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In unserer heutigen Zeit ist Wissen frei zugänglich, das über viele Jahrhunderte nur einer speziell geschulten und vorbereiteten Elite offenstand: Es handelt sich dabei um die tiefgehende und gleichzeitig höchste Erkenntnis der geistigen Wahrheiten. Wer dieses Wissen erlangen und in sich verwirklichen möchte, muss sich auf den Weg der Initiation begeben, der in allen Traditionen in der einen oder anderen Form gelehrt wird. Nur dieser Weg führt zur wahren "Erlösung", die das Ziel aller traditioneller Lehren ist. Sucht man in der heutigen Zeit nach einer Möglichkeit zur Initiation, kann man auf vielerlei Angebote stoßen. Die meisten darunter von ihnen sind jedoch unvollständig und leiten sich nicht aus wahrem Wissen ab und nicht wenige sind sogar rein der Fantasie ihrer Autoren entsprungen. Wer daher nach Initiation sucht, läuft Gefahr, durch dieses Halbwissen und diese Fälschungen in die Irre geführt zu werden. Nur wer gewisse Kenntnisse über die Merkmale einer wahren Initiation hat, kann die "Spreu vom Weizen" trennen. Mit Blick auf diese Situation veröffentlichte René Guénon seine Studie "Einblicke in die Initiation". In ihr vermittelt er die Grundsätze der Initiation, die in allen Traditionen und über alle Zeitalter hinweg die gleichen sind. Sie unterscheiden sich nur äußerlich in ihren Anwendungen in Abhängigkeit von Ort und Zeit. So wird es dem Leser möglich, all jene Elemente, Voraussetzungen und Ergebnisse zu erkennen, die mit einer rechtmäßigen Initiation verbunden sind und die sie so klar von all dem Halbwissen unserer Zeit unterscheiden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Französische Originalausgabe:APERÇUS SUR L’INITIATION© Les Editions Traditionelles 1946
Deutsche Ausgabe:BAND 12: EINBLICKE IN DIE INITIATION
Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke
Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke
Kontakt: [email protected]
VORWORT DES HERAUSGEBERS
VORWORT
1. DIE INITIATISCHEN UND DIE MYSTISCHEN PFADE
2. MAGIE & MYSTIZISMUS
3. FALSCHE VORSTELLUNGEN ÜBER DIE INITIATION
4. VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE INITIATION
5. DIE INITIATISCHE RECHTMÄßIGKEIT
6. SYNTHESE & SYNKRETISMUS
7. DIE VERMEIDUNG DER VERMISCHUNG TRADITIONELLER FORMEN
8. DIE INITIATISCHE ÜBERTRAGUNG
9. TRADITION & ÜBERTRAGUNG
10. INITIATISCHE ZENTREN
11. INITIATISCHE ORGANISATIONEN & RELIGIÖSE SEKTEN
12. INITIATISCHE ORGANISATIONEN & GEHEIMGESELLSCHAFTEN
13. DAS INITIATISCHE GEHEIMNIS
14. INITIATISCHE EIGNUNGEN
15. INITIATISCHE RITEN
16. RITUS & SYMBOL
17. MYTHEN, MYSTERIEN & SYMBOLE
18. SYMBOLIK & PHILOSOPHIE
19. RITEN & ZEREMONIEN
20. ZEREMONIELLE MAGIE
21. PSYCHISCHE KRÄFTE
22. DAS ZURÜCKWEISEN VON KRÄFTEN
23. SAKRAMENTE & INITIATISCHE RITEN
24. GEBETE & BESCHWÖRUNGEN
25. INITIATISCHE PRÜFUNGEN
26. DER INITIATISCHE TOD
27. WELTLICHE & INITIATISCHE NAMEN
28. DIE SYMBOLIK DES THEATERS
29. „AUSFÜHREND“ & „NACHSINNEND“
30. DIE TATSÄCHLICHE UND DIE VIRTUELLE INITIATION
31. DIE INITIATISCHE LEHRE
32. DIE GRENZEN DES MENTALEN
33. INITIATISCHES WISSEN & WELTLICHE „KULTUR“
34. DIE AKADEMISCHE GEISTESHALTUNG & DIE PSEUDO-INITIATION
35. INITIATION & „PASSIVITÄT“
36. INITIATION & „DIENST“
37. DIE GABE DER ZUNGEN
38. DAS ROSENKREUZ & DIE BRUDERSCHAFT DES ROSENKREUZES
39. DIE HÖHEREN MYSTERIEN & DIE NIEDEREN MYSTERIEN
40. DIE PRIESTERLICHE UND DIE KÖNIGLICHE INITIATION
41. ANMERKUNGEN ZUR HERMETIK
42. UMWANDLUNG & VERWANDLUNG
43. DIE IDEE DER ELITE
44. DIE INITIATISCHE HIERARCHIE
45. TRADITIONELLE UNFEHLBARKEIT
46. INITIATISCHE WAHLSPRÜCHE
47. VERBUM, LUX & VITA
48. DIE GEBURT DES AVATĀRA
ÜBER RENÉ GUÉNON
DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE
In unserer heutigen Zeit ist Wissen frei zugänglich, das früher über viele Jahrhunderte und teils sogar Jahrtausende nur einer speziell geschulten und vorbereiteten Elite offenstand. Das Wissen, auf das wir uns hier beziehen, umfasst die tiefgehende und gleichzeitig höchste Erkenntnis der geistigen Wahrheiten. Doch wurde durch diese öffentliche Verfügbarkeit die Welt „besser“? Man kann auch allgemeiner fragen, ob das Lesen der Bibel, der Lehren der Kabbala und des Korans oder ehemals verborgener geheimer Schriften aus dem Hinduismus, Buddhismus oder Taoismus aus uns „bessere“ Menschen macht? Viele würden diese Fragen in einem positiven Sinne beantworten. Doch wenn man den Zustand der Welt ohne die vorherrschenden Vorurteile einer „aufgeklärten“ Gesellschaft betrachtet und sich nicht nur auf rein materielle Dinge bezieht, so drängt sich diesbezüglich der gegenteilige Eindruck auf. Die bloße Verfügbarkeit derartigen Wissens fördert nicht dessen Verständnis und schon gar nicht dessen praktische Umsetzung, die jeder einzelne für sich selbst erreichen muss. Und genau darum geht es bei dem, was die Menschheit im Rahmen der Initiation wiedererlangen muss, nach dem sie es im biblischen Sinne durch ihren „Fall“ verloren hat. Durch den Zugang zu höherem geistigen Wissen kann jeder, der die entsprechenden Fähigkeiten besitzt, die Erkenntnis der höchsten Wahrheiten gewinnen, um sie dann verinnerlichen und verwirklichen zu können. Dieser Weg der Initiation führt letztendlich zur wahren „Erlösung“, die das Ziel aller traditionellen Lehren ist.
Sucht man in der heutigen Zeit nach einer Möglichkeit zur Initiation, kann man auf unzählige Formen stoßen. Und selbst wenn man jene Formen weglässt, die sich offensichtlich nur auf rein gesellschaftliche Bereiche beschränken, bleibt noch immer eine unüberschaubare Anzahl aus jenem Bereich übrig, der heutzutage unwissend mit „Esoterik“ bezeichnet wird, in Wahrheit aber „Pseudo-Esoterik“ oder gleich „Scharlatanerie“ genannt werden müsste. Wer nach einer Initiation sucht, läuft Gefahr, durch diese Fälschungen in die Irre geführt zu werden. Nur wer gewisse Kenntnisse über die Merkmale der Initiation hat, ist in der Lage, Fälschungen zu erkennen und sich von ihnen fernzuhalten. Doch dann steht der Suchende vor dem nicht geringeren Problem, dass er keinen geeigneten Anfangspunkt für seine geistige Reise finden kann: In der modernen Zeit und insbesondere in der westlichen Welt gibt es keine rechtmäßigen initiatischen Organisationen mehr, die dem Suchenden eine vollständige Initiation anbieten können. Und falls es sie doch noch geben sollte, agieren sie im Verborgenen und sind dem Suchenden nicht erkennbar und damit nicht zugänglich. Im besten Fall wird er auf eine Organisation stoßen, die zumindest noch über eine rechtmäßige, aber nicht mehr vollständige Initiation verfügt, also eine Initiation, die nicht bis zum höchsten Ziel führt. Wie alles in unserem „dunklen Zeitalter“, das den Abschluss des menschlichen Zyklus bildet, unterliegen auch initiatische Organisationen, die die Initiation bewahren und weitergeben, dem allgemein um sich greifenden geistigen Niedergang und Verfall. So kommt es, dass auch die initiatische Lehre von ihren Bewahrern nicht mehr vollständig oder gar fehlerhaft verstanden wird. Und dennoch kann jener Fall, der den Suchenden immerhin zu einer unvollständigen, aber rechtmäßigen Initiationslehre führt, als glückliche Fügung des Schicksals angesehen werden in Anbetracht der geistigen Verwirrung, die in unserer Zeit vorherrscht und den teils bewussten Täuschungsversuchen, die von Seiten gewisser Gegner der traditionellen Geisteshaltung gefördert werden.
Mit Blick auf diese Situation veröffentlichte René Guénon über mehrere Jahrzehnte hinweg viele Artikel, die sich dem Thema Initiation widmen. Einen großen Teil dieser Artikel fasste er in der vorliegenden Studie als Einblicke in die Initiation zusammen, weitere Aspekte dazu sind in der posthum veröffentlichen Studie Initiation und geistige Verwirklichung zu finden. Bei seinen Erläuterungen bleibt Guénon abstrakt (man könnte auch sagen „theoretisch“) und nur selten bezieht er sich konkret auf traditionelle Lehren aus dem Hinduismus, Christentum oder Islam und noch seltener auf initiatische Organisationen aus der Antike oder Neuzeit. Dies verdeutlicht, dass die Grundsätze der Initiation in allen Traditionen und über alle Zeitalter hinweg die gleichen sind und sich nur ihre Anwendungen in Abhängigkeit von Ort und Zeit von außen betrachtet voneinander unterscheiden. Aufgrund dieses „theoretischen“ Ansatzes darf der Leser auch keine praktische Einführung in eine Initiation erwarten, wie sie heutzutage so mancher Ratgeber aus der „Pseudo-Esoterik“ vollmundig verspricht. Anders ausgedrückt wird der aufmerksame Leser viele neue Erkenntnisse in Bezug auf die Merkmale einer Initiation und das metaphysische Wissen im Allgemeinen gewinnen, aber dadurch noch lange keine Initiation erhalten. Dieser Kenntnisgewinn darf allerdings nicht unterschätzt werden, da er es dem Leser ermöglichen wird, all jene Elemente, Voraussetzungen und Ergebnisse zu erkennen, die mit einer rechtmäßigen Initiation verbunden sind und die sie so klar von all den Fälschungen unserer Zeit unterscheiden. Ob der so vorbereitete Leser dann tatsächlich Zugang zu einer echten initiatischen Organisation finden und dort eine Initiation erhalten wird, ist eine andere Frage, die sich für jeden selbst beantworten wird…
Zum Abschluss möchten wir nochmals auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen: Natürlich helfen die heiligen Schriften der verschiedenen Traditionen dabei, die Welt und die Menschen „besser“ zu machen. Im „dunklen Zeitalter“ des Kali-Yuga ist es sogar erforderlich, bisher verborgenes Wissen offenzulegen, da durch den Niedergang der geistigen Strukturen und Organisationen, die dieses bisher bewahrt und geordnet weitergegeben haben, die Gefahr besteht, dass dieses Wissen verloren geht. Gleichzeit wird es für den Suchenden immer schwieriger, Anschluss an eine echte und intakte initiatische Organisation zu finden, da viele dieser Organisationen in diesen Strudel des Verfalls geraten sind oder sich so weit von der äußeren Welt zurückgezogen haben, dass sie nicht mehr zugänglich sind. So ersetzt dieses Wissen zwar nicht die Initiation, ist dem Suchenden aber ein Licht in dieser dunklen Zeit. Es ist ihm eine Hilfe, den äußeren Gefahren und Versuchungen zu trotzen und kann in ihm die Hoffnung wecken, seinen eigenen Weg zu finden und auf ihm unbeirrt voranzuschreiten. Und wer diese Hoffnung in sich birgt, der hat doch so viel mehr als all die anderen Menschen, die um sich herum nichts als Dunkelheit haben und letztlich im Chaos versinken werden.
I. Steinke
München, im Dezember 2019
Man hat uns wiederholt gebeten, aus dem Magazin Études Traditionelles all unserer Artikel auszuwählen, die sich unmittelbar mit dem Thema der Initiation befassen und sie gesammelt in einem Buch zu veröffentlichen. Es war uns jedoch nicht möglich, diesen Bitten bislang nachzukommen, da wir der Meinung sind, dass ein Buch mehr als nur die Sammlung von Artikeln sein sollte. Und in diesem Fall trifft dies umso mehr zu, da jene Artikel aus einer bestimmten Situation heraus entstanden sind und oft als Antworten auf Fragen gedacht waren. Wir mussten sie daher zuerst überarbeiten und vervollständigen und zuletzt in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Das vorliegende Buch ist nun das Ergebnis dieser Arbeit. Es ist jedoch nicht unsere Absicht, damit eine mehr oder weniger vollständige Abhandlung über das Thema der Initiation unter didaktischen Gesichtspunkten vorzulegen. Dies wäre denkbar, wenn die unmittelbare Notwendigkeit dazu bestünde und man sich nur auf eine bestimmte Form der Initiation beschränken würde. Da wir uns hier aber mit der Initiation im Allgemeinen beschäftigen, ist dies schlicht unmöglich, denn wir müssten uns dann mit einer fast unbegrenzten Zahl an Fragen befassen. Überdies lässt die Natur unseres Themas keine Beschränkung zu, so dass wir auch nicht den Anspruch erheben können, das Thema in diesem Buch vollumfänglich behandeln zu wollen. Es lassen sich nur gewisse Aspekte aus ausgewählten Blickwinkeln betrachten, die – selbst wenn ihre Wichtigkeit unmittelbar einleuchtend ist – doch viele andere auslassen, die einer Untersuchung ebenso wert wären. Dies ist auch der Grund, warum wir der Meinung sind, dass der Begriff „Einblicke“ den Inhalt des Buches am besten charakterisiert. Denn selbst in Bezug auf die behandelten Themen müssen wir sagen, dass es uns nicht möglich war, auch nur eines davon erschöpfend ausführen zu können. Zudem möchten wir nicht nochmals das wiedergeben, was wir zu diesen Themen bereits in unseren anderen Studien gesagt haben und müssen uns damit zufriedengeben, den Leser auf diese Bücher zu verweisen. Da all unsere Schriften mehr oder weniger den gleichen Hintergrund haben und die gleichen Ziele verfolgen, ist alles so stark miteinander verbunden, dass es unmöglich wäre, anders zu verfahren.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es unsere Absicht ist, im Wesentlichen Fragen zu behandeln, die sich mit der Initiation im Allgemeinen befassen. Wenn wir uns daher auf die eine oder andere spezifische Initiationsform beziehen, so tun wir dies nur, um das Thema anhand eines Beispiels besser ausführen und erläutern zu können, insbesondere wenn es ohne diese Anwendungen unklar bleiben könnte. Wir möchten dies besonders für jene Fälle betonen, bei denen wir westliche Formen heranziehen, damit wir jede Zweideutigkeit und jegliches Missverständnis von Anfang an ausräumen können. Der Grund, warum wir auf diese Formen wiederholt verweisen, ist der, dass wir die Veranschaulichungen, die wir aus diesen Initiationsformen ableiten können, dem westlich geprägten Leser zugänglicher und vertrauter sind als andere. Dies muss man allerdings völlig unabhängig von dem sehen, was man über den heutigen Zustand der Organisation denken mag, in denen diese Initiationsformen teilweise bewahrt und praktiziert werden. Wer sich vergegenwärtigt, wie weit der geistige Niedergang im Westen fortgeschritten ist, kann leicht nachvollziehen, dass viele Dinge aus der traditionellen Ordnung – und umso mehr aus der initiatischen Ordnung – nur noch als ein schwaches Abbild weiterexistieren. Und selbst die Hüter, die eigentlich zu ihrem Schutz eingesetzt sind, verstehen dieses Wissen größtenteils nicht mehr. So entstehen neben den authentischen Überresten unzählige Fälle von „Fälschungen“, auf die wir uns bereits an anderer Stelle bezogen haben. Sie können die Betrachter nur aufgrund dieser Bedingungen täuschen und so für etwas gehalten werden, was sie nicht sind. Die traditionellen Formen bleiben jedoch in sich unabhängig von diesen äußeren Bedingtheiten. Wenn wir später diese Bedingungen näher betrachten und nicht mehr von Initiationsformen, sondern über den Zustand von initiatischen und pseudo-initiatischen Organisationen des Westens in unserer Zeit sprechen, so werden wir auch hier in aller Wahrheit die Tatsachen offen und so unparteiisch wie möglich darlegen. Auf die gleiche Weise betrachten wir auch alles andere, was wir in dieser Studie behandeln, so dass es jedem selbst überlassen bleibt, die Schlüsse zu ziehen, die ihm angemessen erscheinen.
Wir verfolgen mit unseren Ausführungen nicht das Ziel, irgendjemand von einer Organisation abzubringen oder ihn einer anderen zuzuführen. Ebenso wenig versuchen wir, jemanden dazu zu bewegen, nach einer Initiation zu suchen oder davon abzulassen, da dies nicht unser Thema und auch nicht unsere Rolle ist. Einige unserer Leser werden vielleicht darüber erstaunt sein, dass wir diesen Punkt hier betonen. Aber dies ist dem Unverständnis wie auch der Unehrlichkeit vieler unserer Zeitgenossen geschuldet. Nur zu oft haben manche unter ihnen versucht, uns die verschiedensten Absichten unterzuschieben, die wir niemals hatten. Daher sind wir gezwungen, in dieser Hinsicht alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen walten zu lassen, auch wenn wir nicht glauben, dass diese ausreichend sind, um derartige Versuche völlig zu unterbinden. Aber wie kann man schon vorhersehen, was sich die Leute alles einfallen lassen, um ihre Absichten zu verwirklichen?
Es sollte daher keine Verwunderung hervorrufen, dass wir uns an verschiedenen Stellen dieser Studie mit weit verbreiteten Fehlern und Missverständnissen zum Thema der Initiation beschäftigen. Neben dem Vorteil, sie dadurch zerstreuen zu können, ist uns gerade durch die Aufzeichnung dieser Fehler bewusst geworden, dass es notwendig ist, bestimmte Aspekte detaillierter zu behandeln, als wir vermutet hätten, da wir oft angenommen haben, dass sie selbsterklärend seien oder höchstens einer kurzen Erwähnung bedürften. Dabei sollte man beachten, dass einige dieser Fehler nicht nur von „Weltlichen“ oder Pseudo-Initiierten gemacht werden, was nicht weiter erstaunlich wäre, sondern auch von Mitgliedern rechtmäßiger initiatischer Organisationen, die – in ihren jeweiligen Kreisen – sogar zu den „Erleuchteten“ zählen. Dies ist einer der deutlichsten Beweise für den heutigen Grad des Niedergangs, auf den wir uns bereits bezogen haben. In dieser Hinsicht können wir hoffen, dass es unter den Vertretern dieser Organisationen einige gibt, die mit den im Folgenden dargelegten Erklärungen ihr Wissen über das bereichern können, was Initiation wirklich ist. Wir hegen jedoch diesbezüglich keine übertriebenen Hoffnungen – zumindest nicht mehr als jene, die wir für die Wiederherstellung des Westens insgesamt haben. Auch wenn es einige gibt, denen es mehr an Wissen als an gutem Willen fehlt, so muss man doch in aller Deutlichkeit sagen, dass in dieser Hinsicht der gute Wille allein nicht ausreichend ist. Es geht vielmehr darum, wie weit sich der geistige Horizont des Einzelnen erweitern lässt und ob er dazu qualifiziert ist, von einer in der Anlage vorhandenen – also virtuellen Initiation – zu einer tatsächlich verwirklichten Initiation zu gelangen. Wir können jedenfalls unsererseits nicht mehr tun, als Informationen zur Verfügung zu stellen, damit jene davon bis zu dem Maße profitieren können, wie es ihre Anlagen und die Umstände zulassen. Diese Leute werden sicherlich nicht sehr zahlreich sein – da machen wir uns nichts vor. Aber wie wir schon oft festgestellt haben, ist es nicht die Quantität, die bei derartigen Dingen wichtig ist – wenngleich auch eine ausreichende Anzahl an geeigneten Menschen erforderlich ist, um eine echte initiatische Organisation bilden zu können. Bislang haben sich die wenigen Versuche, die uns hinsichtlich einer Neugründung bekannt sind, aus den verschiedensten Gründen nicht weit genug entwickelt, um sich ein Urteil über ihre Ergebnisse erlauben zu können. Auf jeden Fall lässt sich aber sagen, dass diese Ergebnisse anders sein würden, wenn die Umstände günstiger wären.
Es ist offensichtlich, dass die modernen Einstellungen eines der Haupthindernisse bei Versuchen sind, im Westen eine Wiederherstellung nach traditionellem Vorbild zu erreichen – sei es im initiatischen Bereich oder in irgendeinem anderen Bereich. Eigentlich sollte der initiatische Bereich aufgrund seiner nach außen „abgeschlossenen“ Natur vor ihm feindlich gesonnener Einflüsse sicher sein. Aber die heute noch existierenden Organisationen haben sich äußeren Einflüssen gegenüber zu weit geöffnet und bei einigen „Zweigen“ hatte dies weitreichende Folgen, die sich nicht mehr ohne weiteres korrigieren lassen. So haben manche Organisationen administrative Formen angenommen, die mit denen von weltlichen Regierungen vergleichbar sind. Dadurch sind sie leichter dem Zugriff feindlich gesinnter Handlungen ausgesetzt, die ansonsten wirkungslos bleiben würden. Eine derartige Nachahmung weltlicher Einrichtungen ist nur ein weiteres Beispiel für die Umkehrung der Beziehungen, die für die moderne Unordnung so charakteristisch ist. Man muss heutzutage schon blind sein, um die starken Auswirkungen dieser „Aufweichung“ nicht erkennen zu können. Aber der wahre Grund dafür bleibt den meisten verborgen. Die Besessenheit für derartige „Gesellschaften“ ist so tief verwurzelt, dass unsere Zeitgenossen nicht erkennen können, dass sie es dabei in den meisten Fällen mit rein äußerlichen Formen zu tun haben. Und gerade aus diesem Grund müssen jene, die versuchen, eine initiatische Wiederherstellung auf einer sicheren Grundlage durchführen zu wollen, diesen Neigungen widerstehen. Wir werden diese einleitenden Überlegungen hier jedoch nicht weiter fortführen, da es – wie wir bereits gesagt haben – nicht unsere Aufgabe ist, aktiv in Handlungen dieser Natur einzugreifen. Unsere Absicht ist es, jenen ein Vorgehen aufzuzeigen, die dafür bereit und auch dazu fähig sind, sich auf diese Weise einzusetzen. Wir möchten auch betonen, dass unsere Ausführungen in ihrer Anwendung in keiner Weise auf eine bestimmte initiatische Form begrenzt sind, da sie sich auf die grundlegenden Prinzipien beziehen, die allen Initiationen des Westens und des Ostens gemein sind. So sind das Wesen und Ziel der Initiation immer und überall das gleiche, nur ihre Erscheinungsformen unterscheiden sich aufgrund von Anpassungen an die verschiedenen Orte und Zeiten. Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir diesbezüglich jedoch gleich ergänzen, dass solche Anpassungen nur dann rechtmäßig sind, wenn sie von jeglichen Neuerungen Abstand nehmen, die sich auf rein individuell begründete Ideen stützen. Ganz im Gegensatz dazu muss die Initiation wie alle anderen traditionellen Formen immer eindeutig von einem „nicht-menschlichen“ Ursprung ausgehen. Wenn dieser fehlt, handelt es sich nicht um eine wahre Tradition und auch nicht um eine Initiation, sondern nur um eine jener Parodien, auf die man so oft in der modernen Welt treffen kann. Sie entstehen aus nichts und führen zu nichts und stellen damit letzten Endes nichts dar, es sei denn, sie sind die unbewussten Instrumente von etwas, das schlimmere Absichten verfolgt.
Der esoterische oder initiatische Bereich und der mystische Bereich – oder ihre entsprechenden Sichtweisen – werden heutzutage oft miteinander verwechselt und zwar auf eine Weise, die nicht immer als unbeabsichtigt bezeichnet werden kann. Dies beruht auf einer erst vor wenigen Jahren aufgetretenen Geisteshaltung, die in gewissen Kreisen um sich gegriffen hat. Daher halten wir es für sinnvoll, unsere Haltung zu diesem Punkt gleich am Anfang dieser Studie darzulegen. Es ist derzeit sozusagen Mode unter jenen, deren geistiger Horizont nur begrenzt ist, alle östlichen Lehren als „mystisch“ anzusehen. Dies geschieht sogar bei Lehren, deren äußere Aspekte keinerlei Anzeichen haben, die eine solche Zuschreibung rechtfertigen würden. Der Ursprung für diese falsche Auslegung lässt sich auf gewisse Orientalisten zurückführen, deren Schlussfolgerungen jedoch nicht auf irgendwelchen tiefer gehenden oder klar definierten Gründen basieren, sondern allein auf ihrem Unverständnis und ihrer mehr oder minder unbewussten Vorliebe, alles auf die westliche Sichtweise zu beziehen.1 Andere haben dann wiederum diese falsche Gleichsetzung aufgegriffen und ihr äußerstes gegeben, diese zu ihrem Vorteil über die begrenzte und spezielle Welt der Orientalisten und ihrer Anhänger hinauszutragen. Und dieser Vorgang ist viel ernster zu nehmen, da so nicht nur die Verwirrung zunehmend verbreitet wird, sondern sich hier auch die Zeichen einer „Einverleibung“ erkennen lassen, gegen die wir auf der Hut sein müssen. So lassen sich jene, auf die wir uns gerade beziehen, in Wirklichkeit als Gegner jeglicher Esoterik ansehen. Wir beziehen uns hier insbesondere auf religiös geprägte Anhänger einer Exoterik, die es kategorisch ablehnen, die Existenz von irgendetwas zuzugeben, das über ihren Bereich hinausgeht. Diese „Einverleibung“ fällt ihnen leichter als die Initiation direkt abzulehnen. Wenn man sieht, wie verbissen sich einige von ihnen dem Versuch widmen, selbst Lehren als „mystisch“ darzustellen, die offensichtlich initiatisch sind, bleibt nur der Schluss, dass sie hierin etwas von besonderer Wichtigkeit sehen.2 Es gibt jedoch etwas im religiösen Bereich, dem der Mystizismus natürlich angehört, was sich in gewisser Hinsicht besser für eine derartige Verschmelzung anbieten würde. Dabei handelt es sich um die Askese, da diese zumindest eine „aktive“ Methode ist und nicht etwas „Passives“ wie der Mystizismus darstellt, bei dem eine derartig „aktive“ Komponente völlig fehlt. Auf dieses Thema werden wir später noch näher eingehen.3 Aber es liegt auf der Hand, dass diese Ähnlichkeiten in erster Linie äußerlich sind. Überdies hat die Askese ihrerseits nur ganz bestimmte Ziele, die zu beschränkt sind, um sie vorteilhaft für initiatische Zwecke einsetzen zu können. Beim Mystizismus weiß man dagegen nie, womit man es genau zu tun hat. Und diese Unklarheit trägt ohne Zweifel zu all diesen Verwirrungen bei. Jene aber, die sich damit bewusst beschäftigen – wie auch jene, die dies unbewusst tun – werden sicher nicht den Eindruck gewinnen, dass es bei dem, was zur Initiation gehört, etwas Unklares oder Unbestimmtes gibt. Die Initiation ist ganz im Gegenteil so präzise und bestimmt wie nur möglich, so dass sie aufgrund ihrer Natur mit dem Mystizismus völlig unvereinbar ist.
Diese Unvereinbarkeit leitet sich jedoch nicht von dem ab, was das Wort „Mystizismus“ ursprünglich bedeutet hat: Es bezog sich auf die antiken „Mysterien“, also auf etwas, was der initiatischen Ordnung angehörte. Allerdings zählt es zu jenen Wörtern, die nicht nur von ihrer Etymologie her verstanden werden können. Es muss vielmehr auch im Lichte der Bedeutung gesehen werden, die ihm durch seine heutige Verwendung auferlegt wird und die auch jene ist, die in unseren Tagen geläufig ist. Sie hat sich bereits vor Jahrhunderten durchgesetzt, so dass es nun nicht mehr möglich ist, diesen Begriff für etwas anderes zu verwenden. Bei dieser Bedeutung ist offensichtlich, dass keinerlei Gemeinsamkeit mit der Initiation mehr besteht und zwar zum einen, weil sich der so verstandene Mystizismus ausschließlich auf den religiösen und damit den exoterischen Bereich bezieht und zum anderen, weil der mystische Pfad vom initiatischen in all seinen wesentlichen Charakteristiken abweicht. Dies macht es unmöglich, beide Pfade miteinander in Einklang zu bringen. Allerdings möchten wir auch klarstellen, dass diese Unvereinbarkeit auf den heute gültigen Tatsachen beruht und nicht auf die zugrundeliegenden Prinzipien zurückzuführen ist, da wir keinesfalls den relativen Wert des Mystizismus oder seine rechtmäßige Stellung in gewissen traditionellen Formen abstreiten möchten. Die initiatischen und mystischen Pfade können sehr gut nebeneinander existieren.4 Wir möchten dabei nur betonen, dass es nicht möglich ist, den beiden Pfaden gleichzeitig zu folgen. Das Ziel, wohin die beiden Pfade führen, lassen wir dabei außer Acht, da es wegen des großen Unterschieds, der zwischen den jeweils betroffenen Bereichen besteht, bereits im Voraus klar ist, dass dieses Ziel nicht das Gleiche sein kann.
Die Verwirrung, die dazu verführt, Mystizismus dort zu sehen, wo eigentlich nicht die geringste Spur davon vorhanden ist, ist das Ergebnis der Neigung, alles aus westlicher Sichtweise sehen zu wollen. Dazu passt es, dass der Mystizismus selbst ausschließlich westlich und im Speziellen christlich ist. In diesem Zusammenhang sind wir auf etwas gestoßen, mit dem wir uns hier kurz beschäftigen möchten: In einem Buch von Henri Bergson, das wir bereits an anderer Stelle angeführt hatten,5 stellt dieser eine „statische Religion“ einer „dynamischen Religion“ gegenüber, wobei die letztere ihren höchsten Ausdruck im Mystizismus finden soll. Diesen scheint er jedoch als solchen gar nicht richtig verstanden zu haben und spricht ihm wohl nur deshalb eine erhabene Stellung zu. Was uns aber von einem „Nicht-Christen“ wirklich erstaunt zu hören, ist die Tatsache, dass der von ihm beschriebene „vollständige Mystizismus“ der der christlichen Mystiker ist – so unzutreffend auch seine Vorstellung davon auch ist. Aufgrund seiner geringen Wertschätzung für die „statische Religion“ ist er wohl allzu anfällig dafür, die Tatsache außer Acht zu lassen, dass die christlichen Mystiker zuallererst Christen und dann erst Mystiker waren. Er versetzt den Mystizismus allerdings an den Ursprung der Christenheit, um rechtfertigen zu können, dass die Mystiker Christen sind. Dabei geht er sogar so weit, dass er selbst die jüdischen Propheten als „Mystiker“ darstellt, um eine Verbindung zwischen dem Judentum und dem Christentum herstellen zu können. Dies zeigt aber umso deutlicher, dass er nicht die geringste Vorstellung über den Charakter der Mission der Propheten oder die Natur ihrer Eingebungen hat.6 Wie dem auch sei, in den Augen von Bergson ist der christliche Mystizismus – so verzerrt und herabgesetzt er in seiner Wahrnehmung auch sein mag – das eigentliche Modell des Mystizismus. Dies liegt aber auf der Hand, da es streng genommen keinen anderen Mystizismus als den christlichen gibt. Selbst die Mystiker, die er als „unabhängig“ bezeichnet (die wir nebenbei bemerkt eher als „abgewichen“ ansehen würden), beziehen ihre Eingebung – wenn auch unwissentlich – ausschließlich aus christlichen Vorstellungen, die in diesen Fällen ihrem normalen Bedeutungsgehalt mehr oder weniger vollständig entfremdet und entleert sind. Diese Tatsache entgeht wie so viele andere diesem „Philosophen“, der sein Bestes gibt, „Entwürfe für einen zukünftigen Mystizismus“ zu entdecken, die älter als die Christenheit selbst sind. Er ergänzt sein Buch sogar noch mit einigen Seiten über Indien, die aber letztlich nur sein völliges Unverständnis zu diesem Thema beweisen. Und wenn er sich dann noch den griechischen Mysterien zuwendet, wird der Bezug, der auf der bereits erwähnten etymologischen Beziehung beruht, auf ein reines Wortspiel reduziert. Letztlich ist auch Bergson gezwungen zuzugeben, dass „die meisten der Mysterien nichts mit Mystizismus zu tun hatten“. Aber warum spricht er dann von ihnen im Zusammenhang mit diesem Thema? Seine Darstellung der Mysterien bleibt ausschließlich „weltlich“, da er in seiner Unkenntnis nicht verstehen kann, dass es bei den Mysterien um etwas geht, das in keiner Weise dem Bereich der Religion angehört und das unvergleichlich weiter reicht als der von ihm vertretene „Mystizismus“. In Wahrheit reichen sie auch weiter als der echte Mystizismus, der allein durch die Tatsache, dass er im rein exoterischen Bereich auftritt, auch dessen Begrenzungen in sich trägt.7
Es ist nicht unsere Absicht, hier all die Unterschiede zu beschreiben, die die initiatische und die mystische Sichtweise trennen, da dies eine eigene Studie erfordern würde. Wir möchten allerdings verdeutlichen, dass die Initiation Merkmale besitzt, die sie vom Mystizismus unterscheiden und die sogar im Gegensatz dazu stehen. Damit möchten wir betonen, dass die beiden Pfade nicht nur unterschiedlich sind, sondern dass sie sich auch nicht miteinander vereinbaren lassen. Man kann in diesem Zusammenhang auch oft auf die Aussage stoßen, dass der Mystizismus „passiv“ und die Initiation „aktiv“ sei. Dies trifft sicherlich zu, aber nur wenn man genau festlegt, was damit gemeint ist. Beim Mystizismus begrenzt sich das Individuum einfach auf das, was ihm gezeigt wird und die Art und Weise, wie es ihm gezeigt wird, kann es selbst nicht beeinflussen. Darin liegt auch die grundsätzliche Gefahr des Mystizismus, da das Individuum so gegenüber jeglicher Art der Beeinflussung offen ist und mit wenigen Ausnahmen aufgrund einer fehlenden, auf traditionellen Grundlagen beruhenden Vorbereitung kaum in der Lage ist, diese Einflüsse beurteilen und unterscheiden zu können.8 Bei der Initiation ist das Individuum im Gegensatz dazu der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die hin zur Verwirklichung führt und die unter strenger und unablässiger Kontrolle voranschreitet. Dabei reicht sie üblicherweise über die Möglichkeiten des Individuums hinaus. Wir dürfen hier natürlich nicht vergessen anzufügen, dass diese Entwicklung allein nicht ausreichend ist, da es auf der Hand liegt, dass das Individuum nicht ausschließlich auf Grundlage seiner eigenen Anstrengungen über sich hinausgehen kann. Aber was wir hier betonen möchten ist, dass dieser Anstoß der Ausgangspunkt für jegliche Verwirklichung auf Seiten des Initiierten ist. Beim Mystiker fehlt ein vergleichbarer Anstoß selbst bei den Dingen, die nicht über den Bereich der individuellen Möglichkeiten hinausreichen. Diese grundsätzliche Unterscheidung verdeutlicht nochmals, dass man nicht gleichzeitig dem initiatischen und dem mystischen Pfad folgen kann. Sie bleibt allerdings momentan noch unvollständig, da sie nur die exoterischen Aspekte beleuchtet und weit davon entfernt ist, alle notwendigen Bedingungen für die Initiation zu berücksichtigen. Aber bevor wir diese Bedingungen näher betrachten, müssen wir im nachfolgenden Kapitel noch einige weitere Verwechslungen klären.
1 Daher kommt es auch – insbesondere seit der englische Orientalist R. A. Nicholson auf die Idee kam, taşawwuf mit „Mystiker“ zu übersetzen – dass im Westen die islamische Esoterik als etwas in ihrem Wesen „Mystisches“ angesehen wird. Es wird dann nicht mehr von Esoterik, sondern lediglich von Mystizismus gesprochen, was nichts anderes heißt, als dass man die eine Sichtweise durch die andere ersetzt hat. Am unerträglichsten bei derartigen Fragen ist es allerdings, dass die Meinung der Orientalisten, die solche Dinge nur aus Büchern kennen, in den Augen der großen Mehrheit im Westen offensichtlich mehr zählt, als die Meinung jener, die darüber ein direktes und unmittelbares Wissen besitzen.
2 Andere versuchen wiederum, die östlichen Lehren als Philosophie darzustellen. Eine solche ebenfalls falsche Verschmelzung ist allerdings aufgrund der engen Begrenzungen, die der philosophischen Sichtweise innewohnen, weit weniger gefährlich als die zuvor angesprochene. Jedenfalls bleibt offensichtlich der Erfolg aus, für diese Verschmelzung Anhänger zu gewinnen, was an der eigentümlichen Weise liegt, wie sie jene Lehren auslegen, so dass ihre Ideen trotz all ihrer Anstrengungen nur leeres und wirkungsloses Gerede bleiben.
3 Wir können hier als ein Beispiel für die Askese die geistigen Übungen von Ignatius von Loyola anführen, dessen Einstellung sicherlich nicht mystisch war und der möglicherweise zum Teil von gewissen initiatischen Methoden islamischen Ursprungs beeinflusst war, die er dann aber für ein ganz anderes Ziel eingesetzt hat.
4 Es wäre in diesem Zusammenhang interessant, einen Vergleich zwischen dem „trockenen Pfad“ und dem „feuchten Pfad“ der Alchemisten zu ziehen, was aber über den Rahmen dieser Studie hinausgehen würde.
5 Henri Bergson : THE TWO SOURCES OF MORALITY AND RELIGION, siehe dazu auch unsere Studie DIE HERRSCHAFT DER QUANTITÄT UND DIE ZEICHEN DER ZEIT, Kapitel 33.
6 Ein sozusagen jüdischer Mystizismus lässt sich nur im Hassidismus finden, also in einer erst relativ kürzlich zurückliegenden Zeit.
7 Alfred Loisy wollte Bergson antworten und ihn der Tatsache gegenüberstellen, dass es nur eine einzige Quelle der Moral und Religion gebe. In seiner Funktion als Spezialist für „Religionsgeschichte“ vertritt er die Theorien von Frazer und Durkheim wie auch die Vorstellung einer fortwährenden „Evolution“, anstatt die Idee plötzlich auftretender Abweichungen. Unserer Meinung nach ist dies alles gleichermaßen wertlos. Aber es gibt zumindest einen Punkt, bei dem wir Loisy zugestehen müssen, dass er Recht hat, was sich ohne Zweifel auf seine kirchliche Ausbildung zurückführen lässt. Dank ihr ist er mit den Mysterien vertrauter als Bergson und machte darauf aufmerksam, dass die Mystiker nie auch nur die geringste Mutmaßung über etwas gemacht hätten, das Ähnlichkeit mit einem „Lebensfeuer“ hat (Bergson wollte offensichtlich aus den Mystikern seine geistigen Vorgänger machen, was aber schon aus historischen Gründen unsinnig ist). Außerdem äußerte er sich auch erstaunt darüber, dass Bergson Johanna von Orleans zu den Mystikern zählt. Abschließend möchten wir noch erwähnen, dass Loisy sein Buch mit einem eher erheiternden Geständnis beginnt: „Der Autor dieser kurzen Untersuchung“, erklärt er, „ist sich nicht bewusst, dass er irgendwelche Vorlieben für Fragen hätte, die zu einer rein spekulativen Ordnung zu zählen sind.“ Dies ist zumindest eine löbliche Offenheit und da er dies aus freien Stücken schrieb, nehmen wir ihn auch beim Wort.
8 Dieses Merkmal der „Passivität“ erklärt, aber rechtfertigt nicht die fehlerhafte moderne Vorstellung, nach der der Mystiker mit einem „Medium“ verwechselt wird oder einfach für einen psychisch schwachen Menschen gehalten wird.
Die im vorangegangenen Kapitel angesprochene falsche Gleichsetzung der Initiation mit dem Mystizismus lässt sich hauptsächlich auf jene zurückführen, die aus welchen Gründen auch immer das Vorhandensein einer Initiation ablehnen, indem sie versuchen, diese auf etwas zu reduzieren, was sie nicht ist. Im Gegensatz dazu kann man in anderen Kreisen – wie denen der Okkultisten, die mit ungerechtfertigten initiatischen Ansprüchen um sich werfen – auf die Neigung treffen, verschiedene Aspekte dem initiatischen Bereich einzuverleiben, die ihm völlig fremd sind. Unter diesen Aspekten ist Magie einer der auffälligsten. Die Gründe, die zu diesem Fehler führen, erklären auch, warum Magie besonders große Gefahren für die Menschen aus dem Westen bereithält. Es ist nämlich ein großer Fehler, „Erscheinungen“ eine zu große Bedeutung zuzusprechen, worauf ja letztlich auch der Erfolg der auf Experimenten gegründeten, westlichen Wissenschaft basiert. Es stellt sich die Frage, warum sich die Mitglieder dieser Kreise von der Magie so leicht verführen lassen und sich Illusionen über deren wahre Wichtigkeit machen. Die Antwort lässt sich leicht finden: Bei der Magie handelt es sich auch um eine den Experimenten verschriebene Wissenschaft, auch wenn sie etwas völlig anderes ist als jene weltlichen Wissenschaften, die die Akademiker betreiben. Wir dürfen uns über diesen Punkt allerdings nicht täuschen lassen: Der Gegenstand der Magie entstammt einer Ordnung von Dingen, die überhaupt nichts Transzendentes beinhaltet. Selbst wenn sie sich wie jede andere traditionelle Wissenschaft durch die Verbindung mit höheren Prinzipien als „geistig“ bezeichnen lässt, so kann sie doch nur den unteren Rängen der bedingten Anwendungen davon zugeordnet werden. Diese niederen Anwendungen sind allerdings am weitesten von diesen Prinzipien entfernt und zählen damit zu den untersten aller traditionellen Wissenschaften. In den östlichen Zivilisationen ist genau das der Stellenwert, der der Magie gegeben wird. Auch wenn sich nicht abstreiten lässt, dass man dort ebenso auf Magie treffen kann, wird sie jedoch nicht so hochgeschätzt, wie sich dies manche westlichen Beobachter einbilden, weil sie dazu verführt werden, ihre eigenen Neigungen und Vorstellungen auf andere zu übertragen. In Tibet wie auch in Indien und China, wo die Ausübung von Magie eine spezielle Tätigkeit ist, wird sie jenen überlassen, die nicht dazu fähig sind, höher aufzusteigen. Dies soll nicht heißen, dass es nicht auch geistig weiter fortgeschrittene Menschen gibt, die unter außergewöhnlichen Umständen und für begrenzte Zwecke „Erscheinungen“ erzeugen können, die rein äußerlich jenen der Magie ähnlich sind. Aber die Absichten und selbst die Mittel, die dabei verwendet werden, sind völlig anders. Wenn wir uns überdies auf das beschränken, was darüber im Westen bekannt ist, genügt es, Erzählungen über Heilige und Zauberer miteinander zu vergleichen, um zu sehen, wie ähnlich sie sich sind. Dies zeigt wiederum recht deutlich, dass derartige „Erscheinungen“ im Gegensatz zur Ansicht des modernen, „wissenschaftshörigen“ Menschen als solche überhaupt nichts beweisen können.9
Durch den illusorischen Wert, der „Erscheinungen“ beigemessen wird, erhöht sich die Gefahr, die von diesen Dingen ausgeht, ganz beträchtlich. Besonders problematisch ist dabei, dass jene Menschen aus dem Westen, die sich oberflächlich mit Magie beschäftigen, am Ende überhaupt nichts über dieses Thema wissen. Dies ist aber nicht weiter verwunderlich, wenn man den heutigen Zustand der Dinge betrachtet, die damit verbunden sind und zudem noch die völlige Abwesenheit traditioneller Lehren berücksichtigt. Selbst wenn man die vielen Quacksalber und Hochstapler außer Acht lässt, die nichts anderes tun, als Leichtgläubige und geistig einfach gestrickte „Träumer“ auszunutzen, indem sie aus der Magie eine „Wissenschaft“ nach ihren eigenen Vorlieben bilden, fehlen jenen, die diese „Erscheinungen“ ernsthaft studieren wollen, sowohl die notwendigen Informationen für ihre Nachforschungen als auch eine Organisation, die sie dabei unterstützt und schützt. So sind sie auf reine Erfahrungswerte zurückgeworfen, was an Kinder erinnert, die für sich alleine gelassen mit unkontrollierbaren Kräften spielen, ohne dass sie darüber etwas wissen. Daher sollte man nicht überrascht sein, wenn des Öfteren bedauernswerte Unfälle aus einer derartigen Unvorsichtigkeit geschehen.
Diese Unfälle bestehen hauptsächlich im Risiko eines geistigen Ungleichgewichts, dem jene ausgesetzt sind, die auf eine derartige Weise handeln. Ein solches Ungleichgewicht ist nur zu oft die Folge eines Austausches mit dem Bereich der subtilen Manifestation, wobei hier jene Bereiche gemeint sind, die sich der körperlichen Ordnung am nächsten befinden und damit den durchschnittlichen Menschen am einfachsten zugänglich sind. Eine Kontaktaufnahme mit diesen Bereichen ist einfach zu erzielen, da sie ausschließlich der Entwicklung gewisser individueller Möglichkeiten bedarf, die einer niederen Ordnung angehören. Und wenn diese Entwicklung auf eine unnormale, also ungeordnete und unharmonische Weise vor sich geht, und so die Entwicklung höherer Möglichkeiten ausschließt, ist es nur natürlich und fast schon unvermeidlich, dass als Ergebnis ein solches Ungleichgewicht auftritt. Zusätzlich ist mit Rückwirkungen verschiedenster Arten von Kräften zu rechnen, die keinesfalls unbedeutend und manchmal sogar sehr stark sein können und die wiederum von Kräften hervorgerufen werden, mit denen das Individuum unbedacht in Kontakt gekommen ist. Wenn wir hier von „Kräften“ sprechen, so haben wir nicht vor, diese näher zu untersuchen, da dieses Thema für unsere Betrachtungen von geringer Bedeutung ist. So vage das Wort auch ist, wir ziehen es der Vorstellung von Wesenheiten vor, da sie zumindest für jene, die nicht ausreichend mit gewissen symbolischen Ausdrucksweisen vertraut sind, die Gefahr birgt, dass bei ihnen dadurch mehr oder minder fantasiereiche „Personifikationen“ hervorgerufen werden. Wie wir bereits mehrfach erklärt haben, ist die subtile „Zwischenwelt“ komplexer und weitläufiger als die körperliche Welt. Dennoch befindet sich das Studium beider Welten im Wirkungskreis der „natürlichen Wissenschaften“ im wahrsten Sinne des Wortes, doch man darf in der „Zwischenwelt“ nicht mehr sehen als sie tatsächlich ist. Denn es gibt in dieser „Zwischenwelt“ nichts, was zum initiatischen oder selbst auch nur zum religiösen Bereich gezählt werden kann. Vielmehr stößt man dort auf weitaus mehr Hindernisse als Unterstützungen, um ein wahrhaft transzendentes Wissen zu erlangen. Bei einem derartigen Wissen handelt es sich um etwas, was sich völlig von dem der bedingten Wissenschaften unterscheidet und das keine Spur von irgendwelchen „Erscheinungen“ enthält, da es nur von der geistigen Eingebung abhängig ist, die wiederum die reine Geistigkeit darstellt.
Wer sich für beträchtliche Zeit der Suche nach außergewöhnlichen Erscheinungen hingegeben hat, wird letztlich resignieren, da die erzielten Ergebnisse meist unbedeutend sind und den Erwartungen nicht entsprechen. Und es ist interessant, dass oft gerade diese Leute sich dann dem Mystizismus zuwenden.10 Selbst wenn dies auf den ersten Blick überraschend sein mag, so liegt es daran, dass dieser doch ähnliche Bedürfnisse und Hoffnungen befriedigt, wenngleich auch in einer anderen Form. Wir bestreiten natürlich nicht, dass der Mystizismus in sich von einem Charakter ist, der weitaus edler als der der Magie ist. Wenn man jedoch etwas tiefer schaut, wird man bemerken, dass der Unterschied doch nicht so groß ist, da es sich auch hier letztlich um „Erscheinungen“ in Form von Visionen oder anderen greifbaren und gefühlsbedingten Manifestationen handelt, die allein dem Bereich der individuellen Möglichkeiten entstammen.11 Im Mystizismus sind Illusion und Ungleichgewicht bei weitem noch nicht überwunden und obwohl sie sich hier in einer unüblichen Form zeigen, sind sie nicht weniger gefährlich und werden sogar noch in gewisser Weise durch die passive Haltung des Mystikers verstärkt, der – wie wir bereits gesagt haben – sich jedem Einfluss öffnet, auf den er trifft. Der Magier erhält dagegen durch seine aktive Haltung zumindest ein gewisses Maß an Schutz. Durch sie versucht er, diese Einflüsse einzudämmen, was aber in vielen Fällen nicht ausreicht, so dass er dennoch durch diese Einflüsse überwältigt wird. Man kann also sagen, dass sich ein Mystiker allzu leicht von seiner eigenen Einbildung übertölpeln lässt, deren Entstehung unauflösbar mit seinen eigenen Erfahrungen und Vorstellungen vermischt ist, ohne dass er sich dessen gewahr wird. Aus diesem Grund darf die Wichtigkeit der „Offenbarungen“ von Mystiker nicht überschätzt werden und sie sollten zumindest niemals ohne weitere Überprüfungen angenommen werden.12 Interesse können nur solche Visionen wecken, die mit traditionellen Überlieferungen übereinstimmen, ohne dass diese dem Mystiker selbst bekannt wären.13 Es wäre allerdings ein Fehler und eine Umkehrung der normalen Beziehungen, darin so etwas wie eine Bestätigung für diese traditionellen Überlieferungen sehen zu wollen. Dieses Wissen bedarf keiner mystischen Visionen und ist im Gegenteil der einzige Garant dafür, dass derartige Visionen mehr als das reine Erzeugnis einer individuellen Einbildung oder Fantasie sind.
9 Siehe DIE HERRSCHAFT DER QUANTITÄT UND DIE ZEICHEN DER ZEIT, Kapitel 39.
10 Es kommt bei manchen auch vor, dass sie den echten initiatischen Weg beginnen und nicht nur dem Trugbild einer Pseudo-Initiation folgen, über die wir bereits gesprochen haben. Und dennoch ist es möglich, dass sie ihn zugunsten des Mystizismus wieder verlassen. Die Gründe dafür unterscheiden sich natürlich, sind aber hauptsächlich gefühlsbedingt. In all diesen Fällen ist jedoch zu beachten, dass als Folge eine fehlerhafte Eignung zur Initiation besteht – zumindest wenn man sie in Bezug auf die Fähigkeit sieht, eine tatsächliche Initiation zu verwirklichen. Ein typisches Beispiel dafür ist der Fall von Louis-Claude de Saint-Martin.
11 Damit wollen wir allerdings nicht sagen, dass diese „Erscheinungen“ ausschließlich der psychologischen Ordnung angehören, wie die Menschen der Moderne es tun.
12 Selbst der Katholizismus als solcher nimmt ihnen gegenüber eine Haltung der besonnenen Vorsicht ein, die durch die natürliche Neigung der Mystiker zur „Abschweifung“ im wahrsten Sinne des Wortes geboten ist.
13 Die Visionen von Anne Catherine Emmerich können hier als Beispiel dienen.
In den einführenden Kapiteln dieser Studie halten wir es für sinnvoll, gewisse Fehler hinsichtlich der Natur und dem Ziel der Initiation anzusprechen, zumal auch alles, was wir in den letzten Jahren über dieses Thema lesen konnten, ein weit verbreitetes Unverständnis bewiesen hat. Wir sind uns bewusst, dass wir hier keine Untersuchung machen können, in der wir methodisch jeden dieser Fehler im Detail betrachten, da dies ein langatmiges und uninteressantes Unterfangen wäre. Daher beschränken wir uns lieber auf die Betrachtung gewisser „typischer“ Fälle, was auch den Vorteil hat, dass wir keine direkten Verweise auf bestimmte Autoren oder Schulen machen müssen, da unsere Anmerkungen eine Reichweite haben, die gegenüber jeglichen Fragen nach „Persönlichkeiten“ – oder um genauer zu sein gegenüber „individuellen Ausprägungen“ – völlig unabhängig sind.
Beginnen möchten wir mit der weit verbreiteten, aber falsche Vorstellung, dass die Initiation einer rein „gesellschaftlichen“ oder „moralischen“ Ordnung angehöre. Es lässt sich gleich dagegen einwenden, dass diese Ordnungen viel zu beschränkt und sozusagen zu „irdisch“ für die Initiation sind. Daher ist dieser grobe Fehler aufgrund seiner Offensichtlichkeit nicht der gefährlichste, auf den man bei diesem Thema stoßen kann.14 Um uns nicht mit diesem Punkt aufzuhalten, möchten wir gleich richtig stellen, dass eine solche Sichtweise noch nicht einmal auf den vorbereitenden Aspekt der Initiation angewendet werden kann, der in der Antike mit dem Ausdruck „Niedere Mysterien“ bezeichnet wurde. Wie wir noch sehen werden, betreffen diese zwar tatsächlich die menschliche Individualität, beschäftigen sich aber mit der gesamthaften Entwicklung ihrer Möglichkeiten und gehen daher über die körperliche Daseinsweise hinaus, also die Daseinsweise, die die Tätigkeiten jenes Bereiches umfasst, der allen Menschen gemein ist. Der Wert oder die Rechtfertigung für eine Initiation, die sich darauf beschränkt, das zu wiederholen, was das banalste des weltlichen Wissens ist – also das, worauf jeder Zugriff hat – und das sich auf diese Weise lediglich in einer mehr oder weniger „geheimnisvollen“ Form kleidet, erschließt sich uns nicht. Damit wollen wir nicht abstreiten, dass das initiatische Wissen nicht auch Anwendungen in der gesellschaftlichen Ordnung wie auch in anderen Ordnungen umfassen kann – aber dabei handelt es sich um eine andere Frage. So lässt sich gleich zu Anfang sagen, dass derartige bedingte Anwendungen keinesfalls das Ziel der Initiation bilden, wie auch traditionelle Wissenschaften, die als zweitrangig angesehen werden, nicht das Wesen der Tradition sind. Initiatische Anwendungen haben eine ihnen innewohnende Qualität, die sie von anderen abhebt, da sie von Prinzipien abgeleitet sind, die nichts mit den heute vorherrschenden Geboten der Moral zu tun haben, denen so viele unserer Zeitgenossen anhängen. Man kann also sagen, dass traditionelle Anwendungen allgemein auf eine Art und Weise ausgeführt werden, die sich aufgrund der Natur der Dinge nicht mit irgendetwas Weltlichem vergleichen lässt und sich daher sehr weit von dem entfernt befindet, was man als ein „Vertiefen in die Angelegenheiten des Lebens“ nennen könnte. Der, der sich auf die moralische oder gesellschaftliche Auslegung von Symbolen beschränkt, wird sicher niemals irgendeine Arbeit hervorbringen, die der Initiation zugerechnet werden kann, so löblich seine Absichten auch sein mögen. Wir werden uns diesem Punkt aber nochmals zuwenden, wenn wir die initiatischen Lehren direkter behandeln.
Nicht mehr so offensichtliche Fehler, die deshalb umso mehr gefürchtet werden müssen, entstehen, wenn von einer „Verbindung mit höheren Zuständen“ oder „geistigen Welten“ im Zusammenhang mit der Initiation die Rede ist. Dies beinhaltet das allzu oft anzutreffende Trugbild, dass etwas „überlegen“ oder „höher“ sei, nur weil es auf irgendeine Weise außergewöhnlich oder unnormal ist. Wir möchten hier nur an das erinnern, was wir in einer anderen Studie über die Verwechslung des Psychischen mit dem Geistigen gesagt haben.15 Es handelt sich dabei um den Fehler, der in diesem Zusammenhang am öftesten anzutreffen ist. Die psychischen Zustände haben als solche nichts „Höheres“ oder „Transzendentes“ an sich, sondern sind nicht mehr als ein Teil des individuellen menschlichen Zustandes.16 Wenn wir von den höheren Zuständen des Seins sprechen, meinen wir damit ausschließlich die über-individuellen Zustände. Einige verschlimmern diese Verwirrung noch dadurch, dass sie das „Geistige“ mit dem „Unsichtbaren“ gleichsetzen, womit sie unterschiedslos all das meinen, was den gewöhnlichen und „normalen“ Sinnen nicht zugänglich ist. So wird von ihnen beispielsweise der Begriff „ätherisch“ auf das angewendet, was schlicht und einfach der Teil der körperlichen Welt mit der geringsten Dichte ist. Bei einem solchen Verständnis der Dinge kann man nur befürchten, dass die behauptete Verbindung mancher Leute mit höheren Zuständen nichts anderes als „Hellseherei“ ist und die Ausübung anderer psychischer Vermögen ähnlich bedeutungslos ist. Dies ist jedoch letztlich das, was immer passiert, da dies die Richtung ist, in der sich alle modernen pseudo-initiatischen Schulen orientiert haben. Manche unter ihnen sehen es sogar ausdrücklich als ihr Ziel an, „die verborgenen psychischen Kräfte des Menschen zu entwickeln“. Auch zu diesem Thema werden wir im weiteren Verlauf der Studie nochmals zurückkehren.
Bei einigen Individuen besteht allerdings tatsächlich ein Austausch mit höheren Zuständen. Dies reicht jedoch bei weitem nicht aus, die Initiation zu charakterisieren. Eine solche Verbindung lässt sich auch durch Riten einer rein exoterischen Ordnung wie die einer Religion herstellen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass in solchen Fällen auch geistige und nicht nur psychische Einflüsse tatsächlich eine Rolle spielen, selbst wenn dabei Ziele verfolgt werden, die sich völlig von denen der Initiation unterscheiden, denn es lässt sich sagen, dass alles, was wahrhaft traditionell ist, allgemein als der Eingriff eines „nicht-menschlichen“ Elements definiert werden kann. Aber ein solch allgemeingültiges Merkmal ist kein ausreichender Grund dafür, das Fehlen einer notwendigen Unterscheidung zwischen diesen Bereichen zu entschuldigen, was in diesem Fall dazu führt, dass der religiöse und initiatische Bereich miteinander vermischt werden. So wird letztlich nur ein kleiner Unterschied wahrgenommen, wo in Wirklichkeit ein großer Abstand durch die Natur der Dinge herrscht – und man kann sagen, dass es sich bei diesem Abstand um eine Kluft von wahrhaft tiefgehender Natur handelt. Diese Verwirrung tritt insbesondere unter jenen auf, die behaupten, die Initiation „von außen“ zu untersuchen, dabei aber Absichten verfolgen, die sich stark voneinander unterscheiden. Wir müssen daher solchen Vorstellungen entschieden entgegentreten: Die Esoterik ist nicht der „innere“ Aspekt einer Religion, sondern von ihrem Wesen her etwas völlig anderes als Religion, selbst wenn sich in der Religion ihre Grundlage und ihre Hilfsmittel finden lassen, wie es in gewissen traditionellen Formen wie dem Islam vorkommt.17 Die Initiation ist auch nicht eine spezielle Form der Religion, die einer Minderheit vorbehalten ist, wie es sich jene vorstellen, die die antiken Mysterien als „religiös“ ansehen.18 Es ist uns hier jedoch nicht möglich, all die Unterschiede darzustellen, die den religiösen und den initiatischen Bereich voneinander trennen. Dies wäre eine Aufgabe, die uns noch weiter von unserem eigentlichen Thema wegführen würde als die Betrachtung des mystischen Bereiches, der ja selbst nur ein Unterbereich der Religiosität ist. Für den Moment muss es ausreichend sein zu erkennen, dass die Religion den Menschen ausschließlich in dessen individuellem Zustand betrachtet. Sie hat es auch nicht zum Ziel, ihn über diesen hinauszuführen, sondern will ihm vielmehr die günstigsten Umstände in diesem Zustand zusichern.19 Dagegen ist es das wesentliche Ziel der Initiation, über die Möglichkeiten dieses Zustandes hinauszugehen und einen Übergang zu den höheren Zuständen herzustellen, über den das Individuum letztlich jeden bedingten Zustand hinter sich lassen kann.
Wenn wir die Initiation näher betrachten, so wird klar, dass die Verbindung mit den höheren Zuständen allein nicht das letztendliche Ziel sein kann, sondern lediglich den Ausgangspunkt darstellt. Diese Verbindung muss am Anfang der Initiation durch den Eingriff eines geistigen Einflusses hergestellt werden, damit der im weiteren Verlauf Initiierte von diesen Zuständen tatsächlich Besitz ergreifen kann. Dabei wird ihm nicht wie in der Religion lediglich eine „Gnade“ zuteil, die ihn zwar auf gewisse Weise mit diesen Zuständen verbindet, ihm aber nicht den vollen Zugang zu ihnen ermöglicht. Anders und möglicherweise einfacher verständlich ausgedrückt, lässt sich auch sagen, dass jemand, der sich mit Engeln austauschen kann, ohne dabei aufhört, sich selbst zu sein – also in den Bedingungen der menschlichen Individualität verbleibt – aus Sichtweise der Initiation keinen Schritt vorangekommen ist.20 Es geht hier nicht darum, mit Wesen, die „engelhaft“ sind, in Kontakt zu treten, sondern darum, den entsprechenden über-individuellen Zustand selbst zu verwirklichen. Dies kann natürlich nicht als menschliches Individuum geschehen, sondern nur indem das Wesen, das sich als menschliches Individuum in einem gewissen Zustand manifestiert hat, auch die Möglichkeiten all der anderen Zustände in sich verwirklicht. Jegliche initiatische Verwirklichung ist daher von ihrem Wesen her „nach innen gerichtet“, also gerade das Gegenteil des „aus sich Herausgehens“, das die Ekstase im eigentlichen und etymologischen Sinne des Wortes ausmacht.21 Dies ist sicherlich nicht der einzige Unterschied zwischen den mystischen und den initiatischen Zuständen, aber er gehört zumindest zu den Hauptunterschieden, die zwischen diesen beiden Bereichen ausgemacht werden können. Auf diesen Punkt müssen wir immer wieder zurückkommen, da die Verwechslung der initiatischen mit der mystischen Sichtweise ein schwerwiegender und vor allem ein leicht zu begehender Fehler ist. Durch ihn können auch jene getäuscht werden, die von den groben Verzerrungen der modernen Pseudo-Initiation nicht berührt wurden und die ohne allzu große Schwierigkeiten verstehen würden, was die Initiation tatsächlich ist. Da sie aber auf ihrem Pfad auch auf die weniger offensichtlichen Fehler stoßen, besteht die große Gefahr, dass sie trotz ihrer geeigneten Voraussetzungen vom Weg abkommen.
14 Dies ist die Sichtweise der meisten modernen Freimaurer, die sich ausschließlich auf das „gesellschaftliche“ Gebiet beschränkt, wo jene, die die Freimaurer bekämpfen, sich gesammelt haben. Damit wird einmal mehr deutlich, dass initiatische Organisationen innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Abweichung am anfälligsten für Angriffe von außen sind.
15 Siehe DIE HERRSCHAFT DER QUANTITÄT UND DIE ZEICHEN DER ZEIT, Kapitel 35.
16 Wenn man der geometrischen Symbolik folgt, die wir in unserer Studie DIE SYMBOLIK DES KREUZES erläutert haben, so stellen die Daseinsweisen, die sich auf den gleichen Zustand beziehen, die Ausdehnung dar, die sich in horizontaler Richtung erstreckt, also auf der gleichen Ebene, und nicht in vertikaler Richtung, die die Hierarchie der höheren und niederen Zustände des Seins kennzeichnet.
17 Aus diesem Grund und um jegliches Missverständnis zu vermeiden, ziehen wir es vor, von „islamischer Esoterik“ oder „christlicher Esoterik“ zu sprechen und nicht wie andere von einem „esoterischen Islam“ oder einem „esoterischen Christentum“. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass dieser Unterschied nicht ohne Bedeutung ist.
18 Dabei fällt auf, dass der Ausdruck „Mysterien-Religion“ besonders häufig in den Arbeiten der Religionshistoriker anzutreffen ist.
19 Hier betrachten wir den menschlichen Zustand in seiner Gesamtheit, der auch die unzähligen Erweiterungen seiner außer-körperlichen Verlängerungen umfasst.
20 Daraus lässt sich ableiten, dass jene sich täuschen, die Schriften wie beispielsweise denen von Swedenborg einen initiatischen Wert beimessen.
21 Dieses „aus sich Herausgehen“ hat allerdings überhaupt nichts mit den „astralen Reisen“ zu tun, die in den Vorstellungen der Okkultisten eine so große Rolle spielen.
Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Voraussetzungen für eine Initiation notwendig sind. Auch wenn es selbstverständlich erscheint, so möchten wir doch zu Anfang festhalten, dass die erste dieser Voraussetzungen eine gewisse Befähigung oder Veranlagung ist, ohne die alle folgenden Anstrengungen vergeblich sind. Das Individuum kann letztlich nur die Möglichkeiten entwickeln, die es von Anfang an besitzt. Diese „Initiationsfähigkeit“ bildet die notwendige Eignung, die von allen initiatischen Traditionen gefordert wird.22 Diese Voraussetzung ist übrigens die einzige, die auf gewisse Weise sowohl für die Initiation als auch für den Mystizismus gilt, da natürlich auch der Mystiker eine entsprechende Veranlagung besitzen muss, wenngleich diese völlig anders geartet und teilweise sogar entgegengesetzt zur initiatischen Veranlagung ist. Für den Mystiker ist diese Eignung aber ausreichend und es sind keine weiteren Voraussetzungen notwendig, da letztlich für ihn die Umstände ausschlaggebend sind, um die Verwirklichung jener Möglichkeiten herbeizuführen, die für den Mystizismus kennzeichnend sind. Dies ist auch ein Ergebnis der „Passivität“, die wir zuvor bereits erwähnt hatten: Beim Mystizismus handelt es sich nie um eine persönliche Anstrengung, da der Mystiker von sich aus unter keinen Umständen auf etwas einwirken wird. Er muss sich ganz im Gegenteil davor in Acht nehmen, da ihn dies auf seinem Pfad behindern würde.23 Bei der Initiation und ihrem „aktiven“ Charakter ist eine derartige Anstrengung allerdings eine weitere Voraussetzung, die nicht weniger wichtig ist als jene, die wir bereits genannt haben und ohne die eine „Verwirklichung“ nicht erreicht werden könnte.24
Die Unterscheidung zwischen der initiatischen „Aktivität“ und der mystischen „Passivität“ haben wir deshalb dargelegt, um klar zu machen, dass die Initiation eine Voraussetzung benötigt, die im Mystizismus nicht vorhanden ist. Und noch eine weitere Voraussetzung ist nicht weniger notwendig. Sie liegt auf gewisse Weise zwischen jenen, die wir bereits genannt haben. Diese Voraussetzung ist eigentlich die charakteristischste von allen, also die, die es uns erlaubt, die Initiation auf eine Weise zu definieren, die jegliches Missverständnis ausschließt. Mit ihrer Hilfe lässt sich vermeiden, dass sie mit irgendetwas anderem verwechselt wird. Diese Voraussetzung wird von den Menschen aus dem Westen nur allzu schnell ignoriert oder in ihrer Bedeutung geringer eingeschätzt als sie tatsächlich ist. Als Folge davon lässt sich die Initiation von allem anderen deutlich abgrenzen. So ist es oft sehr schwierig – wenn nicht gar unmöglich – den falschen vom richtigen Mystizismus zu unterscheiden, da der Mystiker durch seine Bestimmung bereits für sich allein steht und als solcher in gewissem Sinne außerhalb der Regeln steht. Manchmal weiß er noch nicht einmal selbst, wer oder was er ist. Dazu kommt noch, dass seine Erkenntnis nie in einem „reinen Zustand“ empfangen wird, sondern dass sie immer eine Mischung aus seinen Gefühlen und Vorstellungen ist, was die Sache nicht gerade einfacher macht. Auf jeden Fall gibt es etwas im Mystizismus, das sich jeglicher Kontrolle entzieht. Anders ausgedrückt kann man sagen, dass es für den Mystiker keine „Mittel zur Erkenntnis“ gibt.25 Man könnte auch sagen, dass der Mystiker keine „Abstammung“ hat, sondern aufgrund eines „plötzlichen Umstandes“ zum Mystiker geworden ist. Diese Kennzeichen sollten eigentlich keiner weiteren Erklärung bedürfen. Aber wie kann es dann jemand wagen zu behaupten, dass die eine Person ein echter Mystiker sei und die andere nicht, wenn dem äußeren Anschein nach kein Unterschied erkennbar ist?
Im Gegensatz dazu lässt sich eine Nachahmung der Initiation ganz klar daran erkennen, dass keine Anbindung an eine rechtmäßige traditionelle Organisation besteht. Es gibt aber dennoch einige unwissende Leute, die sich vorstellen, dass man „sich selbst initiieren“ könne, was aber ein Widerspruch in sich selbst ist. Sie vergessen wohl – wenn sie es überhaupt je gewusst haben – dass das Wort initium „Eingang“ oder „Anfang“ bedeutet. Damit verwechseln sie die eigentliche Initiation nach ihrer etymologischen Bedeutung mit der auf die Initiation folgenden Arbeit, die in einander aufbauenden Schritten erfolgen muss, damit die Initiation vom Möglichen ausgehend tatsächlich verwirklicht werden kann. Wenn man sich die Initiation auf diese Weise vorstellt, ist sie das, was alle Traditionen als „zweite Geburt“ bezeichnen. Aber wie soll das Wesen durch sich selbst handeln, bevor es „geboren“ wurde?26 In der Regel folgt auf diese Aussage folgender Einwand: Wenn der Mensch wirklich für die Initiation geeignet sei, so trage er in sich bereits die zu entwickelnden Möglichkeiten. Warum solle er diese dann nicht durch eigene Bemühungen verwirklichen können, ohne dass von außen jemand eingreifen müsse? So etwas lässt sich in der Theorie durchaus vorstellen, vorausgesetzt dieser Mensch wäre vom ersten Moment seiner individuellen Existenz „zweifach-geboren“. Aber selbst wenn dies in der Theorie nicht ausgeschlossen werden kann, so ist es in der Realität nahezu unmöglich, da es der Ordnung unserer Welt widerspricht – zumindest, wenn man ihren derzeitigen Zustand betrachtet. Wir befinden uns nicht mehr in der anfänglichen Epoche, in der alle Menschen von ihrer Natur aus und ohne ihr Zutun einen Zustand besaßen, der heutzutage dem eines hohen Grades der Initiation entspricht.27 In einer solchen Epoche hatte das Wort „Initiation“ folglich keine Bedeutung. Wir befinden uns heute aber im Kali-Yuga, also in einer Zeit, in der das geistige Wissen verborgen und „verdunkelt“ ist und es nur wenigen möglich ist, es zu erlangen, sofern sie die Voraussetzungen dafür erfüllen. Und gerade eine dieser Voraussetzungen ist die, über die wir gerade sprechen und mit ihr verbunden ist die Anstrengung, dieses Wissen zu erlangen. Diese Anstrengung mussten die Menschen des ersten Zeitalters nicht auf sich nehmen, da ihre geistige Weiterentwicklung so natürlich wie ihre körperliche Entwicklung war.
Es geht hier also um eine Voraussetzung, die in Übereinstimmung mit den Gesetzen auferlegt wird, die unsere heutige Welt beherrschen. Dies lässt sich vielleicht besser verdeutlichen, wenn wir auf eine Analogie zurückgreifen: Alle Wesen, die im Verlaufe eines Zyklus entwickelt werden, sind von Beginn an in subtiler Form als Embryos im „Welten-Ei“ enthalten. Man kann sich nun die Frage stellen, warum sie nicht durch sich selbst in den körperlichen Zustand geboren werden, sondern dazu Eltern benötigen. Dies wäre keine völlige Unmöglichkeit, da sich eine solche Welt durchaus vorstellen ließe, wenngleich sie auch nicht unserer Welt entspricht. Bei dieser Betrachtung lassen wir übrigens auch Anomalien aus, da es durchaus außergewöhnliche Fälle einer „Erzeugung aus sich selbst heraus“ geben kann. Auf die geistige Ordnung bezogen, entspricht dies genau dem, was die Mystiker tun. Dabei haben wir darauf hingewiesen, dass der Mystiker dabei nicht dem „Gesetz“ entsprechend handelt, während die Initiation dem „Gesetz“ entspricht und nichts mit Anomalien zu tun hat. Zu beachten ist überdies auch, wie weitreichend solche Fälle sein können. Sie müssen trotz allem unter der Herrschaft eines „Gesetzes“ stehen, da nichts existieren kann, was nicht auch gleichzeitig ein Element der gesamten und universalen Ordnung ist. Dies allein sollte bereits zeigen, dass die Zustände, die der Mystiker verwirklicht, nicht die gleichen sind wie jene, die der Initiierte verwirklicht. Ihre Verwirklichung unterliegt auch nicht den gleichen Gesetzen, da es hierbei um etwas völlig anderes geht. Da wir uns mit diesem Thema nun lange genug beschäftigt haben, können wir den Mystizismus endgültig hinter uns lassen und uns ausschließlich mit der Initiation beschäftigen.
Wenden wir uns also jener Voraussetzung zu, die sich mit der Verbindung zu einer traditionellen Organisation beschäftigt. Eine solche Verbindung kann natürlich niemals von der notwendigen inneren Arbeit befreien, die jeder selbst bewältigen muss. Daher sollte man diese Verbindung eher als eine vorbereitende Voraussetzung dafür sehen, dass eine solche Arbeit Früchte tragen kann. Man muss dabei verstehen, dass jene, die zu den Verwahrern des initiatischen Wissens gemacht wurden, dieses Wissen nicht auf die gleiche Weise weitergeben können, wie ein weltlicher Lehrer seinen Schülern Wissen aus Büchern „eintrichtern“ kann, das sie nur in ihrem Gedächtnis speichern müssen. Das, um was es hier geht, ist etwas, das seinem Wesen nach „unaussprechlich“ ist, da es Zustände betrifft, die nur innerlich verwirklicht werden können. Was sich lehren lässt, sind nur die vorbereitenden Methoden, um diese Zustände zu erlangen. So lässt sich in dieser Hinsicht von außen nur eine Hilfe und Unterstützung geben, die die zu verrichtende Arbeit erleichtert und die zusätzlich dazu auch als Kontrolle wirkt, um Hindernisse und Gefahren erkennen und überwinden zu können, die sich möglicherweise zeigen werden. Diese Funktionen, die mit dieser Art der Weitergabe des Wissens verbunden sind, sind alles andere als nebensächlich, denn der, der nicht auf sie zurückgreifen kann, trägt ein hohes Risiko zu scheitern. Aber dies allein würde noch nicht völlig ausreichen, die Verbindung zu einer traditionellen Organisation als eine notwendige Voraussetzung zu rechtfertigen. Es handelt sich dabei eher um eine nachrangige Funktion, die erst dann zum Tragen kommt, wenn die Initiation in dem Sinne, wie wir ihn erklärt haben, bereits vollzogen wurde und es dann um die Entwicklung der Anlage geht, die durch die Initiation gelegt worden ist. Der wichtige Punkt dabei ist, dass zuerst diese Anlage vorhanden sein muss. Daher lässt sich die Initiation am besten durch die Aussage charakterisieren, dass es sich hierbei im Wesentlichen um die Übertragung eines geistigen Einflusses handelt. Wir werden darauf noch später zurückkommen und begrenzen uns momentan auf die Festlegung der Rolle, die dieser Einfluss spielt, wenn man die Verbindung betrachtet, die zwischen der natürlichen Veranlagung des Individuums am Anfang und der Arbeit an der Verwirklichung besteht, die es später zu bewältigen gilt.
In einer anderen Studie haben wir erklärt, dass die Phasen der Initiation – wie auch die der „Großen Arbeit“ aus der Hermetik, der einer der symbolischen Ausdrücke für die Initiation ist – der des kosmogonischen Prozesses entsprechen.28 Diese Analogie, die direkt auf der Entsprechung zwischen „Mikrokosmos“ und „Makrokosmos“ basiert, erlaubt es uns besser als jede andere, die Fragen zu klären, die uns hier beschäftigen. So lässt sich sagen, dass die Anlagen oder Möglichkeiten, die die individuelle Natur beinhaltet, in sich zu Anfang eine materia prima