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Die Frage nach der Stellung und Bedeutung des Menschen in der ihn umgebenden Schöpfung wurde schon unzählige Male gestellt und auf die verschiedensten Weisen beantwortet. René Guénon betrachtet in den in dieser Veröffentlichung zusammengefassten Studien "Die Symbolik des Kreuzes" (1931) und "Die Vielfalt der Zustände des Seins" (1932) dieses Thema aus einem rein metaphysischen Blickwinkel, also indem er versucht, sich von individuellen, gesellschaftlichen oder religiösen Einflüssen freizumachen. Für all jene, die sich dafür interessiert, was sich jenseits des menschlichen Zustandes befindet und die höheren Zusammenhänge im Aufbau der göttlichen Welten erfassen möchten, sind beide Studien eine wertvolle Grundlage. Sie öffnen den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten, die dem Sein offenstehen, selbst wenn es nur in seiner menschlichen Form und den mit ihr verbundenen Einschränkungen betrachtet wird. Wer sich diesen Möglichkeiten bewusst wird, kann den Weg zur tatsächlichen Verwirklichung beschreiten, der immer zuerst zum Zentrum des jeweiligen Zustandes führt, von dem aus er begonnen wird. Erst von dort aus ist der Aufstieg zu den höheren Zuständen des Seins möglich, bis das erreicht wird, was als "Erlösung" bezeichnet wird. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.
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Seitenzahl: 442
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Dieser Band umfasst folgende französische Originalausgaben:
LE SYMBOLISME DE LA CROIX
© Les Éditions de la Maisnie 1931
LES ÉTATS MULTIPLES DE L’ÉTRE
© Les Éditions de la Maisnie 1932
Deutsche Ausgabe:
BAND 8: DIE SYMBOLIK DES KREUZES & DIE VIELFALT DER ZUSTÄNDE DES SEINS
Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke
Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke
Kontakt: [email protected]
VORWORT DES HERAUSGEBERS
TEIL 1: DIE SYMBOLIK DES KREUZES
VORWORT
1. DIE VIELFALT DER ZUSTÄNDE DES SEINS
2. DER UNIVERSALE MENSCH
3. DIE METAPHYSISCHE SYMBOLIK DES KREUZES
4. DIE RICHTUNGEN DES RAUMES
5.
DIE HINDUISTISCHE LEHRE DER DREI
GUNAS
6. DIE EINHEIT VON GEGENSTÜCKEN
7. DIE AUFLÖSUNG DER GEGENSÄTZE
8. KRIEG & FRIEDEN
9. DER BAUM IN DER MITTE
10. DIE SWASTIKA
11. DIE GEOMETRISCHE DARSTELLUNG DER EXISTENZGRADE
12. DIE GEOMETRISCHE DARSTELLUNG DER ZUSTÄNDE DES SEINS
13. DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEN BEIDEN DARSTELLUNGEN
14. DIE SYMBOLIK DES WEBENS
15. DIE FORTDAUER DER DASEINSWEISEN INNERHALB DESGLEICHEN ZUSTANDS DES SEINS
16. DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEM PUNKT UND DEM RAUM
17. DIE ONTOLOGIE DES BRENNENDEN BUSCHES
18. DER ÜBERGANG VON RECHTWINKLIGEN ZU POLAREN KOORDINATEN
19. DIE DARSTELLUNG DER FORTDAUER DER ZUSTÄNDE DES SEINS
20. DER UNIVERSALE WIRBEL
21. DIE FESTLEGUNG VON ELEMENTEN IN DER DARSTELLUNG DES SEINS
22. DAS SYMBOL DES YIN-YANG: DIE METAPHYSISCHE GLEICHWERTIGKEIT VON GEBURT UND TOD
23. DIE BEDEUTUNG DER VERTIKALEN ACHSE ALS EINFLUSS DES „WILLENS DES HIMMELS“
24. DER HIMMLISCHE STRAHL UND SEINE REFLEXIONSEBENE
25. DER BAUM UND DIE SCHLANGE
26. DIE UNVERGLEICHBARKEIT ZWISCHEN DEM GESAMTHAFTEN SEIN UND DER INDIVIDUALITÄT
27. DER ORT DES INDIVIDUELLEN MENSCHLICHEN ZUSTANDES IM GESAMTHAFTEN SEIN
28. DIE GROßE TRIADE
29. DAS ZENTRUM UND DER UMFANG
30. EINIGE SCHLUSSBEMERKUNGEN ZUR RÄUMLICHEN SYMBOLIK
TEIL 2: DIE VIELFALT DER ZUSTÄNDE DES SEINS
VORWORT
1. DIE UNBEGRENZTHEIT UND DIE MÖGLICHKEIT
2. DIE BEDEUTUNG SICH AUSSCHLIEßENDER MÖGLICHKEITEN
3. SEIN UND NICHT-SEIN
4. DIE GRUNDLEGENDE THEORIE ÜBER DIE VIELFALT DER ZUSTÄNDE
5. DIE BEZIEHUNGEN DER EINHEIT UND DER VIELFALT
6. BETRACHTUNGEN ÜBER DEN ZUSTAND DES TRAUMES
7. DIE MÖGLICHKEITEN DES INDIVIDUELLEN BEWUSSTSEINS
8. DAS MENSCHLICHE VERMÖGEN DES GEISTES
9. DIE HIERARCHIE DER INDIVIDUELLEN VERMÖGEN
10. DIE GRENZEN DES UNENDLICHEN
11. PRINZIPIEN ZUR UNTERSCHEIDUNG DER ZUSTÄNDE DES SEINS
12. DIE BEIDEN ARTEN DES CHAOS
13. DIE GEISTIGEN HIERARCHIEN
14. EINWÄNDE BEZÜGLICH DER VIELFALT DER WESEN
15. DIE VERWIRKLICHUNG DES SEINS DURCH ERKENNTNIS
16. ERKENNTNIS UND BEWUSSTSEIN
17. NOTWENDIGKEIT UND ZUFALL
18. DIE METAPHYSISCHE BEDEUTUNG DER FREIHEIT
ÜBER RENÉ GUÉNON
DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE
Die Frage nach der Stellung und Bedeutung des Menschen in der ihn umgebenden Schöpfung wurde schon unzählige Male gestellt und auf die verschiedensten Weisen beantwortet. René Guénon betrachtet in den in dieser Veröffentlichung zusammengefassten Studien Die Symbolik des Kreuzes (1931) und Die Vielfalt der Zustände des Seins (1932) dieses Thema aus einem rein metaphysischen Blickwinkel, also indem er versucht, sich von individuellen, gesellschaftlichen oder religiösen Einflüssen freizumachen.
In der Studie Die Symbolik des Kreuzes legt Guénon seinen Erläuterungen die geometrische bzw. räumliche Symbolik des zwei- und dreidimensionalen Kreuzes zugrunde. Diese Symbolik ist wie jedes Symbol zu einer vielfältigen Auslegung möglich. Mit jeder Symbolik geht jedoch eine gewisse Vereinfachung einher, da sie versucht, das Höhere mit Mitteln einer niederen Ordnung auszudrücken. Dies führt insbesondere bei Symbolen, die dem metaphysischen Bereich zuzuordnen sind, leicht zu Verständnisproblemen, da sich dieser Bereich dem Unbegrenzten widmet, das als solches nicht ausdrückbar ist. Der Versuch, es über Symbole in das Ausdrückbare zu überführen, ist im Grunde eine Unmöglichkeit und stößt unweigerlich an Grenzen. So sah sich Guénon ein Jahr nach der Veröffentlichung von Die Symbolik des Kreuzes veranlasst, die Studie Die Vielfalt der Zustände des Seins mit zusätzlichen und weiterführenden Erläuterungen zu diesem Thema zu verfassen. Er selbst bezeichnet sie in seinem Vorwort als „Ergänzung“ und in der Tat enthält sie eine vertiefende und erweiterte Betrachtungsweise jener Aspekte, die bereits in Die Symbolik des Kreuzes behandelt wurden. Da andere Blickwinkel eingenommen und ergänzende Facetten betont werden, wird es dem Leser beider Studien besser möglich, die behandelten Themen zu verstehen. Aufgrund dieser engen inhaltlichen Verflechtung haben wir uns entschlossen, im Rahmen der deutschsprachigen Veröffentlichung beide Studien in einem Band zusammenzufassen.
Für all jene, die sich dafür interessiert, was sich jenseits des menschlichen Zustands befindet und die höheren Zusammenhänge im Aufbau der göttlichen Welten erfassen möchten, sind beide Studien eine wertvolle Grundlage. Sie öffnen den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten, die dem Sein offenstehen, selbst wenn es nur in seiner menschlichen Form und den mit ihr verbundenen Einschränkungen betrachtet wird. Wer sich diesen Möglichkeiten bewusst wird, kann den Weg zur tatsächlichen Verwirklichung beschreiten, der immer zuerst zum Zentrum des jeweiligen Zustandes führt, von dem aus er begonnen wird. Erst von dort aus ist der Aufstieg zu den höheren Zuständen des Seins möglich, bis das erreicht wird, was als „Erlösung“ bezeichnet wird. In der ihn umgebenden irdischen Welt nimmt der Mensch zwar eine hervorgehobene Stellung ein, aus metaphysischer Sicht kommt dieser Stellung und damit dem menschlichen Dasein jedoch keine besondere Bedeutung zu. Die eingangs erwähnte Frage nach der Bedeutung des Menschen lässt sich damit klar beantworten: In der Vielfalt der Zustände des Seins ist der menschliche Zustand nur einer unter unzähligen anderen, die gleichermaßen als Anfangspunkt für eine Verwirklichung dienen können. Von der mit dieser Vielfalt verbundenen Komplexität sowie von ihren Zusammenhängen und Entsprechungen kann Guénon in den beiden vorliegenden Studien nur ein teilhaftes Bild wiedergeben. Viele Verweise auf andere Studien sind notwendig, um diese Komplexität erklären zu können. Und selbst dadurch gelingt dies nur zum Teil, so dass der interessierte Leser nicht den Mut verlieren sollte, sich mit diesen so wichtigen Themen zu beschäftigen. Es sei jedoch vor Lektüre dieser Veröffentlichung empfohlen, sich zuerst mit anderen Studien Guénons auseinander zu setzen, die sich speziell mit der hinduistischen Lehre1 und der Initiation2 beschäftigen. Auf dieser Grundlage können Die Symbolik des Kreuzes und Die Vielfalt der Zustände des Seins sicher besser erfasst und verinnerlicht werden und so einen größeren Beitrag zum eigenen Verständnis und der eigenen geistigen Weiterentwicklung leisten.
I. Steinke
München, im Dezember 2021
1 Siehe die Studien EINFÜHRUNG IN DAS STUDIUM DER HINDUISTISCHEN LEHRE, DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA sowie STUDIEN ÜBER DEN HINDUISMUS.
2 Siehe die Studien EINBLICKE IN DIE INITIATION und INITIATION UND GEISTIGE VERWIRKLICHUNG.
In verehrendem Gedächtnis an
al-Shaykh ‘Abd al-Ramān ‘Ilaysh al-Kabīr
al-‘Ālim al-Māliki al-Maghribī,
dem ich die erste Idee zu diesem Buch verdanke.
Mesr al-Qāhirah, 1329-1349 H
Am Anfang unserer Studie Der Mensch und sein Werden nach der Vedānta hatten wir unsere Absicht erwähnt, Studien zu veröffentlichen, die gewisse Aspekte der metaphysischen Lehren des Ostens direkt behandeln oder auf eine Art und Weise darstellen, die ihre Verständlichkeit und Nutzbarkeit für den Leser der heutigen westlichen Welt möglichst groß machen, ohne dabei von ihrem wahren Geist abzuweichen. Diese Serie von Studien mussten wir jedoch unterbrechen, da gewisse Umstände andere Arbeiten als notwendiger erschienen ließen, die sich mit Anwendungen dieser Lehren auf die materielle und bedingte Ordnung beschäftigten. Aber auch in diesen Studien haben wir stets darauf geachtet, jene metaphysischen Prinzipien nie aus dem Auge zu verlieren, auf denen jegliche wahre traditionelle Lehre beruht.
In unserer Studie Der Mensch und sein Werden nach der Vedānta haben wir gezeigt, wie eine traditionelle Lehre den Menschen aus rein metaphysischer Sicht versteht. Wir haben uns dabei so eng wie möglich an die zugrundeliegende hinduistische Lehre gehalten. Jeglicher Vergleich mit anderen Traditionen hatte lediglich die Absicht, Übereinstimmungen zwischen dieser Lehre und jenen aus anderen Traditionen aufzuzeigen. Wir haben auch nie behauptet, uns in unseren Studien ausschließlich mit einer traditionellen Form beschäftigen zu wollen. Eine derartige Einschränkung wäre auch nur sehr schwer aufrecht zu erhalten, wenn man sich die Einheit aller Traditionen vor Augen führt, auf die man jenseits ihrer mehr oder weniger nach außen gerichteten Erscheinungen stoßen kann. Diese äußeren Formen sind die im Grunde nichts anderes als unterschiedliche Hüllen, die die gleiche Wahrheit in verschiedenen Formen bekleiden. Aus Gründen, auf die wir an anderer Stelle näher eingegangen sind, verwenden wir für unsere Studien meistens den Standpunkt der hinduistischen Lehre.3 Wo immer es sich anbietet, führen wir jedoch auch Ausdrucksweisen anderer Traditionen an – vorausgesetzt, es handelt sich dabei ebenfalls um rechtmäßige und orthodoxe Traditionen. Dies tun wir in einem Sinn, auf den wir ebenfalls an anderer Stelle ausführlicher eingegangen sind.4 In der hier vorliegenden Studie werden wir recht häufig auf vergleichbare Ausdrücke anderer Traditionen zurückgreifen, da es bei unserem gewählten Thema nicht erforderlich und auch nicht sinnvoll ist, sich ausschließlich an einen gewissen Zweig einer Lehre zu halten, der nur in einer Zivilisation Gültigkeit erlangt hat. Es geht in dieser Studie schließlich um ein Symbol, das in nahezu allen Traditionen bekannt ist, was wiederum stark darauf hindeutet, dass es direkt mit der großen anfänglichen Tradition verbunden ist.
In dieser Hinsicht ist es jedoch notwendig, bereits zu Anfang gewisse Verwirrungen zu zerstreuen, auf die man heutzutage leider allzu oft treffen kann: Es geht dabei um den grundlegenden Unterschied zwischen „Synthese“ und „Synkretismus“. Letzterer besteht aus der Vermischung von mehr oder weniger miteinander unvereinbaren religiösen oder philosophischen Elemente zu einer neuen Art von Lehre oder Weltbild. Allerdings lassen sich diese Elemente nie richtig miteinander vereinheitlichen, da ihnen in Wahrheit eine gemeinsame Grundlage fehlt. Es geht daher dabei um eine Art von Eklektizismus mit all der Bruchstückhaftigkeit und Unvereinbarkeit, die damit verbunden ist. Synkretismus ist somit etwas rein Äußerliches und Künstliches. Die Elemente, die auf diese Weise aus allen Richtungen zusammengetragen werden, können nie etwas anderes als Entleihungen sein, so dass sich aus ihnen keine Lehre schmieden lässt, die es wert wäre, als solche bezeichnet zu werden.
Eine Synthese wird dagegen von innen durchgeführt. Sie besteht darin, die Dinge in der Einheit ihres Prinzips zu sehen. Dies bedeutet, dass man versucht zu erkennen, wie sie von diesem Prinzip abgeleitet werden und davon abhängig bleiben, um sie dann wieder zusammenführen und verschmelzen zu können – oder anders gesagt sich ihre wahre Einheit zu vergegenwärtigen. Dies ist Kraft eines inneren Bandes möglich, das in ihrer innersten Natur eingewoben ist.
Synkretismus lässt sich immer dann finden, wenn Elemente aus verschiedenen Traditionsformen einfach zusammengetragen werden, ohne dass dabei das Bewusstsein besteht, dass es sich bei diesen Formen nur um unterschiedliche Ausdruckformen oder Anpassungen handelt, die auf bestimmte Umstände der Zeit und des Ortes zurückzuführen sind. Aus einer solchen Ansammlung kann nichts Brauchbares entstehen, da sie kein organisiertes Ganzes darstellt, sondern eher einem Trümmerhaufen gleicht. Ihr fehlt gerade das, was eine Einheit aus ihr machen könnte, so wie dies bei einem Lebewesen oder einem in sich harmonischen Gebäude der Fall ist. Das charakteristische Kennzeichen des Synkretismus ist daher das Fehlen einer solchen inneren Einheit, da er sich rein auf Äußerlichkeiten bezieht. Eine Synthese entsteht dagegen dadurch, dass man von der Einheit her startet und sie trotz der Vielfalt ihrer Manifestationsformen, zu der sie fähig ist und sich entwickelt, nie aus den Augen verliert. Dies erfordert allerdings die Fähigkeit, über Formen hinaus zu sehen und sich ein Bewusstsein über die anfängliche Wahrheit zu bewahren, die sich in verschiedene Formen kleidet, um sich bis zu dem Maße auszudrücken, wie sie überhaupt mitteilbar ist. Ein solches Bewusstsein eröffnet die Freiheit, diese oder jene Form für sich zu verwenden, so wie man unterschiedliche Sprachen benutzen kann, um den gleichen Gedanken zum Wohle unterschiedlicher Völker auszudrücken, was gewisse Traditionen symbolisch als die „Gabe der Zungen“ bezeichnen.
Die Übereinstimmungen, die sich zwischen den verschiedenen Traditionen finden lassen, lassen sich tatsächlich auf gleiche Bedeutungen zurückführen, die bis zu ihrem gemeinsamen Ursprung zurückreichen. So wie die Schilderung eines gewissen Sachverhalts in einer Sprache leichter fällt als in einer anderen, so ist die eine Tradition möglicherweise besser geeignet als die andere, um gewisse Wahrheiten darzulegen und sie verständlich zu machen. Daher halten wir es für gerechtfertigt, jeweils die Traditionsform zu verwenden, die für den gerade benötigten Fall am geeignetsten erscheint. Es gibt keinen wirklichen Grund, zwischen den Formen nicht zu wechseln, solange man sich ihrer Gleichwertigkeit bewusst bleibt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn man sie im Glanze ihres gemeinsamen Prinzips sieht. Dann besteht auch nicht die Gefahr, in einen Synkretismus abzugleiten, da dieser nur bei einer rein weltlichen Betrachtungsweise entstehen kann, die sich nicht mit der Vorstellung vereinbaren lässt, die mit dem verbunden ist, was wir als „heilige Wissenschaft“ bezeichnen möchten.
Wenden wir uns nun dem Symbol des Kreuzes zu: Es ist eines jener Symbole, das in verschiedenen Formen nahezu überall und in allen Zeiten angetroffen werden kann. Daher darf es nicht als ein spezifisches und charakteristisches Symbol für das Christentum angesehen werden, wie manche vielleicht glauben. Über das Christentum muss man in diesem Zusammenhang sogar sagen, dass dort zwar der äußerliche und allgemein bekannte Aspekt dieses Symbols bewusst ist, sein tiefergehender Charakter jedoch bis zu einem gewissen Grad aus den Augen verloren wurde, so dass es meist nur noch als Zeichen für ein historisches Geschehnis gesehen wird. Die symbolische und die historische Sichtweise schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus, sondern letztere kann auf gewisse Weise als die Folge der ersten betrachtet werden. Die Art, die Dinge auf symbolische Weise zu betrachten, ist der Mehrheit der Leute heutzutage jedoch völlig fremd, so dass es uns ratsam erscheint, diesen Punkt näher zu untersuchen, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden.
Oft wird angenommen, dass bei einer symbolischen Bedeutung der wörtliche oder historische Sinn völlig in den Hintergrund tritt, was sogar so weit geht, dass gedacht wird, er spiele überhaupt keine Rolle mehr. Eine derartige Annahme kann jedoch nur entstehen, wenn man sich dem Gesetz der Entsprechung nicht bewusst ist, das die Grundlage für jegliche Symbolik ist. Alles leitet sich von einem metaphysischen Prinzip ab, was ihm letztlich all seine Wirklichkeit gibt und gerade durch dieses Gesetz wirkt dieses Prinzip auf die ihm eigene Weise in die Ordnung, in der die jeweilige Sache seine Existenz hat. Auf diese Weise sind die Dinge über die Ordnungen hinweg miteinander verbunden und entsprechen sich auf eine Art und Weise, die sie mit der universalen und gesamthaften Harmonie verbindet. Diese Harmonie ist inmitten der Vielfalt der Manifestation wiederum ein Widerschein der anfänglichen Einheit.
Aus diesem Grund lassen sich die Gesetze eines niedrigeren Bereiches immer als Symbole für Wirklichkeiten einer höheren Ordnung verstehen, die für sie sowohl ihr Prinzip als auch ihr letztendliches Ziel ist. Wir möchten in dieser Beziehung an den Fehler erinnern, den moderne „naturalistische“ Auslegungen begehen, wenn sie sich mit antiken traditionellen Lehren beschäftigen: Sie drehen schlicht und einfach die Hierarchie der Beziehung um, die zwischen diesen unterschiedlichen Ordnungen besteht. Der Zweck von Symbolen und Mythen hat beispielsweise nie darin bestanden, die Bewegung von Himmelskörpern zu beschreiben, wie oft fälschlicherweise behauptet wird. Sie enthalten zwar oft Figuren, die durch diese Bewegungen inspiriert sind, sollen aber über eine Analogie etwas völlig anderes ausdrücken: Die Gesetze dieser Bewegungen sind die physikalischen Ausdrücke der metaphysischen Prinzipien, von denen sie abhängen. Was für astronomische Erscheinungen gilt, lässt sich auch auf andere Erscheinungen in der Natur übertragen. Sie dienen dazu, die höheren und transzendenten Prinzipien zu symbolisieren, von denen sie abgeleitet sind. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass dies auf keine Weise die Wirklichkeit berührt, die jene Erscheinungen in der Ordnung haben, in der sie existieren. Die Verbindung zum Prinzip stellt die Grundlage für ihre Wirklichkeit dar, da sie ohne diese Abhängigkeit nicht existent wären.
Das gerade Gesagte gilt natürlich auch für historische Ereignisse. Auch sie entsprechen dem erwähnten Gesetz der Übereinstimmung und übertragen auf ihre eigene Art höhere Wirklichkeiten, von denen sie sozusagen der menschliche Ausdruck sind. Aus der Sichtweise, die wir hier bei unseren Studien einnehmen (und die sich offensichtlich grundlegend von der unterscheidet, die die weltlichen Historiker innehaben),5 ist aber gerade diese Übereinstimmung das, was ihnen ihre eigentliche Bedeutung gibt. Dieser symbolische Charakter ist zwar allen historischen Ereignissen innewohnend, kommt aber besonders bei jenen Ereignissen zum Tragen, die mit dem verbunden sind, was man als „heilige Geschichte“ bezeichnen kann. Ein Beispiel, wo dies besonders deutlich wird, sind die Geschehnisse, die das Leben von Jesus Christus begleiten. Wer von unseren Lesern das bislang Gesagte verstanden hat, wird erkennen, dass es nicht nur keinen Grund gibt, die Wirklichkeit dieser Ereignisse zu bestreiten und sie lediglich als Mythen zu behandeln, sondern dass sie vielmehr so waren, wie sie beschrieben wurden und auch nicht anders hätten stattfinden können. Es ist nicht möglich, etwas einen heiligen Charakter zuzuschreiben, das keinerlei transzendente Bedeutung aufweist. So kann man sogar sagen, dass die Tatsache, dass Christus am Kreuz starb auf den symbolischen Wert zurückzuführen ist, den das Kreuz in sich besitzt und der von allen Traditionen anerkannt wird. Die historische Bedeutung tritt also zurück, da sie direkt aus der symbolischen Bedeutung abgeleitet wird, die mit ihr verbunden ist.
Eine weitere Folge des Gesetzes der Übereinstimmungen ist die Vielfalt der Bedeutungen, die jedem Symbol zu eigen ist. Alles lässt sich so verstehen, dass es nicht nur die unmittelbare Bedeutung und die metaphysischen Prinzipien darstellt, sondern auch Wirklichkeiten aus all jenen Ordnungen, die quasi dazwischen liegen und damit höher als es selbst sind. Dies gilt auch für höhere Ordnungen, die bedingt sind, da auch jene Wirklichkeiten, von denen das Symbol ebenfalls mehr oder weniger direkt abhängt, die Rolle von nachrangigen Ursachen in Bezug auf es selbst einnehmen. So kann die Wirkung, die sich in den verschiedenen Ebenen zeigt, immer als ein Symbol für eine jener Ursachen gesehen werden, da sie nichts anderes als der spezifische Ausdruck von etwas ist, das sich gemäß den einer Ebene innewohnenden Bedingungen auf diese Weise ausdrückt. Diese vielfältigen und hierarchisch übereinander liegenden symbolischen Bedeutungen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern stimmen ganz im Gegenteil vollkommen miteinander überein, da sie die Anwendungen des gleichen Prinzips in verschiedenen Ordnungen ausdrücken. Daher vervollständigen und ergänzen sie sich und fügen sich insgesamt in die Harmonie der gesamthaften Synthese ein. Dies führt dazu, dass die Symbolik eine weitaus weniger beschränkte Ausdrucksweise darstellt als die gewöhnliche Sprache und besonders gut dazu geeignet ist, gewisse Wahrheiten zu übermitteln und auszudrücken. Die Möglichkeiten, sie zu verstehen, sind nahezu unbeschränkt, was sie für die Sprache der Initiation besonders geeignet macht, so dass aus ihr ein unverzichtbares Hilfsmittel für jegliche traditionelle Lehre geworden ist.
Das Kreuz kann daher wie jedes andere Symbol aus verschiedenen Blickwinkeln mit unterschiedlichen Bedeutungen betrachtet werden. Wir haben jedoch nicht die Absicht, sie in dieser Studie alle gleichermaßen darzulegen. Manche werden wir nur andeuten, auf andere dagegen ausführlicher eingehen – und wir werden insbesondere die metaphysische Bedeutung betrachten, da sie die erste und wichtigste von allen ist. Alle weiteren Bedeutungen sind mehr oder weniger nachrangig und mit der weltlichen Sichtweise verbunden. Wenn wir dennoch auf einige von ihnen näher eingehen werden, so hat dies die Absicht, sie mit der metaphysischen Ordnung zu verbinden, da sie nur durch diese ihren Wert und ihre Rechtmäßigkeit erhalten. All dies steht in engem Einklang mit der Vorstellung der „traditionellen Wissenschaft“, ist aber leider gerade das, was in der modernen Welt allzu oft vergessen wird.
3 Siehe unsere Studie OSTEN UND WESTEN, Teil 2, Kapitel 4.
4 Siehe unsere Studien EINFÜHRUNG IN DAS STUDIUM DER HINDUISTISCHEN LEHRE, Teil 3, Kapitel 3, sowie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 1.
5 So lässt sich dazu passend bei Chuang Tzu, Kapitel 25, folgender Ausspruch finden: „Die historische Wahrheit befindet sich nur dann auf festem Grund, wenn sie vom Prinzip abgeleitet ist.“
Jedes Wesen – ob es menschlicher oder anderer Art ist – kann aus einer sehr großen Anzahl an unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Wenn man diese Betrachtungsweisen miteinander vergleicht, haben sie jedoch eine unterschiedliche Bedeutung. Grundsätzlich sind sie aber alle jeweils in dem Bereich gerechtfertigt, aus dem sie gesehen werden. Dies trifft allerdings nur zu, solange man nicht versucht, über die Grenzen ihres jeweiligen Bereiches hinauszugehen oder für diese Sichtweise gar einen Ausschließlichkeitsanspruch aufstellt und die anderen abstreitet. So hat also selbst die nachrangigste und weltlichste unter ihnen ihre Daseinsberechtigung, da sie sozusagen die Antwort auf eine spezielle Möglichkeit ist. Aus metaphysischer Sichtweise, die hier für uns von alleinigem Interesse ist, ist daher die Betrachtung des Seins in seinen individuellen Aspekten nicht ausreichend, da „metaphysisch“ auf gewisse Weise als Synonym zu „universal“ verstanden werden kann. Eine Lehre, die sich auf die Betrachtung eines Seins in der individuellen Ordnung beschränkt, darf somit nicht als metaphysisch bezeichnet werden, was auch immer ihre sonstigen Werte und Absichten in anderer Hinsicht sind. Sie lässt sich im ursprünglichen Sinne des Wortes lediglich als „physisch“ bezeichnen, da sie im Bereich der „Natur“ und damit der Manifestation verbleibt. Man kann dies sogar noch weiter einschränken, da sie nur die formhafte Manifestation berücksichtigt und daraus weiter einschränkend nur den einen, sie bildenden Zustand aus der Gesamtheit aller möglichen Manifestationszustände.
Das Individuum besteht nicht aus einer in sich abgeschlossenen und vollständigen Einheit, wie die meisten westlichen Philosophen es vermuten – und insbesondere jene, die in der modernen Zeit leben –, sondern es ist tatsächlich nur eine relative und bruchstückhafte Einheit, die kein sich selbst genügendes Ganzes oder abgeschlossenes System bildet, wie Leibnitz dies mit seinen „Monaden“ vertritt. Das „individuelle Wesen“ genießt zwar viel Anerkennung durch die westlichen Philosophen, hat aber in sich keine metaphysische Bedeutung: Im Grunde ist es nichts anderes als ein „logisches Subjekt“. Unter diesem Blickwinkel gesehen, hat es natürlich eine gewisse Bedeutung, kann aber auch nicht über die Grenzen dieser speziellen Sichtweise hinausgetragen werden. Das Individuum ist selbst in all seiner Fülle, zu der es fähig ist, kein gesamthaftes Sein, sondern nur ein bestimmter Manifestationszustand des Seins. Dieser Zustand unterliegt speziellen und genau festgelegten Existenzbedingungen und nimmt in der unbegrenzten Reihe der Zustände des gesamthaften Seins den ihm zugeordneten Platz ein. Es lässt sich zudem sagen, dass ein Zustand als individuell bezeichnet werden kann, wenn er unter definierten Existenzbedingungen eine Form annimmt. Diese Form muss allerdings nicht notwendigerweise räumliche Dimensionen unterliegen, da dies nur für die körperliche Welt gilt und der Raum genau eine jener Bedingungen ist, die diese spezielle Welt definieren.6
In gebotener Kürze möchten wir an dieser Stelle nochmals auf die grundlegende Unterscheidung zwischen dem „Selbst“ und dem „Ich“ oder zwischen der „Persönlichkeit“ und der „Individualität“ eingehen, die wir bereit an anderer Stelle ausführlicher behandelt haben.7 Das „Selbst“ ist das transzendente und dauerhafte Prinzip, von dem das manifestierte Sein – also beispielsweise der Mensch – eine bedingte und vorübergehende Abwandlung ist, die als solche aber das Prinzip nicht berühren kann. Es ist also in seiner Natur unveränderbar, entwickelt aber seine Möglichkeiten in den Daseinsweisen seiner Verwirklichung, die in ihrer Vielfalt unbegrenzt sind. Für das Sein sind diese Daseinsweisen die unterschiedlichen Existenzzustände, die jeweils gewissen Bedingungen unterliegen und die genau definiert sind und auf einschränkende Weise wirken. Einer dieser Zustände ist der Teil des Seins – oder anders gesagt die bestimmte Festlegung des Seins – das von uns als „Ich“ oder menschliche Individualität bezeichnet wird. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass eine derartige Einteilung nur vom Standpunkt der Manifestation aus stattfindet. Wenn man diesen verlässt, befindet sich alles in einer „vollkommenen Gleichzeitigkeit“ in der „ewigen Gegenwart“, so dass die „dauerhafte Gegenwärtigkeit“ des Selbst davon nicht berührt wird. Das „Selbst“ ist daher das Prinzip, durch das all die Zustände des Seins in ihrem jeweils eigenen Bereich existieren, der sich auch als Existenzgrad bezeichnen lässt. Dies trifft nicht nur auf die manifestierten Zustände zu, die individuell wie der menschliche Zustand oder über-individuell sein können (oder anders gesagt mit oder ohne Form auftreten), sondern auch auf die nicht manifestierten Zustände, auf die das Wort „existieren“ nicht mehr angewendet werden kann. Letztere umfassen all jene Möglichkeiten, die aufgrund ihrer Natur keine Manifestation zulassen sowie die Möglichkeiten der Manifestation selbst, wenn sie in ihrem anfänglichen Zustand gesehen werden. Dabei muss beachtet werden, dass das „Selbst“ völlig aus sich heraus existiert, da es in der gesamthaften und unteilbaren Einheit seiner innersten Natur kein Prinzip haben kann, das sich außerhalb von ihm befindet.
Wir möchten in diesem Zusammenhang betonen, dass das Wort „existieren“ nicht auf die nicht manifestierten oder anders gesagt auf die überindividuellen, dem Prinzip näheren Zustände angewendet werden kann. Dieses Wort bezeichnet seinem etymologischen Sinne nach (der sich vom lateinischen Wort ex-stare ableitet) ein Sein, das von einem Prinzip abhängt, das sich außerhalb seiner selbst befindet – oder anders gesagt ein Sein, das in sich selbst nicht seinen eigenen Daseinsgrund finden kann. Es handelt sich dabei also um ein bedingtes und damit manifestiertes Wesen.8 Wenn wir daher über die „Existenz“ sprechen, bezeichnen wir damit die universale Manifestation mit all ihren Zuständen oder Graden, die sie umfasst. Jeder dieser Zustände kann gleichermaßen als eine „Welt“ beschrieben werden, die sich in eine unbegrenzte Vielzahl an anderen Welten einreiht. Der Begriff „Existenz“ ist aber für den Grad des reinen Seins völlig unpassend, da er das Prinzip jeglicher Manifestation ist, auch wenn er selbst nicht manifestiert ist, und genauso wenig passt er auf das, was jenseits des Seins selbst liegt.
Wenn man die Existenz nach der gerade gegebenen Definition betrachtet, so ist sie von ihrer inneren Natur her gesehen eine Einheit, so wie das Sein in sich ebenfalls eine Einheit ist. Es lässt sich sagen, dass sich diese Einheit der Existenz direkt von der Einheit des Seins ableitet, da die universale Existenz nichts anderes als die gesamthafte Manifestation des Seins ist – oder genauer gesagt stellt die universale Existenz die Verwirklichung des Seins im manifestierten Zustand dar und umfasst alle Möglichkeiten, die das Sein in seiner Einheit enthält. Wie die Einheit des Seins schließt die Existenz im Zustand der „Einfaltigkeit“ nicht die Vielfalt der verschiedenen Manifestationsmöglichkeiten aus, noch wird sie durch sie in irgendeiner Weise berührt.9 Sie umfasst all diese unterschiedlichen Daseinsformen aufgrund der Tatsache, dass sie möglich sind. Dies bedeutet, dass sie unter den Bedingungen, die für sie passend sind, auch tatsächlich verwirklicht werden. So lässt sich sagen, dass die Existenz in ihrer „Einfaltigkeit“ eine unbegrenzte Anzahl an unterschiedlichen Graden umfasst, die den verschiedenen Formen der universalen Manifestation entsprechen. Und dieser unbegrenzten Vielzahl an Existenzgraden entspricht im Sein, wenn dieses in seiner Gesamtheit betrachtet wird, gleichfalls eine unbegrenzte Vielzahl an unterschiedlichen Zuständen. Und jeder dieser Zustände des Seins kann sich dann in einem bestimmten dieser Existenzgrade verwirklichen.
Die Vielzahl der Zustände des Seins, die eine ganz grundsätzliche metaphysische Tatsache darstellt, gilt auch dann, wenn man sich wie gerade darauf beschränkt, nur die Zustände der Manifestation zu betrachten. Aber auch wenn man die Zustände der Manifestation und der Nicht-Manifestation gesamthaft nimmt, die zusammen ja die Gesamtheit des Seins darstellen, ist diese Betrachtungsweise nach wie vor zulässig. Das Sein wird dann nicht mehr nur im Bereich der Existenz gesehen, selbst wenn sich diese Betrachtung auf die vollständigen Möglichkeiten seiner Ausdehnung bezieht, sondern auch im unbeschränkten Widerschein der universalen Möglichkeiten. Man muss sich dabei immer vor Augen halten, dass die Existenz nur die Möglichkeiten umfasst, die mit einer Manifestation verbunden sind und noch weiter eingeschränkt nur mit jenen, die sich tatsächlich manifestieren. Jene Möglichkeiten, die sich nicht manifestieren – also die, die den Zustand des Prinzips nicht verlassen –, verbleiben im Grade des Seins. Die Existenz deckt damit bei weitem nicht alle Möglichkeiten ab, wenn man diese wahrhaft universal und gesamthaft betrachtet, also außerhalb und über jeder Beschränkung liegend. Dabei ist auch die erste Beschränkung eingeschlossen, nämlich die Entstehung des reinen Seins, die die anfänglichste aller Festlegungen ist.10
Wenn es um die Zustände eines Seins geht, die nicht manifestiert sind, so muss eine Trennung gemacht werden zwischen dem, was zu den Graden des Seins gezählt werden kann und dem, was jenseits davon liegt. Für die darüber liegenden Fälle ist es offensichtlich, dass der Begriff „Sein“ nicht mehr länger korrekt angewendet werden kann. Die Beschränkungen der Sprache verhindern es jedoch, sich genauer auszudrücken, so dass es nur möglich ist, über sie in Analogien und in Symbolen zu sprechen. Man kann auch das Sein in seiner Gesamtheit in manifestierte und nicht manifestierte Zustände unterteilen, ohne dass man bei den nicht manifestierten Zuständen jene ausschließen müsste, die nicht im engeren Sinne zum Sein gehören.11
Die Zustände der Nicht-Manifestation liegen ihrem Wesen nach außerhalb der Individualität und können wie das anfängliche „Selbst“, von dem sie sich nicht trennen lassen, nicht in einen individuellen Zustand überführt werden. Die Zustände der Manifestation sind dagegen teilweise individuell und teilweise nicht individuell. Diese Unterscheidung entspricht jener, die zwischen der formhaften und formlosen Manifestation gemacht werden kann. Wenn wir nun den Menschen im Speziellen betrachten, so ist seine Individualität, die den menschlichen Zustand bildet, nur ein Manifestationszustand unter einer Vielzahl von anderen, die alle ebenfalls als gleichermaßen möglich und existent betrachtet werden können. Dies trifft zumindest auf virtuelle Weise zu, wenn sie nicht sogar tatsächlich durch das Sein verwirklicht werden, das wir gerade in dem relativen und teilhaften Aspekt betrachten, der den individuellen Zustand darstellt.
6 Siehe DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 2 und 10.
7 Ebd., Kapitel 2.
8 Der gebräuchliche Ausdruck „die Existenz Gottes“ ist daher völlig bedeutungslos, unabhängig davon, ob man mit „Gott“ das Sein als solches bezeichnet – wie dies üblicherweise der Fall ist – oder das höchste Prinzip, das jenseits des Seins liegt.
9 Der Ausdruck „Einfaltigkeit“ erlaubt es uns, das arabische Wort Wadat al-wujūd recht genau wiederzugeben. Hinsichtlich der Unterscheidung, die man zwischen der „Einfaltigkeit“ der Existenz, der „Einheit“ des Seins und der „Nicht-Dualität“ des höchsten Prinzips machen muss, möchten wir auf unsere Studie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 6, verweisen.
10 Wir möchten in diesem Zusammenhang auf eine Eigenart der Philosophie hinweisen: Um ihr jeweiliges System konstruieren zu können, versuchen die Philosophen bewusst oder unbewusst der universalen Möglichkeit gewisse Grenzen aufzuerlegen. Es hängt allerdings an der Natur des Systems selbst, dass es sich innerhalb definierter Grenzen bewegen muss. So wäre es wohl durchaus interessant, vor dem Hintergrund dieser Einschränkung der universalen Möglichkeit eine geschichtliche Betrachtung über die verschiedenen modernen philosophischen Theorien zu schreiben, da diese jene sind, bei denen diese Charakteristik am häufigsten zu finden ist.
11 Wir möchten diesbezüglich insbesondere auf unsere Studie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 15 und 16, verweisen.
Die tatsächliche Verwirklichung der Zustände des Seins verbinden viele Traditionen mit einer Vorstellung, die beispielsweise im Islam unter dem Begriff „Universaler Mensch“ zusammengefasst wird.12 Diese Vorstellung stellt eine Analogie zwischen der universalen Manifestation und ihrer individuellen Erscheinungsform her oder in der Sprache der westlichen Hermetik ausgedrückt zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos.13 Sie lässt sich auf verschiedene Ebenen in unterschiedlich starken Ausprägungen vorstellen, aber es bleibt dennoch immer die gleiche Analogie gültig.14 Daher kann man sie auch auf die Ebene der Menschen anwenden und sie auf die menschliche Natur selbst oder auch auf ihre gesellschaftliche Organisation beschränken, da auf dieser Analogie beispielsweise der Aufbau des Kastensystems beruht.15 Auf einer anderen und weiter gefassten Ebene kann die gleiche Bedeutung möglicherweise einen Existenzbereich umfassen, der der Gesamtheit eines bestimmten Zustandes des Seins entspricht, was auch immer dieser Zustand ist.16 Diese Bedeutung kann man allerdings nicht mehr als „kosmologisch“ ansehen, insbesondere wenn es um den menschlichen Zustand (selbst wenn er in der gesamten Entwicklung seiner Daseinsmöglichkeiten gesehen wird) oder einen anderen individuellen Zustand geht. Es ist daher wichtig, in diesem Zusammenhang die metaphysische Übertragung der Vorstellung des individuellen Menschen zu beachten, da er durch diese Übertragung auf Bereiche bezogen wird, die nicht mehr individuell sind, sondern darüber liegen. Die Vorstellung des „Universalen Menschen“ bezieht sich daher auf die gesamte Summe all seiner Manifestationszustände. Man kann diese Vorstellung aber auch noch universaler verstehen, wenn man die Fülle der wahren Bedeutung dieses Wortes in Betracht zieht und damit auch die Zustände der Nicht-Manifestation einschließt. Dann erreicht man die im höchsten Sinne verstandene vollständige und vollkommene Verwirklichung des gesamthaften Seins, die wir eingangs erwähnt hatten (wobei man einschränken muss, dass der Begriff „Sein“ in diesem Sinne und auf diese Universalität bezogen nur in einem analogen Sinn verwendet werden kann).
Jede derartige metaphysische Übertragung ist der Ausdruck einer echten Analogie, was bedeutet, dass die Analogie in umgekehrtem Sinne wirken muss. Dies wird durch das bekannte Symbol des „Siegels des Salomons“ und seine beiden gegensätzlich zueinander stehenden Dreiecke ausgedrückt.17 So wie das Abbild eines Gegenstandes in einem Spiegel umgekehrt zum tatsächlichen Gegenstand ist, so wird das, was das erste oder größte in der Ordnung der Prinzipien ist, zumindest dem äußeren Anschein nach zum letzten oder kleinsten in der Ordnung der Manifestation.18 Wenn man auf Begriffe aus dem mathematischen Bereich zurückgreift, so ist der geometrische Punkt räumlich gesehen Null und nimmt keinen Raum ein, obwohl er das Prinzip ist, durch das der gesamte Raum erzeugt wird. Somit ist der Raum nichts anderes als die Entwicklung oder Ausdehnung der virtuellen Möglichkeiten des Punktes. Auf die gleiche Weise ist die arithmetische Eins die kleinste aller Zahlen, wenn sie mit den anderen Zahlen verglichen wird. Sie wird aber zur größten, wenn man sie unter dem Aspekt des Prinzips betrachtet, dem zufolge sie all diese Zahlen als Möglichkeiten enthält und sie aus sich selbst durch die Wiederholung ihrer selbst erzeugt.
Daher gibt es eine Analogie (aber keine Gleichheit) zwischen dem individuellen Menschen und dem gesamthaften und unbedingten Sein. Der individuelle Mensch wird als relatives und unvollständiges Sein verstanden, der als der Typus für einen gewissen Existenzzustand oder weiter gefasst sogar für alle bedingten Existenzen stehen kann. Das unbedingte Sein ist dagegen transzendent im Hinblick auf die einzelnen und bestimmten Existenzformen und wird daher symbolisch eben als der „universale Mensch“ bezeichnet. Wendet man die Analogie nun an, so lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Wenn der „Universale Mensch“ das Prinzip aller Manifestation darstellt, so ist der individuelle Mensch in der Ordnung, in der er lebt, sein Ergebnis und Endprodukt. Aus diesem Grund wird er von allen Traditionen als die Zusammenfassung aller Elemente und aller Reiche der Natur gesehen.19 Dies muss so sein, damit die Analogie tatsächlich zutrifft. Um sie vollständig rechtfertigen zu können – und mit ihr auch die Bezeichnung „Universaler Mensch“ – muss zusätzlich noch die kosmogonische Funktion berücksichtigt werden, die mit dem Menschen verbunden ist. Eine detaillierte Untersuchung dieses Aspekts würde uns jedoch zu weit von unserem eigentlichen Thema entfernen, so dass wir dies auf eine andere Gelegenheit verschieben müssen. Für unsere Betrachtungen hier ist es ausreichend festzuhalten, dass der Mensch in dem ihm zugewiesenen Bereich der individuellen Existenz eine Rolle spielt, die wahrhaft „zentral“ im Hinblick auf die anderen Wesen ist, die ebenfalls diesem Bereich zugeordnet sind. Kraft dieser Rolle ist der Mensch der vollständigste Ausdruck des fraglichen individuellen Zustandes, da all dessen Möglichkeiten bis zu einem gewissen Grad in ihm enthalten sind, sofern diese nicht nur auf rein körperliche Weise gesehen werden, sondern in der Gesamtheit ihrer Daseinsweisen mit der unbegrenzten Ausdehnung, zu der sie fähig sind.20 Dies ist der tiefste aller Gründe, auf denen die Analogie beruht, die wir hier betrachten. Und diese spezielle Gegebenheit erlaubt es, den Menschen vor allen anderen Wesen, die sich im gleichen Zustand befinden, so zu übertragen, dass sich daraus die traditionelle Vorstellung des „Universalen Menschen“ ergibt.21
Eine weitere Anmerkung möchten wir noch ergänzen, die von großer Wichtigkeit ist: Der „Universale Mensch“ existiert nur virtuell – also in gewisser Weise in einer „negativen“ Form – und als eine Art von vollkommenem Urbild, bis die Verwirklichung des gesamthaften Seins ihn in eine tatsächliche und damit „positive“ Existenz überführt hat. Dies trifft auf jedes Sein zu, das dazu vorgesehen ist, eine derartige Verwirklichung zu durchlaufen.22 Um Missverständnisse ausschließen zu können, möchten wir noch das Folgende ergänzen: Eine solche Ausdrucksweise, die etwas als aufeinander folgend darstellt, was eigentlich gleichzeitig ist, lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn man den speziellen Standpunkt eines manifestierten Seins einnimmt. Dieser Zustand ist für dieses Sein der Anfangspunkt für die folgende Verwirklichung. Klar sollte ebenfalls sein, dass Ausdrücke wie „negative Existenz“ oder „positive Existenz“ nicht wörtlich verstanden werden dürfen, wenn es um etwas geht, bei dem die Bedeutung von „Existenz“ nur bis zu einem gewissen Grad zutreffend ist. Die Sprache ist unvollkommen, da sie eng mit den Bedingungen des menschlichen Zustandes und insbesondere mit seiner körperlichen und irdischen Daseinsweise verbunden ist. Daher werden wir in manchen Fällen genötigt, trotz aller Vorbehalte „wörtliche Bilder“ zu verwenden. Ohne sie wäre es nicht möglich, derartige Sachverhalte verständlich in Sprachen ausdrücken zu können, die eigentlich so wenig dazu geeignet sind, metaphysische Wahrheiten auszudrücken wie die westlichen Sprachen.
12 Der „Universale Mensch“ (im Arabischen al-Insān al-kāmil) ist gleichzeitig auch der „Anfängliche Mensch“ (al-Insān al-qadīm). Er ist auch der Adam Qadmon aus der KABBALA und der „König“ (Wang) der fernöstlichen Tradition (TAO TE CHING, Kapitel 25). In der islamischen Esoterik gibt es eine große Anzahl an Abhandlungen verschiedener Autoren über al-Insān al-kāmil. Wir möchten hier nur jene von Muyi ’d-Dīn ibn al-Arabī und ‘Abd al-Karīm al-Jīlī erwähnen, da sie aus der Sichtweise, die wir hier einnehmen, von besonderer Wichtigkeit sind.
13 Die Art, wie wir diese beiden Begriffe und auch manche andere verwenden, haben wir in unserer Studie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 6, ausführlich erklärt. Trotz manchem Missbrauch, auf den man im Zusammenhang mit ihnen stoßen kann, sollte man nicht vor ihrer rechtmäßigen Verwendung zurückschrecken. Sie sind griechischen Ursprungs und im Arabischen gibt es exakte Gegenstücke dazu, die auf die gleiche Weise zu verstehen sind: al-kawn al-kabīr und alkawn as-saghīr.
14 Eine ähnliche Beobachtung lässt sich auch in Bezug auf die Theorie der Zyklen machen, die nichts anderes ist als ein anderer Ausdruck für die Zustände der Existenz: Jeder nachrangige Zyklus erzeugt auf die ihm eigene Weise Phasen, die jenen des größeren Zyklus entsprechen, der ihm selbst übergeordnet ist.
15 Siehe das Purusha-Sūkta aus der RIG VEDA, X, 90.
16 Zu diesem Punkt und den Bezug zu Vaishvānara aus der hinduistischen Tradition möchten wir auf unsere Studie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 12, verweisen.
17 Siehe DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 1 und 3.
18 Dies wird auch in gewissen Texten der Evangelien oder Upanischaden sehr deutlich beschrieben.
19 In dieser Hinsicht lässt sich auf eine Stelle in der islamischen Lehre verweisen, die sich mit der Erschaffung der Engel und Menschen befasst. Die wahre Bedeutung einer solchen Lehre hat nichts mit einer „umformenden“ oder gar „evolutionären“ Anschauung im weitesten Sinne des Wortes zu tun und schon gar nichts mit modernen Fantasievorstellungen, die mehr oder weniger direkt durch zugrundeliegende antitraditionelle Anschauungen gefördert werden.
20 Die Verwirklichung der gesamthaften menschlichen Individualität entspricht dem „anfänglichen Zustand“, über dem wir bereits öfters gesprochen haben. In der jüdisch-christlichen Tradition wird dies mit dem Verweilen im Garten Eden ausgedrückt.
21 Um Missverständnissen vorzubeugen, möchten wir betonen, dass wir eine „Übertragung“ immer im etymologischen Sinne des Wortes verstehen, der einen „Übergang über die Form hinaus“ beschreibt und damit über alles, was der Ordnung der individuellen Existenz angehört.
22 Wenn man die beiden „positiven“ und „negativen“ Zustände des „Universalen Menschen“ auf die jüdisch-christliche Tradition überträgt, so entsprechen sie auf gewisse Weise dem Zustand vor dem „Fall“ und dem Zustand, der direkt nach der Erlösung folgt. Damit sind diese beiden Zustände wiederum die unterschiedlichen Formen von Adam, von denen Paulus sprach (1. KORINTHER 15:45), und legen gleichzeitig die Beziehung dar, die zwischen dem „Universalen Menschen“ und dem Logos besteht (siehe unsere Studie GEISTIGE AUTORITÄT UND WELTLICHE MACHT, Kapitel 8).
Die meisten traditionellen Lehren symbolisieren die Verwirklichung des „Universalen Menschen“ durch das gleiche Zeichen, da es – wie wir bereits zu Anfang dieser Studie erwähnt hatten – eines jener Symbole ist, die direkt mit der anfänglichen Tradition verbunden sind. Es handelt sich um das Zeichen des Kreuzes, das sehr deutlich den Erreichungsgrad dieser Verwirklichung durch die vollkommene Vereinigung aller Zustände des Seins ausdrückt, indem diese in diesem Symbol harmonisch in ihrem gesamthaften Umfang sowohl im Sinne der horizontalen Ausdehnung und als auch im Sinne der vertikalen Höhe dargestellt werden.23 Die doppelte Entwicklung des Seins lässt sich damit einerseits horizontal im Sinne einer Ausdehnung auf einer bestimmten Ebene oder eines Existenzgrades verstehen und andererseits vertikal in die Höhe über die hierarchisch aufgebauten Grade hinweggehend. Die horizontale Richtung steht damit für die Ausdehnung der Individualität, wenn diese als die Grundlage für die Verwirklichung gesehen wird. Sie umfasst die unbegrenzte Entwicklung einer bestimmten Gruppe an Möglichkeiten, die speziellen Manifestationsbedingungen unterliegen. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass im Falle des Menschen diese Ausdehnung nicht auf den körperlichen Teil der Individualität beschränkt ist, sondern all seine Daseinsweisen einschließt, von denen die körperliche nur eine ist. Die vertikale Höhe steht für die Hierarchie der gleichermaßen unbegrenzten Zustände. Jeder von ihnen ist – wenn man ihn in seiner Gesamtheit betrachtet – eine jener Gruppen von Möglichkeiten, die einer „Welt“ oder einem Grad entsprechen, die ein Teil des gesamthaften Aufbaus des „Universalen Menschen“ sind.24 In der Darstellung des Kreuzes entspricht die horizontale Ausdehnung damit der Unbegrenztheit der möglichen Daseinsformen innerhalb des gleichen Zustandes des gesamthaft betrachteten Seins und die vertikale Höhe der unbegrenzten Reihe von hierarchisch übereinander liegenden Zuständen des gesamthaften Seins.
Der Zustand, dessen Entwicklung durch die horizontale Linie dargestellt wird, kann jeder beliebige Zustand sein. Tatsächlich wird es sich dabei um den Zustand handeln, in dem sich das Sein in manifestierter Form befindet, das auf dem Weg ist, den „Universalen Menschen“ zu verwirklichen. Dieser Zustand ist für das Sein der Anfangspunkt und die Grundlage für die Verwirklichung. Wir werden im Folgenden zeigen, dass jeder Zustand dazu geeignet ist, eine derartige Grundlage für das Sein zu bilden. Wenn wir diesbezüglich dem menschlichen Zustand mehr Aufmerksamkeit widmen als anderen Zuständen, so liegt dies daran, dass er der uns eigene Zustand ist und uns damit unmittelbar betrifft, da er der Anfangspunkt ist, von dem aus wir unsere Verwirklichung starten. Aus der Sichtweise der reinen Metaphysik wird diesem Zustand allerdings kein Vorrang gegenüber anderen Zuständen gegeben.
Die gesamthafte Verwirklichung des Seins liegt jenseits aller Bedingungen und entspricht somit dem, was in der hinduistischen Lehre als „Erlösung“ (moksha) und in der islamischen Esoterik als „höchste Einheit“ bezeichnet wird.25 Der islamischen Tradition zufolge hat der „Universale Mensch“, wenn er durch das Paar „Adam-Eva“ dargestellt wird, den gleichen numerischen Wert wie Allah, der als ein Mittel dienen kann, die „höchste Einheit“ auszudrücken.26 Dies erfordert allerdings eine Erklärung, da eingewendet werden kann, dass der Ausdruck „Adam-Eva“ trotz einer möglichen Übertragung im Grunde nur den ursprünglichen menschlichen Zustand bezeichnet: Auch wenn die „höchste Einheit“ nur in der Gesamtheit der vielfältigen Zustände verwirklicht wird, so lässt sie sich doch bereits in gewissem Sinne im paradiesischen Zustand des Garten Edens als virtuell verwirklicht ansehen, also in der Wiedereingliederung des Menschen in sein ursprüngliches Zentrum, das – wie wir später zeigen werden – auch der Punkt ist, der den direkten Austausch mit den anderen Zuständen ermöglicht.27
Die Eingliederung des menschlichen Zustandes oder jeden anderen Zustandes in die Gesamthaftigkeit des Seins stellt in der Ordnung oder im jeweiligen Grad, dem dieser zugehört, die Wiederherstellung eben dieser Gesamthaftigkeit des Seins dar, was durch die Symbolik deutlich wird, die wir gerade untersuchen. Da dies so ist, kann beispielsweise der individuelle Mensch (oder noch spezieller der körperliche Mensch) ein Symbol und damit ein Bild für den „Universalen Menschen“ sein, da jeder Teil des Universums – und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Welt oder ein bestimmtes Sein handelt – immer und überall analog zum Gesamten ist. Daher lag ein Philosoph wie Leibnitz mit seiner Aussage richtig, dass jede „individuelle Substanz“ (mit den Einschränkungen, die hinsichtlich dieses Ausdrucks angebracht sind) in sich ein gesamthafter Ausdruck des Universums sei.28 Dies spiegelt sich wiederum in der Analogie wider, die zwischen dem Makrokosmos und Mikrokosmos besteht. Indem Leibnitz sich jedoch auf die Betrachtung einer „individuellen Substanz“ beschränkte und versuchte, diese mit dem Sein selbst gleichzusetzen (was in seinen Augen ein vollständiges, in sich abgeschlossenes Sein ist und somit zu keinem Austausch mit etwas fähig ist, das transzendent zu ihm ist), schloss er die Möglichkeit aus, von der horizontalen Richtung, die mit der „Ausdehnung“ verbunden ist, zur vertikalen Richtung der „Höhe“ übergehen zu können. So muss man sagen, dass seiner Theorie letztlich jegliche wahre metaphysische Bedeutung fehlt.29 Wir beabsichtigen nicht, an dieser Stelle tiefer in die Untersuchung von philosophischen Vorstellungen oder anderen Dingen vorzudringen, die ebenfalls rein dem weltlichen Bereich zuzuordnen sind. Aber das gerade untersuchte Beispiel kam uns als eine fast unvermeidliche Anwendung dessen in Erinnerung, was wir gerade über die beiden Richtungen gesagt haben, in die die Entwicklung des gesamten Seins geführt werden kann.
Kehren wir nun wieder zur Symbolik des Kreuzes zurück. Neben seiner metaphysischen und grundsätzlichen Bedeutung, über die wir bislang ausschließlich gesprochen haben, besitzt das Kreuz auch viele verschiedene andere Bedeutungen, die mehr oder weniger nachrangig und bedingt sind. Dies ist völlig normal und entspricht dem, was wir im Allgemeinen bereits über die Vielfalt der Bedeutungen ausgeführt haben, die in jedem wahren Symbol enthalten sind. Wir werden im Folgenden nun zuerst auf diese anderen Bedeutungen eingehen und danach die geometrische Darstellung des Seins und seiner verschiedenen Zustände behandeln, die alle im Zeichen des Kreuzes zusammengefasst sind, sowie auf weitere Details dieser Symbolik eingehen (die eine komplexe Symbolik ist, wenn sie bis zu ihrem vollen Umfang entwickelt wird). Auch wenn die Fragen, die mit diesen nachrangingen Bedeutungen verbunden sind, auf den ersten Blick möglicherweise etwas entfernt vom eigentlichen Thema dieser Studie erscheinen, so sind diese Dinge dennoch alle auf gewisse Weise miteinander verbunden. Aufgrund des Gesetzes der Analogie ist diese Verbindung sogar in manchen Fällen noch enger als man vermuten mag, da dieses Gesetz die Grundlage für jegliche Symbolik bildet.
23 Die Begriffe „Ausdehnung“ und „Höhe“ haben wir sinngemäß aus der Sprache der islamischen Esoterik entliehen, die in dieser Beziehung besonders genau ist. In der westlichen Welt wurde mit dem Symbol des Rosenkreuzes genau die gleiche Bedeutung verbunden, bevor das Unverständnis der modernen Zeit ihm verschiedene verzerrte oder unbedeutende Auslegungen auferlegte. Auf die Bedeutung der Rose werden wir später noch näher eingehen.
24 „Wenn der Mensch im ‚universalen Grad‘ sich in das Erhabene erhöht und in ihm die anderen (nicht-menschlichen) Grade in vollkommener Ausdehnung erwachen, wird er zum ‚Universalen Menschen‘. Ausdehnung und Höhe haben beide gleichermaßen ihre Fülle im Propheten erreicht (der damit mit dem ‚Universalen Menschen‘ gleichgesetzt werden kann).“, EPISTLE ON THE MANIFESTATION OF THE PROPHET von Shaykh Moammad ibn Fadlullah al-Hindī. Dies erklärt auch die Worte, die vor über 20 Jahren von einer Person gesagt wurden, die eine sehr hohe Position im Islam innehatte: „Über die Christen lässt sich sagen, dass sie das Zeichen des Kreuzes besitzen, über die Muslime lässt sich sagen, dass ihnen die Lehre dazu gegeben wurde.“ Wir möchten noch ergänzen, dass in der esoterischen Ordnung die Beziehung zwischen dem „Universalen Menschen“ und dem „Wort“ einerseits und dem Propheten andererseits als jeweilige Grundlage für die Lehre keinen Raum für irgendeine wirkliche Abweichung zwischen dem Christentum und dem Islam lässt. Außerdem scheint es so, dass die antike persische Vorstellung hinsichtlich des Vohu-Mana auch der des „Universalen Menschen“ entspricht.
25 Siehe unsere Studie DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 22.
26 Der Zahlenwert ist 66 und ergibt sich aus der Summe der einzelnen Buchstaben des Ausdrucks Adam wa Ḩawwa. Nach der hebräischen Vorstellung, die sich in der GENESIS finden lässt, wurde der Mensch „männlich und weiblich als Abbild Gottes“ geschaffen (also in einem androgynen Zustand). Und nach der islamischen Tradition ordnete Allah die Engel dazu an, den Menschen zu verherrlichen (KORAN II, 34; XVII, 61; XVIII, 50). Der ursprüngliche androgyne Zustand ist der vollständige menschliche Zustand, in der diese beiden wechselseitigen Bestandteile sich nicht gegensätzlich gegenüberstehen, sondern vollkommen ausgeglichen sind. Wir werden auf diesen Punkt später noch näher eingehen, so dass wir hier nur erwähnen möchten, dass die hinduistische Tradition einen derartigen Zustand symbolisch mit der Bezeichnung hamsa bezeichnet und dass die wechselseitigen Pole der menschlichen Daseinsweise dieser Lehre zufolge den beiden Phasen des Atmens entsprechen, die wiederum die entsprechenden Phasen der universalen Manifestation darstellen.
27 Die beiden unterschiedlichen Phasen bei der Verwirklichung der „höchsten Einheit“ entsprechen der Unterscheidung zwischen dem, was man „tatsächliche Unsterblichkeit“ und „virtuelle Unsterblichkeit“ nennen kann (siehe DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA, Kapitel 18).
28 Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Leibnitz im Gegensatz zu den meisten anderen modernen Philosophen auf ein gewisses traditionelles Wissen zurückgreifen konnte. Allerdings war diese Kenntnis allem Anschein nach nur begrenzt und unvollständig und nach der Art und Weise zu urteilen, wie er diese Informationen eingesetzt hat, fehlte ihm dabei auch das richtige Verständnis.
29 Ein weiterer großer Fehler von Leibnitz, der mit dem gerade ausgeführten eng zusammenhängt, ist die Einführung einer moralischen Sichtweise bei der Betrachtung der universalen Ordnung. In dieser hat sie aber keinen Platz aufgrund des „Prinzips des Bestens“, das Leibnitz als den „hinreichenden Grund“ für jegliche Existenz ansah. In diesem Zusammenhang möchten wir auch darauf hinweisen, dass eine wie von Leibnitz versuchte Einführung einer Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen keinerlei metaphysischen Wert besitzt, da alles, was möglich ist, aufgrund dieser Tatsache bereits seiner Daseinsweise nach wirklich ist.
Manche Autoren aus dem Westen, die sich mehr oder weniger stark mit initiatischen Themen beschäftigt haben, versuchten, dem Kreuz eine ausschließlich astronomische Bedeutung zu geben. Sie behaupten, dass es „ein Symbol für die kreuzförmige Verbindung ist, die die Ekliptik mit dem Äquator bildet“ und auch „ein Bild für die Tagundnachtgleichen, da die Sonne diese beiden Punkte in ihrem jährlichen Verlauf durchläuft“.30 Derartige Aussagen treffen nur deshalb zu, weil astronomische Erscheinungen aus einer höheren Sichtweise gesehen selbst als Symbole verstanden werden können und sich darin – wie auch in allem anderen – ein Abbild für den „Universalen Menschen“ finden lässt. Versteht man diese Erscheinungen jedoch als Symbole, so ist es klar, dass sie nicht identisch mit der Sache sind, die sie symbolisieren. Werden diese beiden Dinge jedoch miteinander vermischt, so stellt dies eine Umkehrung der normalen Beziehungen dar, die zwischen verschiedenen Ordnungen der Wirklichkeit bestehen.31 Das Bild des Kreuzes hat immer den gleichen symbolischen Wert, auf den wir in dieser Studie näher eingehen werden – unabhängig davon, ob es in der Astronomie oder in einem anderen Zusammenhang erscheint.32 Dies belegt, dass wahre Symbolik nicht künstlich durch den Menschen eingeführt wurde, sondern der Natur innewohnend ist oder mit anderen Worten gesagt, dass die Gesamtheit der Natur ein Symbol für die transzendenten Wirklichkeiten ist.
Selbst wenn diese Punkte berücksichtigt werden, enthalten die beiden zitierten Aussagen dennoch Fehler. So bilden die Ekliptik und der Äquator kein Kreuz, da sich ihre Ebenen nicht in einem rechten Winkel schneiden. Die beiden Punkte der Tagundnachtgleichen werden über eine gerade Linie verbunden, so dass sich daraus ebenfalls kein Kreuz bilden lässt. In Wahrheit muss man die Ebene des Äquators und die Achse betrachten, die die beiden Pole miteinander verbindet und zu dieser Ebene im rechten Winkel steht. Bei den Tagundnachtgleichen muss man ergänzend noch die Punkte der Sonnenwenden heranziehen, so dass sich im ersten Fall ein „vertikales Kreuz“ ergibt und im zweiten ein „horizontales Kreuz“. Die Verbindung der beiden Kreuze, die das gleiche Zentrum haben, bildet das dreidimensionale Kreuz, dessen Zweige sich in die sechs Richtungen des Raumes ausdehnen.33 Diese Richtungen entsprechen den sechs Richtungen des Raumes, die zusammen mit dem Zentrum eine Siebenheit bilden.
Wir haben bereits an anderer Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass in den östlichen Lehren den sieben Richtungen des Raumes eine besondere Bedeutung geben wird und sie mit gewissen zyklischen Perioden verbunden sind.34 Dennoch halten wir es für sinnvoll, hier nochmals einen Text zu diesem Thema zu zitieren, da er zeigt, dass diese Verbindungen auch in den westlichen Traditionen zu finden sind:
Clemens von Alexandria sagte (Stromateis 6, 16), dass von Gott, dem „Herzen des Universums“, alle Richtungen des Raumes ausgehen. Jede ist in ihrer Ausdehnung unbegrenzt. Eine verläuft nach oben, eine nach unten, eine nach rechts, eine nach links, eine nach vorn und eine nach hinten. Indem Gott seinen Blick auf diese sechs Richtungen richtet, von denen keine weniger weit geht als die andere, erschafft er die Welt. Er ist der Anfang und das Ende (das Alpha und Omega). In ihm sind die sechs Phasen der Zeit vollendet und von ihm erhalten sie ihre unbegrenzte Ausdehnung. Darin ist das Geheimnis der Zahl sieben zu finden.35
Diese Symbolik ist auch in der hebräischen Kabbala zu finden, die von einem „heiligen Palast“ oder „inneren Ort“ spricht, der im Zentrum der sechs Richtungen des Raumes gelegen ist. Die drei Buchstaben des göttlichen Namens Jehova