facebook gerade fünf Tage zurückliegt, gilt heute als das erste Krimimysterium der Ära sozialer Netzwerke und bereitet noch immer Internetdetektiven auf der ganzen Welt Kopfzerbrechen. Websleuthing als Phänomen etabliert sich 2013 durch zwei populäre Fälle. Nachdem die kanadische Touristin Elisa Lam am 1. Februar 2013 spurlos aus dem berüchtigten Cecil Hotel in New York verschwindet, stellt die Polizei ein Video der letzten Aufnahmen der Studentin aus dem Fahrstuhl des Hotels ein, rechnet aber wohl nicht im Ansatz mit der Wirkung, den die verstörenden Bilder hervorrufen. Allein auf der chinesischen Video-Sharing-Website Youku wird der Clip in den ersten zehn Tagen drei Millionen Mal aufgerufen und 40000-mal kommentiert. Bis heute ist er mehr als 34 Millionen Mal über Youtube abgerufen worden, und obwohl die Umstände von Elisas Tod inzwischen als geklärt gelten, lassen die Spekulationen kaum nach.

Der zweite Fall macht Websleuthing als kollektives Phänomen vor allem auf der Diskussionsplattform Reddit sichtbar. Wenige Tage nach dem Attentat auf den Boston-Marathon am 15. April 2013, bei dem drei Menschen getötet und 264 verletzt worden sind, entsteht im Reddit-Unterforum »Reddit Bureau of Investigation« (RBI) ein Subreddit mit dem Namen »Find Boston Bombers«. Anhand von Foto- und Videomaterial wollen Internetdetektive die Täter, die ihre mit Sprengsätzen versehenen Rucksäcke in der Hauptstadt des US-Bundesstaates Massachusetts platziert haben, identifizieren und jagen. Das bis zu diesem Anschlag kaum beachtete RBI wächst auf 30000 Mitglieder an. Heute ist das Subreddit r/RBI das sich als verlängerter »Bürgerarm« des FBI versteht, mit 744000 Redditoren das größte Internetdetektiv-Forum weltweit.10 Aktuell beteiligen sich 3254056 Nutzer in Zigtausenden Subreddits der Plattform an Diskussionen über jedes erdenkliche Thema, wobei kein bedeutendes wahres Verbrechen fehlt. Der Fall des Boston-Marathons zeigt erstmals auch deutlich die Gefahren auf, die Websleuthing mit sich bringen kann. Spätestens aber die Suche nach der Reisebloggerin Gabby Petito und die Verfolgung ihres Verlobten Brian Laundrie auf Social Media verdeutlichen die bisher unterschätzte Tragweite des Phänomens. Zum ersten Mal wird ein Verbrechen in Echtzeit verfolgt, wobei Internetdetektive gleichzeitig zur Lösung beitragen und die Strafverfolgung beeinträchtigen.

Die 21-jährige New Yorkerin Gabby verschwindet Ende August 2021 während ihres akribisch unter dem Hashtag Vanlife auf Instagram dokumentierten Roadtrips quer durch die USA. Als Brian allein und ohne den Van zurückkehrt und gegenüber der Polizei zum Verbleib seiner Freundin schweigt, springen Hobbyermittler ein. Sie durchleuchten Gabbys Accounts und erkennen, dass die zuletzt veröffentlichten Posts und Fotos nicht von ihr stammen können. Überzeugt davon, dass Brian in ihr Verschwinden verwickelt ist, durchkämmen sie Wanderkarten des Grand Teton Nationalparks in Wyoming und lokalisieren schließlich den abgestellten Van. In der Nähe entdecken Wanderer am 19. September 2021 die Leiche der 21-Jährigen, die erdrosselt worden war; gleichzeitig befindet sich Brian auf der Flucht. Nachdem die Polizei, die inzwischen wegen Mordverdachts fahndet, am 1. Oktober ein verstörendes Dashcam-Video veröffentlicht, das eine Kontrolle des Paares in Utah dokumentiert, erreicht die Suche nach der Vermissten unter dem Hashtag FindGabby über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt. Das Video zeigt Befragungen der sich in einem Zustand des Nervenzusammenbruchs befindlichen Gabby und ihres abwiegelnden Verlobten. Die Analyse der Websleuths offenbart, dass Gabby Petito geschlagen wurde. Sie untersuchen die Aufnahmen Bild für Bild und decken auf, dass die Polizeibeamten, die später aufgrund einer Fehleinschätzung der Situation suspendiert und von Petitos Familie wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt werden, die dokumentierten Verletzungen und die Lügen ihres Verlobten hätten wahrnehmen müssen. Die Social-Media-Hetzjagd auf Brian ist danach nicht mehr zu bremsen und endet damit, dass sich der 22-Jährige in einem Nationalpark in Florida versteckt. Nachdem er die Tat in einem Notizheft gesteht, richtet er sich selbst per Kopfschuss hin. Zwar können Internetdetektive helfen, den Fall aufzuklären, und auf Fehler in der offiziellen Polizeiarbeit hinweisen, behindern diese jedoch an anderer Stelle so massiv, dass die echten Ermittler Tausenden von Falschanschuldigungen und manipulierten Fährten nachgehen müssen. Der Fall verdeutlicht, dass Online-Detektivarbeit ganz unterschiedlichen Charakter hat und eine Differenzierung zwischen professionalisierten Gemeinschaften wie Websleuths und einer durch True-Crime-Hype und Medienberichterstattung aufgestachelten Social-Media-Meute, die sich in Windeseile über Facebook-Gruppen oder TikTok-Kanäle formieren kann, notwendig ist.

Spezialisierte Internetdetektiv-Foren existieren heute in nahezu sämtlichen Ländern und in allen Sprachen. Die größte Diskussionsplattform für die deutschsprachige True-Crime-Community findet sich auf Allmystery, das als Forum für »grenzwissenschaftliche, mysteriöse, religiöse und gesellschaftspolitische Fälle« schon seit 1987 besteht und heute über 133000 Mitglieder verfügt. Nachdem sich die Diskussionen um wahre Verbrechen ohne einen paranormalen Bezug mehrten, richten die Macher 2010 eine separate Krimirubrik ein, die heute längst das Herzstück und die am stärksten frequentierte Diskussionskategorie ist. Das erste rein auf Verbrechensfälle konzentrierte Forum, das auch bemüht ist, mit polizeilichen Dienststellen zusammenzuarbeiten, ist das 2012 von zwei Privatdetektiven gegründete Hobbyermittler-Team.

Dieses Buch wird die Struktur solcher Foren, ihre Funktionen und Angebote beleuchten sowie nützliche Werkzeuge vorstellen, die in der Welt der Internetdetektivarbeit zur Verfügung stehen. Die internationale Forschung zu Websleuthing hat erst vor wenigen Jahren begonnen, entsprechend überschaubar ist die Studienlage, die in die Disziplinen der Psychologie, Kriminologie und Medienwissenschaft fällt. Eine besondere Erörterung finden die Fragen, ob Websleuthing Gefahr oder Nutzen für die Gesellschaft darstellt beziehungsweise was Internetdetektive antreibt. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen beziehe ich mich auf Erkenntnisse aus wichtigen wissenschaftlichen Studien der letzten Jahre. Es zeichnet sich bereits ab, dass das Interesse an Websleuthing aus der Faszination für True Crime erwächst und ähnliche psychologische Antriebe anspricht. Die Ausprägungen sind jedoch vielfältig: Sie reichen von einer sinnstiftenden Beschäftigung, die einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann, bis hin zu einer intensiven Obsession, die in einigen Fällen sogar in Selbstjustiz münden kann. In Kapitel 4 werde ich anhand von sechs markanten Fallbeispielen sowohl die größten Erfolge als auch die verheerendsten Fehlschläge der Websleuths beleuchten.

Im zweiten Teil des Buches wende ich mich direkt an die Spürnasen und detektivischen Fähigkeiten der Leserschaft. Ich werde insgesamt 18 ungeklärte Fälle präsentieren, die aufgrund ihrer Kuriosität und Komplexität über lange Zeiträume hinweg große Aufmerksamkeit in Websleuth-Kreisen erregt haben. Diese Fälle unterteile ich in die vier beliebtesten Kategorien der Websleuths. Anhand von Fallanalysen werde ich die tatsächlichen Ermittlungsergebnisse mit aufgestellten Online-Theorien vergleichen und darüber versuchen, die Faszination, die von True Crime und Websleuthing ausgeht, erfahrbar zu machen. Zeitlich verortet sind die vorgestellten Fälle von Verbrechen, vermissten oder nicht identifizierten Personen zwischen 1959 und heute. Bei der Auswahl habe ich darauf geachtet, dass es in den letzten Jahren neue Erkenntnisse gegeben hat, dass es sich also wirklich um »laufende Cold Cases« handelt. Für Leserinnen und Leser, die sich erstmalig mit dem Thema beschäftigen, könnten die überwiegend internationalen Fälle unbekannt sein, während sie True-Crime-Enthusiasten vermutlich bereits vertraut sind. Das ist kein Widerspruch, denn die deutsche Presse hat die Fälle kaum oder gar nicht aufgegriffen, wohingegen sie im Podcastbereich neben vielen anderen wahrscheinlich schon zu den Klassikern zählen. In diesem Buch geht es aber nicht darum, Inhalte zu reproduzieren, die bereits in zahlreichen Podcasts behandelt worden sind. Vielmehr lege ich den Fokus darauf, zu analysieren, was bei True-Crime-Fans gefragt ist und wie Websleuths mit den Geschichten verwoben sind.

Um sowohl Neulinge als auch erfahrene Genre-Kenner anzusprechen, habe ich bei der Zusammenstellung der Fälle darauf geachtet, in die Tiefe zu gehen und darin alternative sowie neue Aspekte zu beleuchten, die in der oft knappen Behandlung in Podcasts nicht zur Sprache kommen können. Soweit es möglich gewesen ist, habe ich die entsprechenden Fallakten studiert und bin natürlich in internationalen Foren auf »Theorie-Suche« gegangen. Außerdem habe ich die neuesten Presseartikel, wissenschaftlichen Erkenntnisse und polizeilichen Ermittlungen einbezogen, sodass im Ergebnis ein Update der Ereignisse entstanden ist. In mindestens drei der Fälle werden in diesem Jahr neue Untersuchungsergebnisse erwartet, die das Potenzial haben, die bestehenden Rätsel zu knacken. In insgesamt fünf der hier thematisierten Fälle sind die Opfer Deutsche oder »wahrscheinlich Deutsche«. Sieben Fälle haben sich in den USA zugetragen, jeweils zwei spielen in Finnland, Norwegen und Australien, je einer in Großbritannien, Thailand, Ägypten, Russland und Deutschland. Letzterer zählt zu den prominentesten Mordfällen dieses Landes. Die Entscheidung, den Fall Frauke Liebs trotz seiner breiten Abdeckung in den hiesigen Mainstreammedien aufzunehmen, fiel aufgrund der bemerkenswerten Tatsache, dass er internationale Beachtung in der Websleuth-Community gefunden hat. Bislang ist das für primär deutsche Verbrechen eine Seltenheit.

KAPITEL 2DIE PSYCHOLOGIE HINTER DER FASZINATION TRUE CRIME

»True crime is like a window into the depths of the human psyche. It allows us to explore the complexity of evil and reflect on our own humanity.«

Gillian Flynn

Angst und Prävention

Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich und abwegig, dass ein literarisches Genre Ratgeber-Funktion ausüben könnte. Doch laut einer Umfrage unter True-Crime-Fans geben ein Drittel der Befragten, die selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind, an, dass entsprechende Sendungen ihnen geholfen hätten, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. 63 Prozent hätten sich durch den Konsum von True Crime außerdem dazu entschieden, in ihre häusliche Sicherheit zu investieren, und 25 Prozent, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen.11 Erste wissenschaftliche Studien, die sich mit der Erklärung des Phänomens True Crime beschäftigen, beziehen die Verarbeitung eigener Ängste und Traumata durch Identifikation mit Opfern sowie den Präventionsgedanken in ihre Analysen ein. Aus psychologischer Sicht kann das Interesse an True-Crime-Inhalten teilweise durch das Konzept der »angstbasierten Faszination« erklärt werden. Zuschauer setzen sich bewusst einer Angst aus, die realistisch und greifbar erscheint, um potenzielle Risiken für sich selbst abzuwägen. Dieser reflektierende Prozess kann dazu dienen, ein Gefühl der Kontrolle zu entwickeln, indem Strategien und Verhaltensweisen erlernt werden, die im Falle einer ähnlichen Gefahrensituation angewendet werden könnten. Ein Grund also, warum wir uns Geschichten über wahre Verbrechen ansehen, resultiert aus unserem Überlebensinstinkt heraus.

True-Crime-Formate ermöglichen es, dass Menschen schreckliche Dinge durch entsprechende physiologische Reaktionen wie einen Adrenalinausstoß quasi hautnah miterleben und daraus lernen können, ohne selbst tatsächlich in Gefahr zu sein. Dies ist ein grundlegender Ansatz, der seit vielen Jahren auch in der Verhaltenstherapie bei Phobien und Angststörungen Anwendung findet. Ian Case Punnett vergleicht die Gattung True Crime mit Märchen, da beide Genres geschaffen seien, um Menschen zu zeigen, wie sie sich in Sicherheit bringen können, und veranschaulichen, wen sie meiden sollten.12

Die Gestaltung von True-Crime-Podcasts zielt oft darauf ab, eine interaktive Erfahrung für die Zuhörer zu schaffen. Durch ihren starken Einbezug in die Sendung entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl, das den individuellen Umgang mit den belastenden Themen erleichtern kann. Die Hosts übernehmen dabei eine Rolle, die über das einfache Storytelling hinausgeht. Sie agieren als Begleiter, die die Zuhörer nicht nur durch die Komplexität des Falls führen, sondern durch ihre eigenen gezeigten emotionalen Reaktionen eine direkte Verbindung zum Publikum darstellen. Darüber hinaus bieten viele True-Crime-Podcasts Social-Media-Plattformen für Nachbesprechungen, Anregungen oder Diskussionen an, wo Zuhörer ihre Gedanken und Gefühle mit anderen teilen, ihre eigenen Ängste thematisieren und selbst erlebte Gewalttaten ansprechen können. Diese Erkenntnisse korrelieren mit Studienergebnissen, nach denen Frauen mehr Angst vor Verbrechen zeigen und gleichzeitig beim True-Crime-Konsum überrepräsentiert sind. Natürlich reagieren Produzenten auf die spezifische Nachfrage, sodass der Großteil aller Sendungen Mordfälle thematisiert, in denen Männer Frauen umbringen, obwohl statistisch gesehen weltweit mit 80-prozentigem Anteil männliche Personen deutlich häufiger ermordet werden als weibliche. Allerdings sind Frauen mehrheitlich Opfer von Beziehungstaten und Sexualdelikten. 70 Prozent der von einem Partner getöteten Menschen sind Frauen. 70 Prozent von 1398 Opfern, die zwischen 1985 und 2010 von Serienmördern umgebracht worden sind, sind weiblich.13 Statistiken zeigen auch, dass Frauen sich am meisten zu Fällen hingezogen fühlen, in denen ihnen das Opfer selbst optisch oder charakterlich ähnelt.

Der Anspruch, über True Crime Ängste abzubauen und sich vor Gefahrensituationen zu schützen, kann allerdings auch ins Gegenteil umschlagen, sodass Erzählungen über wahre Verbrechen Ängste regelrecht triggern und überstrapazieren und somit zu einer zwanghaften Beschäftigung mit ihnen führen. Menschen, die obsessiv True Crime konsumieren, sind getrieben davon, abschätzen zu wollen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, selbst Opfer eines bestimmten Verbrechens zu werden. Die übertriebene Sorge kann zu Albträumen, Angstzuständen und Vertrauensverlusten bis hin zu Paranoia führen. Die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2023 zeigt, dass die Kriminalitätsrate in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 18,1 Prozent gestiegen ist.14 Gleichzeitig offenbart die R+V-Studie Die Ängste der Deutschen 2023 einen fünfprozentigen Anstieg der Angst vor Kriminalität.15 Ein Zusammenhang liegt nahe, doch die Medienpsychologin Johanna Börsting weiß auch, dass »Personen, die sehr häufig True-Crime-Formate konsumieren, eine Art Bias oder auch verzerrte Realitätswahrnehmung entwickeln können. Sie glauben dann, dass Straftaten viel häufiger passieren, als es in der Realität der Fall ist.«

Nach einer weiteren Studie, die 2023 an Fans des Genres durchgeführt worden ist, sind 76 Prozent der Meinung, True Crime helfe ihnen, Gefahren zu vermeiden; allerdings gibt fast die gleiche Anzahl mit 72 Prozent darüber hinaus an, durch den Crime-Konsum weniger Vertrauen zu anderen Menschen entwickelt zu haben.16 Neben den schweren Konsequenzen für das Sozialverhalten, das infolge übersteigerter Sorge auftritt, stellen britische Forscher fest, dass die Angst vor Straftaten sogar mit einer verminderten psychischen Gesundheit, einer Verschlechterung der körperlichen Funktionsfähigkeit und einer geringeren Lebensqualität einhergeht.17

Wahre Verbrechen sollen schon allein deshalb eine besondere Rolle in der Medienrezeptionsforschung einnehmen, da einerseits Studien eindeutig belegen, dass die Angst bei medialer Konzeption von realen Gewalttaten etwa in den News der gegenüber fiktionalen Inhalten größer ist.18 Andererseits zeigen Modelle, dass regelmäßige Rezeption von True Crime mit einer reduzierten Angst vor Kriminalität einhergeht.19 Hier mag tatsächlich eine Rolle spielen, dass im Gegensatz zu Nachrichten, die nicht nur das Potenzial haben, Ängste zu schüren, sondern diese sogar durch Sensationsberichterstattung aktiv fördern, der True-Crime-Bereich Lösungsmöglichkeiten anbietet und damit eben präventiv arbeitet. Vor allem, wenn dabei den Ermittlungsbehörden eine vorbildliche Rolle eingeräumt wird und das Vertrauen in das Rechtssystem gestärkt wird.

Doch selbst die Ansicht auf den Täter kann schützenden Charakter haben, wenn offenbar wird, welche Motive ihn dazu angetrieben haben, eine Gewalttat zu begehen, sodass Frauen auf Warnzeichen achten, die sie bei fremden oder eifersüchtigen Ex-Partnern erkennen können. Allerdings steht in diesem Subgenre meist die rekonstruierte Geschichte des Opfers im Zentrum der Erzählung. Zwischen szenischen Blöcken, in denen Schauspieler den Fall nachspielen, erinnern eingefügte Interviews mit Familienangehörigen und Freunden an die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um echte Menschen handelt. Auch den Angehörigen ist daran gelegen, dass der Tod ihrer Liebsten und das damit verbundene Unrecht nicht vergessen werden. Sie mahnen zur Vorsicht, indem sie die Gefahrensituation darstellen, in die sich die Geschädigten begeben haben. Sie haben Stiftungen gegründet, die anderen Opfern helfen und die präventiv tätig werden sollen. Insgesamt kann man schlussfolgern, dass unter dem Aspekt Prävention die menschliche Faszination für wahre Verbrechen gleichbedeutend ist mit der Angst vor solchen.

Infotainment und Voyeurismus

Die menschlichen Bedürfnisse nach Unterhaltung und Information (Infotainment) liefern im Gegensatz zum auf Nutzen ausgerichteten Präventionsgedanken deutlich trivialere Gründe, warum Menschen True Crime konsumieren, aber sie gehören nach Umfragen zu den meistgenannten. Dabei werden Erzählungen über wahre Verbrechen nicht zu den seichten Berieselungsangeboten gezählt, bei denen man nach einem harten Arbeitstag entspannen kann. Das True-Crime-Genre verlangt im Gegenteil erhöhte Aufmerksamkeit, um der Herleitung eines Falls folgen zu können. Möglicherweise gibt es für die Angabe vieler Nachtschwärmer, sie könnten bei der am frühen Morgen in Dauerschleife laufenden 90er-Jahre-Serie »Medial Detectives« sanft dahinschlummern, andere psychologische Gründe. Der Ausschlag dafür könnte sein, dass es sich um ständige Wiederholungen handelt, die Vertrautheit und Gewohnheit vermitteln. Der True-Crime-Bereich weist in puncto Unterhaltung Überschneidungen mit bestimmten anderen Genres auf. So schalten Krimiliebhaber entsprechende Inhalte ein, um in eine spannende Geschichte einzutauchen, Drama-Fans, um auf emotionaler Ebene Empathie mit den Opfern zu empfinden, und Liebhaber von Dokumentationen über Historisches oder Sozialkritisches aus Neugier, Wissensdurst oder ihrem Gerechtigkeitsempfinden heraus.

Besonders ausgeprägt unter dem Entertainment-Aspekt zur Erklärung des True-Crime-Phänomens ist die Angstlust, die auch Thriller- und Horrorfans antreibt. Die kleinere Gruppe der männlichen Fans weist wie in der gesamten Literaturbranche eine deutliche Präferenz für sachbezogene, informative Themen auf, die Wissbegierde wecken. Im Vordergrund des Interesses stehen nicht Opfer oder Verbrecher, sondern kriminalistische Ermittlungen, die zur Aufklärung des Falls und in der Regel zum Ergreifen des Täters geführt haben. Prädestiniert dafür sind abgeschlossene Fälle, die gleichzeitig ein eigenes Subgenre beschreiben. Unterschiedliche Formate beziehen entweder die Gesamtlösung des Kriminalfalles in die Sendung ein oder legen ihren Fokus auf spezielle psychologische, technische oder juristische Aufklärungsmethoden. Zu den beliebtesten Schwerpunkten gehören sicherlich die Arbeit von Gerichtsmedizinern und die forensische Spurenermittlung am Tatort. Hier stehen DNA- und Blutspuranalysen, daktyloskopische oder ballistische Untersuchungen im Zentrum, und die technischen Möglichkeiten dürfen bewundert werden. Daneben sind Verhörtaktiken der Polizei oder die Verfolgung von Tätern mittels öffentlicher Überwachungskameras besonders beliebt. Andere Shows legen ihren Schwerpunkt auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen und den Gerichtsprozess nach Ergreifung des Täters. In diesem Segment hat sich ein Subgenre etabliert, das die Fahnder, die im Rahmen von Interviews den Fall aus ihrer Perspektive schildern, ins Zentrum stellt.

Ein weiterer Aspekt zur Erklärung der True-Crime-Faszination durch Infotainment ist ein sozialer, der sich daraus speist, dass die Genre-Formate mehrheitlich seriell angelegt sind. Dadurch baut sich die Spannung zwischen einzelnen Episoden auf, und der Fall bleibt länger in Gedächtnis und Bewusstsein. Das wiederum regt Menschen dazu an, sich mit anderen über die spektakulären und mysteriösen Begebenheiten auszutauschen und Gesprächsstoff parat zu haben. Den True-Crime-Boom der vergangenen Jahre kann man unter dem Infotainment-Aspekt aus medienwissenschaftlicher und medienwirtschaftlicher Sicht erklären, denn er geht einher mit den Veränderungen in der Medienlandschaft und der Art, wie uns Sachverhalte und Nachrichten im fortgeschrittenen digitalen Zeitalter präsentiert werden. Zum einen sind neue Medienkanäle wie Streamingdienste, Podcasts und YouTube auf eine schon lange bestehende Faszination für wahre Kriminalfälle aufgesprungen, zum anderen haben sie sich in ihrer Art der seriellen und dokudramatischen Präsentation als Medienformate erwiesen, die optimal zum Genre passen. Die steigende Nutzung dieser Kanäle generell trägt unwillkürlich dazu bei, ihre charakteristischen Formate immer weiter zu verbreiten. Soziale Medien spielen eine signifikante Rolle in der Verbreitung und Diskussion von True-Crime-Inhalten. Durch die Vernetzung von Nutzern weltweit bieten Plattformen wie Facebook, Reddit, X (vormals Twitter) und spezialisierte Foren einen Raum, in dem sich Interessierte austauschen, Theorien entwickeln und Informationen zu True-Crime-Fällen teilen können. Nachrichtenkanäle fluten Social Media im Dauerfeuer mit Meldungen und Berichten über Kriege, Katastrophen und Verbrechen, zum einen, weil die Welt tatsächlich gefährlicher geworden ist, zum anderen, weil Medienhäuser wissen, dass Menschen auf genau diese Nachrichten am häufigsten reagieren, diese teilen und diskutieren.

Auch die Art der Unterhaltung hat sich durch soziale Medien verändert, sie ist vor allem hemmungsloser und nahbarer geworden. Influencer etwa breiten ihr Privat- und Intimleben in allen Einzelheiten auf ihren Kanälen aus und bedienen das, was die Erfindung des Reality-TV mit Formaten wie Big Brother Anfang der 2000er-Jahre vorgelegt hat: den Voyeurismus. Auch True Crime bedient die Lust, in der Privatsphäre anderer, realer und vor allem gewöhnlicher Menschen zu schnüffeln. Ein wirklichkeitsgetreuer Tatort zeigt nicht nur die schreckliche Tat, sondern lässt uns auch einen Blick in das Schlafzimmer und in intimste Gepflogenheiten der Opfer werfen. Einher geht damit die Genugtuung, dass man selbst keinen Schaden genommen hat und das eigene Leben nicht auf dem Bildschirm ausgebreitet wird. Es ist das »Leben der Anderen«, was uns neugierig macht, und die Lust daran, Tabubrüche miterleben zu können, die man selbst nicht einzugehen wagt. Interessanterweise nehmen Menschen auf diese Weise auch die Perspektive eines Täters ein, der stellvertretend für sie töten kann. Belauscht man Personen, die einen True-Crime-Fall verfolgen, kann man dabei oft emotionale und fragende Ausrufe wahrnehmen: »Wie kann sie das machen?«, »Warum lässt sie sich auf den Täter ein?«, »Wie kann sie nur so blind in ein fremdes Auto einsteigen?« Da hier die Gefahr der Viktimisierung lauert oder Schadenfreude entstehen kann, sollte man bei der Untersuchung der Faszination von True Crime vor allem diskutieren, ob die Zurschaustellung ethisch vertretbar ist, und die Frage im Blick behalten, wann die Schwelle durch das mögliche Ergötzen am realen Leid anderer erreicht ist.

Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssuche

Verbrechen stören das kollektive soziale Gefüge. Die Aufklärung von Straftaten und die Bestrafung des Täters können symbolisch wirken, das Gefühl vermitteln, die Ordnung sei wiederhergestellt, sowie das Vertrauen in das Rechtssystem stärken oder bestätigen. Gerade der persönliche Austausch über wahre Verbrechen kann der Rückversicherung eigener Werte dienen, philosophische Fragen von Schuld und Sühne aufwerfen oder Debatten zum Umgang mit Straftätern in einer Gesellschaft anregen. Je nach Perspektive, aus der ein True-Crime-Format erzählt, können dabei Rufe nach Verschärfungen des Strafrechts laut werden oder auf der anderen Seite nach mehr Kontrolle gegen behördliche Willkür, Polizeigewalt und Fehlurteile. So können auch das Bedürfnis nach sozialer Verantwortung entfacht oder gefestigt und das Bewusstsein für tiefgreifende gesellschaftliche Probleme, die mit Verbrechensstatistiken korrelieren, geschärft werden. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist ein tief verwurzeltes Bedürfnis, das sich in Kulturen und Rechtssystemen weltweit widerspiegelt. Es geht darum, sicherzustellen, dass der tatsächliche Täter eines Verbrechens identifiziert, zur Verantwortung gezogen und für ihn das richtige Strafmaß gewählt wird sowie auf der anderen Seite Opfern Wiedergutmachung zuteilwerden kann. Für stark gerechtigkeitsliebende Konsumenten wurde in der True-Crime-Sparte das Subgenre der Gerichtsdokus eingeführt. Die wahre Spannung entsteht hier erst nach der Ergreifung des Täters und mit Beginn des Prozesses, an dem der Zuschauer teilhat und selbst den Ausgang nicht kennt. Johanna Börsting sagt: »True-Crime-Formate erlauben oftmals tiefere Einblicke in juristische Prozesse und die Polizeiarbeit. Damit kann gleichzeitig das Verlangen nach Unterhaltung und Eskapismus gestillt und etwas über das Rechtssystem in Deutschland gelernt werden. In der Bevölkerung gibt es ein generelles Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Authentizität, das die Nachfrage nach True Crime bedient.« Gerade bei Fehlentscheidungen könnten Konsumenten ihre eigenen Moralvorstellungen und das eigene Gerechtigkeitsgefühl herausfordern, prüfen oder bestätigen. »Das kann auf Meta-Ebene zu einem positiven Gefühl führen.«

True-Crime-Erzählungen bedienen die klassischen Paradigmen, in denen auf der einen Seite Helden und auf der anderen Schurken stehen. Wir erlernen und ersehnen uns den Kampf gegen Unrecht spielerisch von klein auf. Der Gerechtigkeitssinn in eng gekoppelt mit der Suche nach Wahrheit – und das ist genau der Spannungsbogen, den jede True-Crime-Geschichte bietet.

Faszination für das Böse

Ein weiterer großer Reiz, den das True-Crime-Genre zu befriedigen scheint, ist die Faszination für das Böse und Unheimliche generell, in der Fachsprache als »morbide Neugier« beschrieben. Dass auch dieses tief im Menschen verborgen sein muss, erkennt jeder, der Kinder großzieht. Sie verstecken sich in dunklen Höhlen, verkleiden sich als Ungeheuer oder laden einander zu gegenseitigen Nachtbesuchen ein, um sich Gruselgeschichten zu erzählen. In gewisser Weise ist der Killer im True-Crime-Podcast für Erwachsene das Monster im Schrank der Kinder. Einerseits erschrecken sie uns zu Tode, andererseits wollen wir unbedingt wissen, wer da wirklich im Verborgenen kauert und lauert. Der Adrenalinstoß, den wir empfinden, wenn wir uns einer Angst aussetzen, ist gekoppelt an den folgenden Endorphinausstoß, der uns in einen euphorischen Rauschzustand versetzt oder anhält, sobald die Angst überwunden ist. Diese Erfahrungen machen Extremsportler und Achterbahnfahrer genauso wie Zuschauer eines Horrorfilms. Durch den Effekt der Gewöhnung allerdings zeigt sich, dass langfristig das Gefühl nur aufrechterhalten oder gesteigert werden kann, wenn die nächste Erfahrung extremer wird. Die Gefahr einer Sucht nach Angsterfahrung ist demnach real und lässt sich mit dem medizinischen Terminus Eustress – der Form des positiven Stresses – erklären.

Die Faszination für das Böse ist im True-Crime-Genre identisch mit der für den Täter. Ausgehend von der Frage, was diesen zu seinem Verbrechen getrieben hat und warum er in der Lage gewesen ist, etwas so Bestialisches zu tun, beschäftigen wir uns in True-Crime-Erzählungen mit der Psyche eines Mörders, erfahren dabei oft, dass ihm selbst zum Beispiel als Kind schweres Unrecht angetan worden ist. Einige Menschen setzen sich so intensiv mit dem Leben des Täters auseinander, bis sie irgendwann das Gefühl erreicht, diesen zu kennen und seine Motivation verstehen zu können.

Corinna Perchtold-Stefan nennt diese Beobachtung ein »Entmonstern von dem Bösen in der Welt«. Dabei gehe es aber in der Regel nicht darum, die Taten zu entschuldigen oder mit den Verantwortlichen zu sympathisieren, sondern die eigene Unsicherheit und Ungewissheit zur Natur des Bösen zu verringern. »Nichts ist belastender als der Gedanke des gesichtslosen, unkontrollierbaren, jederzeit zuschlagenden Bösen in der Welt – aber je mehr Informationen zu einem True-Crime-Fall eingeholt werden können, je mehr menschliche Details klar werden, desto stärker steigt das eigene Kontrollgefühl über etwas gefühlt sehr Unkontrollierbares.«