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«Spannend bis zum bitteren Ende.» (Stern) Cora Bender verbringt mit Mann und Sohn einen Sommernachmittag am See. Auf den ersten Blick eine ganz normale Familie. Doch etwas unterscheidet Cora von den anderen jungen Müttern: Sie wird heute nicht nach Hause zurückkehren – sie hat sich entschlossen zu sterben. Als es Abend wird, lebt Cora noch und muss sich wegen Mordes verantworten. Alle stehen vor einem Rätsel. Was hat diese stille, liebenswürdige junge Mutter veranlasst, mit einem Messer blindwütig auf einen Fremden einzustechen? Für die Polizei ist die Beweislage klar. Nur Hauptkommissar Rudolf Grovian sucht nach einem Motiv und deckt einen Alptraum auf. «Meisterlich genau zeichnet Hammesfahr in ihrem beklemmenden, intelligenten Roman die Gedanken einer jungen Frau am Rande des Wahnsinns nach.» (Der Spiegel)
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Petra Hammesfahr
Die Sünderin
Roman
Es war ein heißer Tag Anfang Juli, als Cora Bender sich entschloss zu sterben. In der Nacht hatte Gereon mit ihr geschlafen. Er schlief regelmäßig am Freitag- und am Samstagabend mit ihr. Sie schaffte es nicht, ihn abzuweisen, wusste zu gut, wie sehr er das brauchte. Und sie liebte Gereon. Es war mehr als Liebe. Es war Dankbarkeit, bedingungslose Ergebenheit, es war etwas Absolutes.
Gereon hatte ihr ermöglicht zu sein, was alle waren – eine normale junge Frau. Deshalb wollte sie, dass er glücklich und zufrieden war. Früher hatte sie es genossen, wenn er zärtlich wurde, seit einem halben Jahr war das vorbei.
Ausgerechnet am Heiligabend war Gereon auf die Idee verfallen, ein Radio ins Schlafzimmer zu stellen. Es sollte eine besonders schöne Nacht werden. Sie waren an dem Heiligabend seit zweieinhalb Jahren verheiratet und seit achtzehn Monaten Eltern eines Sohnes.
Gereon war siebenundzwanzig, Cora Bender vierundzwanzig Jahre alt. Gereon war knapp eins achtzig groß und schlank, er wirkte sportlich und durchtrainiert, obwohl er keinen Sport betrieb, dazu fehlte ihm die Zeit. Sein Haar war von Geburt an weißblond und nur leicht nachgedunkelt. Sein Gesicht war nicht hübsch und nicht hässlich, es war ein Durchschnittsgesicht, wie Gereon Bender insgesamt ein Durchschnittsmensch war.
Auch an Cora Bender gab es rein äußerlich keine Auffälligkeiten, wenn man von einer Narbe an der Stirn und vernarbten Armbeugen absah. Die Kerbe im Kopf sei die Folge eines Unfalls, die knotig vernarbten Armbeugen entstammten einer bösen Entzündung, hervorgerufen durch Injektionsnadeln bei der Behandlung im Krankenhaus, so hatte sie es Gereon erklärt. Sie hatte auch gesagt, dass sie sich an Einzelheiten nicht erinnere. Letzteres war die Wahrheit. Der Arzt hatte damals gesagt, es komme bei schweren Kopfverletzungen häufig zu Gedächtnisausfällen.
Es gab ein Loch in ihrem Leben. Darin verbarg sich ein schmutziges, dunkles Kapitel, das wusste sie, obwohl die eigene Erinnerung daran fehlte. Vor einigen Jahren war sie in unzähligen Nächten immer wieder hineingefallen. Das letzte Mal lag vier Jahre zurück. Zu der Zeit hatte sie Gereon noch nicht gekannt. Und irgendwie hatte sie es damals geschafft, das Loch zu schließen. Dass sie erneut hineinstürzen könnte, damit hatte sie nicht mehr gerechnet, seit sie mit Gereon verheiratet war. Und dann geschah es – ausgerechnet am Heiligabend.
Zuerst war alles in Ordnung, leise Weihnachtsmusik und Gereons Zärtlichkeit, die allmählich drängender und intensiver wurde. Dann rutschte er langsam an ihr hinunter, da wurde es unangenehm. Und als er mit dem Gesicht zwischen ihre Beine tauchte und sie seine Zunge spüren ließ, wurde die Musik laut. Sie hörte den raschen Wirbel eines Schlagzeugs, eine Bassgitarre und die hohen, schrillen Töne einer Orgel – nur für den Bruchteil einer Sekunde, im nächsten Moment war es schon wieder vorbei. Doch dieser kurze Augenblick reichte.
Etwas in ihr brach zusammen – oder auf, wie ein gut verschlossener Tresor, den jemand mit einem Schweißbrenner bearbeitet. Es war ein irreales Gefühl. Als ob sie nicht mehr im eigenen Bett läge. Sie spürte einen harten Untergrund im Rücken und etwas im Mund, als drücke ein besonders dicker Daumen ihr die Zunge nach unten und verursache einen fürchterlichen Würgreiz.
Das Aufbäumen war nur ein Reflex. Sie schlang die Knie um Gereons Nacken und presste die Oberschenkel zu beiden Seiten an seinen Hals. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihm das Genick gebrochen oder ihn erwürgt. Sie bemerkte es nicht einmal, so weit weg war sie in diesem Moment. Erst als Gereon sie keuchend und röchelnd in die Seite kniff und seine Fingernägel tief in das weiche Fleisch ihrer Taille grub, holte der Schmerz sie zurück.
Gereon japste nach Luft. «Bist du bescheuert? Was fällt dir ein?» Er rieb sich das Genick, hustete, betastete seine Kehle und starrte sie kopfschüttelnd an.
Er verstand ihre Reaktion nicht. Auch sie wusste nicht, was da plötzlich so widerlich und abstoßend gewesen war. So grauenhaft, dass sie für eine Sekunde geglaubt hatte, die Zunge des Todes zu fühlen.
«Ich mag das eben nicht», sagte sie und fragte sich, was sie gehört hatte. Die Musik lief noch, sie war leise und weich. Ein Kinderchor sang: «Stille Nacht, heilige Nacht. Gottes Sohn, oh, wie lacht Lieb’ aus deinem göttlichen Mund.» Was sonst an so einem Abend?
Der unverhoffte Angriff hatte Gereon die Lust genommen. Er schaltete das Radio aus, löschte das Licht und zog sich die Decke über die Schulter. Gute Nacht wünschte er ihr nicht, brummte nur: «Dann eben nicht!»
Er schlief rasch ein. Sie hätte später nicht sagen können, ob sie ebenfalls eingeschlafen war. Irgendwann saß sie aufrecht im Bett, schlug mit den Fäusten um sich und schrie: «Aufhören! Loslassen! Lasst mich los! Hört auf, ihr Schweine!» Und dabei zuckten ihr die wüsten Wirbel des Schlagzeugs, die Bassgitarre und schrillen Orgelklänge durch den Kopf.
Gereon erwachte, griff nach ihren Händen, schüttelte sie und schrie ebenfalls. «Cora! Hör auf! Was soll denn der Scheiß?» Sie konnte nicht aufhören und nicht aufwachen. Sie saß in der Dunkelheit und kämpfte verzweifelt gegen etwas, das langsam auf sie zukam, etwas, von dem sie nur wusste, dass es sie um den Verstand brachte.
Erst als Gereon ihr mehrere leichte Schläge gegen die Wangen versetzte, fand sie zu sich. Er wollte wissen, was los sei mit ihr. Ob er ihr irgendwas getan habe. Ihr Kopf war noch nicht klar genug, um ihm auf der Stelle zu antworten. Sie starrte ihn nur an. Nach ein paar Sekunden legte er sich zurück. Sie folgte seinem Beispiel, drehte sich auf die Seite und versuchte sich einzureden, es sei nur ein gewöhnlicher Albtraum gewesen.
Aber in der darauf folgenden Nacht, als Gereon das Versäumte nachholen wollte, geschah es wieder, obwohl diesmal kein Radio im Schlafzimmer stand und er auch keine Anstalten machte, das mit ihr zu tun, was er als höchsten Ausdruck von Liebe empfand. Zuerst kam die Musik, etwas lauter und etwas länger, lange genug, um zu erkennen, dass sie dieses Lied noch nie gehört hatte. Dann fiel sie in das schwarze Loch, aus dem sie schreiend und um sich schlagend hochfuhr. Nicht erwachte – das gelang ihr erst, als Gereon sie schüttelte, gegen ihre Wangen schlug und ihren Namen rief.
In der ersten Januarwoche passierte es zweimal, in der zweiten einmal, da war Gereon am Freitag zu müde. Jedenfalls behauptete er, müde zu sein. Aber am Samstag sagte er: «Allmählich habe ich das Theater satt.» Vielleicht war das auch am Freitag schon der Grund gewesen.
Im März bestand Gereon darauf, dass sie zu einem Arzt ging. «Das ist nicht normal, das musst du zugeben. Da muss man doch endlich was unternehmen. Oder soll das jetzt immer so weitergehen? Dann schlaf ich aber auf der Couch.»
Sie ging nicht zu einem Arzt. Ein Arzt hätte garantiert gefragt, ob sie eine Erklärung für diesen merkwürdigen Albtraum wisse oder zumindest dafür, warum es immer nur dann geschah, wenn Gereon mit ihr geschlafen hatte. Ein Arzt hätte wahrscheinlich begonnen, in dem Loch zu stochern, hätte ihr eingeredet, man müsse sich die Dinge bewusst machen. Ein Arzt hätte nicht verstanden, dass es Dinge gab, die zu grausam waren, um sie sich bewusst zu machen. Sie versuchte es mit einer Apotheke. Man empfahl ihr ein leichtes Schlafmittel. Damit erreichte sie immerhin, dass das Schreien und Um-sich-Schlagen ausblieb und Gereon annahm, es sei nun alles wieder in Ordnung. Das war es nicht.
Es wurde mit jedem Wochenende schlimmer. Schon im Mai war die Angst vor dem Freitagabend wie ein Tier, das sie langsam von innen zerfleischte. Der Freitagnachmittag Anfang Juli war die Hölle.
Sie saß im Büro, das nicht mehr war als ein vom übrigen Lagerraum abgeteilter Winkel. Über dem Schreibtisch brannte eine Lampe, und am äußeren Rand des Lichtkegels stand ein Faxgerät, das Datum und Uhrzeit anzeigte.
4.Jul. 16:50! Noch zehn Minuten bis zum Feierabend. Noch etwa fünf Stunden, bis Gereon die Hand nach ihr ausstreckte. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben bis Montag früh. Solange sie hinter dem Schreibtisch saß, war sie tüchtig und clever, Seele und Motor in der Firma des Schwiegervaters.
Ein Familienbetrieb, nur sie, ihr Schwiegervater, Gereon und ein Angestellter, Manni Weber. Ein Installationsunternehmen, Heizung und Wasser, und ohne sie lief nichts mehr. Sie war stolz auf ihre Position, hatte sich ihren Platz in der Hierarchie hart erkämpfen müssen.
Am Tag nach der Hochzeit hatte ihr Schwiegervater verlangt, dass sie die Büroarbeit übernahm. Und er ließ nichts gelten. «Was heißt hier, ich kann das nicht? Du hast doch Augen im Kopf! Schau in die Bücher, dann lernst du’s. Oder hast du gedacht, du kannst hier auf dem faulen Hintern sitzen?»
Es war nie ihre Art gewesen, auf dem faulen Hintern zu sitzen. Das sagte sie auch. Und der Alte nickte. «Dann haben wir das ja geklärt.»
Bis dahin hatte er sich nach Feierabend selbst um den Papierkram kümmern müssen. Ihre Schwiegermutter konnte gerade das Telefon bedienen. Viel mehr konnte sie anfangs auch nicht.
Es gab nie einen Rat von dem Alten, nie einen Hinweis, wie er es bis dahin gehandhabt hatte. Und sich an den Büchern orientieren – dazu hätten sie ordentlich geführt sein müssen. Manchmal schien es, als weide sich der Alte an ihrer Hilflosigkeit. Nur war sie nicht lange hilflos gewesen.
Sie begriff rasch, worauf es ankam, und biss sich durch. Nichts fiel ihr in den Schoß, sogar um die Bretterwände, die den Bürowinkel vom übrigen Lager abtrennten, musste sie kämpfen.
Im ersten Jahr saß sie da in der Ecke, den großen Raum vor Augen, der nicht geheizt wurde und immer schmutzig war; an einem ausrangierten Küchentisch, an dem sie sich wie bei Mutter fühlte. Sie wagte nicht aufzumucken, obwohl der Alte ihr nicht einmal Lohn zahlte. Auch Gereon bekam nur ein Taschengeld. Wohnung und Essen hatten sie frei, Gereons Wagen war als Firmenfahrzeug deklariert. Wenn sie sonst etwas brauchten, musste Gereon fragen.
Nicht einmal die Schwangerschaft brachte eine Vergünstigung oder ein bisschen Bequemlichkeit. Bis zur allerletzten Minute saß sie in dem Lagerwinkel. Als die Wehen einsetzten, arbeitete sie gerade einen Kostenvoranschlag für den Einbau einer Gaszentralheizung aus; im Stehen vor dem Tisch, weil sie nicht mehr sitzen konnte mit diesem Ziehen im Rücken. Ihre Schwiegermutter wurde hysterisch, weil es so schnell ging. Ein paar heftige Krämpfe, dann platzte die Fruchtblase, und sie fühlte einen ungeheuren Druck im Unterleib.
Sie hatte nicht ins Krankenhaus gehen wollen. Aber dann rief sie doch: «Ich brauche einen Krankenwagen! Ruf mir einen Krankenwagen!»
Ihre Schwiegermutter stand nur da und zeigte auf den Tisch. «Du bist doch noch nicht fertig. Mach das lieber erst fertig. So schlimm kann’s nicht sein. Man kriegt ein Kind nicht in zehn Minuten. Mit Gereon hab ich einen ganzen Tag gelegen. Der Vater wird wütend, wenn das heute Abend nicht fertig ist. Du weißt doch, wie er ist.»
Das wusste sie nur zu gut. Sie lebten ja seit der Hochzeit unter einem Dach. Der Alte war ein Tyrann, ein Ausbeuter. Die Schwiegermutter war ein unterwürfiges Weibsbild, das nach oben buckelte und nach unten trat. Gereon war nur ein Befehlsempfänger und sie eine Sklavin; billig eingekauft auf dem großen Markt, nur für die Illusion eines ordentlichen Lebens, praktisch umsonst.
Und wie sie da vorgekrümmt neben dem alten Küchentisch stand, mitten im Dreck, die Pfütze betrachtend, die sich um ihre Füße ausgebreitet hatte, eine Hand zwischen die Beine pressend und fühlend, wie es sich dort vorwölbte, da reichte es plötzlich. Mach das lieber erst fertig? Nein!
In der Klinik fand sie Zeit, in Ruhe über ihr Leben nachzudenken und zu begreifen, dass auch die so genannten ordentlichen Verhältnisse ihre Tücken hatten, dass jede Hoffnung, die Träume könnten sich in dieser Umgebung von allein erfüllen, vergebens war. Es stellte sich nur noch die Frage, wie viel sie riskieren durfte. Aber mit einem Kind im Arm war es leichter; das waren sieben Pfund Gewicht, um jede Forderung zu unterstützen.
Als sie ein paar Tage später zurückkam, begann sie ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Damals fing sie sich den Ruf ein, ein freches und rücksichtsloses Geschöpf zu sein. Ein Weib mit Haaren auf den Zähnen, sagte der Alte häufig. Das war sie mit Sicherheit nicht, aber sie konnte zur Not so tun. Und es hätte ja nichts genützt, um Erlaubnis zu fragen.
Sie richtete sich das Büro ein; komplett mit Schreibtisch, Aktenschrank und Heizung. Sie nahm sich noch andere Freiheiten heraus, zahlte Gereon und sich selbst einen Lohn. Der Alte bekam einen Tobsuchtsanfall, sprach von Unverschämtheit und Raffgier. «Wo hast du gelernt, in anderer Leute Kassen zu greifen?»
Ihr schlug das Herz zum Hals heraus, aber sie gab ihm Kontra. «Entweder wir werden bezahlt wie andere, oder wir arbeiten woanders. Das kannst du dir aussuchen. Du kannst dich auch umhören, was in anderen Betrieben bezahlt wird. Dann siehst du, dass du noch gut wegkommst. Und sag nie wieder, dass ich in deine Kasse greife! Ich arbeite für mein Geld!»
Es war mühsam gewesen, sich gegen den Alten durchzusetzen. Das hatte sie geschafft, hatte ihm vor gut einem Jahr sogar ein eigenes Haus abgerungen. Mehr als einmal hatte sie trotz des Kindes befürchtet, dass er auf die Tür zeigte. «Geh wieder dahin, wo du hergekommen bist.» Und Gereon hätte nur dabeigestanden mit betretener Miene. Er hatte ihr nicht einmal den Rücken gestärkt, nie den Mund aufgemacht zu ihrer Verteidigung.
Kurz nach der Geburt des Kindes war es bitter gewesen zu erkennen, dass sie an ihm keine Hilfe hatte. Inzwischen spielte es keine Rolle mehr. Er war eben so, tat seine Arbeit, wollte ansonsten seine Ruhe – und freitags und samstags ein bisschen Liebe! Dagegen konnte sie nicht kämpfen, weil Liebe etwas Gutes, etwas Schönes, etwas völlig Natürliches und Normales war.
4.Jul. 16:52! Es war noch eine Rechnung zu schreiben. Sie hatte es vor sich hergeschoben, um sich in den allerletzten Minuten damit abzulenken. Ein neuer Heizkessel. Gereon hatte ihn am Mittwoch eingebaut, zusammen mit Manni Weber. Für die kommende Woche standen zwei weitere auf dem Arbeitsplan. Die neue Schadstoffverordnung zwang die Leute, ihre alten Anlagen zu verschrotten. Zwar war die Verordnung schon vor einigen Jahren in Kraft getreten. Aber viele hatten die Kosten gescheut und erst einmal abgewartet, bis der Bezirksschornsteinfeger drohte, die alten Kessel stillzulegen.
Irgendwie war sie komisch, diese Einstellung. Man wusste genau, was auf einen zukam. Und tat nichts! Wartete ab. Als ob so ein alter Heizkessel von heute auf morgen und völlig aus eigenem Antrieb seinen Schadstoffausstoß der strengeren Norm anpassen, als ob ein Loch im Innern sich von einer Minute zur nächsten wieder schließen könnte.
Vor vier Jahren hatte es das getan. Nicht von einer Minute zur nächsten, es hatte ein paar Monate gedauert. Und da war Gereon noch nicht gewesen, der das Flickwerk von ein paar Tagen mit einem Handstreich wieder zerriss.
4.Jul. 16:57! Außer der Rechnung lag nichts mehr an. Am vergangenen Freitag hatte sie sich noch eine Weile mit den Lohnabrechnungen beschäftigen können. Es war nur eine Illusion gewesen, aber immerhin etwas, das die Panik in Schach gehalten hatte. Es war nicht nur Furcht, kein simples Gefühl von Unbehagen. Es war ein grauroter Nebel, der das Gehirn ausfüllte, in jeden Winkel drang und jeden Nerv blockierte.
Feierabend! Mit steifen Fingern zog sie das Blatt aus der Maschine und überprüfte sorgfältig die einzelnen Posten. Es gab nichts zu korrigieren, nur der Schreibtisch musste noch ein wenig aufgeräumt werden. Zuletzt klappte sie das Kalenderblatt auf die nächste Woche um. Montag! Bis dahin waren es zwei Ewigkeiten – wie zweimal sterben. Dabei war sie bereits halb tot.
Die Beine gehorchten ihr nicht. Sie ging wie auf Stelzen durch das winzige Büro und das Lager hinaus auf den Hof. Es war sehr warm draußen. Die Sonne lachte wie ein Babygesicht vom wolkenlosen Himmel. Das Licht war so grell, dass ihre Augen zu tränen begannen. Aber das hatte wohl mit dem Licht nicht viel zu tun.
Vorne an der Straße lag das Haus der Schwiegereltern. Ihr eigenes stand auf dem ehemaligen Garten. Es war ein großes Haus mit moderner Einrichtung, die Küche war ein Traum aus weiß gebleichter Eiche. Normalerweise war sie sehr stolz auf alles. Augenblicklich gab es keine Gefühle wie Stolz oder Selbstbewusstsein. Nur die Angst, diese wahnsinnige Angst, verrückt zu werden. Verrückt sein war für sie schlimmer als tot.
Bis kurz vor sieben war sie mit ihrem Haushalt beschäftigt. Gereon war noch nicht da. Freitags ging er regelmäßig mit Manni Weber in eine Kneipe und trank ein oder zwei Bier, niemals mehr als zwei, wenn doch, dann nur alkoholfreies. Sie trafen sich pünktlich um sieben im Haus der Schwiegereltern zum Abendessen.
Um acht gingen sie hinüber ins eigene Haus. Ihren Sohn nahm sie mit und brachte ihn gleich ins Bett. Sie musste das Kind nur hinlegen. Eine Windel für die Nacht und den Schlafanzug hatte die Schwiegermutter ihm bereits angezogen.
Gereon setzte sich vor den Fernseher, schaute sich zuerst die Nachrichten an, dann einen Film. Um zehn bekam er seinen nervösen Blick. Er rauchte noch eine Zigarette. Bevor er sie anzündete, sagte er: «Eine rauche ich noch.»
Er war angespannt und unsicher. Seit Wochen wusste er nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Nach ein paar Minuten drückte er die Zigarette aus und sagte: «Ich geh schon mal rauf.» Ebenso gut hätte er eine Peitsche schwingen oder sonst etwas Ungeheuerliches tun können.
Sie kam kaum aus dem Sessel hoch, als er wenig später nach ihr rief. «Cora, kommst du? Ich bin fertig.»
Er hatte geduscht und sich die Zähne geputzt. Er war noch einmal mit dem Rasierapparat über Wangen und Hals gefahren, hatte etwas After-Shave auf die Haut getupft. Sauber, duftend und gut aussehend stand er an der Tür zum Bad. Er trug nur einen Slip. Unter dem dünnen Stoff zeichnete sich seine Erektion überdeutlich ab. Er grinste verlegen und strich mit der Hand durch den Nacken, weil ihm das Haar dort beim Duschen feucht geworden war. Dann fragte er zögernd: «Oder hast du keine Lust?»
Es wäre leicht gewesen, nein zu sagen. Sie dachte auch kurz daran. Nur war das Problem damit nicht aus der Welt. Aufgeschoben war nicht aufgehoben.
Im Bad war sie rasch fertig. Auf der Ablage über dem Waschbecken lag die Packung mit dem Schlafmittel. Es war ein stärkeres als zu Anfang, und die Packung war noch fast voll. Sie nahm zwei Tabletten mit einem halben Becher Wasser. Dann, nach einem Moment des Zögerns, schluckte sie auch die restlichen sechzehn in der Hoffnung, es möge reichen, ein Ende zu machen. Sie ging ins Schlafzimmer, legte sich neben Gereon und rang sich ein Lächeln ab.
Er machte nicht viel Aufhebens, war bemüht, es schnell hinter sich zu bringen, brachte die Hand ans Ziel, schob einen Finger vor und prüfte die Möglichkeiten. Es gab keine. Seit er versucht hatte, sie dort zu küssen, gab es keine mehr. Inzwischen war er daran gewöhnt, hatte eine Gleitcreme besorgt, die er sanft einmassierte, bevor er sich über sie schob und in sie eindrang.
Und in dem Augenblick begann der Wahnsinn. Es war völlig still im Raum, von Gereons Atem abgesehen, der erst verhalten war, dann heftiger und lauter wurde. Außer dem Atem war nichts da. Und trotzdem hörte sie es, wie aus einem unsichtbaren Radio eingespielt. Nach einem halben Jahr war der Rhythmus so vertraut wie der eigene Herzschlag; die rasend schnellen Schlagzeugwirbel, begleitet von den Akkorden der Bassgitarre und dem hohen Pfeifen der Orgel. Als Gereon schneller wurde, steigerte es sich, bis sie glaubte, ihr Herz müsse zerplatzen. Dann war es vorbei, wie abgeschnitten genau in der Sekunde, in der Gereon sich neben sie rollte.
Er drehte sich auf die Seite und schlief rasch ein. Sie starrte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass die Wirkung der sechzehn Tabletten einsetzte.
Ihr Magen schien mit flüssigem Blei gefüllt, brannte und rumorte wie in Feuer getaucht. Dann stieg es heiß und ätzend in die Kehle. Mit knapper Not schaffte sie es ins Bad und übergab sich. Anschließend weinte sie sich in den Schlaf, weinte sich durch den Traum, der ihr die Nacht in tausend Stücke riss, weinte noch, als Gereon sie an der Schulter rüttelte und verständnislos anstarrte. «Was hast du denn?»
«Ich kann nicht mehr», sagte sie. «Ich kann einfach nicht mehr.» Beim Frühstück war ihr immer noch übel, und sie hatte rasende Kopfschmerzen. Die hatte sie häufig am Wochenende. Gereon erwähnte den Vorfall in der Nacht mit keinem Wort, betrachtete sie nur mit misstrauischen und zweifelnden Blicken.
Er hatte Kaffee aufgebrüht. Er war ihm zu stark geraten und ließ den geschundenen Magen noch einmal heftig rebellieren. Gereon hatte auch das Kind aus dem Bettchen genommen, hielt seinen Sohn auf dem Schoß und fütterte ihn mit einer Scheibe Weißbrot, die er dick mit Butter und Konfitüre bestrichen hatte. Er war ein guter Vater, kümmerte sich um das Kind, sooft er die Zeit fand.
Die Woche über wurde der Kleine von der Schwiegermutter betreut und schlief auch bei den Schwiegereltern, in dem Raum, der früher Gereons Zimmer gewesen war. Für das Wochenende nahm sie ihn dann mit ins eigene Haus. Und wie er da auf Gereons Schoß saß, schien er ihr das Beste, was sie im Leben erreicht hatte.
Gereon wischte ihm die Konfitüre vom Kinn und aus den Mundwinkeln. «Ich zieh ihn mal an», sagte er. «Du willst ihn doch sicher mit zum Einkaufen nehmen.»
«Ich fahre heute später», sagte sie. «Und bei der Hitze nehme ich ihn lieber nicht mit.»
Es war erst neun Uhr, und das Thermometer stand schon bei fünfundzwanzig Grad. Der Schmerz im Kopf drückte ihr fast die Augen aus den Höhlen. Sie konnte kaum denken, und sie musste das sorgfältiger planen und durchführen. Ein spontaner Entschluss wie in der Nacht war nicht gut, da blieb zu viel unberücksichtigt. Während Gereon sich um den Rasen kümmerte, holte sie sich bei der Schwiegermutter eine von den starken Schmerztabletten, die es nur auf Rezept gab. Anschließend wischte sie ihre Küche, das Bad, die Treppe und die Diele so gründlich wie nie zuvor. Es musste alles pieksauber sein.
Um elf brachte sie ihren Sohn zur Schwiegermutter und ging mit zwei leeren Einkaufstaschen in der Hand zum Wagen. Das Auto schien ihr die einfachste Lösung. Doch als sie losfuhr, verwarf sie den Gedanken wieder. Gereon war auf den Wagen angewiesen. Wie sollte er sonst am Montag zu den Kunden kommen? Es war auch nicht ihre Art, etwas zu zerstören, das so viel Geld gekostet hatte wie ein neues Auto.
Sie fuhr aus Gewohnheit zum Supermarkt. Während sie den Einkaufskorb füllte, wägte sie andere Möglichkeiten ab. Auf Anhieb fiel ihr nichts ein. Vor der Wursttheke wartete ein Dutzend Frauen. Und sie fragte sich, wie viele von ihnen den Abend herbeisehnten und wie viele ebenso empfinden mochten wie sie. Keine! Davon war sie überzeugt.
Sie war die Ausnahme. Sie war immer eine Ausnahme gewesen, die Außenseiterin mit dem Stempel auf der Stirn. Cora Bender, fünfundzwanzig Jahre alt, zierlich und schlank, seit drei Jahren verheiratet, Mutter eines knapp zweijährigen Sohnes, den sie praktisch im Stehen bekommen hatte, gleich nach dem Einsteigen in den Krankenwagen.
Eine Sturzgeburt, hatten die Ärzte gesagt. Ihre Schwiegermutter sah das anders. «Da muss eine nur lange genug herumgehurt haben, dann ist sie da unten weit genug, um ein Kind auf die Weise zu verlieren. Wer weiß denn, was sie vorher getrieben hat! Was Gutes kann es nicht gewesen sein, wenn ihre Eltern nichts mehr von ihr wissen wollen. Nicht mal zur Hochzeit sind sie gekommen. Da fragt man sich doch: Warum nicht?»
Cora Bender, rötlich braunes schulterlanges Haar, das so über die Stirn fiel, dass es die Kerbe im Knochen und die gezackte Narbe verdeckte. Ein hübsches schmales Gesicht mit einem suchenden, ratlosen Ausdruck, als hätte sie nur vergessen, eine bestimmte Ware in den Korb zu legen. Kleine Hände, mit denen sie die Griffstange des Warenkorbs so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Braune Augen, die unruhig über die Waren im Drahtkorb glitten, die Joghurtbecher abzählten, an der Pappschale mit den Äpfeln hängen blieben. Sechs Äpfel, dick und saftig, mit gelblicher Schale. Golden Delicious. Sie liebte diese Sorte. Sie liebte auch ihr Leben. Aber es war keins mehr. Genaugenommen war es nie eins gewesen. Und dann fiel ihr ein, wie sie es zu Ende bringen konnte.
Am Nachmittag, als die ärgste Mittagshitze überstanden war, fuhren sie zum Otto-Maigler-See. Gereon saß am Steuer. Er war nicht begeistert gewesen von ihrem Vorschlag, aber widersprochen hatte er nicht. Er zeigte seinen Unmut auf andere Weise, nicht ahnend, dass er damit ihren Entschluss bekräftigte. Eine Viertelstunde kurvte er über den staubigen Parkplatz, der dem Eingang am nächsten lag.
Weiter hinten gab es freie Plätze. Sie machte ihn mehrfach darauf aufmerksam. «Ich hab keine Lust, den ganzen Kram so weit zu schleppen», sagte er.
Es war heiß im Wagen. Während der Fahrt hatten sie die Scheiben nicht herunterdrehen dürfen. Das Kind hätte sich in der Zugluft leicht erkälten können. Als sie losfuhren, war sie ruhig gewesen. Die Kurverei machte sie nervös. «Jetzt mach schon», verlangte sie. «Sonst lohnt es sich nicht mehr.»
«Was hast du es denn so eilig? Es kommt ja wohl auf ein paar Minuten nicht an. Vielleicht fährt einer weg.»
«Blödsinn. Um die Zeit fährt noch keiner heim. Jetzt mach endlich, oder lass mich aussteigen, dann gehe ich vor. Dann kannst du von mir aus bis heute Abend hier herumkurven.»
Es war vier Uhr. Gereon verzog das Gesicht, aber er schwieg, fuhr ein Stück im Rückwärtsgang, obwohl er wusste, dass sie das nicht vertrug. Dann parkte er endlich ein, so dicht neben einem anderen Wagen, dass sich die Tür an ihrer Seite nicht ganz öffnen ließ.
Sie zwängte sich ins Freie, erleichtert über den schwachen Lufthauch, der ihr über die Stirn strich. Dann beugte sie sich zurück in den stickigen Wagen, griff nach der Umhängetasche, hängte sie sich über die Schulter und befreite das Kind aus dem Spezialsitz im Wagenfond. Sie stellte ihren Sohn neben den Wagen auf seine Füße und ging nach hinten, um Gereon beim Ausladen zu helfen.
Sie hatten alles dabei, was man für einen Nachmittag am See brauchte. Es sollte später niemand eine Absicht vermuten. Die Decke und den Sonnenschirm klemmte sie sich unter den Arm, über dem sie bereits die Umhängetasche trug. Die beiden Klappsessel packte sie mit einem Griff in der anderen Hand, für Gereon blieben nur die Handtücher, die Kühltasche und das Kind.
Sie blinzelte ins Licht. Schatten gab es auf dem großen Platz nirgendwo. Es standen nur ein paar Büsche am Rand, mehr staubig als grün. Ihre Sonnenbrille lag unten in der Umhängetasche. Im Wagen hatte sie sie nicht aufgesetzt, nur die Blende heruntergeklappt. Beim Gehen schlugen ihr die Sessel gegen das Bein. Ein vorstehendes Stück Metall kratzte unangenehm über die nackte Haut und hinterließ eine rote Spur.
Gereon hatte die Sperre am Eingang erreicht, wo er auf sie wartete. Mit dem Arm zeigte er auf das Drahtgitter und erklärte dem Kind etwas. Er trug nur Shorts und Sandalen. Sein Oberkörper war nackt, die Haut braun und glatt. Er hatte eine gute Figur, breite Schultern, muskulöse Arme und eine schmale Taille. Wie er da stand, war sie sicher, dass er rasch eine andere finden würde. Als sie kam, rührte er sich nicht von der Stelle, machte auch keine Anstalten, ihr etwas abzunehmen.
Den Eintritt musste man mit der Gebühr für den Parkplatz lösen. Die Karten hatte sie eingesteckt. Sie stellte den Klappsessel ab und begann, in der Umhängetasche nach ihrer Brieftasche zu wühlen. Sie wühlte sich durch Windeln und frische Unterwäsche, vorbei an zwei Äpfeln, einer Banane und der Keksschachtel, fühlte einen der Plastiklöffel für das Joghurt, dann die Schneide des kleinen Schälmessers zwischen den Fingern. Beinahe hätte sie sich geschnitten. Endlich ertastete sie das Leder, klappte es auseinander, bekam die Eintrittskarten zu fassen und hielt sie der Frau an der Sperre hin. Dann nahm sie die Klappsessel wieder auf und schob sich hinter Gereon durch das Gitter.
Sie mussten weit über den platt getretenen Rasen laufen, sich an unzähligen Decken, Sitzgruppen und spielenden Kindern vorbeischlängeln. Der Schulterriemen der Tasche schnitt ins Fleisch. Der Arm, unten den sie Decke und Schirm geklemmt hatte, wurde allmählich lahm. Und das Bein schmerzte dort, wo die Metallteile des Sessels die Haut zerkratzten. Es waren rein äußerliche Empfindungen, sie störten nicht mehr. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen, war nur noch darauf bedacht, sich normal zu verhalten und nichts zu tun, was Gereon hätte stutzig machen können. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass er eine verräterische Geste oder einen Satz richtig interpretiert hätte.
Er machte schließlich Halt an einem Platz, an dem es wenigstens die Illusion von Schatten gab: ein mickriges Bäumchen mit durchsichtiger Krone, die Blätter hingen herunter wie eingeschlafen. Das Stämmchen war nicht einmal armdick.
Sie legte Decke, Tasche und Sessel auf dem Gras ab, spannte den Schirm auf und steckte ihn mit der Spitze in den Boden, breitete die Decke darunter aus, zog die Klappsessel auseinander und stellte sie daneben. Gereon setzte das Kind auf die Decke und schob die Kühltasche nach hinten unter den Schirm. Dann hockte er sich hin und zog dem Kind Schuhe und Strümpfe aus, dann das dünne Hemdchen über den Kopf und das bunte Höschen nach unten.
Der Kleine saß da in einem weißen Schlüpfer über dem Windelpaket. Mit dem runden Haarschnitt sah er fast aus wie ein Mädchen. Sie betrachtete ihn und fragte sich, ob er sie vermissen würde, wenn sie nicht mehr da war. Wohl kaum, wo er doch jetzt schon die meiste Zeit bei der Schwiegermutter war.
Es war ein sonderbares Gefühl, inmitten all der Menschen zu stehen. Hinter ihnen lag eine Großfamilie auf mehreren Decken verteilt. Vater, Mutter, Großvater, Großmutter, zwei kleine Mädchen von etwa vier und fünf Jahren in rüschenbesetzten Bikinis. Ein Baby strampelte in einer Wippe unter einem Sonnenschirm.
Wie im Supermarkt fragte sie sich, was in den Köpfen der anderen vorgehen mochte. Die Großmutter hinter dem Bäumchen spielte mit dem Baby. Die beiden Männer dösten in der Sonne. Der Großvater hatte eine Zeitschrift über sein Gesicht gelegt, der Vater eine Kappe aufgesetzt, deren Schirm seine Augen verdeckte. Die Mutter wirkte abgehetzt. Sie rief einem der kleinen Mädchen zu, es solle sich die Nase putzen, und kramte dabei in einem Korb nach den Papiertüchern. Rechts von ihnen saß ein älteres Paar in Liegestühlen. Links war ein Stück Rasen frei. Dort spielte eine Gruppe von Kindern mit einem Ball.
Sie zog das T-Shirt über den Kopf und ließ den Rock auf die Füße fallen, darunter trug sie den Badeanzug. Dann suchte sie in der Umhängetasche nach ihrer Sonnenbrille, setzte sie auf und nahm in einem der Sessel Platz.
Gereon saß bereits. «Soll ich dich eincremen?» fragte er.
«Das habe ich daheim schon gemacht.»
«Im Rücken kommst du doch gar nicht überall hin.»
«Ich sitze ja auch nicht mit dem Rücken in der Sonne.»
Gereon zuckte mit den Achseln, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie schaute aufs Wasser. Es zog sie an wie ein straff gespanntes Gummiseil. Es dürfte nicht leicht sein für eine geübte Schwimmerin. Aber wenn sie vorab eine Runde drehte und sich dabei völlig verausgabte… Sie erhob sich wieder, nahm die Sonnenbrille ab und sagte: «Ich geh ins Wasser.» Es war überflüssig, ihm das zu sagen. Er öffnete nicht einmal die Augen.
Sie ging über das Gras und den schmalen Sandstreifen und watete durch das flache Uferstück. Das Wasser war kühl und frisch. Als sie eintauchte und es ihr über dem Kopf zusammenschlug, überlief sie ein angenehmer Schauer.
Sie schwamm bis zur Absperrung, die den bewachten Strand vom offenen See trennte, und ein Stück daran entlang. Unvermittelt geriet sie in Versuchung, es sofort zu tun – die Absperrung überwinden und hinausschwimmen. Verboten war das nicht. Es gab auch am anderen Ufer ein paar Decken und Sitzgruppen, solche, die den Eintritt scheuten, denen es nichts ausmachte, sich zwischen Steine und Gestrüpp zu legen. Aber der Rettungsschwimmer auf dem Holztürmchen am befestigten Strand behielt auch die Seite im Auge. Nur konnte er nicht alles sehen und nicht schnell genug an Ort und Stelle sein, wenn weiter hinten etwas passierte. Und Voraussetzung war auch, dass jemand um Hilfe schrie oder wenigstens mit den Armen ruderte. Wenn in dem Gewimmel ein Kopf einfach wegtauchte…
Es hieß, im See sei einmal ein Mann ertrunken, die Leiche habe man nie gefunden. Ob das stimmte, wusste sie nicht, wenn ja, musste der Mann noch da unten sein. Dann könnte sie dort mit ihm leben, zwischen den Fischen und den Algen. Es musste schön sein in einer Wassertropfenwelt, in der es keine Lieder und keine schwarzen Träume gab, in der es nur rauschte und geheimnisvoll grün oder braun aussah. Der Mann im See hatte zuletzt garantiert kein Schlagzeug gehört. Nur den Schlag des eigenen Herzens. Keine Bassgitarre und nicht das Pfeifen einer Orgel. Nur das Summen des eigenen Blutes in den Ohren.
Nach fast einer Stunde schwamm sie zurück, obwohl es schwer fiel. Aber einen Großteil Kraft hatte sie bereits im Wasser gelassen. Und da war das Bedürfnis, noch ein Weilchen mit dem Kind zu spielen, ihm vielleicht zu erklären, warum sie gehen musste. Der Kleine verstand es ja nicht. Sie wollte sich auch unauffällig von Gereon verabschieden.
Als sie ihren Platz erreichte, war das ältere Paar rechts von ihnen verschwunden. Nur die beiden Liegestühle standen noch da. Und der Platz links neben ihnen war nicht mehr frei. Von den spielenden Kindern und ihrem Ball war weit und breit nichts mehr zu sehen. Da lag jetzt eine hellgrüne Decke so nahe bei ihrem Klappsessel, dass das Rohrgestell an den Stoff anschloss. Mitten auf der Decke stand ein großes Kofferradio mit Kassettenteil, aus dem Musik in den Nachmittag dudelte.
Um das Radio verteilten sich vier Leute, alle waren im selben Alter wie sie und Gereon. Zwei Männer, zwei Frauen. Zwei Paare! Eins saß aufrecht mit angezogenen Beinen und unterhielt sich nur. Beide Gesichter waren im Profil zu erkennen. Das zweite Paar hatte vorerst keine Gesichter. Es lag ausgestreckt, die Frau unten, der Mann über ihr.
Vom Kopf der Frau war nur das Haar zu sehen, ein sehr helles Blond, fast weiß – und sehr lang, es reichte ihr bis an die Hüften. Der Mann hatte kräftiges dunkles Haar, das sich im Nacken ringelte. Seine muskulösen Beine lagen zwischen den gespreizten Beinen der Frau. Seine Hände umschlossen ihren Kopf. Er küsste sie.
Der Anblick krampfte ihr unvermittelt das Herz zusammen. Sie hatte Mühe zu atmen, fühlte das Blut in den Beinen versacken. Ihr Kopf wurde leer. Nur um ihn wieder zu füllen, bückte sie sich unter den Schirm und griff nach einem Handtuch. Und nur um das Poltern zu übertönen, mit dem der Herzschlag wieder einsetzte, strich sie dem Kind über den Kopf, sprach ein paar Worte mit ihm, kramte den roten Plastikfisch aus der Umhängetasche und drückte ihn dem Kind in die Finger.
Dann drehte sie ihren Sessel so, dass sie der Gruppe mit dem Radio den Rücken zukehrte. Trotzdem schwebte ihr der Anblick weiter vor den Augen. Nur allmählich verblasste das Bild, und sie beruhigte sich. Was das Paar hinter ihr tat, ging sie nichts an. Es war normal und harmlos, und die Musik war nicht einmal lästig. Irgendeiner sang etwas in englischer Sprache.
Außer der Musik hörte sie die helle Stimme einer Frau und die bedächtige Stimme eines Mannes. Es musste der sein, der aufrecht saß. Und so wie er sprach, schien er die Frau noch nicht lange zu kennen. Er nannte sie Alice. Der Name erinnerte sie an ein Buch, das sie als Kind besessen hatte. Für einen Tag! Alice im Wunderland. Gelesen hatte sie es nicht. Dazu war sie nicht gekommen in den paar Stunden. Vater hatte ihr erzählt, wovon es handelte. Aber was Vater erzählt hatte – es hatte nicht mehr Wert gehabt als sein Versprechen: «Eines Tages wird es besser.»
Der Mann hinter ihrem Sessel erzählte, dass er sich selbständig machen wolle. Er habe ein gutes Angebot, in eine Gemeinschaftspraxis einzusteigen, erklärte er Alice. Von den beiden, die lagen, war nichts zu hören.
Gereon spähte an ihrem Arm vorbei und grinste. Automatisch warf sie einen Blick über die Schulter. Der dunkelhaarige Mann hatte sich aufgerichtet. Er kniete, immer noch mit dem Rücken zu ihr, neben der weißblonden Frau, hatte ihr das Oberteil des Bikinis ausgezogen und Sonnenöl zwischen ihre Brüste gegossen. Die Pfütze war deutlich zu erkennen. Er war dabei, sie zu verteilen. Die Frau rekelte sich unter seinen Händen. Es sah aus, als genieße sie es. Dann setzte die Frau sich ebenfalls. «Jetzt du», sagte sie. «Aber zuerst machen wir richtige Musik. Bei dem Gedudel schläft man ja ein.»
Neben den Beinen der weißblonden Frau lag ein bunter Stoffbeutel. Sie fasste hinein und zog eine Musikkassette heraus. Der dunkelhaarige Mann protestierte: «Nein, Ute, die nicht. Das ist nicht fair. Wo hast du die her? Gib sie mir!» Er griff nach dem Arm der Frau. Die Frau ließ sich nach hinten fallen, und der Mann fiel über sie. Sie balgten herum, rollten fast von der Decke.
Gereon grinste immer noch.
Dann lag der Mann unten, die Frau saß rittlings auf ihm, streckte den Arm mit der Musikkassette in die Luft, lachte und keuchte: «Gewonnen, gewonnen. Verdirb uns nicht den Spaß, Schätzchen. Die Musik ist phantastisch.» Sie beugte sich zu dem Radiorecorder hinüber. Ihr langes weißblondes Haar streifte die Beine des Mannes, während sie die Kassette in den Recorder schob und auf eine Taste drückte. Dann drehte sie die Lautstärke höher.
Der Satz ‹Verdirb uns nicht den Spaß› und der Ausdruck ‹Schätzchen› hatten ihr einen Stich versetzt und etwas im Innern zum Schwingen gebracht. Als die ersten Takte der Musik aufklangen, ließ die weißblonde Frau sich nach vorne fallen und umschloss das Gesicht des Mannes mit beiden Händen. Sie küsste ihn und bewegte die Hüften über seinem Schoß.
Und Gereon bekam seinen nervösen Blick. «Soll ich dich jetzt eincremen?» fragte er.
«Nein!» So heftig hatte sie nicht werden wollen. Aber was die Frau da trieb und wie Gereon darauf reagierte, machte sie wütend. Abrupt stand sie auf. Es wurde Zeit, sich von dem Kind zu verabschieden. Das wollte sie in Ruhe tun, nicht mit einem Weib in unmittelbarer Nähe, das ihr überdeutlich vor Augen führte, woran sie gescheitert war.
«Sie könnten wenigstens die Musik leiser stellen», sagte sie. «Hier ist laute Musik verboten.»
Gereon verzog abfällig das Gesicht. «Demnächst wird hier noch das Atmen verboten. Reg dich bloß nicht künstlich auf. Mir gefällt die Musik, und der Rest gefällt mir auch. Die hat jedenfalls Feuer im Hintern.»
Sie kümmerte sich nicht um das, was er sagte, nahm das Kind auf den Arm und griff mit der freien Hand nach dem roten Fisch. Es tat gut und beruhigte, den warmen, festen Körper zu fühlen, das Windelpaket unter dem weißen Höschen, den runden Arm im Nacken und das Babygesicht so dicht vor Augen.
Auf dem seichten Uferstreifen stellte sie ihren Sohn auf die Füße. Er zuckte zusammen. Das Wasser war kühl, nachdem er so lange in der Hitze gesessen hatte. Nach ein paar Sekunden hockte er sich hin und blinzelte zu ihr hoch. Sie reichte ihm den roten Fisch, er tauchte ihn ein.
Er war ein hübsches Kind, ein stilles Kind. Er sprach nicht viel, obwohl er über einen verhältnismäßig großen Wortschatz verfügte und deutlich in kurzen Sätzen artikulieren konnte. «Ich mag essen.» – «Papa muss arbeiten.» – «Oma kocht Pudding.» – «Das ist Mamas Bett.»
Einmal, kurz nach dem Umzug ins eigene Haus, er war gerade ein Jahr alt gewesen, hatte sie ihn zu sich ins Bett genommen, an einem Sonntagmorgen. Er war noch einmal eingeschlafen in ihrem Arm. Und es war ein tiefes und warmes Gefühl gewesen, ihn zu halten.
Und wie sie da aufrecht neben ihm stand, auf den schmalen weißen Rücken hinunterschaute, auf die kleine Faust, die den roten Fisch im Wasser schwenkte, auf den gebeugten Kopf mit den fast weißen Haaren, auf den zierlichen Nacken, da kam das Gefühl wieder. Wenn es nicht schon genug Gründe gegeben hätte, hätte sie es nur für ihn getan. Damit er frei und unbelastet aufwachsen konnte. Sie hockte sich neben ihn und küsste ihn auf die Schulter. Er roch sauber und frisch nach der Sonnenschutzmilch. Gereon hatte ihn eingecremt, während sie im Wasser gewesen war.
Sie blieb eine halbe Stunde mit dem Kind im seichten Wasser, vergaß die beiden Paare auf der grünen Decke, vergaß alles, was den Abschied stören konnte. Dann leerte der Rasen sich allmählich, es ging auf sechs Uhr zu, und sie begriff, dass es allerhöchste Zeit wurde. Wenn sie das Kind nicht bei sich gehabt hätte, wäre sie hinausgeschwommen, ohne noch einen Gedanken an Gereon zu verschwenden. Den hilflosen kleinen Kerl allein auf dem Uferstreifen zurückzulassen, brachte sie nicht über sich. Er hätte ihr folgen können.
Sie nahm ihn wieder auf den Arm, fühlte die jetzt kühlen Beinchen und das nasse Höschen durch den Badeanzug am Bauch und den festen, runden Arm wieder im Nacken. Den roten Fisch hielt er an der Schwanzflosse umklammert.
Beim Näherkommen erkannte sie, dass sich auf der grünen Decke nichts verändert hatte. Die Musik lief so laut wie zuvor. Das eine Paar saß aufrecht und unterhielt sich, ohne sich zu berühren. Das andere lag wieder.
Sie kümmerte sich nicht darum, zog dem Kind eine frische Windel und ein trockenes Unterhöschen an. Dann wollte sie gehen, wurde jedoch noch einmal aufgehalten.
«Ich mag essen», sagte das Kind.
Auf ein paar Minuten kam es nicht an. Sie war voll und ganz konzentriert auf die letzten Augenblicke mit ihrem Sohn. «Was magst du denn essen? Ein Joghurt, eine Banane, einen Keks oder einen Apfel?»
Er hielt das Köpfchen zur Seite geneigt, als denke er ernsthaft über ihre Frage nach. «Ein Apfel», sagte er. Und sie setzte sich noch einmal in ihren Sessel, nahm einen Apfel und das kleine Schälmesser aus der Umhängetasche.
Gereon hatte ihren Sessel während ihrer Abwesenheit verschoben, sodass sie nicht mehr mit dem Rücken, sondern seitlich zur Decke saß und er besser an ihr vorbeischauen konnte. Er saß mit ausgestreckten Beinen und über dem Bauch zusammengelegten Händen da, tat so, als blicke er zum Wasser, schielte in Wahrheit zu den Brüsten der weißblonden Schlampe. Unter Garantie würde er sich so eine suchen, wenn sie nicht mehr da war.
Es hätte sie wütend machen müssen, so zu denken, das tat es nicht. Es machte nicht einmal traurig. Der Teil von ihr, der fühlen konnte, war wohl schon tot, gestorben irgendwann in den letzten sechs Monaten, ohne dass es einer bemerkt hätte. Sie dachte nur darüber nach, wie sie es sich leichter machen konnte.
Nicht gegen das Wasser kämpfen. Dort wo die Absperrung begann, ragte eine winzige Landspitze in den See hinein, mit Buschwerk bestanden. An der Stelle wäre sie gleich aus dem Blickfeld der anderen verschwunden. Und dann zur Mitte des Sees schwimmen. Von Anfang an tauchen. Das zehrte an den Kräften.
Aus dem Radiorecorder hämmerte ein Schlagzeugsolo. Obwohl sie es nicht beachtete, drosch es auf ihre Stirn ein. Sie hielt den Apfel fest in der Hand, fühlte das Zittern im Nacken, die Schultermuskeln spannten sich an. Es wurde hart in ihrem Rücken und kalt, als säße sie nicht in der warmen Luft, sondern läge auf einem kalten Untergrund. Und etwas wie ein besonders dicker Daumen schob sich in ihren Mund. So wie Weihnachten, als Gereon es besonders schön machen wollte.
Sie schluckte heftig, setzte das Schälmesser an und teilte den Apfel in vier Stücke, drei legte sie sich auf die geschlossenen Beine.
Hinter ihr sagte die bereits vertraute Stimme von Alice: «Da steckt ja richtig Feuer drin.»
Der sitzende Mann antwortete: «Das traut ihm heute keiner mehr zu. Es ist auch fünf Jahre her. Das waren Frankies wilde Wochen. Mehr als ein paar Wochen waren es nämlich nicht. Er wird nicht gerne daran erinnert. Aber ich finde, Ute hat Recht. Die Musik ist phantastisch, er muss sich nicht schämen dafür. Drei Freunde waren sie, leider sind sie nicht über den Keller hinausgekommen. Frankie saß am Schlagzeug.»
Frankie, das hallte kurz in ihrem Kopf nach. Freunde, Keller, Schlagzeug, das prägte sich ein.
«Warst du auch dabei?» fragte Alice.
«Nein», bekam sie zur Antwort, «ich kannte ihn damals noch nicht.»
Gereon reckte sich im Sessel und warf einen Blick auf das Apfelstück in ihren Händen. «Er isst ja bestimmt nicht alles. Den Rest kannst du mir geben.»
«Den Rest esse ich selbst», sagte sie. «Und danach schwimme ich noch eine Runde. Du kannst dir einen nehmen. Es ist noch einer da.» Als letztes ein Stück Apfel! Golden Delicious, die Sorte hatte sie schon als Kind geliebt. Allein bei dem Gedanken wurde ihr der Mund wässrig.
Auf der Decke richtete sich die weißblonde Frau auf. Sie sah es aus den Augenwinkeln. «Wartet mal», sagte die Frau und drückte eine Taste am Radiorecorder. «Ich spule ein Stück vor. Was bisher gelaufen ist, ist nichts im Vergleich mit dem ‹Song of Tiger›! Das ist das Beste, was ihr je gehört habt.»
Der dunkelhaarige Mann rollte sich herum und griff wieder nach dem Arm der Frau. Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht, es sagte ihr nichts. Auch seine Stimme ging wie zuvor in ein Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, als er erneut und diesmal heftiger protestierte: «Nein, Ute, es reicht jetzt. Das nicht. Tu mir das nicht an.» Es schien ihm sehr ernst mit seinen Worten. Aber Ute lachte und wehrte seine Hände ab.
Cora dachte an ihr Haus. Dass die Schwiegermutter garantiert jeden Winkel durchstöbern und nichts finden würde, worüber sie meckern könnte. Es war alles blitzblank. Die Bücher waren auch in Ordnung. Niemand konnte ihr nachsagen, sie sei eine Schlampe gewesen.
Von einem Apfelviertel hatte sie das Kerngehäuse entfernt und die Schale so dünn wie möglich. Sie hielt dem Kind das Stück hin, griff nach dem zweiten Viertel, um auch für sich das Kerngehäuse herauszuschneiden. In dem Augenblick setzte die Musik wieder ein, noch lauter als vorhin. Sie wollte nicht hinschauen, schielte trotzdem aus den Augenwinkeln zur Seite und sah, wie die weißblonde Frau sich zurückfallen ließ. Beide Hände hielt sie an den Schultern des Mannes und riss ihn mit. Sie sah, wie er eine Hand in das weißblonde Haar wickelte. Wie er daran zog und den Kopf der Frau in eine Position brachte, die ihm angenehm war. Dann küsste er sie. Und das Schlagzeug…
Die Apfelstücke fielen ins Gras, als sie aufsprang. Gereon zuckte zusammen, als sie zu schreien begann. «Hört auf, ihr Schweine! Aufhören! Lass sie los! Du sollst sie loslassen!»
Beim ersten Satz hatte sie sich zur Seite und auf die Knie geworfen, beim letzten hatte sie das kleine Messer bereits einmal in den Mann gestoßen.
Mit dem ersten Stich traf sie ihn in den Nacken. Er schrie auf, rollte den Oberkörper herum und griff nach ihrem Handgelenk. Er bekam es auch zu fassen und hielt es für ein oder zwei Sekunden fest umklammert. Dabei schaute er sie an. Und dann ließ er sie los und schaute sie nur noch an. Er murmelte etwas. Sie verstand ihn nicht. Die Musik war zu laut.
Und das war es! Das war das Lied aus ihrem Kopf, das Lied, mit dem der Wahnsinn begann. Es schallte über den platt getretenen Rasen, streifte entsetzte Gesichter und steife Körper.
Mit dem zweiten Stich traf sie ihn seitlich in den Hals. Er riss die Augen weit auf, gab aber keinen Ton mehr von sich, griff nur mit einer Hand zum Hals und schaute ihr dabei in die Augen. Das Blut spritzte zwischen seinen Fingern durch, so rot wie der kleine Plastikfisch. Die weißblonde Frau kreischte und versuchte, unter seinen Beinen wegzukriechen.
Sie stieß noch einmal hinunter und noch einmal. Ein Stich in die Kehle. Ein Stich in die Schulter, ein Stich durch die Wange. Das Messer war klein, aber sehr spitz und sehr scharf. Und die Musik war so laut. Das Lied füllte den ganzen Kopf aus.
Der Mann, der bis dahin nur gesessen und sich mit Alice unterhalten hatte, schrie etwas. Es klang wie: «Aufhören!»
Natürlich! Darum ging es doch. Aufhören! Hört auf, ihr Schweine! Der sitzende Mann bewegte eine Hand nach vorne, als wolle er ihr in den Arm fallen. Aber das tat er nicht. Niemand tat etwas. Es war, als seien sie alle in der Zeit eingefroren. Alice presste beide Hände vor den Mund. Die weißblonde Frau wimmerte und kreischte abwechselnd. Die kleinen Mädchen in den rüschenbesetzten Bikinis drückten sich eng an ihre Mutter. Der Großvater nahm die Zeitung vom Gesicht und richtete sich auf. Die Großmutter riss das Baby hoch und presste es sich gegen die Brust. Der Vater machte Anstalten, sich zu erheben.
Dann war Gereon endlich aus dem Sessel und in der nächsten Sekunde über ihr. Er schlug mit der Faust in ihren Rücken, wollte die Hand mit dem Messer packen, als sie den Arm erneut anhob. Er brüllte: «Cora! Lass den Scheiß! Bist du wahnsinnig?»
Nein, nein, sie war völlig klar im Kopf. Es war alles gut. Es war alles richtig. Es musste so sein. Das wusste sie mit Sicherheit. Und der Mann wusste es auch, es war in seinen Augen zu lesen. «Dies ist mein Blut, das für deine Sünden vergossen wird.»
Als Gereon sich auf sie warf, kamen ihm der sitzende Mann und der Vater der kleinen Mädchen zu Hilfe. Beide hielten ihr je einen Arm fest, während Gereon ihr das Messer aus den Fingern zerrte, mit einer Hand in ihr Haar griff, ihren Kopf nach hinten zog und ihr mehrfach mit der Faust ins Gesicht schlug.
Gereon blutete aus zwei oder drei Wunden am Arm. Sie hatte auch nach ihm gestoßen, obwohl sie das nicht hatte tun wollen. Der sitzende Mann schrie nun Gereon an, er solle aufhören. Das tat er schließlich auch. Aber er hielt sie mit eisernem Griff im Nacken und presste ihr Gesicht auf die blutige Brust des Mannes.
Es war still in der Brust. Es war auch sonst fast still. Noch ein paar Rhythmen, ein letztes Schlagzeugsolo kurz vor dem Bandende. Dann machte es Klack. Eine Taste am Radiorecorder sprang hoch, es war vorbei.
Sie spürte Gereons Griff, die tauben Stellen im Gesicht, wo seine Faust sie getroffen hatte, das Blut unter der Wange und den Geschmack davon auf den Lippen. Sie hörte das Gemurmel ringsum. Die Frau mit dem weißblonden Haar wimmerte.
Sie streckte eine Hand aus, um sie der Frau aufs Bein zu legen. «Keine Angst», sagte sie. «Er wird dich nicht schlagen. Komm. Komm weg hier. Verschwinden wir. Wir hätten nicht herkommen dürfen. Kannst du alleine aufstehen, oder soll ich dir helfen?» Auf ihrer Decke begann das Kind zu weinen.
Ich habe als Kind nicht viel geweint, nur einmal. Und da habe ich nicht geweint, sondern vor Angst geschrien. In den letzten Jahren habe ich nicht mehr daran gedacht. Aber ich erinnere mich genau. Ich bin in einem halbdunklen Schlafzimmer. Vor dem Fenster hängen Gardinen aus schwerem braunem Stoff. Sie bewegen sich. Das Fenster muss offen sein. Es ist kalt im Zimmer. Ich friere.
Ich stehe neben einem Doppelbett. Die eine Hälfte ist ordentlich gemacht, die zweite, beim Fenster, ist zerwühlt. Von ihr geht ein muffiger, säuerlicher Geruch aus, als ob die Wäsche lange nicht gewechselt wurde.
Es gefällt mir nicht in dem Zimmer. Die Kälte, der Gestank von monatealtem Schweiß, ein schäbiger Läufer auf nackten Holzbrettern. Da, wo ich gerade hergekommen bin, liegt ein dicker Teppich auf dem Fußboden, und es ist schön warm. Ich zerre an der Hand, die meine hält. Ich will gehen.
Auf der ordentlich gemachten Seite des Bettes sitzt eine Frau. Sie trägt einen Mantel und hält ein Baby im Arm. Es ist in eine Decke gewickelt, ich soll es mir ansehen. Es ist meine Schwester Magdalena. Man hat mir gesagt, dass ich jetzt eine Schwester habe und dass wir gehen, um sie anzuschauen. Aber ich sehe nur die Frau im Mantel.
Sie ist mir völlig fremd. Sie ist meine Mutter, die ich lange nicht gesehen habe. Ein halbes Jahr. Das ist viel Zeit für ein kleines Kind. So weit reicht das Gedächtnis nicht. Und jetzt soll ich bei dieser Frau bleiben, die nur Augen für das Deckenbündel hat.
Ihr Gesicht macht mir Angst. Hart ist es, grau und bitter. Endlich schaut sie mich an. Ihre Stimme klingt, wie sie aussieht. Sie sagt: «Der Herr hat uns die Schuld nicht verziehen.»
Dann schlägt sie die Decke zurück, und ich sehe ein winziges blaues Gesicht. Die Frau spricht weiter: «Er hat uns eine Prüfung geschickt. Wir müssen sie bestehen. Wir werden tun, was er von uns erwartet.»
Dass ich mir die Worte damals merken konnte, glaube ich nicht. Man hat sie mir später oft gesagt, deshalb kenne ich sie wohl noch so genau.
Ich will weg da. Die komische Stimme der Frau, das winzige blaue Gesicht in der Decke, damit will ich nichts zu tun haben. Ich zerre wieder an der Hand, die meine hält, und beginne zu schreien. Jemand hebt mich hoch und spricht beruhigend auf mich ein. Meine Mutter! Ich bin fest überzeugt, dass die Frau, die mich auf den Arm nimmt, meine richtige Mutter ist. Ich klammere mich fest an sie und bin erleichtert, als sie mich zurück ins Warme bringt. Ich war noch sehr klein, achtzehn Monate alt. Es lässt sich leicht nachrechnen.
Als Magdalena geboren wurde, wie ich im Krankenhaus in Buchholz, war ich ein Jahr alt. Wir hatten im selben Monat Geburtstag. Ich am 9. und Magdalena am 16.Mai. Meine Schwester kam als blaues Baby auf die Welt. Sofort nach ihrer Geburt wurde sie in die große Klinik nach Eppendorf gebracht und am Herzen operiert. Dabei stellten die Ärzte fest, dass Magdalena noch andere Krankheiten hatte. Natürlich versuchten sie, ihr zu helfen, nur ließ sich nicht alles in Ordnung bringen.
Anfangs hieß es, dass Magdalena ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen leben könne. Die Ärzte wollten nicht, dass Mutter sie mit heimnahm. Und Mutter wollte Magdalena nicht allein lassen, sie blieb ebenfalls in Eppendorf. Aber nach einem halben Jahr lebte meine Schwester immer noch, und die Ärzte konnten sie nicht ewig festhalten. Sie schickten sie heim zum Sterben.
Ich war während dieser sechs Monate bei einer Nachbarsfamilie, den Adigars, untergebracht. Als kleines Kind glaubte ich fest, dass sie meine Familie seien. Dass mich meine richtige Mutter Grit Adigar nur nebenan abgeliefert hatte, weil sie nicht viel mit mir zu tun haben wollte. Nicht gleich, zuerst nahm sie mich ja noch einmal mit zurück. Leider nicht mehr für lange.
An Einzelheiten aus dieser Zeit erinnere ich mich nicht. Ich habe mir oft gewünscht, dass mir wenigstens ein bisschen aus den Wochen und Monaten bei Grit und ihren Töchtern Kerstin und Melanie einfiele.
Grit war noch sehr jung, sie muss damals Anfang zwanzig gewesen sein, hatte mit siebzehn das erste Kind bekommen und mit neunzehn das zweite. Ihr Mann war nur selten daheim. Er war etliche Jahre älter als sie, fuhr zur See und verdiente sehr gut. Grit hatte immer genug Geld und immer genug Zeit für ihre Töchter. Sie war ein lustiger und unkomplizierter Mensch, selbst fast noch ein Kind.
Ich habe oft erlebt, wie sie sich plötzlich eine ihrer Töchter schnappte, sich mit ihr auf den Boden fallen ließ, sie kitzelte, dass sie sich unter ihren Händen wand, jauchzte und quietschte und mit dem Lachen kaum nachkam. Und ich denke heute noch, dass sie das auch mit mir einmal gemacht hat in der Zeit, in der sie mich betreute. Dass ich mit Kerstin und Melanie spielte. Dass Grit mich abends auf den Schoß nahm und mit mir schmuste, wie sie es mit ihren Kindern tat. Dass sie mich am Nachmittag mit Kuchen fütterte oder mir eine lustige Geschichte erzählte. Und dass sie zu mir sagte: «Du bist ein gutes Kind, Cora.»
Aber die sechs Monate sind weg. Auch die paar Wochen, die ich noch bei Grit verbrachte, nachdem Mutter mit Magdalena aus der Klinik heimgekommen war, sind ausgelöscht. Nur das Gefühl hat sich eingeprägt, das Abgeschobenwerden, das Ausgestoßensein, hinausgeworfen aus dem Paradies. Weil im Paradies nur die reinen Engel sein dürfen, die Gottes Wort bis auf den letzten Buchstaben befolgen, keines seiner Gebote in Frage stellen, sich nicht gegen ihn auflehnen und die Äpfel am Baum der Erkenntnis hängen sehen können, ohne einen Bissen zu begehren.
Ich konnte das nicht. Ich war leicht zu verführen, ein schwaches, sündiges Menschlein, das die Wünsche, die in ihm geweckt wurden, nicht kontrollieren konnte, das alles haben wollte, was ihm vor Augen geriet. Und mit so einem Menschen wollte Grit Adigar nicht unter einem Dach leben, glaubte ich.
Deshalb musste ich zu einer Frau Mutter sagen, die ich nicht leiden mochte, und Vater zu dem Mann, der mit im Haus lebte. Aber ihn mochte ich sehr gerne. Er war auch ein Sünder. Mutter nannte ihn oft so.
Ich trug meine Sünden innen, bei Vater waren sie außen. Ich habe sie oft gesehen, wenn ich in der Badewanne saß und er aufs Klo musste. Ich weiß nicht, wie ich drauf gekommen bin, dass dieses Ding seine Sünde war. Vielleicht, weil ich so etwas nicht hatte und Kerstin und Melanie Adigar auch nicht. Und weil ich mich für völlig normal hielt, musste bei Vater etwas zu viel sein. Er tat mir Leid deswegen. Ich hatte oft den Eindruck, er wolle seinen Makel loswerden.
Wir schliefen in einem Zimmer. Und einmal wachte ich nachts auf, weil er so unruhig war. Ich glaube, da war ich drei Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Ich hing sehr an Vater. Er kaufte mir neue Schuhe, wenn die alten drückten. Er brachte mich abends ins Bett, blieb bei mir, bis ich eingeschlafen war, und erzählte von früher. Von ganz früher, als Buchholz noch ein winzig kleines und sehr armes Heidedorf gewesen war. Nur ein paar Bauernhöfe und der Boden so schlecht und die Tiere so mager, dass sie nach dem Winter nicht zur Weide gehen konnten. Sie mussten hingeschleppt werden. Und wie dann die Eisenbahn kam. Wie alles besser wurde.
Ich mochte solche Geschichten. Sie hatten etwas von Hoffnung, waren fast ein Versprechen. Wenn aus einem winzigen, armen Heidedorf eine schöne kleine Stadt werden konnte, dann konnte auch alles andere besser werden.
An dem Abend damals hatte Vater mir von der Pest erzählt. Und als ich dann aufwachte – Vater stöhnte, ich dachte an die Pest und hatte Angst, er sei krank geworden. Aber dann sah ich, dass er seine Sünde in der Hand hielt. Für mich sah es aus, als wolle er sie abreißen. Das gelang ihm nicht.
Ich dachte, wenn wir zu zweit reißen, schaffen wir es bestimmt. Das sagte ich ihm auch und fragte, ob ich ihm helfen solle. Er meinte, das wäre nicht nötig, stieg aus dem Bett und ging im Dunkeln zum Badezimmer. Und ich dachte, er wolle sie abschneiden. Im Bad lag eine große Schere.
Aber am nächsten Samstag sah ich, dass er sie noch an sich trug. Und – na ja, ich hätte auch Angst gehabt, mir etwas abzuschneiden, was fest angewachsen war. Ich wünschte ihm von ganzem Herzen, sie möge von alleine abfallen, verfaulen oder wegeitern, wie mir der Holzsplitter aus dem Handballen geeitert war.
Als ich das sagte, lächelte Vater, packte alles zurück in die Hose, kam zur Wanne und wusch mich. «Ja», sagte er, «hoffen wir, dass sie abfällt. Wir können ja darum beten.»
Ob wir das taten, weiß ich nicht mehr. Aber ich nehme es an. Bei uns wurde ständig gebetet um Dinge, die uns fehlten oder die wir nicht haben wollten – wie der Durst auf Himbeerlimonade. Der quälte mich oft.
Ich weiß noch, einmal – da muss ich vier gewesen sein – war ich bei Mutter in der Küche. Dass sie tatsächlich meine Mutter war, glaubte ich noch nicht. Alle sagten es, aber ich wusste schon, wie man lügt. Und ich dachte immer, alle lügen.
Ich war durstig, Mutter gab mir ein Glas Wasser. Es war nur Wasser aus der Leitung. Das mochte ich nicht. Es schmeckte fade. Mutter nahm das Glas wieder fort und sagte: «Dann bist du auch nicht durstig.»