Initiation und geistige Verwirklichung - René Guénon - E-Book

Initiation und geistige Verwirklichung E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Der Band "Initiation und geistige Verwirklichung" sammelt Artikel von René Guénon, die als Ergänzung und Vertiefung zu seiner Studie "Einblicke in die Initiation" zu sehen sind. Beide Bände widmen sich intensiv dem Thema der Initiation, über die im modernen Westen nur noch ein bruchstückhaftes und oft auch falsches Wissen vorhanden ist. Guénons Veröffentlichungen enthalten zwar keine praktischen Unterweisungen, um eine Initiation erlangen zu können, aber dennoch ist ihr Studium von großem Wert, da es viele falsche Vorstellungen richtigstellt, die sich in moderner Zeit zu diesem Thema in unseren Köpfen festgesetzt haben. Jeder, der sich auf diese "Reise" begeben möchte, muss sich zuerst von ihnen befreien, um den ersten Schritt in Richtung einer tatsächlichen Initiation tun zu können. So stellt Guénon klar, dass die Initiation nicht das Ende der geistigen Entwicklung ist und nicht mit der "Erlösung" gleichgesetzt werden darf. Sie ist vielmehr der Anfangspunkt, von dem aus über viele Stufen eine Weiterentwicklung stattfindet, die die eigentliche "geistige Verwirklichung" darstellt. Diese ist letztlich nichts anderes als die zunehmende Bewusstwerdung der Einheit des Seins. Dabei ist es heutzutage nicht nur schwer, den Anfang für diese geistige Entwicklung finden zu können, sondern auch die weitere "Reise" ist beschwerlich und voller Mühen und Fallstricke. Davon ist nicht nur in den traditionellen und religiösen Lehren die Rede, auch in volkstümlichen Erzählungen wie Märchen und Sagen gibt es unzählige Beispiele, wie die symbolische Suche nach einem "verlorenen Schatz" oder die sehr bekannte Suche nach dem "Heiligen Gral". Doch wer sich von diesen Mühsalen nicht entmutigen lässt und immer weiter nach dem Anfang des "Weges" sucht, wird erfolgreich sein, denn wer nicht "sucht", der wird auch nichts "finden". Guénons Bände über die Initiation sind dabei unverzichtbare Hilfestellungen, um den richtigen "Weg" finden und die lauernden Fallstricke erkennen und bewältigen zu können. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Französische Originalausgabe:

INITIATION ET REALISATION SPIRITUELLE

© Les Éditions Traditionelles 1952

Deutsche Ausgabe:

BAND 13: INITIATION UND GEISTIGE VERWIRKLICHUNG

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

VORWORT VON JEAN REYOR

GEGEN DIE POPULARISIERUNG TRADITIONELLER LEHREN

METAPHYSIK & DIALEKTIK

DAS GEBRECHEN DER ANGST

BRÄUCHE & RITEN

DIE ANBINDUNG AN EINE INITIATISCHE ORGANISATION

GEISTIGE EINFLÜSSE

DIE NOTWENDIGKEIT DER TRADITIONELLEN EXOTERIK

HEIL & ERLÖSUNG

DIE RITUELLE UND DIE MORALISCHE SICHTWEISE

DIE VERHERRLICHUNG DER ARBEIT

DAS HEILIGE & DAS WELTLICHE

KONVERTIERUNGEN

ZEREMONIEN & ÄSTHETIK

VERWECHSLUNGEN UND VERFÄLSCHUNGEN DER ESOTERIK

„GEISTIGER STOLZ“

DIREKTE & INDIREKTE KONTEMPLATION

DIE LEHRE & DIE METHODE

DIE DREI WEGE UND DEREN INITIATISCHE FORMEN

ASKESE

GURU & UPAGURU

WAHRE UND FALSCHE GEISTIGE LEHRER

ANGEBORENE WEISHEIT & ERWORBENE WEISHEIT

GEMEINSCHAFTLICHE ARBEIT & „GEISTIGE GEGENWART“

DIE ROLLE DES GURU

ÜBER DIE INITIATISCHEN GRADE

GEGEN DEN QUIETISMUS

ÄUßERLICHER WAHNSINN & VERSTECKTE WEISHEIT

DIE MASKE DER VOLKSTÜMLICHKEIT

DAS ZUSAMMENTREFFEN VON EXTREMEN

BEFINDET SICH DER GEIST IM KÖRPER ODER DER KÖRPER IM GEIST?

DIE BEIDEN NÄCHTE

AUFSTEIGENDE UND ABSTEIGENDE VERWIRKLICHUNG

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

René Guénon widmete einen nicht unerheblichen Teil seiner Arbeit dem Thema der Initiation, über die im modernen Westen nur noch ein bruchstückhaftes und oft auch falsches Wissen vorhanden ist. Durch diese Bemühungen entstand im Laufe seiner Schaffensjahre eine große Zahl an Artikeln, die in verschiedenen Publikationen veröffentlicht wurden. Ein Teil dieser Artikel wurde von Guénon selbst in der Studie Einblicke in die Initiation zusammengefasst, die verbliebenen Artikeln, die sich ebenfalls mehr oder minder stark mit der Initiation beschäftigen, wurden posthum von Jean Reyor in der vorliegenden Studie Initiation und geistige Verwirklichung gesammelt.

Wie wir schon in unserem Vorwort zu Einblicke in die Initiation erwähnt haben, handelt es sich also um eine Sammlung einzelner Artikel, die teils in großem zeitlichen Abstand und oftmals inhaltlich unabhängig voneinander geschrieben wurden. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass inhaltlich Sprünge oder Wiederholungen zwischen den Artikeln zu finden sind. Dies trifft umso mehr auf die vorliegende Studie zu, da die hier zusammengefassten Artikel einerseits sehr verschiedene Aspekte der Initiation behandeln und sich andererseits zum Teil auch mit Themen befassen, die eher allgemeingültigen Charakters sind und daher nicht nur auf die Initiation bezogen sind. So fehlt an der einen oder anderen Stelle der inhaltliche Zusammenhang und manche Erklärung bleibt offen, da das nachfolgende Kapitel sich bereits einem anderen Thema widmet. Dies ist auch darin begründet, dass in Initiation und geistige Verwirklichung speziellere und in mancher Hinsicht auch tiefer gehende Aspekte behandelt werden als in Einblicke in die Initiation. Daher ist es zwar nicht unbedingt eine Voraussetzung, sich zuerst „Einblicke in die Initiation“ verschafft zu haben, bevor man sich der „Initiation und geistigen Verwirklichung“ zuwendet – aber hilfreich zum Verständnis ist die Beachtung dieser Reihenfolge allemal.

Wer nach dem aufmerksamen Studium dieser beiden Bücher jedoch denkt, er habe eine Initiation welcher Art auch immer erlangt, liegt genauso falsch wie jener Leser, der der Auffassung ist, er sei keinen Schritt vorangekommen. Guénon macht in Initiation und geistige Verwirklichung erneut deutlich, dass eine Initiation normalerweise nicht durch Bücher oder Schriften erlangt werden kann, sondern nur durch die Anbindung an eine rechtmäßige initiatische Organisation, die Übertragung eines geistigen Einflusses und durch die Führung eines guru. Nicht unerwähnt bleiben zwar die Ausnahmefälle, in denen eine Initiation auf andere Weise erlangt werden kann, doch dies geschieht nur selten und hat meist unerwünschte Wirkungen, da die Initiation dann in gewisser Hinsicht unvollständig bleibt. Der Leser sollte sich also nicht Trugbildern hingeben und diesen Sonderfällen mehr Aufmerksamkeit widmen als ihnen tatsächlich zusteht, auch wenn heutzutage im Westen allem Anschein nach keine Alternative zur Verfügung steht. Er sollte sich vielmehr vor Augen halten, dass gerade in dieser Hinsicht die Weisheit gilt, dass der, der suchet, auch findet und dass dem, der klopfet, auch aufgetan wird.

Wie in Einblicke in die Initiation gibt Guénon keine praktischen Unterweisungen, um die Initiation erlangen und darüber hinausgehen zu können. Und dennoch ist das Studium des vorliegenden Buches für den wahrhaft Suchenden von großem Wert, da es viele falsche Vorstellungen richtigstellt, die in der modernen westlichen Welt zu diesem Thema zu finden sind. Sie haben sich in unseren Köpfen seit unserer Kindheit festgesetzt und jeder, der sich auf diese „Reise“ begeben möchte, muss sich zuerst von ihnen befreien. Dieses Anliegen zieht sich unabhängig vom Thema der Initiation wie ein roter Faden durch alle Veröffentlichungen René Guénons und zeigt, wie wichtig diese „Befreiung des Geistes“ für uns Menschen im modernen Westen ist. Sie ist also nicht mehr und nicht weniger als der erste Schritt und eine wesentliche Voraussetzung, um in Richtung einer tatsächlichen Initiation voranschreiten zu können.

Der Titel Initiation und geistige Verwirklichung deutet bereits auf eine dieser falschen Vorstellung hin, die sich im modernen Westen hinsichtlich der Initiation verbreitet hat: Die Initiation ist nicht das Ende der geistigen Entwicklung und darf damit nicht mit der Erlösung gleichgesetzt werden. Sie ist vielmehr der Anfangspunkt, von dem aus über viele Stationen – oder anders gesagt geistige Ränge – eine Weiterentwicklung stattfindet, die als „Verwirklichung“ bezeichnet wird. Sie ist letztlich nichts anderes als die zunehmende Bewusstwerdung der Einheit des Seins mit seinem „Selbst“ oder wie es die hinduistische Lehre ausdrückt der Verschmelzung mit Ātmā und darüberhinausgehend das „Aufgehen“ im höchsten Prinzip, Brahma, was auch als „Höchste Gleichsetzung“ bezeichnet wird. So ist es also nicht nur schwer, den Anfang für diese geistige Entwicklung zu finden, sondern auch die weitere „Reise“ ist beschwerlich und voller Mühen und Fallstricke. Davon ist nicht nur in den traditionellen und religiösen Lehren die Rede, auch in volkstümlichen Erzählungen wie Märchen und Sagen gibt es unzählige Beispiele, wie die symbolische Suche nach einem „verlorenen Schatz“ oder die sehr bekannte Suche nach dem „Heiligen Gral“. Und nur wer sich von diesen Mühsalen nicht entmutigen lässt und immer weiter nach dem Anfang des „Weges“ sucht, wird erfolgreich sein, denn wer nicht „sucht“, der wird auch nichts „finden“. Wie in jedem Märchen nachzulesen ist, wartet nach Überwindung aller Hindernisse und Erduldung aller Proben ein „glückliches Ende“ auf den Suchenden. Und selbst wenn der „Weg“ nicht bis zu seinem Ende gegangen werden kann, so hat doch der, der nur wenige Schritte darauf gegangen ist oder auch der, der nur danach gesucht hat, für sich schon durch diese Suche oder diese wenigen Schritte so viel mehr für seine geistige Entwicklung gewonnen als der, der sich nicht darum bemüht hat und damit im „Dunkeln“ verbleiben wird.

I. Steinke

München, im März 2020

Vorwort von Jean Reyor

René Guénon gab uns in den Monaten, die seinem Tod unmittelbar vorausgingen, einige Anweisungen, wie mit seiner Arbeit nach seinem Lebensende fortzufahren sei – möglicherweise bereits in Erwartung seines herannahenden Endes. So äußerte er in seinen Briefen vom 30. August und 24. September 1950 den Wunsch, dass Artikel, die er bislang nicht in Bücher eingliedern konnte, in entsprechend sinnvoll aufgeteilte Bände zusammengefasst werden sollen:

Die Schwierigkeit besteht dabei, auf welche Weise die Artikel geordnet werden, so dass die Sammlungen in sich so geschlossen wie möglich sind – und das kann ich momentan noch nicht einmal selbst beurteilen. Wenn ich eine Möglichkeit hätte, dies zu tun – was sich für mich aber zunehmend schwieriger darstellt – würde ich es bevorzugen, ein oder zwei Sammlungen von Artikeln über die Symbolik und vielleicht noch eine ergänzende Sammlung zu Einblicke in die Initiation zusammenzustellen. Mir scheint es, dass es bald genügend Artikel zu diesem Thema gibt, um daraus einen zweiten Band zu bilden.

Die vorliegende Sammlung erfüllt nun gerade diesen zweiten Wunsch. Mit den hier ausgewählten Artikeln möchten wir eine Reihe von posthumen Veröffentlichungen René Guénons beginnen. Den Anfang dabei machen Artikel über das Thema der Initiation. Sie konnten schneller in ihre endgültige Form umgearbeitet werden als die Arbeiten über die Symbolik und wir denken, dass sie in unserer Zeit auf großes Interesse stoßen werden.

Wir möchten nun einige Worte über die Zusammenstellung dieses Buches sagen. Wie wir erwähnt haben, hinterließ Guénon keine Anweisungen bezüglich der posthumen Veröffentlichung seines Materials, so dass wir die Entscheidung und Verantwortung dafür selbst auf uns nehmen mussten. Die hier vorliegenden Artikel stammen ausschließlich aus Guénons Feder. Wir haben keine Ergänzungen, Änderungen oder Streichungen vorgenommen bis auf jene Stellen, an denen dies notwendig war, um eigentlich voneinander unabhängige Artikel in einem gemeinsamen Band sinnvoll zusammenfassen zu können. So war deren Veröffentlichung oft gewissen aktuellen Umständen geschuldet, die aus unserer Sicht nicht mit der Reihenfolge übereinstimmt, die logische sinnvoll ist und am besten der Entwicklung der Gedanken des Autors gerecht wird. Und diese von uns vorgenommenen Änderungen in der Reihenfolge möchten wir im Folgenden etwas genauer erläutern.

In seiner Studie Einblicke in die Initiation widmete sich Guénon der Aufgabe, die Natur der Initiation darzulegen, die im Wesentlichen aus der Übertragung eines geistigen Einflusses mittels der dafür geeigneten Riten besteht. Dadurch wird es dem Sein, das sich in unserem Fall in „menschlicher Form“ befindet, möglich, einen geistigen Zustand zu erlangen, der in den verschiedenen Traditionen als „paradiesischer“ Zustand bezeichnet wird. Von dort aus kann es sich zu den höheren Zuständen des Seins erheben, so dass es letztlich das erreicht, was „Erlösung“ oder die „Höchste Gleichsetzung“ genannt wird. Guénon legte zudem die Bedingungen für eine Initiation dar und auch die Merkmale, die eine Organisation aufweisen muss, damit diese berechtigt ist, sie auf ihre Mitglieder zu übertragen. Dabei ging er auch auf den Unterschied zwischen initiatischem und weltlichem Wissen ein und auf die Unterscheidung, die zwischen dem initiatischen und dem mystischen Weg gemacht werden muss.

Dieser Band vertieft, vervollständigt und erweitert diese Themen nun auf verschiedene Weisen. Die Artikel, aus denen er besteht, lassen sich dabei in vier Teile untergliedern. Im ersten Teil betrachtet Guénon mentale und psychologische Hindernisse, die ein Verständnis der initiatischen Sichtweise und die Suche nach der Initiation erschweren. Die Themen spannen dabei einen großen Bogen: So behandelt er den Irrglauben, dass alles Wissen unterschiedslos der breiten Masse zugänglich gemacht werden könne, die nicht zulässige Vermischung von Metaphysik und Dialektik, die negativen Folgen der Angst sowie den zu sorgsamen Blick auf die öffentliche Meinung.

Der zweite Teil erklärt einige wichtige Aspekte, die die Natur der Initiation umfasst und geht auf die Bedingungen ein, um diese weiterentwickeln zu können. In Einblicke in die Initiation hatte Guénon auf die Notwendigkeit der Anbindung an eine initiatische Organisation deutlich hingewiesen. Im ersten Kapitel des zweiten Teils vertieft er die Gründe für diese Notwendigkeit und zeigt dabei auch, unter welchen besonderen Umständen die Initiation außerhalb des gewöhnlichen und normalen Weges empfangen werden kann. Anschließend legt er die Unterschiede dar, die zwischen dem rein geistigen Einfluss und den psychischen Einflüssen bestehen, die diesen auf gewisse Weise „umhüllen“. Im nächsten Kapitel behandelt Guénon dann eine Frage, die er eigentlich durch seine früheren Werke als beantwortet gesehen hatte und daher bislang nicht in den Mittelpunkt einer eigenen Betrachtung gestellt hatte: Es geht dabei um die Notwendigkeit, sich einer traditionellen Exoterik anzuschließen, wenn man ernsthaft nach einer Initiation trachtet. Und im darauffolgenden Kapitel führt er in diesem Zusammenhang die metaphysischen Gründe für das Bestehen der Exoterik an. Die daran anschließenden Kapitel zeigen, wie das „gewöhnliche Leben“ so „heilig“ gemacht werden kann, dass es seinen weltlichen Charakter verliert und dem Individuum die fortwährende Teilhabe an der Tradition erlaubt. Dies ist wiederum eine der Bedingungen für den Übergang von der virtuellen zur tatsächlichen Initiation. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass in der westlichen Welt selbst unter den Vertretern der Religion eine Neigung vorherrscht, die eine immer weiter gehende „Verweltlichung“ des gesellschaftlichen Lebens fördert und auf diese Weise einen als kritisch zu bewertenden Verlust an „Lebendigkeit“ der christlichen Tradition nach sich zieht. Anschließend geht Guénon auf ein Thema ein, das heutzutage immer mehr an Bedeutung gewinnt: Für einen Menschen aus der westlichen Welt ist es möglich, den Pfad zur Initiation in einer fremden Tradition zu suchen und Guénon zeigt auch, unter welchen Bedingungen ein solcher „Übertritt“ zulässig ist. Dennoch ist ein Wechsel zu einer fremden Tradition nur dann akzeptabel, wenn er frei von rein äußeren Erwägungen, individuellen Vorlieben und gesellschaftlichen „Mode-Erscheinungen“ erfolgt. Es gibt jedoch viele Menschen im Westen, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung diese Beweggründe nie völlig ablegen können und daher am besten einen solchen Wechsel nicht versuchen sollten. Als nächstes warnt Guénon all jene, die ernsthaft nach einer Initiation suchen, vor allen Formen der Pseudo-Esoterik, des Okkultismus und der theosophischen Lehre von H. P. Blavatsky. Gleiches gilt für jene Arten der Esoterik, in der für die Allgemeinheit leicht zugängliche Ideen vertreten werden, indem beispielsweise behauptet wird, einem „Ur-Christentum“ zu entspringen und die damit das Ziel verfolgt, jene Christen zufrieden zu stellen, die nach mehr als der exoterischen Lehre der Kirche suchen. Im weiteren Verlauf zeigt Guénon die Leere auf, die mit dem „Stolz auf die Intellektualität“ verbunden ist und der oft in gewissen religiösen Kreisen gegenüber der Esoterik herrscht. Den Abschluss des zweiten Teiles bildet dann eine Untersuchung über die Unterschiede zwischen der initiatischen und mystischen Verwirklichung.

Die Themen, die im dritten Teil behandelt werden, sind hinsichtlich Einblicke in die Initiation völlig neu und drehen sich hauptsächlich um die unterschiedlichen Pfade der initiatischen Verwirklichung und um den „geistigen Meister“. So geht Guénon in einem Kapitel speziell auf den initiatischen Weg ein, der mit dem Handwerk verbunden ist. Hierbei macht er deutlich, dass in Organisationen, die diesen Weg im Westen heute noch ermöglichen, die Gegenwart eines menschlichen Meisters nicht unbedingt notwendig ist, während dies in Organisationen, die einen anderen Weg der Initiation bieten, eine unabdingbare Voraussetzung ist.

Der letzte und in vieler Hinsicht wichtigste Teil dieser Studie betrachtet die unterschiedlichen Grade der geistigen Verwirklichung und alles, was diesem Ziel vorausgeht, so dass sie leichter verständlich und zu eine gewissen Grad auch leichter zugänglich wird. Die letzten drei Kapitel, die der Kern sowohl von Einblicke in die Initiation als auch dieses Buches sind, unternehmen eine metaphysische Untersuchung, die zum Verständnis der Möglichkeiten der gesamthaften geistigen Verwirklichung führen, die beim körperlichen Zustand beginnt und so weit reicht, dass sie mit der Natur und Funktion jener göttlichen Botschafter vergleichbar ist, die in den unterschiedlichen Traditionen als Propheten, rasūl, Bodhisattva oder avatāra bezeichnet werden.

Um ein besseres Verständnis der Kapitel 5 und 28 zu ermöglichen, hielten wir es für nützlich, in einem Anhang die von Guénon empfohlenen Texte in Bezug auf Afrād und Malāmatiyah wiederzugeben, die verschiedene Grade der tatsächlichen Initiation in der islamischen Esoterik darstellen.

Jean Reyor

1. Gegen die Popularisierung traditioneller Lehren

Von den Dingen, die in unserer heutigen Welt schwer zu ertragen sind, ist die Verständnislosigkeit und Dummheit einer großen Zahl – wenn nicht gar der überwiegenden Mehrheit – der Menschen sicher besonders hervorzuheben. Und diese Dummheit nimmt noch in dem Maße zu, in dem der geistige Niedergang, der für die letzte Periode des menschlichen Zyklus charakteristisch ist, sich zunehmend ausbreitet und verstärkt. Dazu gesellt sich noch eine Unwissenheit, die damit so eng verbunden ist, dass sich die Menschen ihrer überhaupt nicht bewusst werden. Und je weniger die Menschen verstehen und wissen, desto dreister tritt diese Paarung aus Unwissenheit und Dummheit zu Tage. Für jene, die davon betroffen sind, stellt sie so etwas wie eine unheilbare Krankheit dar.1 Dummheit und Unwissenheit können unter dem Begriff Unverständnis zusammengefasst werden. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass das Ertragen dieses Unverständnisses keineswegs bedeutet, dass man diesem irgendwelche Zugeständnisse entgegenbringen darf und sich auch nicht davon abhalten lassen sollte, die Fehler zu korrigieren, die es hervorruft. Ganz im Gegenteil muss man darauf bedacht sein, sein Bestes zu geben, damit es sich nicht weiter verbreitet, was sehr oft eine unangenehme Aufgabe sein kann, insbesondere wenn der Eigensinn mancher Leute dazu führt, dass man manche Dinge wieder und wieder darlegen muss, obwohl es eigentlich genügen sollte, sie ein einziges Mal zu erklären. Dieser Eigensinn ist überdies auch nicht frei von einem falschen Glauben, der oft eine Engstirnigkeit zu Tage legt, die das Ergebnis eines mehr oder weniger kompletten Unverständnisses ist. So lässt sich sagen, dass Unverständnis und falscher Glaube, die sich auch als Dummheit und Bosheit zeigen, derart miteinander vermischt sind, dass es schwierig ist festzustellen, welche Wirkung auf welchen Faktor zurückzuführen ist.

Als wir gerade davon sprachen, dass es wichtig ist, keine Zugeständnissen an das Unverständnis der breiten Masse zu machen, bezogen wir uns insbesondere auf die Popularisierung in all ihren Formen: So wird gefordert, Wahrheiten welcher Art auch immer „in die Reichweite jedes Menschen zu bringen“ und „jedem zugänglich“ zu machen, wobei diese Forderung sich hauptsächlich auf die große Mehrheit der Unwissenden bezieht und letztlich rein weltlichen Gründen entspringt. Sie setzt einen gewissen Grad an Unverständnis sowohl auf Seiten jener voraus, die sie unterstützen, als auch auf Seiten der „Öffentlichkeit“, an die sie sich richtet. Dieses Unverständnis wird noch dadurch verstärkt, dass das, was auf diese Weise „aufgedeckt“ wird, das geistige Niveau der Allgemeinheit in der Regel überschreitet. Ist das, was durch die Popularisierung verbreitet wird, rein weltlichen Ursprungs, so sind die Folgen nicht so negativ, wie dies zum Beispiel bei modernen philosophischen oder wissenschaftlichen Vorstellungen der Fall ist, die sicher nichts Tiefgehendes oder Transzendentes beinhalten, selbst wenn sich die eine oder andere Wahrheit in ihnen verbirgt. Und bei den Popularisierungsversuchen geht es häufig auch gerade um derartige Themen, da diese die Allgemeinheit am meisten interessieren, was sich auf die Ausbildung zurückführen lässt, die sie durchlaufen haben. Gerade sie vermittelt das Trugbild eines Wissens, das mit wenig Aufwand erlangt werden kann. Bei einer solchen Popularisierung werden die Dinge jedoch einerseits durch Vereinfachungen verzerrt und andererseits durch den Versuch, das als Wahrheit darzustellen, was Experten selbst noch als reine Hypothese betrachten. Wenn man sich diese Vorgehensweise genauer anschaut, verwenden die Anhänger einer solchen Popularisierung keine anderen Methoden als jene, die in der allgemeinen Ausbildung, die jedem in der modernen Welt auferlegt wird, auch benutzt werden. Diese Bildung ist als solche im Grunde selbst eine Popularisierung und zwar auf gewisse Weise sogar die schlimmste aller denkbaren, da sie der Geisteshaltung jener, die sie empfangen, eine „wissenschaftliche Prägung“ verleiht, von der sich später die wenigsten wieder befreien können. Und gerade diese „Prägung“ wird durch die immer weiter gehende Popularisierung um ein Vielfaches verstärkt.

Es gibt heutzutage jedoch noch eine weitere Art der Popularisierung, die zwar nur einen begrenzten Kreis der Öffentlichkeit erreicht, aber nichtsdestotrotz eine ernsthafte Gefahr darstellt aufgrund der Verwirrungen, die sie mit oder ohne Absicht hervorruft und die sich auf Dinge beziehen, die eigentlich vor solchen Versuchen geschützt sein sollten. Wir beziehen uns hier auf traditionelle Lehren und insbesondere auf die der östlichen Traditionen. Sowohl die Okkultisten als auch die Anhänger der Theosophie haben bereits derartige Versuche unternommen, aber außer offensichtlichen Fälschungen nichts erreicht. Es gibt allerdings auch Popularisierungsversuche, die gefährlicher sind, da sie in einem ernstzunehmenderen Gewand auftreten. So können auch jene Leute beeinflusst werden, die sich normalerweise nicht von derartigen Verzerrungen und allzu offensichtlichen Karikaturen täuschen lassen. Hinzu kommt noch, dass man bei den Vertretern dieser Popularisierung zwischen ihren Absichten und den Ergebnissen unterscheiden muss, die sie damit erzielen möchten. Ihr Hauptbeweggrund ist natürlich der, die Vorstellungen, die sie entwickeln, so weit wie möglich zu verbreiten, wobei sie die unterschiedlichsten Gründe antreiben. Einerseits fördern sie deren Verbreitung, weil sie von der Richtigkeit ihrer Vorstellungen überzeugt sind und ihre Aufrichtigkeit daher meist nicht anzuzweifeln ist. Andererseits zeigt ihre Haltung aber auch, dass ihr Verständnis der Lehre nicht sehr weitreichend ist. Außerdem müssen sie ihrem eigenen, wenngleich auch begrenzten Verständnis zum Trotz bei dem Versuch, die Lehren einer größeren Masse zugänglich zu machen, den geistigen Horizont jener berücksichtigen, die sie damit erreichen wollen. Und dies kann nur zum Nachteil der Wahrheit geschehen, wenn es sich dabei um ein durchschnittliches Zielpublikum aus dem Westen handelt. Aufgrund dieser Umstände kann man die Vertreter einer solchen Verbreitung nicht unterschiedslos einer vorsätzlichen Fälschung der Wahrheit bezichtigen. Es gibt aber auch jene, die in ihrem Inneren eigentlich nicht weiter an den Lehren interessiert sind, die aber aufgrund des Erfolges dieser Themen für sich einen Gewinn herausschlagen möchten. So suchen sie sich ihre Themen aus den unterschiedlichsten Quellen zusammen und vermischen ohne Bedenken alles, was ihrer Zuhörerschaft zusagen könnte. Und selbst wenn sie dabei versuchen, sich in den Mantel einer „Geistigkeit“ zu hüllen, sind dies letztlich ihre einzigen Beweggründe. Wir werden hier keine Namen nennen, aber unsere Leser werden sicher Beispiele kennen. Und dabei beziehen wir uns nicht ausschließlich auf reine Scharlatane, die man insbesondere unter den Pseudo-Esoterikern finden kann. Sie täuschen ihr Publikum wissentlich, indem sie eigene Erfindungen den von ihnen „untersuchten“ Lehren unterschieben, von denen sie selbst so gut wie nichts wissen und damit die Verwirrung unter ihren Zuhörern noch weiter vergrößern.

Am beunruhigendsten ist dabei die Tatsache, dass neben den auf diese Weise in die Welt gesetzten falschen oder grob vereinfachenden Vorstellungen über traditionelle Lehren so viele Leute nicht mehr in der Lage sind, zwischen der Arbeit derartiger „Fälscher“ und einer ernsthaften Untersuchung zu unterscheiden, die nicht mit der Absicht unternommen wurde, den Beifall der Öffentlichkeit zu finden. So wird alles auf die gleiche Ebene gehoben und allem die gleichen Absichten unterstellt. Dies geschieht aus reiner Dummheit, die manchmal auch mit einer Portion Misstrauen vermischt ist, wovon wir ein Beispiel geben können, das uns direkt betrifft: Bei jeder Gelegenheit betonen wir, warum und aus welchen Gründen wir gegen jegliche Verbreitung und Popularisierung traditioneller Lehren sind und lehnen entschieden entsprechende Versuche gewisser Leute ab, die uns wiederum unterstellen, dass wir selbst derartige Ziele verfolgen würden. Wie soll man aber noch annehmen, dass diese Leute in gutem Glauben handeln, wenn sie ständig dieselben Verleumdungen wiederholen? Hätten sie auch nur den geringsten Sinn für Logik – und ganz abgesehen davon, dass ihnen jegliches Verständnis für die fraglichen Lehren fehlt – würden wir sie fragen, was unser Interesse sein könnte, die breite Allgemeinheit von der Wahrheit dieser oder jener Vorstellung überzeugen zu wollen. Wir sind uns sicher, dass sie auf diese Frage keine Antwort finden können, die auch nur im geringsten Maße plausibel ist. Manche Verfechter dieser Art von Popularisierung sind dies aus unangebrachter Rührseligkeit, andere verfolgen diese Ideen aufgrund des materiellen Gewinns, den sie daraus ziehen können. Aus der Art und Weise, wie wir Lehren darlegen, sollte aber offensichtlich sein, dass sich keines dieser beiden Motive in unseren Arbeiten finden lässt. Und wenn wir tatsächlich die Absicht hätten, zu dieser Verallgemeinerung beizutragen, würden wir eine Haltung einnehmen, die der orthodoxen Strenge genau entgegengesetzt ist, die wir bislang immer bewahrt haben. Wir möchten uns nun mit diesem Thema nicht weiter beschäftigen, aber da wir diesbezüglich von Zeit zu Zeit ein Wiederaufflammen merkwürdiger und völlig unberechtigter Angriffe auf unsere Person erlebt haben, schien es uns notwendig, hier die Dinge einmal mehr ins rechte Licht zu rücken, selbst wenn wir dabei Gefahr laufen, uns zu wiederholen.

1 In der islamischen Tradition besteht haqīqatu-zakāh (das wahre „Almosengeben“) in seinem inneren Aspekt auch darin, menschliche Dummheit und Unwissenheit zu ertragen (haqīqah ist in diesem Sinne muzāherah entgegengesetzt, das nur die äußere Manifestation oder das Befolgen des göttlichen Gebotes ist, wenn dieses in dessen streng wörtlichem Sinne verstanden wird). Dies gelingt Kraft der Geduld (as-sabr), der besondere Wichtigkeit zu Teil wird, was dadurch bewiesen wird, dass sie 72 Mal im Koran erwähnt wird.

2. Metaphysik & Dialektik

Kürzlich haben wir von einem Artikel erfahren, der aufgrund der darin enthaltenen Missverständnisse aus unserer Sicht eine gewisse Beachtung verdient.2 Wir waren bis zu einem gewissen Grad erheitert, darin zu lesen, dass jene, „die einige Kenntnis über das metaphysische Wissen besitzen“ (zu denen sich der Autor allem Anschein nach selbst zählt, während er uns dieses Vorrecht abspricht, so als ob er uns persönlich kennen würde) in unserer Arbeit nichts anderes fänden als „sehr präzise Haarspaltereien“, die von „rein dialektischer Ordnung“ seien. Außerdem sieht er darin nur „Darstellungen, die zwar als nützliche Vorbereitung dienen können, aber in ihrer Methode und aus praktischer Sichtweise keinen Schritt über den Bereich des Wortes in Richtung des Universalen hinausgehen“. Wenn wir derartiges lesen, befürchten wir einmal mehr, dass unsere Zeitgenossen, die ja gewohnt sind, bei Äußerlichkeiten stehen zu bleiben, unsere Arbeiten ganz falsch interpretieren. Wenn sich schon beobachten lässt, dass sie traditionelle Autoritäten wie Shankarāchārya nicht verstehen, so überrascht es uns nicht, dass sie auch unsere Arbeit, die auf diesen Autoritäten beruht, nicht nachvollziehen können und die „Hülle“ für den „Kern“ halten. Wie dem auch sei, es würde uns interessieren, wie man eine Wahrheit welcher Ordnung auch immer ohne die Verwendung von Worten ausdrücken kann (abgesehen von rein bildlichen Symbolen, die wir hier nicht betrachten) und auch ohne sich dabei auf irgendeine „dialektische“ Form stützen zu müssen. Kurz gesagt: Dies sind doch die Voraussetzungen, die uns die menschliche Sprache auferlegt. Und es ist auch klar, dass jede Erklärung in Worten – sei sie nun schriftlich oder mündlich – nichts anderes und auch nicht mehr als eine „nützliche Vorbereitung“ sein kann. Mit dieser Erläuterung haben wir hoffentlich den vorbereitenden Charakter jeglichen theoretischen Wissens ausreichend klargestellt. Es handelt sich dabei auch um die einzige Art von Wissen, die durch das Studium derartiger auf Worten beruhender Erklärungen erlangt werden kann. Daraus darf man aber keinesfalls schließen, dass ein derartiges Wissen für all jene verzichtbar ist, die über diese Grenzen hinausgehen wollen. Und um jegliches Missverständnis zu vermeiden, möchten wir gleich noch anfügen, dass wir nie die Absicht hatten, etwas über unsere „innere Erfahrung“ noch über die von irgendjemand anderem zu sagen, da dies für niemandem von Interesse ist, zumal es sich dabei aufgrund der Natur der Sache immer um etwas handelt, das sich nicht mitteilen lässt. Auch in diesem Punkt scheint uns der Autor dieses Artikels völlig falsch verstanden zu haben, wenn er dafür eine Passage aus unserer Studie Einblicke in die Initiation anführt.

Im Grunde scheint Scaligero noch nicht einmal nachvollziehen zu können, was wir unter dem Begriff „metaphysisch“ verstehen und noch weniger, was wir mit „reiner Geistigkeit“ meinen, deren transzendenten Charakter er am liebsten völlig abstreiten würde. Damit offenbart er, dass auch er dem allgemeinen Missverständnis zwischen Geist und Vernunft aufsitzt, was ein Fehler ist, der durchaus in Bezug zu jenem anderen steht, den er in Verbindung mit der Rolle der „Dialektik“ in unseren Arbeiten begeht (und den er bei anderen Arbeiten aus diesem Bereich ebenfalls machen würde). Dies wird deutlich, wenn er mit einer Gewissheit behauptet, die aufgrund seines Unverständnisses nicht rechtfertigbar ist, dass die „letztendliche Bedeutung unserer Arbeit“ in einer „geistigen Transparenz liegt, die als solche nicht anerkannt ist und sich noch immer in den Grenzen des ‚Menschlichen’ befindet, was sich daran erkennen lässt, dass diese Transparenz als Initiation verstanden wird.“ Im Angesicht solcher Behauptungen müssen wir erneut mit allem Nachdruck wiederholen, dass es keinerlei Unterschied zwischen reiner und transzendenter geistiger Erkenntnis gibt (zu der die auf dem Verstand beruhende Erkenntnis im Gegensatz steht, da sie sich auf das „Mentale“ und „Menschliche“ stützt). Beide beziehen sich auf die tatsächliche initiatische Verwirklichung und nicht nur auf die rein theoretische metaphysische Erkenntnis und entsprechen somit der wahren Geistigkeit.

Dies erklärt auch, warum es Scaligero als notwendig erachtet hat, sich über unsere „Vorstellungen“ und „Meinungen“ auszulassen, also über etwas, das streng genommen gar nicht existiert oder zumindest im Rahmen unserer Arbeit nicht weiter zählen sollte, da wir versucht haben, nichts davon in unsere Arbeit einfließen zu lassen. In ihr beziehen wir uns ausschließlich auf die Auslegung traditioneller Überlieferungen, so dass nur die sprachliche Ausdrucksweise auf uns zurückgeführt werden kann. Diese Überlieferungen sind aufgrund ihres traditionellen Charakters auch nicht das Ergebnis irgendwelcher individueller „Ideen“, da gerade der zugrundeliegende traditionelle Charakter von einem über-individuellen und „nicht-menschlichen“ Ursprung zeugt. So zeigt sich der Fehlschluss Scaligeros am deutlichsten, wenn er behauptet, dass wir die Vorstellung über das Unbegrenzte „geistig in uns vereint“ hätten, was schlicht unmöglich ist. Wir haben sie in keiner Weise „vereint“, da diese Vorstellung (und dieses Wort lässt sich in diesem Zusammenhang nur dann anwenden, wenn es von der rein psychologischen Bedeutung befreit wird, die ihm zugeschrieben wird) lediglich durch eine unmittelbare Eingebung direkt erfasst werden kann, die dem Bereich der reinen Geistigkeit entspringt. Alles, was man über die wahre Unbegrenztheit sagen kann, sind nur Hilfsmittel, die dafür gedacht sind, jene auf diese Eingebung vorzubereiten, die dafür geeignet sind. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass man durch diese Mittel kein Ergebnis erzielen wird, solange man dem „Denken“ verhaftet bleibt, so wie der, der über die Beweise für die Existenz Gottes nachdenkt, auch keine tatsächliche Erkenntnis über das Göttliche erlangen wird. „Vorstellungen“, „Meinungen“ und noch viel mehr „Abstraktionen“ interessieren uns nicht im Geringsten (und darin beziehen wir all jene mit ein, die wie wir eine streng traditionelle Sichtweise einnehmen). Derartige geistige Übungen überlassen wir lieber Philosophen und anderen „Denkern“.3 Wenn man allerdings Dinge aus einer völlig anderen Ordnung erklären möchte und dies in einer westlichen Sprache tun muss, wüssten wir nicht, wie man Worte vermeiden sollte, die auch dafür benutzt werden, Dinge und Vorstellungen im alltäglichen Sprachgebrauch auszudrücken. Es gibt schlicht und einfach keine Alternative dazu.4 Wir können auch nichts tun, wenn manche unfähig sind, die in diesem Fall notwendige Übertragung zu verstehen, um zu deren „höchsten Bedeutungen“ zu gelangen. Und der Versuch, in unserer Arbeit die „Grenzen unserer eigenen Erkenntnis“ entdecken zu wollen, ist reine Zeitverschwendung, da dies einerseits nichts miteinander zu tun hat und andererseits unsere Erklärungen aufgrund der Tatsache, dass sie sich ausschließlich auf Wahrheiten einer traditionellen Ordnung beziehen, völlig ohne persönlichen Bezug sind. Und wenn wir dieses Merkmal in unseren Arbeiten nicht so klar ins Licht rücken konnten, so liegt dies hauptsächlich an den Schwierigkeiten, die durch die uns zur Verfügung stehenden sprachlichen Ausdrücke hervorgerufen werden.5 Solche Vorwürfe erinnern uns stark an jene, die annehmen, dass jeder, der absichtlich nicht über ein bestimmtes Thema spricht, als jemand angesehen werden muss, der entweder davon nichts weiß oder es nicht versteht.

Betrachten wir nun den Ausdruck „esoterische Dialektik“. Er ist nur angemessen, wenn man damit die Dialektik im Dienste der Esoterik versteht, also die äußeren Mittel, die dazu benutzt werden, das auszudrücken, was sich in Worten ausdrücken lässt. Dabei muss man jedoch immer die Einschränkung machen, dass ein solcher Ausdruck insbesondere in der metaphysischen Ordnung nie völlig zutreffend sein kann, da er ja in „menschlichen“ Begriffen formuliert ist. Dialektik ist letztlich nichts anderes als die Verwendung oder die praktische Anwendung der Logik.6 In dem Moment, in dem man etwas sagt, muss es sich den Gesetzen der Logik anpassen. Dies bedeutet aber sicher nicht, dass die Vorstellungen, die damit ausgedrückt werden, in sich von diesen Gesetzen abhängen. Wenn ein Kunsthandwerker einen Entwurf eines dreidimensionalen Objektes auf eine zweidimensionale Oberfläche malt, bedeutet dies noch lange nicht, dass er sich der Existenz einer dritten Dimension nicht bewusst ist. Die Logik beherrscht natürlich alles, was sich zum Bereich der Vernunft zählen lässt. So befindet sich alles aus dem über-individuellen und damit über der Vernunft liegenden Bereich aufgrund dieser Tatsache außerhalb ihrer Reichweite, da das Höhere dem Niederen nicht untergeordnet sein kann. Bei Wahrheiten aus dieser Ordnung spielt die Logik nur eine untergeordnete Rolle und wenn deren Ausdruck auf diskursive oder dialektische Weise erfolgt, so ist dies eine Art „Abstieg“ in den individuellen Bereich, ohne den eine Weitergabe dieser Wahrheiten jedoch völlig unmöglich wäre.7

Mit einer erstaunlichen Inkonsistenz, die sich hauptsächlich auf sein fehlendes Verständnisvermögen zurückführen lässt, kritisiert uns Scaligero einerseits, dass wir auf der „geistigen“ Ebene stehen blieben, ohne sie tatsächlich zu verwirklichen und andererseits fällt es ihm negativ auf, dass wir von einem „Verzicht des Mentalen“ sprechen. Was er zu diesem Thema sagt, ist sehr verwirrend, aber im Grunde scheint er nicht zulassen zu wollen, dass man sich selbst über die Grenzen der Individualität erheben kann. In der Verwirklichung sieht er nicht mehr als eine Art von „Ekstase“, die diese Grenzen überwindet. Er behauptet sogar, dass das „Individuum durch sich selbst seine ursprüngliche Quelle entdecken kann“, was aber unmöglich ist, da das Individuum als solches sich selbst nicht hinter sich lassen kann, wenn es nur auf seine eigenen Mittel angewiesen ist. Wenn es sich aber bei dieser „Quelle“ nur um etwas aus der individuellen Ordnung handelt, ist es etwas sehr Relatives. Sollte das Sein, das ein menschliches Individuum ist, nichts mehr als ein Sein in einem bestimmten Manifestationszustand sein, hätte es keine Möglichkeit, sich von den Bedingungen zu lösen, die in diesem Zustand herrschen. Solange sich das Sein davon noch nicht gelöst hat, kann alles, was dieses Sein befähigt, über diese Bedingungen hinauszugehen, nur „äußerlich“ von ihm sein.8 Es hat noch nicht den Bewusstseinsgrad erreicht, an dem eine Unterscheidung wie „innerlich“ und „äußerlich“ aufhört gültig zu sein. Jede Vorstellung, die diese unanfechtbaren Wahrheiten in Zweifel zieht, ist dem modernen Individualismus entsprungen, was auch immer sich die Leute für Illusionen machen, die ihnen anhängen.9 Daher ist in derartigen Schlussfolgerungen nichts anderes zu sehen als die Ablehnung von Tradition und Initiation unter dem Vorwand, jeglichen Rückgriff auf „äußerliche“ Mittel der Verwirklichung vermeiden zu wollen.

Nun müssen wir noch das Fazit von Scaligero untersuchen. Dabei gibt es eine Textstelle, die wir in ihrer vollen Länge zitieren möchten:

Im Inneren des modernen Menschen gibt es einen Bruch, der aus der Tradition etwas macht, was wie eine „äußere“ Sammlung von Lehren und Riten aussieht und nicht wie der über-menschliche Strom des Lebens, in den er sich hineinstürzen kann, um von Neuem zu leben. So sitzt der moderne Mensch dem Fehler auf, dass die transzendente Welt von der der Sinne getrennt sei und er die letztere als dem Göttlichen entzogen empfindet. Daher kann eine Wiedervereinigung oder Zusammenführung dieser beiden Welten nicht durch eine initiatische Form erfolgen, die bereits vor der Zeit wirksam war, in der dieses Missverständnis sich etabliert hat.

Dazu lässt sich sagen, dass es sich bei diesem „Missverständnis“ tatsächlich um einen sehr schwerwiegenden Fehler handelt. Es stellt im Prinzip die Grundlage der weltlichen Sichtweise dar und ist so charakteristisch für den modernen Geist, dass es mit diesem untrennbar verbunden ist. Dies geht sogar so weit, dass jene, die dieses „Missverständnis“ verinnerlicht haben, sich nicht mehr davon befreien können. Aus initiatischer Sichtweise ist dieser Fehler damit ein nicht zu überwindender Mangel, durch den der moderne Mensch nicht dazu geeignet ist, eine Initiation zu empfangen. Aber wir möchten anfügen, dass es Ausnahmen gibt, denn all dem zum Trotz kann man auch im Westen auf Menschen treffen, die durch ihre innere „Verfassung“ keine „modernen Menschen“ sind und das Wesen der Tradition aufnehmen können, so dass sie dieses Missverständnis der weltlichen Sichtweise nicht als Tatsache hinnehmen. Und an diesen Personenkreis haben wir uns mit unseren Arbeiten immer gewandt. Aber dem ist nicht genug, denn Scaligero widerspricht sich in seinen weiteren Ausführungen selbst, indem er das als „Fortschritt“ darstellt, was er zuerst als Fehler gebrandmarkt hat. Auch hier möchten wir wieder seine eigenen Worte zitieren:

Wenn man die Menschen mit dem Trugbild der Tradition und einer orthodoxen Organisation, die die Initiation übertragen soll, hypnotisiert, lähmt man in Wahrheit die Möglichkeit der Befreiung und die Suche nach der Freiheit. Sie ist für den Menschen der Moderne gerade in der Tatsache zu finden, dass er den höchsten Grad an Wissen erlangt hat und dass er sich ein Bewusstsein erschaffen hat, in dem sogar die Götter, Orakel, Mythen und initiatischen Übertragungen überflüssig sind.

Damit verkennt Scaligero vollkommen die wahre Situation der heutigen Welt, da die Menschen noch nie so weit vom „höchsten Grad des Wissens“ entfernt waren wie in unserer Zeit. Wenn die Menschen also einen Punkt erreicht haben, an dem all diese Dinge keine Wirkung mehr auf sie haben, so liegt dies nicht daran, dass sie so hoch aufgestiegen sind, sondern im Gegenteil daran, dass sie so tief gefallen sind. Daher kommt es auch, dass viele mehr oder weniger grobe Fälschungen dieser Dinge dazu führen, die modernen Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es wird in Bezug auf das Individuum heutzutage viel über „Unabhängigkeit“ und die „Suche nach Freiheit“ gesprochen. Dabei wird aber vergessen – oder es ist völlig unbekannt – dass die wahre Freiheit nur durch ein Loslösen von den Grenzen erreicht werden kann, die den individuellen Bedingungen innewohnen. Man möchte von einer rechtmäßigen initiatischen Übertragung oder von orthodoxen traditionellen Organisationen nichts mehr hören. Dies gleicht einem Ertrinkenden, der die Hilfe eines Retters ablehnt, weil sie ihm von außen gereicht wird. Ob uns die Wahrheit nun zusagt oder nicht, ohne die Anbindung an eine traditionelle Organisation gibt es keine Initiation und ohne eine Initiation ist eine metaphysische Verwirklichung nicht möglich. Es handelt sich dabei weder um Trugbilder noch um „an den Haaren herbeigezogene Gedankenspiele“ sondern um Tatsachen. Scaligero würde uns nun sicher entgegenhalten, dass alles, was wir hier sagen, im „Bereich der Wörter“ liege. Dies ist aber der Natur der Dinge geschuldet, so dass wir diesem Einwand recht geben müssen, wobei wir einen wesentlichen Unterschied hervorheben möchten: Seine Worte zeigen für den, der die „letztendliche Bedeutung“ versteht, nichts anderes als die geistige Haltung einer im Weltlichen verhafteten Person, selbst wenn er über sich vom Gegenteil überzeugt ist. Diese Aussage sollte allerdings nicht als Herabwürdigung aufgefasst werden, da es sich dabei nur um den „technischen Ausdruck“ einer einfach verständlichen Tatsache handelt.

2 Es handelt sich dabei um Esoterismo moderno: l’opera e il pensiero de René Guénon von Massimo Scaligero, der in der ersten Ausgabe des neuen italienischen Journals IMPERIUM (Mai 1950) erschienen ist. Der Ausdruck „moderne Esoterik“, der im Titel verwendet wird, ist bereits als solcher auffallend, da er ein Ausdruck ist, der sich selbst widerspricht. Außerdem gibt es nichts „Modernes“ in unserer Arbeit, da sie genau das Gegenteil zum modernen Geist darstellen soll.

3 Das Vorbild aller „Denker“ in diesem Sinne ist aus unserer Sicht Descartes. Wer nur ein derartiger „Denker“ und nichts anderes ist, wird unweigerlich auch zu einem „Rationalisten“, da er nicht dazu in der Lage ist, die Ausübung rein individueller und menschlicher Vermögen hinter sich zu lassen, so dass er sich dessen nicht bewusst werden kann, was jenseits ihres Bereiches liegt. Dies bedeutet, dass er zu allem, was dem metaphysischen und transzendenten Bereich angehört, nur eine „agnostische“ Haltung einnehmen kann.

4 Dies bezieht sich natürlich nicht auf jene Wörter, die der traditionellen Fachsprache entstammen. Allerdings muss bei ihnen zuerst ihre ursprüngliche Bedeutung wiederhergestellt werden.

5 In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass wir es immer bedauert haben, dass es die Umstände unserer Zeit nicht zugelassen haben, unsere Arbeiten völlig anonym zu veröffentlichen. Dies hätte zumindest verhindert, dass so viel Unsinn über persönliche Züge in unsere Arbeit hinein interpretiert worden wäre und uns den Ärger erspart, sich damit zu beschäftigen zu müssen.

6 Wir verstehen „Dialektik“ natürlich im ursprünglichen Sinne des Wortes, so wie es bei Platon und Aristoteles definiert war – und zwar ohne die speziellen Bedeutungen, die ihr heutzutage zugeschrieben werden und die mehr oder minder direkt aus Hegels Philosophie abgeleitet sind.

7 In diesem Zusammenhang müssen wir den Vorwurf des Autors des besagten Artikels ansprechen, dass wir „die Transzendenz und die so genannte äußere Wirklichkeit als voneinander getrennt“ darstellen würden. Wenn er wüsste, was wir über die „absteigende Verwirklichung“ gesagt haben, hätte er sicherlich auf diese Kritik verzichtet. Dies ändert jedoch nicht die Tatsache, dass diese Trennung „in ihrer eigenen Ordnung“ tatsächlich existiert, die die der bedingten Existenz ist. Sie hört nur für den auf zu existieren, der über das Dasein hinausgegangen ist und sich von dessen einschränkenden Bedingungen befreit hat. Was also auch immer der Autor denken mag, es ist immer wichtig, jeder Sache den ihr gerechten Platz zuzuordnen und ihr auch den richtigen Grad der Wirklichkeit zuzuweisen – und dabei geht es sicherlich nicht um Unterscheidungen, die sich aus „rein dialektischer Ordnung“ ergeben.

8 Dies trifft dann zu, wenn das Sein dem Anschein nach ein Individuum ist. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass für dessen derzeitiges Bewusstsein dieser Anschein mit der Wirklichkeit vermengt ist, da dies alles ist, was das Sein davon wahrnehmen kann. Daher muss die Initiation den Anwärter in dem Zustand annehmen, in dem er sich derzeit befindet, um ihm die Mittel zu geben, sich über diesen zu erheben. Dies ist der Grund, warum solche Mittel auf den ersten Blick als „äußerlich“ erscheinen.

9 Heutzutage glauben viele Leute von sich selbst, dass sie „anti-modern“ seien. In Wahrheit sind sie jedoch sehr stark vom „Geist der Moderne“ beeinflusst, was eines der vielen Beispiele für die Verwirrung ist, die heutzutage überall herrscht.

3. Das Gebrechen der Angst