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Wer ist Täter, wer ist Opfer? Der abgründige Spannungsroman »Die Verlierer« von Bestsellerautorin Petra Hammesfahr jetzt als eBook bei dotbooks. Dieser Fall bringt Rita Voss an ihre Grenzen. Am 5. Juli erscheint der 38-Jährige Fred Keller in ihrem Büro und erklärt, im Urlaub sei ihm die Frau weggelaufen. Nun verdächtigt sein Schwager ihn, Kirsten getötet zu haben. Fred Keller beteuert, dass Kirsten nach der Ankunft auf dem Campingplatz ihr Joggingzeug anzog und loslief, zurück kam sie nicht mehr. Im April hat sie das schon mal gemacht, blieb drei Tage weg. Fred vermutet, dass sie eine Affäre hat. Wo sein Stiefsohn sich aufhält, der die drei Tage im April bestätigen könnte, weiß niemand. Seinem Onkel hat der 13-Jährige Til eine Woche vor Urlaubsbeginn erklärt, dass er nicht mitfahren wird. Das wäre nämlich für Fred die Gelegenheit, Mama und ihn verschwinden zu lassen und abzukassieren. Kirsten Keller ist vermögend. Rita Voss bemüht sich vergebens, den neuen Leiter des KK 11 von einem möglichen Doppelmord zu überzeugen. Dass Anfang Juli eine junge Frau nicht von ihrer Arbeitsstelle zurückkam und es noch mehr solcher Fälle gibt, erfährt Rita Voss erst später. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Die Verlierer« von Bestsellerautorin Petra Hammesfahr. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Dieser Fall bringt Rita Voss an ihre Grenzen. Am 5. Juli erscheint der 38-Jährige Fred Keller in ihrem Büro und erklärt, im Urlaub sei ihm die Frau weggelaufen. Nun verdächtigt sein Schwager ihn, Kirsten getötet zu haben. Fred Keller beteuert, dass Kirsten nach der Ankunft auf dem Campingplatz ihr Joggingzeug anzog und loslief, zurück kam sie nicht mehr. Im April hat sie das schon mal gemacht, blieb drei Tage weg. Fred vermutet, dass sie eine Affäre hat.
Wo sein Stiefsohn sich aufhält, der die drei Tage im April bestätigen könnte, weiß niemand. Seinem Onkel hat der 13-Jährige Til eine Woche vor Urlaubsbeginn erklärt, dass er nicht mitfahren wird. Das wäre nämlich für Fred die Gelegenheit, Mama und ihn verschwinden zu lassen und abzukassieren. Kirsten Keller ist vermögend.
Rita Voss bemüht sich vergebens, den neuen Leiter des KK 11 von einem möglichen Doppelmord zu überzeugen. Dass Anfang Juli eine junge Frau nicht von ihrer Arbeitsstelle zurückkam und es noch mehr solcher Fälle gibt, erfährt Rita Voss erst später.
»Die Verlierer« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Petra Hammesfahr schrieb mit 17 ihren ersten Roman. Mit ihrem Buch »Der stille Herr Genardy« schaffte sie den Durchbruch. Mit »Die Sünderin« kam der große Erfolg und die Platzierung in der SPIEGEL-Bestenliste. Seitdem schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen und wurde mit vier Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Autorin lebt in der Nähe von Köln.
Bei dotbooks erscheinen außerdem ihr Roman »Mit den Augen eines Kindes« als eBook.
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eBook-Ausgabe Mai 2024
Copyright © der Originalausgabe 2024 Petra Hammesfahr und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-134-6
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Petra Hammesfahr
Die Verlierer
Psycho-Spannung
dotbooks.
Die Steinbrecherkuhle lag abseits der Landstraße zwischen Brühl und Wesseling versteckt in einem Waldstück und machte den Eindruck eines stillen Weihers, doch das täuschte. Vor Jahren hatte es hier wiederholt Tote gegeben, leichtsinnige junge Leute, die sich nicht um die »Baden verboten«-Schilder gekümmert hatten. Inzwischen ging hier niemand mehr freiwillig ins Wasser.
Die Kuhle war tückisch und bei Tauchern gefürchtet. Sie maß gute dreihundertfünfzig Meter im Durchmesser und war stellenweise hundertzwanzig Meter tief. Das Wasser war trüb von Algen, der Grund zerklüftet und von allem möglichen Unrat bedeckt. Wer etwas loswerden wollte, was bei einer regulären Entsorgung ins Geld gegangen wäre, kam nachts her und versenkte den Kram.
Bis vor rund hundert Jahren waren hier Steine aus dem felsigen Untergrund gebrochen worden, daher der Name. Es gab einen unterirdischen Zufluss, was dazu geführt hatte, den Steinbruch aufzugeben. Der Wasserspiegel veränderte sich nur nach längeren Trockenphasen oder heftigen Regenfällen, was dafürsprach, dass es irgendwo unten auch einen Abfluss geben musste, nach dem aber noch nie jemand gesucht hatte.
Hin und wieder wurde in der Kreisverwaltung darüber debattiert, der illegalen Müllentsorgung ein Ende zu setzen und die Kuhle mit Abraum zu verfüllen. Das rief regelmäßig krawallbereite Umweltschützer auf den Plan, die meinten, den Lebensraum einer angeblich seltenen Krötenart schützen zu müssen. Das wiederum hatte bereits mehrfach zu unangenehmen Zusammenstößen mit der Polizei geführt.
Bei frisch Verliebten war die Steinbrecherkuhle ein Ort zum Träumen. Solange nicht zu befürchten stand, dass die Kreisverwaltung wieder mal beabsichtigte, Bagger zu schicken, blieb man in der lauschigen Umgebung unbehelligt. Das schätzten vor allem Paare, die sich nicht zusammen in der Öffentlichkeit zeigen durften, wie Nurten und Oliver.
Das westliche Ufer fiel steil ab, dort waren es mindestens vierzig Meter bis zur Wasseroberfläche. Das östliche Ufer dagegen war flach und sandig wie ein Strand. Diese Fläche war zudem von Bäumen und dichtem Buschwerk umstanden. Hier konnten sie die Fahrräder abstellen und waren vor den Blicken auf dem Weg vorbeikommender Spaziergänger oder Radsportler geschützt.
Oliver hatte eine Decke ausgebreitet, um mit Nurten den Sonnenuntergang über der Steilkante auf der gegenüberliegenden Seite zu beobachten und von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen, die ihnen nicht vergönnt war. Die Sonne stand bereits hinter den Baumkronen im Westen und blendete, wenn der leichte Wind eine Lücke im Laub schuf. Das Tageslicht ging in Dämmerung über. Wenn man sich umdrehte und nach Osten schaute, erkannte man schon vereinzelte Lichtpünktchen am Abendhimmel. Es hätte romantisch sein können, war es aber nicht.
Nurten hatte Angst. Ein Onkel hatte seinen Besuch für die kommende Woche angekündigt, und ihre Eltern hatten in letzter Zeit viel von einem Cousin gesprochen, vielmehr in den höchsten Tönen geschwärmt, auch ein Foto gezeigt. Ein tüchtiger Mann, ein guter Mann, bei dem eine Frau ein gutes Leben hätte. Nurten befürchtete, dass hinter ihrem Rücken entschieden worden war, wer diese Frau sein sollte. Sie!
Was kümmerten ihre Eltern oder einen Onkel aus Anatolien ihre schulischen Leistungen? Im Gegensatz zu ihren Brüdern, die mit Ach und Krach die Hauptschule absolviert hatten, besuchte sie wie Oliver das Gymnasium. Noch waren Ferien. Was sollte sie tun, wenn sie gezwungen wurde, den Onkel zu begleiten, wenn er in seine Heimat zurückkehrte? Sie war siebzehn, wollte nicht mit einem Cousin verheiratet werden und ihr Leben an der Seite eines tüchtigen Mannes in Anatolien verbringen. Es mochte ja sein, dass der Cousin ein fleißiger Handwerker war, der seine Frau nicht gleich schlug, wenn sie ihm nicht gehorchte. Aber sie hatte andere Pläne, wollte studieren, Ärztin werden, am liebsten Kinderärztin. Mit ihrem Notendurchschnitt war das nicht utopisch.
Als sich von der Landstraße her Motorengeräusche auf dem Weg näherten, fürchtete Nurten, ihre Brüder seien ihnen gefolgt. Das hielt Oliver für unwahrscheinlich. Sie waren schon seit mehr als zwei Stunden hier. Verfolger hätten sie längst aufgespürt und von der Decke gezerrt. Es sei denn, es handelte sich um Leute, die sich an der Steinbrecherkuhle nicht auskannten und nichts von der sandigen Lichtung am Ostufer wussten. Was man bei Nurtens Brüdern eigentlich voraussetzen konnte. Von denen war garantiert noch keiner hier gewesen.
Zwischen den Büschen waren sie vom Weg aus nicht zu sehen. Der Wagen fuhr vorbei, dicht gefolgt von einem zweiten Auto. Beide Fahrzeuge umrundeten die Kuhle, das erste machte auf dem gegenüberliegenden Steilufer kurz halt und rangierte dann, bis die Scheinwerfer Richtung Osten zeigten. Vom zweiten war nichts zu sehen, es hatte auf dem Weg angehalten.
Obwohl das Scheinwerferlicht auf die Entfernung zu einem Schimmer wurde, der sich in der Dämmerung über dem Wasser verlor, befürchtete nun auch Oliver, es könne sich um Nurtens Brüder handeln. Von denen nun einer versuchte, das Ostufer zu beleuchten, während der andere abwartete und aufpasste, ob irgendwo jemand aus dem Gebüsch kam und zu fliehen versuchte. Bei aller Vorsicht und all den glaubhaften Ausflüchten, die Nurten bisher daheim für längeres Ausbleiben am Abend geboten hatte, womöglich mutmaßte ihre Familie seit einer Weile, dass sie einen Freund traf und keine Freundin. Vielleicht waren die beiden Autos mit Verspätung aufgetaucht, weil sich zuerst jemand bei Nurtens Freundinnen erkundigt hatte, wo man sie finden könne.
Um welchen Wagentyp es sich bei dem auf dem Westplateau handelte, war bei den Lichtverhältnissen nicht auszumachen. Es war auch nicht davon auszugehen, dass sie gesehen werden konnten, das Scheinwerferlicht reichte nicht so weit. Trotzdem flüsterte Oliver: »Keine Angst, der sieht uns hier nicht.«
Nurten saß mit angezogenen Knien auf der Decke und schaute wie hypnotisiert zu den gelben Lichtern hinüber. Zuerst war nicht mehr zu erkennen. Dann bewegte sich etwas an der Fahrerseite. Wie es schien, wurde die Tür geöffnet, und jemand stieg aus. Minutenlang passierte nichts weiter, was sie hätten beobachten können. Dann wurde die Fahrertür offenbar wieder geschlossen.
Und dann näherten sich die Scheinwerfer der Bruchkante. Das geschah so langsam, dass Oliver etliche Sekunden fürs Begreifen brauchte. Jemand schob das Auto zum Rand der Kuhle. Als ihm das klarwurde, kippte es auch bereits mit der Motorhaube voran in die Tiefe. Sie hörten das Platschen, als es auf dem Wasser aufschlug, von Weitem nicht lauter als die Hand eines spielenden Kindes in einer Badewanne.
Danach war es seltsam still, nur ein leises Säuseln von Wind im Laub, bis Oliver aufgebracht in Worte fasste, was sie gesehen hatten. »Da hat irgendein Idiot ein Auto versenkt.«
Nurten konnte den Blick nicht von der Wasseroberfläche lösen. Sekundenlang sah man noch den schwächer werdenden Schimmer der Scheinwerfer. Dann wurde die Fläche wieder zu einem schwarzen Spiegel, in dem drei, vier besonders helle Sterne als vereinzelte Lichtpunkte blinkten. Aber man musste wie gebannt hinschauen, um sie zu entdecken.
»Wie tief geht das dahinten runter?«, fragte Nurten.
»Keine Ahnung.« Oliver war nicht ganz bei der Sache, zerrte sein Handy aus der Hosentasche und schimpfte: »So eine Sauerei. Wozu gibt es Schrottplätze?«
Nurten schaute unverändert aufs Wasser und die gegenüberliegende Steilkante, die inzwischen ebenso schwarz wirkte wie die Kuhle. Neben ihr sagte Oliver ins Telefon: »Ich bin an der Steinbrecherkuhle und möchte eine Umweltverschmutzung melden, hier wurde gerade ein Auto versenkt …« Weiter kam er nicht.
Nurten fiel ihm in den Arm, das Handy verlor den Kontakt zum Ohr. »Bist du verrückt?«, protestierte sie in gedämpfter Lautstärke. »Wenn meine Eltern erfahren, dass ich …«
Oliver begriff und trennte die Verbindung zur Leitstelle der Kreispolizeibehörde. Auf dem Weg näherte sich das zweite Auto und fuhr vorbei Richtung Straße.
Elf Tage bevor in der Leitstelle der Kreispolizeibehörde Hürth ein Notruf einging, der nach einem Hinweis auf Umweltverschmutzung abgebrochen wurde, saß Rita Voss einem Mann gegenüber, bei dem sie sich schwertat, ihn einzuschätzen. Als Kriminalhauptkommissarin beim KK 11 war sie einiges gewohnt, aber ein Typ wie Fred Keller war ihr noch nicht untergekommen.
Er war achtunddreißig Jahre alt und sah aus, als hätte er letzte Woche Abitur gemacht. Auf den ersten Blick gehörte er zu der Sorte Mann, an der Rita auf der Straße achtlos vorbeigegangen wäre. Wenn sie im Dienst war, schaute sie grundsätzlich genauer hin, weil die Mimik eines Menschen entschieden mehr verriet als alles, was er zu sagen bereit war.
Vielleicht trug Fred Kellers glattrasiertes, jugendliches Gesicht von Natur den Ansatz eines zuversichtlichen Lächelns, es konnte auch berufsbedingt sein. Als selbstständiger Unternehmensberater hatte er sich diese Miene für erste Kontakte womöglich antrainiert, um einem Klienten bei drohender Insolvenz zu suggerieren: Alles halb so wild, jetzt bin ich ja da. Ich mag aussehen, als wäre ich noch grün hinter den Ohren, aber ich hab’s drauf.
Auf Rita machte er mit diesem permanenten Fastlächeln den Eindruck eines Mannes, der sich nicht entscheiden konnte, ob er das Verschwinden seiner Frau oder die diesbezüglichen Verdächtigungen seines Schwagers in den Vordergrund stellen sollte. Anders ausgedrückt, sollte er eine Abgängigkeitsanzeige erstatten oder um Polizeischutz bitten. Sein Schwager hatte ihm nämlich am vergangenen Abend unterstellt, Kirsten getötet zu haben, und unter Androhung von Gewalt ein Geständnis verlangt.
»Ich kann nur wiederholen, was ich meinem Schwager gesagt habe«, erklärte Fred Keller. »Unmittelbar nach unserer Ankunft hat meine Frau ihr Sportzeug angezogen und ist losgelaufen. Wir hatten sogar eine kleine Auseinandersetzung deswegen. Aber wir hatten fast eine Stunde in einem Stau verloren. Kirsten war sehr aufgebracht deswegen. Sie brauchte nach der stundenlangen Anfahrt Bewegung und ließ sich nicht aufhalten. Ich war weiß Gott nicht erfreut, mit allem allein dazustehen. Im Gegensatz zu meiner Frau hatte ich noch nie Campingurlaub gemacht und fühlte mich überfordert. Aber gefolgt bin ich ihr nicht. Ich habe den Platz nicht für eine Minute verlassen, was Ihnen ein Nachbar bestätigen kann.«
Bedauerlicherweise konnte Fred Keller nicht genau sagen, wo dieser Nachbar zu finden war. Losgelaufen war Kirsten nämlich gegen neunzehn Uhr vom Campingplatz Ammermühle im Bayrischen Wald. Es handelte sich um einen sogenannten Terrassenplatz, und auf der nächstgelegenen Terrasse hatte ein älteres Ehepaar in einem Wohnwagen mit Essener Kennzeichen campiert. Daraus ließ sich ableiten, dass die Leute wahrscheinlich irgendwo in Essen zuhause waren.
Fred Keller hatte begonnen, das Vorzelt aufzubauen. Für eine Person war das schwer zu händeln. Der Essener hatte seine Hilfe angeboten. Vorgestellt hatte er sich auch, allerdings nur mit dem Vornamen, bei Campern war das wohl so üblich. Den Namen hatte Fred Keller sich leider nicht merken können. Das Kennzeichen des Wohnwagens hatte sich ihm ebenfalls nicht eingeprägt. Auf den dazugehörigen Pkw hatte er überhaupt nicht geachtet, hatte doch nicht ahnen können, dass es wichtig werden würde.
Da sollte sich eine Polizistin mit Ritas Berufserfahrung nicht auf den Arm genommen fühlen. Daran änderte auch die nachfolgende Erklärung nichts. »Ich war zu beschäftigt, ehrlich gesagt auch ein bisschen verzweifelt, weil ich mich für einen ungeschickten Trottel hielt. Es war mein erster Campingurlaub, das sagte ich ja schon. Genau genommen war es unser erster gemeinsamer Urlaub. Kirsten ist beruflich die ganze Woche unterwegs und muss zwangsläufig mit Hotels vorliebnehmen. Erholung ist für sie, das Leben in den eigenen vier Wänden zu genießen. Auch noch ihre Freizeit in einem Hotel zu verbringen wäre für sie ein Unding. Aber sie sah ein, dass ich mal rausmusste und nicht ohne sie Urlaub machen wollte. Sie hat vorgeschlagen, ein Wohnmobil zu mieten. Früher hatten sie ein eigenes, das hat ihr erster Mann bei der Trennung mitgenommen. Für uns reichte ein Wagen mit zwei Schlafplätzen, weil Til nicht mitkommen wollte.«
Til, erfuhr Rita auf Nachfrage, war Kirstens Sohn aus erster Ehe, hieß mit Familiennamen Gerber und lehnte seinen Stiefvater vehement ab. »Er hat sich mir gegenüber vom ersten Tag an feindselig verhalten«, erklärte Fred Keller, wobei das Dauerlächeln endlich aus seinem Gesicht verschwand und einer Leidensmiene Platz machte. »Für ihn war ich ein Eindringling, dabei hatte sein Vater sich schon zwei Jahre vorher abgesetzt und nichts mehr von sich hören lassen. Zu Anfang dachte ich, das gibt sich, wenn Til mich besser kennt. Aber es wurde schlimmer. Jetzt ist er dreizehn, und ich frage mich, wie das mit uns funktionieren soll, wenn er vierzehn oder fünfzehn ist.«
Dann würde die Woche über Dauerkrieg herrschen. Rita urteilte nach eigener Erfahrung. Ihre Tochter hatte keinen Ersatzvater, dem sie das Leben vergällen konnte, aber das klappte auch hervorragend bei der Mutter. Schon mit elf war Thea zeitweise unausstehlich gewesen und mit zunehmendem Alter nicht pflegeleichter geworden.
Fred Keller kam vom Stiefsohn zurück auf den Campingplatz. Nachdem er mit Hilfe des namenlosen Nachbarn das Vorzelt aufgebaut und dem Mann zum Dank eine Dose Bier angeboten hatte, die jedoch abgelehnt worden war, hatte er etwas zum Grillen vorbereitet und auf Kirstens Rückkehr gewartet. Als sie nach anderthalb Stunden noch nicht zurück war, hatte er sie anrufen und fragen wollen, ob er den Grill schon mal anheizen solle. Und da hatte er festgestellt, dass ihr Handy im Wagen lag. Sie hatte es wohl in der Eile des Aufbruchs vergessen.
Dann hatte er gewartet. Nach seiner Frau gesucht hatte er nicht. Er hatte ja nicht einmal gewusst, in welche Richtung Kirsten sich vom Platz entfernt hatte. Darauf hatte er nicht geachtet im Stress. Und im Gegensatz zu ihm kannte Kirsten sich in der Gegend aus. Sie hatte in früheren Jahren wiederholt auf Ammermühle Urlaub mit ihrem ersten Mann und dem Sohn gemacht.
»Ich dachte, vielleicht hat sie unterwegs jemanden getroffen, den sie von früher kennt, und frischt alte Erinnerungen auf«, behauptete Fred Keller.
Seinen Worten zufolge hatte er stundenlang neben dem Grill im Vorzelt ausgeharrt. Er war erst ins mobile Heim gestiegen, als es stockfinster und ringsum alles still geworden war. Das klang fast so, als erwarte er, dafür gelobt oder bedauert zu werden. »Aber geschlafen habe ich in der Nacht nicht, keine Sekunde lang«, schloss er.
Das wäre auch der Gipfel gewesen, fand Rita, sich ins Bett zu legen, während die Frau irgendwo draußen mit Sicherheit nicht mehr joggte.
Dass Kirsten Keller auf ihrer Joggingrunde jemanden getroffen und Erinnerungen aufgefrischt hatte, hielt Rita für unwahrscheinlich. Dann wäre sie wohl in der Nacht oder am nächsten Morgen zurückgekommen. Dass sie sich abgesetzt hatte, zog Rita ebenso wenig in Betracht. Wer beruflich die Woche über in Hotels logierte, hatte andere Möglichkeiten, als in Sportkleidung von einem Campingplatz zu verschwinden. Es war eher anzunehmen, dass Kirsten verunfallt war und ohne Handy keine Hilfe hatte rufen können.
»Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, sich an die örtliche Polizei zu wenden?«, fragte Rita. »Spätestens mit Anbruch der Dunkelheit wäre das geboten gewesen. Mag ja sein, dass Ihre Frau die Gegend von früheren Aufenthalten kannte, aber zuhause war sie dort nicht. Und sie war allein unterwegs. Sie könnte gestürzt sein. Ein falscher Tritt auf unebenen Waldwegen reicht schon, um sich ein Bein zu brechen.«
Fred Keller zuckte unbehaglich mit den Achseln und senkte den Blick, als schäme er sich im Nachhinein für seine Untätigkeit. Als er den Kopf wieder hob, bot er Rita statt der Leidensmiene einen Ausdruck der Verlegenheit, gemischt mit Unsicherheit. Rita dachte flüchtig an ein Chamäleon. Unter seinem linken Auge zuckte ein winziger Muskel und verriet Nervosität. »Was hätte die Polizei in der Nacht denn großartig tun können?«, fragte er.
»Suchen«, antwortete Rita. Von Berufs wegen war es ihr untersagt, einem Menschen offen zu zeigen, wie sie über ihn dachte. Neutralität in Wort, Ton und Mimik war das Gebot. Anteilnahme war auch erlaubt, aber hier kaum angebracht. Ein wenig Antipathie, in Ironie verpackt, gestattete sie sich. Kaum anzunehmen, dass Fred Keller sich über sie beschweren würde.
»Wir haben Lampen und Hunde, damit kann man auch bei Nacht draußen herumlaufen. Darüber hinaus gibt es Drohnen mit Wärmebildkamera, die sogar in totaler Finsternis erstklassige Dienste leisten. Und am Morgen war es mit Sicherheit wieder hell genug, um einen Suchtrupp ins Gelände zu schicken.«
Darauf bekam sie keine Antwort.
»Wie lange haben Sie denn gewartet?«, fragte sie.
»Wir hatten den Platz im Bayrischen Wald für eine Woche gebucht«, murmelte Fred Keller mit erneut gesenktem Kopf. »Danach sollte es weitergehen nach Österreich und Italien. Aber darauf habe ich verzichtet.«
Rita hatte Mühe, ihn zu verstehen, und vergewisserte sich schwankend zwischen Fassungslosigkeit und Unverständnis: »Sie haben eine Woche lang auf dem Campingplatz abgewartet, sich aber das Kennzeichen des Wohnwagens nebenan nicht merken können? Wann genau ist Ihre Frau denn verschwunden?«
»Sagte ich doch schon, gleich nach unserer Ankunft.«
»Und wann sind Sie angekommen?«, fragte Rita. »Das sagten Sie bisher nicht.«
»Am 24. Juni.«
»Das ist aber schon länger als eine Woche her. Seit wann sind Sie denn zurück?«
»Seit Samstagabend, also seit dem ersten Juli.«
»Wow«, sagte Rita. »Ihre Nerven möchte ich haben. Seit dem Verschwinden Ihrer Frau sind elf Tage vergangen, ohne dass Sie etwas unternommen haben. Und da wundern Sie sich, dass Ihr Schwager Sie des Mordes verdächtigt?«
Unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge traf es vermutlich eher, wenn Kirsten Keller sich tatsächlich irgendwo in der Wildnis so schwer verletzt haben sollte, dass sie nicht zum Wohnmobil hatte zurückkehren können. Wäre sie zwischenzeitlich gefunden worden, hätte der Ehemann sich nicht herbemühen müssen. Sollte ihre Leiche in den nächsten Tagen entdeckt werden, durfte man gespannt sein, wie die Staatsanwaltschaft darüber urteilte, dass der besorgte Gatte seelenruhig die Zeit abgesessen hatte, zuerst auf dem Campingplatz, dann zuhause, bis sein Schwager rebellisch wurde.
»Es war ja nicht das erste Mal, dass Kirsten vom Joggen nicht zurückkam«, begehrte Fred Keller auf. »Im April war sie drei Tage lang weg. Da lief sie am Samstag los, kam erst in der Nacht zum Mittwoch zurück und wollte mir weismachen, sie habe zufällig eine Schulfreundin getroffen und sich eine kleine Auszeit gegönnt.«
Er tippte sich bezeichnend an die Stirn, um deutlich zu machen, was er von dieser Auskunft gehalten hatte, und fuhr in aufgebrachtem Ton fort: »Eine Auszeit. Drei Tage lang. In Joggingklamotten. Kirsten nimmt nicht mal einen Tag frei, wenn sie stark erkältet ist. Da schluckt sie Pillen, um die Symptome zu unterdrücken, sonst könnte ihr ja ein großer Abschluss durch die Lappen gehen. Hätte ich das der Polizei verschweigen sollen? Es war für mich eine sehr unangenehme Situation, verstehen Sie? Wir waren gerade erst angekommen, und mir läuft die Frau weg, nachdem sie sich über die im Stau verlorene Zeit aufgeregt hatte. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich den Motor abstelle. Ich nahm an, sie hätte geplant zu verschwinden. Vielleicht war sie verabredet.«
»Mit wem?«, fragte Rita.
»Das weiß ich doch nicht!« Fred Keller wurde erneut etwas lauter und nachdrücklicher. »Glauben Sie, meine Frau erzählt mir, mit wem sie eine Affäre hat?«
»Gab es seit dem Verschwinden Ihrer Frau Kontobewegungen? Hat sie irgendwo Geld abgehoben oder mit Karte bezahlt?«
»Ich kann Kirstens Konten nicht einsehen.«
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Im August werden es zwei Jahre, vorher haben wir achtzehn Monate ohne Trauschein zusammengelebt, um festzustellen, ob wir im Alltag harmonieren. Kirsten wollte nach einer hässlichen Scheidung nicht noch einen Reinfall erleben.«
Das konnte Rita nachvollziehen, sie war mit ihrem Ex auch nicht in bestem Einvernehmen auseinandergegangen. Aber wenn eine Frau nur am Wochenende zuhause war, konnte man kaum von Alltag reden. Die Frage, ob die Ehe glücklich war, ersparte sie sich und ihm. Von einem gehörnten Trottel hätte sie ohnehin keine ehrliche Antwort bekommen.
»Hatte Ihre Frau das Handy im April auch nicht dabei?«
»Doch, aber ich geriet nur an die Mailbox. Til behauptete sonntags, sie hätte ihn angerufen und versichert, es ginge ihr gut.«
»Hat sie Til auch aus dem Bayrischen Wald angerufen?«
»Wie denn ohne Handy?«
»Oh«, sagte Rita gedehnt. »Es gibt vielfältige Möglichkeiten, ohne Handy zu telefonieren, wenn man will.«
Fred Keller zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat sie sich bei ihm gemeldet. Ich weiß es nicht. Er war nicht zuhause, als ich zurückkam, und ist bisher nicht aufgetaucht.«
»Anrufen können Sie ihn auch nicht?«, fragte Rita und bekam ein Kopfschütteln zur Antwort, gefolgt von der Erklärung: »Til macht aus seiner Handynummer ein Staatsgeheimnis. Von mir möchte er keinesfalls belästigt werden.«
»Was ist mit seinen Freunden?«
»Kenne ich nicht. Ich glaube nicht mal, dass er Freunde hat. Til ist ein Einzelgänger, hockt ständig am Computer und rettet die Welt. Vielleicht weiß sein Onkel, wo er sich herumtreibt. Oder die Großeltern können Ihnen sagen, wie man ihn erreichen kann.«
Mit einem aktuellen Foto seiner Frau konnte Fred Keller dienen. Er hatte zwei Dutzend auf dem Handy, auch Aufnahmen, die sie im Sportdress zeigten. Rita wählte eine davon und zusätzlich ein Porträt. Es zeigte eine attraktive Blondine in ihrem Alter mit einem kühlen, um nicht zu sagen sezierenden Blick. Nach einem Foto vom Stiefsohn fragte sie erst gar nicht. Es sah zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht so aus, als würde sie eins brauchen.
Als ich so alt war wie Til, hatte ich noch Großeltern, ich kannte sie nur nicht und wusste nichts von ihnen. In meiner frühen Kindheit hatte es den einen oder anderen Kontakt gegeben. Ich erinnere mich dunkel, dass Vater einmal mit mir eine ältere Frau besuchte, die mir einen Weckmann mit Pfeife schenkte. Das muss um Sankt Martin oder Nikolaus herum gewesen sein, als die Weckmänner in allen Bäckereien auslagen. Ich durfte ein Bein essen, mitnehmen durfte ich nicht mal die Pfeife. So etwas prägt sich ein.
Ich erinnere mich auch, dass Vater mich auf dem Heimweg bat, Mama nicht zu verraten, dass ich schon etwas gegessen hatte. Er schwor mich nicht darauf ein, den Besuch zu verschweigen. Das hätte der Sache vermutlich so viel Gewicht verliehen, dass ich es bald ausgeplaudert hätte. So war es nur eine alltägliche Ermahnung und nicht der Rede wert.
Bei der älteren Frau muss es sich um die Mutter meines Vaters gehandelt haben, die für meine Mutter ein rotes Tuch war, wie ich später erfuhr. Umgekehrt verhielt sich das genauso. Zu Mutters Eltern gab es ebenfalls keinen Kontakt. Trotzdem war ich lange Jahre überzeugt, Eltern zu haben sei das Selbstverständlichste der Welt und man hätte sie beide für immer. Einer der großen Irrtümer unserer Zeit, von dem viele Kinder ein trauriges Lied singen können.
Ich rede nicht von Unfällen oder Krankheiten, die ein Elternteil viel zu früh aus dem Leben reißen und Kinder zu Halbwaisen machen. Ich rede von Trennung. Wer kennt sie nicht, die üblen Geschichten von Männern, die Frau und Kinder verlassen, sich mit allerlei Finessen vor Unterhaltszahlungen drücken, nur noch ihr Leben und ihre Freiheit genießen wollen?
Ich war zwölf, als mein Vater zu seiner Freundin zog, mein Bruder war gerade sieben geworden. Von der Scheidung unserer Eltern, die im Jahr darauf erfolgte, haben wir beide nicht viel, eigentlich gar nichts mitbekommen. Einen Anwalt konnte Mutter am Vormittag aufsuchen, wenn wir in der Schule saßen. Der Gerichtstermin fiel vermutlich auch in die Vormittagsstunden. Manchmal lag ein Kuvert mit dem Stempel einer Anwaltskanzlei in der Küche. Wenn ich mir das näher anschauen wollte, hieß es regelmäßig: »Finger weg, Carli.«
Den Namen habe ich mir verpasst, als ich anfing, einigermaßen verständlich zu sprechen, meinen vollen Namen aber noch nicht herausbrachte. Carli klang niedlich, das war ich damals auch, später nicht mehr. Alle fanden die Kurzform süß, also blieb es dabei. Noch heute nennen mich einige, die mich von früher kennen, Carli. Für alle anderen bin ich Carlo.
Mein Bruder empfand die Trennung unserer Eltern nicht so dramatisch wie ich. Stefan war damals ein Mamakind, hing an Mutters Rockzipfel, wollte noch mit fünf Jahren beim Essen auf ihrem Schoß oder wenigstens neben ihr sitzen und abends auf der Couch mit ihr kuscheln. Wenn sie ihn ins Bett brachte, musste sie sich zu ihm legen und ihm vorlesen, bis er eingeschlafen war.
Ich war auf Vater fixiert. Er war mein Held, mein Supermann, der alles reparieren und immer erklären konnte, wie etwas funktionierte oder warum es das nicht tat. »Da ist nur die Batterie leer, Carli. Wir legen eine neue ein, dann geht es wieder.«
Wie habe ich ihn als Kind geliebt – ach was, vergöttert habe ich ihn. Ich muss knapp fünf Jahre alt gewesen sein, Stefan war noch nicht auf der Welt, wurde aber kurz darauf geboren, als im Kindergarten beim Freispiel in der Sandkiste ein Bagger seine Schaufel verlor, weil der Seilzug gerissen war. Der Junge, der damit gespielt hatte, weinte. Die Kindergärtnerin nahm Bagger und Schaufel an sich und tröstete: »Wenn wir den lieben Gott heute Abend bitten, den Bagger zu reparieren, dann tut er das bestimmt.«
Und ich sagte: »Dafür müssen wir nicht den lieben Gott bitten. Ich nehme den Bagger mit nach Hause. Mein Papa kann die Schaufel wieder festmachen, er kann alles.«
Mutter erzählte einigen Leuten davon, sodass unsere Nachbarin später mein Gedächtnis auffrischen konnte. Die Kindergärtnerin hatte nämlich zu Mutter gesagt: »Für Carli kommt der Papa noch vor dem lieben Gott.«
Und das zu Recht. Vom lieben Gott habe ich nie etwas gespürt, mein Vater dagegen konnte sogar Schmerzen lindern.
Ich war sieben oder acht, da fuhren wir an einem Sonntag zu einem großen Volksfest. Vater besaß nur ein Motorrad. Für Familienausflüge war das ungeeignet, deshalb nahmen wir den Zug. Wir drehten eine Runde auf der Geisterbahn, wo mein kleiner Bruder schon nach der ersten Kehre wie am Spieß schrie und unbedingt wieder aussteigen wollte. Die Fahrten auf dem Autoscooter gefielen Stefan besser.
An einer Bude durften wir uns jeder ein Spielzeug aussuchen. Ich entschied mich für einen Zauberwürfel, den ich nie lösen konnte, nachdem ich ihn einmal verdreht hatte. Stefan wollte unbedingt einen Beutel Kriegsmännchen haben. Winzig kleine Plastiksoldaten, einheitlich dunkelgrün, die zusammen mit drei Dutzend Panzern und Kampffliegern in dem Beutel steckten. Er weinte bittere Tränen, weil Mutter es ablehnte, ihm den Ramsch zu kaufen. Vater erbarmte sich, und Stefan trug seine Kriegsmännchen mit einer Andacht, als wären es Heilige.
An einer anderen Bude bekamen wir jeder eine Süßigkeit. Da fackelte Mutter nicht lange, kaufte für Stefan eine mit Schokolade überzogene Banane. Ich suchte mir einen Paradiesapfel aus und bekam höllische Zahnschmerzen, weil ich ein Loch in einem Backenzahn hatte, das noch keinem aufgefallen war.
Unser Familienausflug fand ein jähes Ende, es ging im Eiltempo zurück zum Bahnhof und mit dem nächsten Zug Richtung Heimat. Da saß ich dann neben Vater, verkniff mir die Tränen und drückte die Backe gegen seine Seite. Ein Reisender uns gegenüber bot mir ein Schmerzmittel an. Mutter war dafür, dass ich es nehmen sollte, Vater war ebenfalls einverstanden. Ich lehnte ab, weil seine Wärme den tobenden Nerv beruhigte.
Wir sind noch am selben Abend zu unserem Zahnarzt gegangen. Er wohnte über der Praxis und stand für Notfälle auch abends zur Verfügung, man musste nur klingeln. Während der Zahnarzt bohrte, stand Vater auf der anderen Seite neben dem Behandlungsstuhl, hielt meine Hand und meinen Blick mit den Augen fest. Ab und zu nickte er, als wolle er sagen: Es ist doch gar nicht so schlimm, wenn ich bei dir bin.
So war es auch. Alles war gut, solange er bei uns war. Ich will jetzt nicht mit der Floskel kommen, meine Welt sei zerbrochen oder untergegangen, als Vater uns verließ. Sie hielt schon noch zusammen, soff auch nicht ab. Sie wurde nur so weit, dass ich zeitweise völlig den Halt darin verlor.
Das soll keine Entschuldigung sein, nur eine Erklärung.
Vor drei Monaten hatte das KK 11 endlich einen neuen Leiter bekommen. Nun saß Konrad Metzner auf dem Platz, auf dem nach dem Wechsel des von Rita Voss verehrten Arno Klinkhammer zum LKA nach Düsseldorf geraume Zeit ein guter Freund von Metzner als kommissarischer Leiter mehr schlecht als recht agiert hatte. Metzner reichte eher an Klinkhammer heran, fand Rita.
Er war nicht viel älter als sie, ebenfalls solo und gehörte rein äußerlich in die Kategorie Mann, die sie nicht von der Bettkante gestoßen hätte. Sie schickte ihm die Aufzeichnung ihres Gesprächs mit Fred Keller und informierte ihn zusätzlich in Kurzform, was der Mann von sich gegeben hatte.
»Kommen Sie allein klar, Voss?«, wollte Metzner wissen.
Mit Ausnahme seines Freundes Becker, den er im persönlichen Gespräch Jochen nannte, sprach Metzner alle mit Nachnamen an, das war seine Art zu gendern. Daran hatte Rita sich inzwischen gewöhnt. Duzen wie bei Klinkhammer war bei ihm nicht drin. Er hielt auf Distanz, nicht nur sie, sonst hätte sie es persönlich genommen.
Seine Frage fand Rita überflüssig. Sie kam grundsätzlich allein klar, durfte aus Sicherheitsgründen nur nicht immer. Aber jetzt brach sie nicht auf, um einen Verdächtigen zu befragen, der später behaupten könnte, sie habe ihn bedrängt oder bedroht. Es ging nicht einmal darum, Zeugenaussagen einzuholen, lediglich um Auskünfte von Familienangehörigen. Abgesehen davon gab es derzeit beim KK 11 drei Krankmeldungen. Zwei Leute waren regulär in Urlaub. Es blieb Metzner gar nichts anderes übrig, als sie ohne Verstärkung fahren zu lassen, sonst hätte er mitkommen müssen. Und es sah wahrhaftig nicht danach aus, als hätte man es mit einem spektakulären Fall zu tun.
Nach ihrer Kurzfassung war Metzner derselben Meinung wie sie. Wenn Kirsten Keller ihren Sohn während der kleinen Auszeit im April tatsächlich angerufen hatte – noch war das eine unbewiesene Behauptung des Ehemanns –, hatte sie vermutlich mehr gesagt, als dass es ihr gutging. Es war anzunehmen, dass der Junge gefragt hatte, wo sie sich aufhielt und wann sie zurückkäme. Wenn sie ihm ebenfalls ein zufälliges Treffen mit einer Schulfreundin aufgetischt hatte, musste man Fred Keller nur noch klarmachen, dass die Voraussetzungen für polizeiliche Ermittlungen nicht erfüllt waren, wenn eine Frau sich eine Affäre gönnte. Man hatte bei der dünnen Personaldecke auch so genug zu tun.
Das KK 11 war zuständig für Todesermittlungen, vermisste Personen, Sexual-, Brand-, Waffen- und Umweltdelikte. Priorität hatten zurzeit zwei Messerstechereien, Täter flüchtig. Eine Umweltverschmutzung in Kombination mit Sachbeschädigung, mehrere Fässer einer ätzenden Flüssigkeit waren in einen Fischteich gekippt worden, was die Fische nicht überlebt hatten. Ein unklarer Todesfall, möglicherweise Suizid, aber es gab keinen Abschiedsbrief. Eine Serie von Kellerbränden in einem Hochhaus und ein Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung – das Opfer war siebenundachtzig und hatte noch nicht befragt werden können.
Rita war für die Messerstechereien und den unklaren Todesfall zuständig und noch nicht mit den Befragungen von Zeugen durch. Wie Metzner hätte sie es begrüßt, wenn der Sohn den Verdacht einer Affäre erhärtet und ihnen weitere Ermittlungen erspart hätte.
Kirsten Kellers Angehörige bewohnten ein in die Jahre gekommenes Doppelhaus in Bedburg Broich, ihr Bruder Andreas Sennfelder die Nummer 28a, die Eltern 28b. Ritas Hoffnung, dass Til Gerber sich bei den Großeltern oder dem Onkel aufhielt, erfüllte sich nicht. Ersatzweise hielt sie sich an Sennfelder. Er arbeitete als Steuerberater daheim, hatte das Wohnzimmer zum Büro umfunktioniert und war selbstverständlich bereit, einer Kriminalhauptkommissarin sämtliche Fragen zu beantworten und in einem Aufwasch den Verdacht gegen den Schwager zu untermauern.
Vorab bat er darum, seine Eltern erst mal nicht zu behelligen. Sie wussten noch nicht, dass Kirsten nicht aus dem Urlaub zurückgekommen war, und sollten es nach Möglichkeit auch erst erfahren, wenn es eine wie auch immer geartete Gewissheit gab.
Zu den drei Tagen im April konnte Sennfelder nichts sagen. Davon hatte er erst am vergangenen Abend gehört. »Das hat Fred mir als Erklärung für sein Abwarten serviert. Er hätte sich bei der Polizei nicht lächerlich machen wollen, indem er eine Frau als vermisst meldet, die in ein paar Tagen putzmunter und gründlich durchgefickt wieder auftaucht. Genau so hat er sich ausgedrückt.«
Ob seine Schwester außereheliche Beziehungen pflegte – Rita drückte es gewählter aus –, wusste Sennfelder nicht, wollte es aber nicht ausschließen. »Kirsten nimmt sich, was sie braucht oder haben will. Das war immer so. Und ich wäre der Letzte, dem sie auf die Nase bindet, dass sie sich während der Woche öfter mal eine Abwechslung vom Eheleben gönnt. Manchmal braucht auch eine starke Frau einen ganzen Kerl, der in gewissen Situationen die Führung übernimmt.«
Das konnte Rita nachvollziehen. Obwohl es nichts zur Sache tat, erfuhr sie auch noch, dass Tils Vater so ein Kerl gewesen war. Leider hatte Sennfelder keine Ahnung, wo sein Neffe sich aufhalten könnte, wenn er nicht zuhause war. Er klang gleichermaßen verwundert wie beunruhigt, als er sich vergewisserte: »Und das schon seit mehreren Tagen nicht?«
»Zumindest nicht seit dem letzten Samstag«, sagte Rita und fügte hinzu: »Wenn man Fred Keller Glauben schenkt.«
Zur Glaubwürdigkeit seines Schwagers äußerte Sennfelder sich nicht. Dass Til sich bei einem Freund einquartiert haben könnte, um während des Campingurlaubs von Mutter und Stiefvater nicht allein zuhause zu sitzen, schloss er aus. Abgesehen davon, dass auch er nichts von Freunden wusste, meinte er: »Die Zeit ohne Fred hätte Til genossen. Seine Mutter hätte er kaum vermisst. Kirsten pendelt von Montag bis Freitag von Düsseldorf und Frankfurt aus quer durch die Republik, da lohnt es sich nicht, zwischendurch nach Hause zu kommen. Daheim ist sie nur am Wochenende. Dann hat sie keine Zeit für Til. Daran ist er gewöhnt.«
Kirsten war als Account Managerin einer Kreditversicherung mit Stammsitz in Frankfurt und Zweigstelle in Düsseldorf tätig und verdiente, wie ihr Bruder es ausdrückte, ein Schweinegeld.
Und Til … Fred Keller hatte ihn als Einzelgänger bezeichnet. Andreas Sennfelder nannte den Jungen einen Eigenbrötler, der die Trennung seiner Eltern vor fünf Jahren bis heute nicht verarbeitet hatte. »Kirsten hat ihn monatelang zu einem Kinderpsychologen geschickt. Ausgerichtet hat der nichts. Til lässt niemanden mehr an sich ran. Inzwischen bezeichnet Kirsten das als Eigenständigkeit und findet es völlig in Ordnung.«
Seinen Neffen anzurufen war auch Andreas Sennfelder nicht möglich. Er kannte nur Kirstens Handynummer. Man hatte kaum Kontakt. Besuche gab es bloß noch zu Weihnachten und Geburtstagsfeiern, was aber nicht an Til lag. Auch Kirsten war kein Familienmensch und Fred nicht sonderlich beliebt bei Schwager, Schwägerin und den Schwiegereltern, erfuhr Rita so beiläufig, als sei es nicht von Bedeutung, sollte nur mal gesagt werden.
Nachdem er erfolglos überlegt hatte, wo Til sich aufhalten könnte, wenn er schon am ersten Juli nicht mehr zuhause gewesen war, erklärte Sennfelder: »Zuletzt gesehen habe ich ihn in der Woche vor Ferienbeginn. Ich traf ihn zufällig in Bedburg, er wollte noch runter ins Städtchen und bei Eisen Schmeling ein stabiles Schloss für sein neues Rad abholen. Im Mai war ihm ein Rad gestohlen worden, weil Schlösser aus dem Baumarkt angeblich nichts taugen. Darüber regte er sich auf. Til meinte, sein Papa hätte früher immer gesagt, wer billig kauft, zahlt doppelt.« In diesem Zusammenhang hatte Til den geplanten Campingurlaub erwähnt und angezweifelt, dass seine Mutter die Tour nach Bayern vorgeschlagen hatte.
»Ausgerechnet Ammermühle«, hatte Til gesagt. »Da waren wir dreimal mit Papa. Dass Mama aus freien Stücken dahin will, kann der Schwachmat erzählen, wem er will. Wahrscheinlich hat er Mama so lange bequatscht, bis sie zustimmte. Aber wenn er sich einbildet, dass ich mit auf eine Erinnerungstour komme, hat er sich geschnitten. Das wäre doch die Gelegenheit für ihn, uns gemeinsam in die Wildnis zu karren, irgendwo zu verscharren und groß abzukassieren. Die Rechnung macht er ohne mich. Ich bleibe hier und halte die Stellung.«
Diese Unterhaltung hatte Sennfelder auf die Idee gebracht, dass möglicherweise etwas nicht stimmte, als er seine Schwester nicht mehr erreichen konnte. Er hatte fragen wollen, ob sie sich finanziell am Geburtstagsgeschenk für den Vater beteiligen möchte. Ein neuer Fernseher sollte es sein. Kirsten während der Woche anzurufen war zwecklos. Man geriet entweder an die Mailbox oder wurde weggedrückt, weil man bei einer Konferenz, einer Besprechung, Verhandlung oder einem Meeting störte. In Ausnahmefällen hörte man ein kurzes: »Ich rufe gleich zurück«, worauf man lange warten konnte.
Meist vergaß sie es, weil sie viel um die Ohren hatte und die Familie ihr nicht wichtig genug war. Aber dass man während eines Urlaubs bei wiederholten Versuchen an drei aufeinanderfolgenden Tagen nur an die Mailbox geriet, war ungewöhnlich.
»Bei der ersten Bandansage habe ich mir noch nichts gedacht«, sagte Sennfelder. »Man will im Urlaub ja nicht ständig gestört werden. Beim zweiten Versuch fand ich es komisch, weil sie nicht zurückgerufen hatte. Es ging immerhin um Vaters Geburtstag. Da hätte sie sich normalerweise gemeldet. Beim dritten …«
Er atmete durch, zuckte mit den Achseln, als wolle er sich für seine lange Leitung oder die Gedanken entschuldigen, ehe er sie aussprach: »Mir fiel ein, was Til gesagt hatte. Er ist nicht der Typ, der dumme Scherze macht. Da muss etwas im Busch gewesen sein, was er mitbekommen hat. Dass Kirsten den Vorschlag gemacht haben soll, ausgerechnet nach Ammermühle zu fahren, konnte ich mir ebenso wenig vorstellen wie Til. Es gibt Zeiten, an die wird man nicht gerne erinnert.«
Daraus leitete Rita ab, dass die Zeit mit Tils Vater gemeint war. Auch das konnte sie nachempfinden. Sie dachte ebenfalls ungern an ihre gescheiterte Ehe und wurde nun schon zum zweiten Mal daran erinnert. Weil es damit irgendwie persönlich wurde, fragte sie nach, hörte jedoch nichts Negatives über Kirstens ersten Mann.
Greg, mit vollem Namen Gregor Gerber, war laut Sennfelder ein patenter Kerl gewesen. Dachdecker von Beruf, ein Kraftpaket, dem es nichts ausgemacht hatte, dass er im Vergleich mit seiner Frau nicht die Butter aufs Brot verdiente. Ein ungleiches Paar waren sie gewesen. Aber die Beziehung hatte jahrelang gut funktioniert. Sennfelder wusste jedenfalls von keinen unangenehmen Vorfällen oder Streitigkeiten.
Natürlich waren Greg und Kirsten nicht immer einer Meinung gewesen, hatten sich aber stets arrangiert. Zum Beispiel bei der Familienplanung. Greg wollte Kinder, Kirsten ihren Job um keinen Preis der Welt aufgeben, nicht einmal für ein paar Wochen durch ein Baby daran gehindert werden, Geld zu scheffeln. Also blieb Greg nach Tils Geburt zuhause. Acht Jahre lang hatte das reibungslos funktioniert. Kirsten schaffte die Kohle heran, Greg kümmerte sich um Til, das Haus und den Garten.
Andreas Sennfelder gestattete sich ein Lächeln, nach dem ihm nicht wirklich zumute war, es hatte etwas von Schadenfreude. »Eine Haushaltshilfe brauchte sie zu der Zeit nicht. Sie wollte auch keine. Fremde, die herumwerkeln und unbeaufsichtigt schnüffeln können, lehnte sie ab. Man ist ja nicht auf Schritt und Tritt hinter einer Putzfrau her. Heute geht’s nicht mehr ohne. Auf seine Art ist Fred ein arroganter Pinsel, im Haushalt rührt er keinen Finger. Für den Rasen ist Til zuständig, um die Bepflanzung kümmert sich zweimal jährlich ein Gärtnereibetrieb.«
Damit kam er auf seine Befürchtung zurück, seine Schwester könne einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein, und bot ein Motiv, das weit über eine Affäre und Eifersucht hinausging.
»Das Haus sollten Sie sich unbedingt ansehen. Eine schmucke Hütte, kein Vergleich mit unserem Prachtbau hier und, soweit ich weiß, schuldenfrei. Am besten besorgen Sie sich auch einen Beschluss, der es Ihnen erlaubt, sich einen Überblick über Kirstens Finanzen zu verschaffen. Ich habe keinen, mich mit ihren Steuerangelegenheiten zu betrauen war ihr nicht geheuer. Innerhalb einer Familie sollte es gewisse Grenzen geben, meinte sie. Aber ich weiß, dass sie einen sechsten Sinn für Kapitalanlagen hat, vermutlich hat sie gute Kontakte in der Branche. Für einen freiberuflichen Unternehmensberater, der die halbe Zeit auf Unternehmer wartet, die Beratung brauchen, würde sich vermutlich schon allein das Depot lohnen. Wenn Kirsten im April tatsächlich drei Tage lang mit einem anderen unterwegs war und Fred befürchten musste, bald auf der Straße zu stehen …«
Sennfelder brachte den Satz nicht zu Ende, sagte stattdessen: »Sie haben Gütertrennung. Aber vom Erbe ausgeschlossen ist Fred wahrscheinlich nicht. Und Til hätte es kaum einfach so hingenommen, dass Fred allein aus dem Urlaub zurückkam. Wenn der Junge ebenfalls verschwunden ist …« Er legte eine Hand vor den Mund, als wolle er sich daran hindern, es auszusprechen. Kirsten Kellers Bruder schien eine Vorliebe für abgebrochene Sätze zu haben, deren offenes Ende unheilschwanger in der Luft hängenblieb.
Wie von Sennfelder empfohlen, fuhr Rita weiter nach Bedburg Neu-Kaster, wo Kirsten Keller vor Jahren ihre schmucke Hütte gekauft hatte. Rita wollte sich im Haus umsehen und Kirstens Handy sicherstellen. Vorausgesetzt, Kirsten war tatsächlich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Ammermühle losgejoggt und hatte ihr Telefon nicht mitgenommen, hätte Fred Keller es kaum im Wohnmobil liegengelassen, als er den Wagen zurückgab. Folglich musste sich das Handy im Haus befinden und enthielt mit Sicherheit die Handynummer des Sohnes, sehr wahrscheinlich auch Verbindungsdaten einer Affäre.
Außerdem wollte Rita sich nach der Haushaltshilfe erkundigen. Andreas Sennfelder hatte ihr nicht mehr sagen können, als dass zweimal pro Woche eine Frau kam, um zu putzen. Ihren Namen oder ihre Telefonnummer kannte er nicht. Aber möglicherweise kannte die Frau ein paar Anlaufstellen, die Til aufgesucht haben könnte, ehe sein Stiefvater allein aus dem Urlaub zurückkam. Oft wusste das Personal mehr als die Herrschaft.
Bei der Ankunft stellte Rita erst einmal fest, dass es sich nicht um ein Haus handelte, es war eine Villa. Die Nachbarhäuser waren von ähnlicher Bauweise, die Grundstücke groß genug, um auf jedem ein Mehrparteienhaus zu errichten. Ein gefundenes Fressen für Enteignungsphantasten. Kellers Nachbarschaft bestand aus Gutbetuchten, die angesichts der Sicherheitslage im Land ein bisschen aufeinander aufpassten, wie die Mittfünfzigerin von nebenan es ausdrückte. Mit anderen Worten, hier entging keinem, was in diesem Straßenabschnitt passierte.
Ins Innere des Prachtbaus gelangte Rita nicht. Entgegen ihrer Anweisung, sich zur Verfügung zu halten, falls es noch Fragen gäbe, hatte Fred Keller sich auf Reisen begeben. Kurz vor Mittag war er gesehen worden, als er von seinem Besuch der Kreispolizeibehörde zurückkam und seinen weißen Nissan Qashqai nicht wie sonst in die Doppelgarage fuhr, sondern am Straßenrand stehenließ. Eine halbe Stunde später war er mit zwei Rollkoffern wieder ins Freie getreten.
Den größeren der beiden Koffer hatte er nur mit Mühe und nach drei Ansätzen ins Auto hieven können. Deshalb war der Nachbar von gegenüber beim zweiten Versuch nach draußen gegangen und hatte gefragt, ob er helfen könne. Mit Neugier hatte das rein gar nichts zu tun, obwohl er sich natürlich gewundert hatte, dass Fred schon wieder da war und erneut mit schwerem Gepäck verreisen wollte, wo doch beim Start in den Urlaub von einer dreiwöchigen Tour quer durch Europa die Rede gewesen war.
Das Hilfsangebot hatte Fred dankend abgelehnt und erklärt, dass Kirsten sich nach einem Streit gleich zu Urlaubsbeginn abgesetzt und er keinen Sinn darin gesehen habe, allein weiterzufahren. Und nun verdächtige die Familie seiner Frau ihn, Kirsten getötet zu haben. Die Polizei nähme das so ernst, dass er aufgefordert worden sei, nicht zu verreisen.
»Angeblich soll mal ein Mann wegen Mordes verurteilt worden sein, obwohl es keine Leiche gab«, gab der Nachbar wieder, was Fred ihm erzählt hatte. »Er behauptete, in dem Fall hätte das Vermögen der Frau ausgereicht, um den Mann hinter Gitter zu bringen. So weit wollte er es nicht kommen lassen. Er wollte zu seiner Mutter fahren und zusammen mit ihr im Bayrischen Wald nach Kirsten suchen, ehe die Polizei den hirnrissigen Anschuldigungen seines Schwagers Glauben schenkt.«
Der Nachbar grinste. »Ich schätze, der gute Fred hat zu viel Zeit und schaut sich gerne Krimis an. Da mag das funktionieren, dass zwei Leutchen zu einer Suche aufbrechen und fündig werden. Aber in der Realität … Der Bayrische Wald ist groß. Heutzutage startet man eine Suche in sozialen Netzwerken.«
Dem konnte Rita nur zustimmen. Sie vermutete, dass Keller es vorgezogen hatte zu verschwinden, weil er auf weitere Fragen keine Antworten geben konnte oder wollte. Zu einer Suchaktion mit seiner Mutter hätte er ja auch schon am Morgen aufbrechen können, statt erst noch bei ihr vorstellig zu werden, von der Anschuldigung seines Schwagers zu berichten und die eigene Untätigkeit mit drei Tagen im April zu erklären. Hatte er befürchtet, Sennfelder würde zur Polizei gehen und einen Stein ins Rollen bringen, den er nicht mehr aufhalten oder aus dem Weg räumen könnte? Warum hatte er beim Nachbarn ohne zwingende Notwendigkeit das Vermögen einer angeblich vom Ehemann getöteten Frau angeführt? Es hätte gereicht, von einem Mord ohne Leiche zu sprechen.
Rita wusste von besagter Verurteilung. Ihr war auch bekannt, dass es bei einer bestimmten Sorte von Tätern eine gern genutzte Alternative war, Straftaten anderer zu schildern, um eigene Aktivitäten wenigstens einmal auszusprechen, wenn man schon nicht offen damit prahlen durfte. In dem genannten Fall war es der Sohn aus erster Ehe gewesen, der nach dem Verschwinden seiner Mutter den Stiefvater des Mordes verdächtigt und eine Verurteilung erreicht hatte.
Unwillkürlich hörte sie Andreas Sennfelder noch einmal sagen: »Til hätte es kaum einfach so hingenommen, dass Fred allein aus dem Urlaub zurückkam.«
Die Haushaltshilfe, mit der Rita gerne gesprochen hätte, war eine integre Person mit besten Referenzen, leider machte sie zurzeit Heimaturlaub in Portugal. Wo Fred Kellers Mutter lebte, wusste keiner der Nachbarn. Zum April konnte auch niemand etwas sagen, weil niemand Kirsten vermisst hatte. Abgesehen von ein paar Urlaubstagen war sie doch stets nur am Wochenende zuhause. Samstags hatte man sie öfter laufen sehen, manchmal auch an Sonntagvormittagen.
Einen Samstag hatte Fred Keller für den Aufbruch seiner Frau im April angegeben. Und für die Rückkehr die Nacht zum Mittwoch. Dass eine Frau in Kirstens Position ohne Entschuldigung mindestens zwei Tage ihrer Arbeit fernblieb, war schwer vorstellbar. Folglich musste sie ihren Arbeitgeber über die kleine Auszeit informiert oder zur Arbeit erschienen sein und die Nächte wie sonst auch in Hotels verbracht haben. Dem wollte Rita nachgehen, sobald sie wieder im Büro war. Anschließend wollte sie die weiteren Maßnahmen mit Metzner abstimmen. So wie die Dinge standen, hatte man es nicht nur mit einer, sondern mit zwei vermissten Personen zu tun.
Til Gerber war zuletzt am Mittwoch vor Ferienbeginn gesehen worden, das war der 21. Juni gewesen. Die Mittfünfzigerin von nebenan war völlig sicher, dass Til am frühen Morgen mit einem Rucksack auf dem Rücken an ihr vorbeigeradelt war, ohne zu grüßen. Typisch Til, er grüßte nie.
Ihr Mann korrigierte. »Es war am Nachmittag, Schatz. Ich habe ihn nämlich auch gesehen und bin erst um die Mittagszeit aus Köln zurückgekommen. Und Til hat gegrüßt, mit einem Kopfnicken, wie er es immer tut.«
»Am Morgen hat er nicht gegrüßt«, beharrte Schatz.
Daraufhin sagte ihr Mann: »Da wird er auf dem Weg zur Schule gewesen sein. Vielleicht war Zeugnisausgabe.«
Nach dem 21. Juni war Til Gerber nicht mehr gesehen worden. Für die Nachbarn war das der Normalzustand. Wer hatte schon stundenlang Zeit, um aufzupassen, wann der Junge sich draußen aufhielt? Zwei Nachbarn bezeichneten Til als Stubenhocker und fanden, die Mitgliedschaft in einem Sportverein würde ihm guttun.
Mit einem unguten Gefühl fuhr Rita zurück nach Hürth. Hatte sie am Vormittag einem Trottel oder einem durchtriebenen Psychopathen gegenübergesessen? Einem Mann, der genau wusste, was auf ihn zukam, und entsprechend vorbaute?
Wenn Fred Keller sich über die Verurteilung für den Mord ohne Leiche informiert hatte, war er womöglich davon ausgegangen, dass ihm vom Stiefsohn die größere Gefahr drohte.
Ich war zwölf, mein Bruder ging das zweite Jahr zur Schule, als Mutter uns mitteilte, dass wir ein Schwesterchen bekommen würden. Der Zeitpunkt für ein drittes Kind war denkbar ungünstig. Die Firma, in der Vater als Abteilungsleiter arbeitete, war in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Das hatte sich schon geraume Zeit vorher angekündigt, nun wurde es aktuell. Jede Woche wurden Leute entlassen, fast jeden Abend gab es eine Abschiedsfeier, an der Vater teilnahm, weil er sich für die Arbeiter verantwortlich fühlte und jedem alles Gute für die Zukunft wünschen wollte.
Das zumindest erzählte Mutter unseren Nachbarn, wenn jemand fragte, ob Vater neuerdings so viele Überstunden machte, weil wir bald eine größere Wohnung bräuchten. Unsere Wohnung hatte nur drei Zimmer, Stefan und ich teilten uns eins. Für ein Schwesterchen war eigentlich kein Platz.
Um acht ging Stefan zu Bett, einschlafen klappte inzwischen, ohne dass Mutter ihm Gesellschaft leistete. Wenn ich eine halbe Stunde später folgte, ruhte er schon tief in Morpheus’ Armen. Ich lag meist noch eine halbe Stunde wach, manchmal auch länger, weil ich wusste, was mir bevorstand. Zwischen zehn und elf holte Mutter mich nämlich in die Küche, wenn Vater bis dahin noch nicht zuhause war.
Das Mietshaus, in dem wir wohnten, stand am Ortsrand. Vom Küchenfenster aus hatte man nicht nur unsere Straße im Blick, man konnte bis zu der Landstraße sehen, auf der Vater zur Arbeit fuhr und nach Hause kam. Bis weit in die Nacht hinein warteten wir auf ihn. Vom Verkehr auf der Landstraße sahen wir nur Scheinwerfer. Ein Motorrad ist bei Dunkelheit sehr gut von den Autos zu unterscheiden. Wenn ein einzelnes Licht von der Landstraße ins Dorf abbog, schickte Mutter mich wieder ins Bett.
Bis dahin schimpfte und fluchte sie fast ohne Unterbrechung auf ihn, nannte ihn einen Sausack, einen Schweinehund, einen Dreckskerl, der Abschiedsfeiern in der Firma vorschob und erst nach Hause kam, wenn er seine Freundin gevögelt hatte.
Vom Vögeln hatte ich in dem Alter bereits eine ziemlich klare Vorstellung. Dass es sich nicht gehörte, wenn ein verheirateter Mann das mit einer Freundin tat, hatte Mutter mir vermittelt und betont, dass es eine bodenlose Sauerei war, wenn der Mann zuhause eine schwangere Frau hatte.
Meist weinte Mutter bei ihren Tiraden. Sie tat mir leid, weil sie unförmig und unbeholfen geworden war. Dabei hatte sie immer großen Wert auf ihr Äußeres gelegt, eine schlanke Figur gehörte dazu. Ohne Make-up war sie nicht vor die Tür gegangen, nicht mal in den Keller. Bevor sie beim Bäcker ein Brot holte, hatte sie sich dreimal umgezogen. Jetzt überdeckte kein noch so perfektes Make-up die Ödeme in ihrem Gesicht, und keins von den schicken Kleidern in ihrem Schrank passte noch.
Ich bekam regelmäßig ein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht schaffte, Vater für sein langes Ausbleiben und das Vögeln einer Freundin zu verurteilen. Dass ich ihn abgöttisch liebte und ihm noch viel schlimmere Dinge als eine bodenlose Sauerei verziehen hätte, war nicht der einzige Grund für meine Unfähigkeit, ihn zu verdammen. Es war mehr das Gefühl, dass Mutter nicht wirklich traurig war, dass sie vielmehr vor Wut weinte.
Sie stellte ihn nie zur Rede, wenn er zur Tür hereinkam. Dabei war sie, wie man so sagt, nicht auf den Mund gefallen. Sie ließ sich von keinem Menschen etwas bieten, hatte nicht mal Respekt vor dem Ortsvorsteher, dem Pfarrer oder der Polizei. Mir hatte sie kurz zuvor die Ohren mit ihrem Gezeter vollgestopft, unter Schluchzern aufgezählt, was sie Vater alles an den Hals wünschte oder mit ihm machen würde, wenn es nicht per Gesetz verboten wäre. Da hätte ich zumindest ein paar Fragen erwartet oder Vorwürfe. Davon keine Spur. Dass sie sich aus Furcht jedes anklagende Wort verkniff, weil er vielleicht auf dem Absatz kehrtgemacht hätte und zurück zu seiner Freundin gefahren wäre, der Gedanke kam mir nicht.
Hellwach und aufgewühlt von Mutters Tiraden gerade erst wieder ins Bett gestiegen, hörte ich durch die dünne Zimmertür sehr gut, wie sie ihn empfing. Manchmal sagte sie: »Ist aber wieder sehr spät geworden heute.« Manchmal fragte sie, wer denn diesmal die Papiere bekommen habe. Und manchmal sagte sie nur: »Da bist du ja. Ich nehme an, essen willst du nichts mehr.«
Jedes Mal war mir so, als sei es ihre Schuld, dass er nicht früher nach Hause gekommen war, wenigstens früh genug, um mir noch eine gute Nacht zu wünschen und Stefan einen Kuss auf die Stirn zu geben, wie er es vorher immer getan hatte. Ich meinte, er müsse wissen, wie Mutter über ihn dachte und was sie ihm alles antun würde, wenn sie nicht Angst hätte, dafür ins Gefängnis zu müssen.
Wenn sie sich in der Küche noch unterhielten, verstand ich nicht, worüber gesprochen wurde. Dann stand ich auf und ging aufs Klo, nur um ihn zu sehen und mir meinen Gutenachtkuss abzuholen. Aber meist gingen sie gleich zu Bett, weil es schon so spät war. Das Elternschlafzimmer und unser Kinderzimmer grenzten aneinander, und nicht nur die Türen waren dünn, die Wände ebenso.
Ob ich in diesen Wochen Angst hatte, Vater könne uns verlassen? Nein, hatte ich nicht. Ich war überzeugt, dass alles wieder gut werden würde, wenn das Schwesterchen auf der Welt und Mutter wieder so schlank und schön war wie zuvor.
Vater hatte Angst, das weiß ich seit Jahren. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, wenn er entlassen wurde, was nur noch eine Frage der Zeit war. Einmal hörte ich ihn sagen: »Ich werde wohl einer der Letzten sein, die gehen müssen. Mich brauchen sie, wenn die Maschinen abgebaut werden. Vermutlich darf ich danach die Halle auskehren, und das war’s dann.«
Einmal sprach er von einem Kollegen, der sich mit einem Geschäft selbstständig machen wollte und ihn gefragt hatte, ob er dabei wäre. Ihm war das Risiko zu groß, außerdem fehlte es an Eigenkapital. Und einmal sprach er von einer Frau aus der Verwaltung, die ihm geraten hatte, sich noch nicht bei anderen Firmen zu bewerben. Er solle abwarten, ein ausländischer Konzern hätte Interesse angemeldet und würde Leute wie ihn brauchen.
Als unsere Schwester geboren wurde, existierte die Firma praktisch nicht mehr. Wie Vater prophezeit hatte, brauchte man ihn nur noch, um den Abbau der Maschinen zu beaufsichtigen. Wie es um das Interesse des ausländischen Konzerns stand, wusste er nicht genau. Es war die Rede von bürokratischen Hürden. Noch war die Fabrik jedenfalls nicht verkauft.
Abschiedsfeiern fanden keine mehr statt. Trotzdem kam Vater jeden Abend spät heim und war tagsüber nicht da. Das war er vorher an Wochentagen auch nicht gewesen, deshalb vermisste ich ihn nicht. Mit seiner BMW hätte er Mutter ohnehin nicht ins Krankenhaus fahren können, als bei ihr die Wehen einsetzten. Die Fahrt übernahm Manfred Breuer.
Manni, wie er von allen genannt wurde, wohnte direkt über uns bei seiner Mutter, deren Auto er auch benutzte. Er war in Mutters Alter, hatte keine Frau, keine eigene Wohnung, kein eigenes Auto, aber einen Führerschein und Zeit im Überfluss. Manni lebte von Sozialhilfe. Arbeitslosengeld bekam er längst nicht mehr, wenn er so etwas überhaupt je bezogen hatte. Voraussetzung war ja, dass man wenigstens eine Zeit lang gearbeitet hatte. Und wie Vater es einmal ausdrückte: Manni Breuer hatte die Arbeit nicht erfunden. Damit gehörte er zu der Sorte Mann, die mein Vater nicht ausstehen konnte.
Als Abteilungsleiter hatte er in der Fabrik oft mit solchen Typen zu tun gehabt. Sie waren vom Arbeitsamt geschickt worden, um sich vorzustellen und einen Arbeitsvertrag zu ergattern. Vom Chef wurden sie an Vater weitergereicht, weil er mit den Leuten arbeiten sollte und am ehesten beurteilen konnte, ob sie geeignet waren. Das waren sie meist nicht, wollten es auch gar nicht sein. Sie wollten nur eine Unterschrift, mit der sie beim Arbeitsamt beweisen konnten, dass sie sich beworben hatten und abgelehnt worden waren. Manche waren mit einer beachtlichen Alkoholfahne aufgetaucht, um Vaters Entscheidung zum Nein zu forcieren.
»Leute, die wirklich arbeiten wollen, werden selten vom Amt geschickt«, sagte er einmal. »Die lesen die Stellenanzeigen in den Zeitungen oder informieren sich anderswo, rufen an und kommen aus eigenem Antrieb.«
Zu den Leuten gehörte Manni Breuer definitiv nicht. Aber er war kein übler Kerl und kein Säufer. Ein lustiger Vogel war er, immer zu einem Scherz aufgelegt, immer hilfsbereit und fürsorglich auf seine Art. In der Nachbarschaft hieß es damals, er könne nicht arbeiten, weil er sich um seine kranke Mutter kümmern müsse.
Man sah Frau Breuer fast nie. Sie verließ ihre Wohnung nur im äußersten Notfall, wenn sie zum Arzt musste. Vor ein paar Jahren hörte ich von meiner Schwester, es habe sich um eine Angststörung gehandelt, sei rein psychisch bedingt gewesen.
Ich bin nicht abergläubisch, sonst würde ich den Geburtstag meiner Schwester als schlechtes Omen bezeichnen. Tanita kam an einem Freitag, den Dreizehnten auf die Welt. Als ich mittags aus der Schule kam, klebte draußen ein Zettel unter unserem Klingelschild: »Das Baby kommt, geh zu Frau Scholz.«
Frau Scholz war unsere unmittelbare Nachbarin. Weit in den Fünfzigern, rundlich, mütterlich, früh verwitwet. Ihre Kinder waren erwachsen und längst ausgezogen. Mein Bruder saß schon in ihrer Küche und mampfte eine Portion Bratkartoffeln mit Ei. Als Erstklässler hatte Stefan nur vier Unterrichtsstunden.
»Magst du das auch, Carli?«, fragte Frau Scholz. »Ich kann dir schnell was machen, es sind noch Kartoffeln da. Ich habe extra mehr gekocht. Du kannst aber auch ein Butterbrot haben.«
Mittags gab es bei uns immer Brote. Mutter hatte lange Zeit abends gekocht, damit Vater eine warme Mahlzeit bekam. Damit hatte sie aufgehört, als es mit den Abschiedsfeiern begann. Seitdem hatten Stefan und ich auch abends ein Butterbrot bekommen. Ich war hungrig wie immer nach sechs Stunden Schule, unter anderen Voraussetzungen hätte ich Bratkartoffeln mit Eiern einem Butterbrot vorgezogen. Aber der Zettel unter dem Klingelschild, vielmehr die Nachricht darauf, hatte sich wie eine Faust um meinen Magen gelegt.
Das Baby kommt. Eigentlich eine freudige Botschaft. Nur freute sich bei uns niemand aufs Baby, das war mir nicht verborgen geblieben. Kein einziges Mal in den vergangenen Monaten hatte ich von Mutter oder Vater einen Satz gehört, aus dem ich hätte ableiten können, dass dieses Menschlein bei uns willkommen war.
Dafür hätte es finanzielle Gründe geben können. Eine nicht geplante Schwangerschaft ausgerechnet zu der Zeit, als Vaters Arbeitgeber dem Konkurs entgegendriftete. Arbeitslos und ein Mäulchen mehr zu stopfen, wobei ein Baby ein größeres Loch ins Budget riss als zwei schulpflichtige Kinder, die man mit Butterbroten, Nudeln und Eiern abspeisen konnte. Hinzu kam der Platzmangel in der Wohnung, eine größere konnten wir uns jetzt nicht mehr leisten. Das Gitterbett stand schon seit Tagen im Elternschlafzimmer am Fußende des Ehebettes, deswegen ließen sich die Türen am Kleiderschrank nicht mehr vollständig öffnen.
Eine gute Woche lang waren Stefan und ich mehr oder weniger auf uns gestellt. Vater fuhr früh um sechs los, um den Abbau der letzten Maschinen und eine Reinigungskolonne zu überwachen. Die Halle ließen sie ihn nicht ausfegen. Ich hatte einen Wecker und Schlüssel für Haus- und Wohnungstür bekommen, fühlte mich damit fast erwachsen, verantwortlich für meinen Bruder und unsere Wohnung. Frühstück machen konnte ich. Mittags wurden wir von Frau Scholz verpflegt. Sie kochte gut und gewöhnte Stefan daran, mit dem Essen auf mich zu warten.