Traditionelle Symbolik - René Guénon - E-Book

Traditionelle Symbolik E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Der Band "Traditionelle Symbolik" vereint Untersuchungen, die René Guénon zwischen 1926 und 1950 in verschiedenen französischen Zeitschriften zum Thema der traditionellen Symbolik veröffentlicht hat. Ihnen gemeinsam ist der Versuch, dem Leser verschiedene Aspekte jener Symbolik näher zu bringen, die über den weltlichen oder religiösen Bereich hinausgeht. So ist das Kennzeichen dessen, was man als traditionelle Symbolik bezeichnet, die ihren Symbolen innewohnende metaphysische Bedeutung. Durch sie wird ihre direkte Verbundenheit mit den höchsten geistigen Wahrheiten deutlich, von denen sich diese Symbole ableiten. Sie vermitteln dem, der über die notwendigen Vorkenntnisse und die geeigneten geistigen Fähigkeiten verfügt, einen Eindruck des "Unausdrückbaren" oder des höchsten metaphysischen Prinzips. Diese höchste Bedeutung der Symbolik ist heutzutage jedoch im Westen weitgehend verloren gegangen. Guénons Untersuchungen sind daher ein wertvoller Beitrag, dieses Wissen, das früher in der traditionellen Wissenschaft und Symbolik noch präsent war, in unserer Zeit wiederzubeleben. Mit der Veröffentlichung der vorliegenden Sammlung über "Traditionelle Symbolik" steht ein profundes Werk über verschiedenste Arten und Aspekte der Symbolik zur Verfügung, dessen breites Themenspektrum in heutiger Zeit seinesgleichen sucht. Auch jene Leser, die sich bereits eingehender mit den Studien Guénons beschäftigt haben, werden hier eine Fülle neuer und vertiefender Informationen zur vielfältigen und komplexen Bedeutung der Symbolik und ihrer Verbindung zur Metaphysik finden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Seitenzahl: 722

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Französische Originalausgabe:

SYMBOLES FONDAMENTAUX DE LA SCIENCE SACREE

© Éditions Gallimard 1962

Deutsche Ausgabe:

BAND 14: TRADITIONELLE SYMBOLIK

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Anmerkungen zur Übersetzung

Um Doppelungen zu vermeiden, wurde die vorliegende deutsche Übersetzung um die Kapitel Das Heilige Herz & die Legenden des Heiligen Grals (in der französischen Ausgabe Kapitel 3), Der Heilige Gral (Kapitel 4) und Die Wächter des Heiligen Landes (Kapitel 11) gekürzt. Alle drei Kapitel sind ebenfalls in der Studie APERÇUS SUR L’ÉSOTERISME CHRETIEN enthalten, die in der deutschen Ausgabe den Teil 2 der Sammlung ASPEKTE DER CHRISTLICHEN ESOTERIK bildet. Dort sind sie als Kapitel 9, 8 und 3 zu finden.

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

TEIL 1: TRADITIONELLE SYMBOLIK UND IHRE ALLGEMEINE ANWENDUNG

1. DIE WANDLUNG DER MODERNEN GEISTESHALTUNG

2. WORT UND SYMBOL

3. DIE TRADITION UND DAS „UNBEWUSSTE“

4. DIE WISSENSCHAFT DER BUCHSTABEN

5. DIE SPRACHE DER VÖGEL

TEIL 2: SYMBOLE DES ZENTRUMS UND DER WELT

6. DIE BEDEUTUNG DES ZENTRUMS IN ANTIKEN TRADITIONEN

7. DIE SYMBOLIK DER BLUMEN

8. DER DREIGETEILTE TEMPELBEZIRK DER DRUIDEN

9. DAS LAND DER SONNE

10. DER TIERKREIS UND DIE HIMMELSRICHTUNGEN

11. DER TETRAKTYS UND DAS QUADRAT DER VIER

12. EIN ZEICHEN FÜR DEN POL

13. DIE „SCHWARZEN KÖPFE“

14. DER BUCHSTABE „G“ UND DIE SWASTIKA

TEIL 3: SYMBOLE DER ZYKLISCHEN MANIFESTATION

15. DIE SYMBOLIK DES JANUS

16. DAS ZEICHEN DES KREBSES

17. SETH

18. DIE BEDEUTUNG DES KARNEVALS

19. DIE SYMBOLIK DES FISCHES

20. DIE BEDEUTUNGEN DES BUCHSTABENS NŪN

21. DER EBER UND DER BÄR

TEIL 4: SYMBOLISCHE WAFFEN

22. DER DONNERKEIL

23. VERSCHIEDENE SYMBOLISCHE WAFFEN

24. DAS SCHWERT DES ISLAM (SAYF AL-ISLĀM

)

25. DIE SYMBOLIK VON HÖRNERN

TEIL 5: DIE SYMBOLIK KOSMISCHER FORMEN

26. DIE HÖHLE UND DAS LABYRINTH

27. DAS HERZ UND DIE HÖHLE

28. DER BERG UND DIE HÖHLE

29. DAS HERZ UND DAS WELTEN-EI

30. DIE HÖHLE UND DAS WELTEN-EI

31. DER AUSGANG AUS DER HÖHLE

32. DIE TORE DER SONNENWENDE

33. DIE SYMBOLIK DES TIERKREISES BEI DEN PYTHAGORÄERN

34. DIE SYMBOLIK DER SONNENWENDEN IN BEZUG AUF JANUS

35. ASPEKTE DER SYMBOLIK VON JOHANNES DEM EVANGELISTEN UND JOHANNES DEM TÄUFER

TEIL 6: DIE SYMBOLIK DES BAUENS

36. DIE SYMBOLIK DER KUPPEL

37. DIE KUPPEL UND DAS RAD

38. DAS ENGE TOR

39. DAS OKTAGON

40. DER SCHLUSSSTEIN

41. LAPSIT EXILLIS

42. AL-ARKĀN

43. „SAMMELN, WAS ZERSTREUT IST“

44. DAS SCHWARZE UND DAS WEIßE

45. DER SCHWARZE UND DER WÜRFELFÖRMIGE STEIN

46. DER UNBEHAUENE UND DER BEHAUENE STEIN

TEIL 7: SYMBOLE DER ACHSE UND DES ÜBERGANGS

47. SYMBOLE DER ANALOGIE

48. DER WELTENBAUM

49. DER BAUM UND DER VAJRA

50. DER BAUM DES LEBENS UND DER TAU DER UNSTERBLICHKEIT

51. DIE SYMBOLIK DER LEITER

52. DAS NADELÖHR

53. DAS ÜBERQUEREN DES WASSERS

54. DIE SIEBEN STRAHLEN UND DER REGENBOGEN

55. JANUA COELI

56. KĀLA-MUKHA

57. LICHT UND REGEN

58. DIE VERKETTUNG DER WELTEN

59. DIE WURZEL DER PFLANZEN

60. DIE SYMBOLIK DER BRÜCKE

61. DIE BRÜCKE UND DER REGENBOGEN

62. DIE KETTE DER EINHEIT

63. DAS LABYRINTH UND DER RAHMEN ALS SYMBOLE

64. DAS „ZEICHEN DER VIER“

65. DIE SYMBOLIK VON BÄNDERN UND KNOTEN

TEIL 8: DIE SYMBOLIK DES HERZENS

66. DAS STRAHLENDE UND DAS FLAMMENDE HERZ

67. DIE SYMBOLIK DES HERZENS UND DES GEHIRNS

68. DIE SPEZIELLE SYMBOLIK EINER AMERIKANISCHEN GEHEIMGESELLSCHAFT

69. DAS SYMBOL DES „ALLES-SEHENDEN AUGES“

70. DAS SENFKORN

71. DER ÄTHER IM HERZEN

72. DIE GÖTTLICHE STADT

QUELLEN

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Der erst nach René Guénons Tod erschienene Band Symboles fondamentaux de la Science sacrée (in der deutschen Ausgabe Traditionelle Symbolik) enthält eine Vielzahl an Artikeln, die zwischen 1926 und 1950 in den französischen Zeitschriften Regnabit, Le Voile d’Isis, Études Traditionelles und Cahiers du Sud erschienen sind. Die lange Zeitspanne und die unterschiedlichen Quellen, innerhalb derer diese Artikel veröffentlicht wurden, machen deutlich, dass es sich dabei um voneinander unabhängige und in sich mehr oder weniger abgeschlossene Untersuchungen handelt. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch der Versuch, dem Leser verschiedene Aspekte der traditionellen Symbolik näher zu bringen. Ihr Anwendungsbereich ist im Gegensatz zur Symbolik, die uns in heutiger Zeit umgibt, nicht auf den weltlichen oder religiösen Bereich beschränkt, sondern geht darüber hinaus. So ist das Kennzeichen dessen, was man als traditionelle Symbolik bezeichnet, die ihren Symbolen innewohnende metaphysische Bedeutung. Durch sie wird ihre direkte Verbundenheit mit den höchsten geistigen Wahrheiten deutlich, von denen sie sich ableiten.

Wie bei allem, was dem metaphysischen Bereich zugerechnet wird, ist ein vollständiges Verständnis im Sinne einer wahren Erkenntnis aus einer bedingten Sichtweise wie der des Menschen nur schwer zu erlangen. Sie wird nur dem gelingen, der über ein entsprechendes Vorwissen verfügt. Eine unabdingbare Hilfe dabei stellen die traditionellen Wissenschaften dar. Über die von ihnen verwendeten Symbole lässt sich mit den geeigneten geistigen Fähigkeiten ein Eindruck des „Unausdrückbaren“ oder des höchsten metaphysischen Prinzips erlangen. Doch die nach tieferen Zusammenhängen suchenden traditionellen Wissenschaften, die im Westen noch im Mittelalter verbreitet waren, wurden immer weiter von der rein auf praktische Anwendungen ausgerichteten modernen Wissenschaft verdrängt. In gleichem Maße ging auch das Wissen um die tiefere Bedeutung der Symbole verloren, so dass die moderne Welt sich selbst ihres Schlüssels beraubt hat, der ihr den Zugang zu den höheren Wahrheiten gewähren würde.

René Guénons herausragender Verdienst war sein Einsatz, über seine Studien diesem zunehmenden geistigen Verlust und dem einhergehenden Verfall in der modernen Gesellschaft entgegenzuwirken. Viele seiner Veröffentlichungen greifen direkt auf dieses verlorene und nur noch im Verborgenen existierende Wissen zurück, das früher in der traditionellen Wissenschaft und Symbolik noch präsent war. So sind auch die Artikel, die im vorliegenden Band zusammengefasst sind, als Versuch zu werten, traditionelles Wissen in unserer Zeit wiederzubeleben. Da es sich um Einzelveröffentlichungen handelt, fehlt natürlich der inhaltliche „rote Faden“ und gewisse Wiederholungen sind unabdingbar. Auch wäre es sicher wünschenswert, wenn zum besseren Verständnis der eine oder andere Aspekt tiefergehender und ausführlicher behandelt worden wäre. Hier können jedoch die zahlreichen Querverweise auf andere Studien Guénons bis zu einem gewissen Maße Abhilfe schaffen. Doch all diesen Einschränkungen zum Trotz steht mit der Veröffentlichung der Sammlung über die Traditionelle Symbolik ein profundes Werk über verschiedenste Arten und Aspekte der Symbolik zur Verfügung, dessen breites Themenspektrum in heutiger Zeit seinesgleichen sucht. Auch jene Leser, die sich bereits eingehender mit den Studien Guénons beschäftigt haben, werden hier eine Fülle neuer und vertiefender Informationen zur vielfältigen und komplexen Bedeutung der Symbolik finden. Nur wer die wahren Zusammenhänge zwischen den Welten erkennt, kann seinen geistigen Blick schärfen und auf dem Pfad der Erkenntnis voranschreiten. All jenen, die diesen Weg eingeschlagen haben, sei daher die aufmerksame Lektüre dieses Buches ans Herz gelegt.

I. Steinke

München, im Juni 2022

Teil 1: Traditionelle Symbolik und ihre allgemeine Anwendung

1. Die Wandlung der modernen Geisteshaltung

Die moderne westliche Zivilisation stellt in der Geschichte der Menschheit eine einzigartige Missbildung dar: Von allen bekannten Zivilisationen ist sie die Einzige, die sich in eine rein materielle Richtung entwickelt hat und nicht auf Prinzipien aus einer höheren Ordnung beruht. Diese auf das Materielle bezogene Entwicklung, die nun schon seit einigen Jahrhunderten anhält und sich mit zunehmender Geschwindigkeit fortsetzt, wird zudem noch durch einen geistigen Rückschritt begünstigt. Ihm steht kein Ausgleich auf geistiger Ebene gegenüber, also eine wahre und reine Geistigkeit und nicht das, was die modernen Menschen heute darunter verstehen. Ihr Streben dient rein einer auf Experimenten beruhenden Wissenschaft, deren Ergebnisse sie in materielle Anwendungen überführen. Zur Verdeutlichung dieser geistigen Rückentwicklung ist es ausreichend, sich vor Augen zu führen, dass die Summa Theologica von Thomas von Aquin zu seiner Zeit eine Pflichtlektüre für Studenten war, in heutiger Zeit jedoch kaum noch jemand dieses Werk kennt oder gar versteht.

Der geistige Verfall fand nicht plötzlich und in einer Stufe statt. Man kann seine Zwischenschritte gut verfolgen, wenn man die moderne Philosophie studiert. Der Verlust – oder anders ausgedrückt das Vergessen – der wahren Geistigkeit führte zu zwei Fehlern, die auf den ersten Blick gegensätzlich sind, sich in Wahrheit aber ergänzen und voneinander abhängig sind: Wir sprechen hier einerseits vom Rationalismus und andererseits von der Neigung, alles auf Gefühle zu beziehen. Seit nach Descartes das rein geistige Wissen verleugnet und ignoriert wurde, begann die Zeit des Positivismus und des Agnostizismus mit all den damit verbundenen „wissenschaftlichen“ Abweichungen auf der einen Seite und den zeitgenössischen Theorien auf der anderen. Wer nicht mit dem zufrieden war, was die Vernunft erzeugen konnte, richtete sich auf etwas, das sich auf die Gefühle und Instinkte bezog. Dabei befindet man sich jedoch unterhalb der Vernunft und keineswegs über ihr, wie es bei der wahren Geistigkeit der Fall ist. Aber auch hier gibt es Autoren, die vom Gegenteil überzeugt sind: So kommt beispielsweise William James zum Schluss, dass man das Unterbewusste als Mittel benutzen könne, um mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten. Damit wird aber letztlich die Wahrheit auf die Erklärung der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit reduziert und so zu einem Pragmatismus, der zu ihrer Unterdrückung insgesamt führt. Man muss sich fragen, welche Bedeutung die Wahrheit noch in einer Welt haben kann, deren alleiniger Antrieb ausschließlich materiell und gefühlsbedingt ist.

Es ist uns hier nicht möglich, alle Folgen dieser Entwicklung aufzuzeigen. Wir möchten uns daher auf jene beschränken, die sich speziell auf die religiöse Sichtweise beziehen. Der Abscheu und der Widerwille, den andere Völker – und zwar speziell die des Ostens – gegenüber dem Westen empfinden, lässt sich hauptsächlich auf die Tatsache zurückführen, dass in ihren Augen die westliche Welt nicht auf einer Tradition und Religion aufbaut, was für sie etwas ist, das nicht sein darf. Für einen Menschen, der einer östlichen Tradition angehört, ist es kaum nachvollziehbar, dass eine gesellschaftliche Organisation nicht auf traditionellen Prinzipien beruht. Jegliche Gesetzgebung, die innerhalb der Gesellschaft gilt, ist beispielsweise für einen Muslim lediglich eine Ableitung aus der ihr übergeordneten Religion. Genauso verhielt es sich früher im Westen, wenn man sich vor Augen führt, welche Stellung das Christentum im Mittelalter noch hatte. Heute sind die Verhältnisse jedoch gerade umgekehrt. Die Religion wird lediglich als eine Erscheinungsform unter vielen anderen innerhalb der Gesellschaft gesehen. Die gesamte Gesellschaftsordnung ist nicht mehr der Religion verbunden, sondern die Religion wird – wo sie überhaupt noch anzutreffen ist –, als eines der vielen unterschiedlichen Elemente angesehen, aus denen die Gesellschaft zusammengesetzt ist. Und erstaunlicherweise akzeptieren auch viele Katholiken diese Sichtweise ohne jeglichen Vorbehalt. Es ist daher absolut notwendig, dass wir auf diesen Missstand immer wieder aufmerksam machen, zumal die von der Kirche oft genannte Bestätigung der „Herrschaft Christi“ über die gesamte Gesellschaft ein gutes Beispiel für leere Worte ohne Inhalt ist. Um diese Herrschaft tatsächlich in die Tat umzusetzen, muss zuerst die heutige Geisteshaltung einer Wandlung unterliegen.

Wir möchten auch nicht unerwähnt lassen, dass selbst jene, die sich ernsthaft als religiös betrachten, meist eine verschwommene Vorstellung über ihre Religion haben. Sie hat kaum einen tatsächlich wirksamen Einfluss auf ihre Gedanken und Handlungen und ist als solche vom Rest ihres Lebens getrennt. Im täglichen Leben trifft man somit auf keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Für viele Katholiken ist der Glaube an das, was über der Natur liegt, nur etwas von rein theoretischem Wert. Sie wären wahrscheinlich verlegen, wenn sie ein Wunder erleben würden und es anschließend bezeugen müssten. Eine derartige Haltung kann man als „praktischen Materialismus“ oder einen „Materialismus der Tatsachen“ bezeichnen. Dabei stellt sich die Frage, ob dies nicht weitaus gefährlicher ist als ein offen zur Schau gestellter Materialismus, da jene, über die man dies sagen kann, sich seiner Auswirkungen gar nicht bewusst sind.

Für die meisten Menschen stellt sich die Religion heute nur noch als etwas dar, dem sie aus gewissen unbestimmten Gefühlen heraus verpflichtet sind, ohne dass sich dadurch jedoch Auswirkungen auf ihr geistiges Verhalten ergeben. Sie verwechseln Religion mit einer vagen Religiosität und reduzieren sie damit auf moralische Vorschriften. Die geistige Lehre, die sich auf das Wesentliche bezieht, wird unter diesen Umständen abgeschwächt, obwohl sich doch in Wahrheit alles von dieser Lehre ableitet. In dieser Hinsicht stellt der Protestantismus ein typisches Beispiel für den modernen Geist dar, da er nicht mehr als eine Art von „Moralismus“ ist, hinter dem nichts zu finden ist, das tiefer geht. Es wäre aber falsch zu denken, dass der Katholizismus frei von diesen Neigungen sei. Zwar betreffen sie nicht sein Prinzip, aber so wie er sich heutzutage nach außen gibt, lassen sich auch in ihm deutliche Spuren davon finden: Unter dem Vorwand, ihn der modernen Geisteshaltung zugänglicher zu machen, werden bedauerliche Zugeständnisse eingegangen, die genau das zulassen, was eigentlich mit voller Kraft bekämpft werden müsste. Wir möchten hier jedoch nicht weiter auf die Blindheit derer eingehen, die unter dem Deckmantel einer „Toleranz“ unfreiwillig zu Komplizen einer Verfälschung der Religion werden, ohne dass sie die damit verbundenen verborgenen Absichten kennen. Nur der beklagenswerte Missbrauch des Wortes „Religion“ in Konstruktionen wie „Religion der Nation“, „Religion der Wissenschaft“ und „Religion der Pflicht“ sei kurz genannt. Diese Verwendungen sind nicht nur fahrlässig und mit dem wahren Sinn der Religion nicht vereinbar, sondern stehen ganz beispielhaft für die Verwirrung, auf die wir überall in der modernen Welt treffen können. Letztlich drückt die Sprache nur das aus, was mit der dahinter liegenden Geisteshaltung verbunden ist.

Wenden wir uns nun einem Punkt zu, der noch wichtiger ist. Es geht dabei um die Schwächung der geistigen Lehre als solcher. Vage moralische und gefühlsbezogene Überlegungen ersetzen sie in immer größerem Umfang und finden das Gefallen vieler Leute. Wer auf der Suche nach wahrer geistiger Eingebung ist, wird davon nur abgeschreckt. Es gibt mehr Menschen als man denkt, die diesen Verlust der Lehre beklagen und wir verstehen es als ein günstiges Zeichen, dass dieser Verlust heute von einer größeren Anzahl erkannt wird als noch vor einigen Jahren. Dabei ist es jedoch falsch, wenn man denkt, dass sowieso niemand in der Lage sei, die wahre geistige Lehre zu verstehen. Warum sollte man sich auf eine niederere Verständnisebene beschränken, nur weil man denkt, über diese Ebene eine möglichst große Anzahl an Menschen zu erreichen? Hat etwa die Quantität Vorzug vor der Qualität? Eine derartige Sichtweise beruht auf der demokratischen Anschauung, die ein charakteristischer Aspekt der modernen Geisteshaltung ist. Und weshalb ist man sich so sicher, dass die Menschen eine derartige Lehre nicht verstehen können, wenn sie entsprechend vorbereitet wären? Es ist eher anzunehmen, dass selbst für jene, die nichts verstehen würden, bereits diese Vorbereitungen von Vorteil wären.

Aber das schwerwiegendste Hindernis ist ohne Zweifel eine gewisse Art des Misstrauens gegenüber der reinen Geistigkeit, die in vielen katholischen Zirkeln vorherrscht – und zwar selbst unter den Geistlichen. Wir sprechen hier bewusst von einem schwerwiegenden Hindernis, da dieses Misstrauen ein Zeichen für ein Unverständnis ist, das selbst unter jenen anzutreffen ist, denen die Aufgabe zur Lehre obliegt. Sie sind vom modernen Geist bereits so weit durchdrungen, dass sie ähnlich wie die Philosophen nicht mehr wissen, was die wahre Geistigkeit überhaupt bedeutet. Sie begehen wie jene den Fehler, sie mit dem Rationalismus zu vermengen und helfen auf diese Weise sogar noch ihren Gegnern. Wir sind daher der festen Überzeugung, dass zuallererst die wahre Geistigkeit wiederhergestellt werden muss und mit ihr die reine Lehre und Tradition. Es ist an der Zeit, dass den Menschen wieder klar wird, dass in der Religion mehr als nur moralische Vorschriften oder Trost für leidende Seelen zu finden sind, sondern vielmehr die „feste Speise“ von der Paulus in seinem Brief an die Hebräer spricht.1

Dies hat natürlich zur Folge, dass man gegen gewisse festgefahrene Angewohnheiten vorgehen muss, die schwer zu überwinden sind. Es geht einerseits um die Rückkehr zur Tradition, von der man abgekommen ist, und andererseits um das Wiederentdecken dessen, was verschwunden ist. Was nicht weiter sein darf, sind die vielen unberechtigten Zugeständnisse, die dem modernen Geist entgegengebracht werden. Gerade in den Arbeiten der Apologetik wird oft versucht, die geistige Lehre mit hypothetischen und oftmals ungesicherten Ergebnissen der modernen Wissenschaft auszusöhnen. Aber sobald diese so genannten „wissenschaftlichen Theorien“ durch neue Erkenntnisse ersetzt werden, muss diese Arbeit von neuem begonnen werden. Andererseits wäre es dagegen einfach zu zeigen, dass Wissenschaft und Religion nicht in Gegensatz zueinanderstehen können, da sie sich ganz einfach auf unterschiedliche Bereiche beziehen. Es ist fahrlässig, eine Grundlage für die unveränderlichen und ewigen Wahrheiten gerade auf dem Feld der Wissenschaft zu suchen, das als solches höchst unsicher ist und starken Veränderungen unterliegt. Gleiches muss man auch jenen katholischen Theologen vorhalten, die vom wissenschaftlichen Geist so durchdrungen sind, dass sie sich mehr oder weniger verpflichtet fühlen, die Ergebnisse der modernen Bibelauslegung und der rein auf Texten basierenden Kritik anzuwenden, obwohl es mit selbst grundlegenden Kenntnissen der traditionellen Lehren einfacher wäre, ihre Nichtigkeit aufzuzeigen. Wie kann man nur übersehen, dass die so genannte „Religionswissenschaft“, die in den Universitäten unterrichtet wird, in Wahrheit nichts anderes als eine Waffe gegen die Religion selbst ist und allgemeiner gesehen gegen alles, was noch vom traditionellen Geist übrig ist? Durch diese Ansichten und den mit ihnen verbundenen Aktivitäten wird die moderne Welt immer weiter in eine Richtung geführt, die unvermeidlich in einer Katastrophe enden muss.

Man kann noch vieles mehr über dieses Thema sagen, aber wir wollten lediglich einige Aspekte ansprechen, die unserer Ansicht nach eines Wandels dringend bedürfen. Wir möchten dieses Kapitel nun mit einer Frage abschließen, die für die vorliegende Studie von besonderem Interesse ist: Warum trifft man heutzutage im Vergleich zu früher so oft auf eine offene Ablehnung der Symbolik? Der Grund dafür ist, dass es sich bei der Symbolik um eine Art des Ausdrucks handelt, der der modernen Geisteshaltung vollkommen fremd geworden ist – und allem, was nicht bekannt ist, bringt der Mensch Misstrauen entgegen. Nichtsdestotrotz ist die Symbolik jedoch das Mittel, das am besten dazu geeignet ist, die Lehre über die Wahrheiten einer höheren Ordnung vermitteln zu können, was all das umfasst, was der moderne Geist ablehnt und bekämpft. Sie steht damit zu all dem im Gegensatz, was sich mit dem Rationalismus in Einklang befindet, so dass sich sagen lässt, dass ihre Gegner sich mehr oder weniger deutlich als wahre Rationalisten zu erkennen geben. Unserer Ansicht nach ist es erforderlich, sich aus diesen Gründen heute umso mehr um die Symbolik zu bemühen, je weniger sie verstanden wird. Die wahre Bedeutung der traditionellen Symbole muss wieder vollständig erkannt werden, damit sie ihre geistige Bedeutung entfalten können. Sie dürfen nicht zu rein gefühlsbedingten Auslegungen verwendet werden, für die die Verwendung von Symbolen im Grunde völlig nutzlos ist.

Diese Wandlung der modernen Geisteshaltung mit all dem, was damit verbunden ist – also der Wiederherstellung der wahren Geistigkeit und traditionellen Lehre, die für uns nicht voneinander getrennt werden können – ist sicher eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Aber sollte sie wegen ihrer Größe und Schwere nicht in Angriff genommen werden? Für uns stellt sie eines der erhabensten und wichtigsten Ziele für jene Organisationen dar, die noch im Geiste der Tradition stehen. Alle diesbezüglichen Anstrengungen müssen sich auf das „Herz der Welt“, die „geistige Sonne“ und das „Zentrum der Welt“ richten, „in dem alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen sind“. Aber nicht die weltliche Wissenschaft, die unseren Zeitgenossen bekannt ist, sondern die nur die wahre heilige Wissenschaft wird jenen, die sie aufrichtig und intensiv studieren, unerwartete und unbegrenzte Perspektiven öffnen.

1 HEBRÄER 5:11-13.

2. Wort und Symbol

Wir haben immer wieder auf die Bedeutung der Symbolik bei der Übertragung traditioneller Lehren hingewiesen und möchten nun zu diesem Thema zurückkehren, um ihm noch einige weitere Details hinzuzufügen und deutlich zu machen, aus welchen verschiedenen Blickwinkeln es betrachtet werden kann.

Die Symbolik lässt sich durch die Vermögen der menschlichen Natur besonders gut erfassen, da diese nicht rein geistig sind, sondern eine sinnlich wahrnehmbare Grundlage benötigen, von der sie sich zu höheren Bereichen erheben können. Der Aufbau des Menschen muss daher so genommen werden wie er ist: als Einheit einerseits und als Vielfalt in seiner gesamten Komplexität andererseits. Man neigt dazu, dies zu übersehen, vor allem seit Descartes seine Lehre über die absolute und strikte Trennung zwischen Seele und Körper verbreitet hat. Betrachtet man die rein geistige Intelligenz, so ist keine äußere Ausdrucksform notwendig, damit ihr die Wahrheit verständlich wird. Auch für die Weitergabe des Verstandenen sind derartige Ausdrucksformen auf der Ebene der geistigen Intelligenz überflüssig. Dabei muss man allerdings einschränken, dass dies nicht auf den Menschen zutrifft. Jeder Ausdruck und jede Ausformulierung – was auch immer es sein mag –, ist eine Ausdrucksform und grundsätzlich gesehen ein Symbol des Gedankens, den es nach außen hin darstellen soll. So verstanden ist auch die Sprache selbst nichts anderes als Symbolik. Daher sollte man keinen Unterschied zwischen der Verwendung von Wörtern und Bildern als Symbole machen, da sich diese Ausdrucksweisen vielmehr ergänzen (tatsächlich müssen sie miteinander kombiniert werden, da die Schrift in ihrer ursprünglichen Form auf einer bildhaften Darstellung beruhte, die teilweise bis heute erhalten geblieben ist, wie man am Beispiel von China sehen kann). Die Sprache als solche ist wie der menschliche Gedanke „analytisch“ oder „diskursiv“, so dass sie das geeignete Instrument ist, diesem zu folgen und ihn so genau wie möglich auszudrücken. Die Symbolik ist im Gegensatz dazu auf Synthese bedacht und somit „intuitiv“, was sie besser dafür eignet, Dinge auszudrücken, die für die geistige Eingebung gedacht sind. Diese Art der Eingebung ist höher als die Vernunft, so dass man darauf achten muss, sie nicht mit der Art der niederen Eingebung zu verwechseln, auf die sich die Philosophen beziehen. Wenn man sich mit diesem Unterschied zwischen Sprache und Symbolik nicht zufriedengeben kann und unbedingt wissen möchte, welche die überlegene Ausdrucksform ist, so kann es nur eine Antwort darauf geben: die Symbolik. Sie eröffnet Vorstellungsmöglichkeiten, die nahezu unbegrenzt sind, wogegen der Sprache aufgrund ihrer definierten Bedeutungsinhalte immer mehr oder weniger enge Verständnisgrenzen gesetzt sind.

Daher ist es nicht richtig, wenn man sagt, dass die Symbolik nur für den gewöhnlichen Menschen geeignet sei. Es ist vielmehr das Gegenteil korrekt: Sie ist für alle Menschen gleichermaßen gut geeignet, da sie jedem entsprechend dem Maße seiner geistigen Möglichkeiten hilft, die Bedeutungen zu verstehen, die sie mehr oder weniger vollständig und tiefgehend enthält. Die höchsten Wahrheiten, die als solche nicht mitteilbar sind, können dennoch bis zu einem gewissen Grad übertragen werden, wenn sie durch Symbole verkörpert sind, die sie zwar zweifellos für viele verbergen, sie aber umgekehrt für jene in all ihrer Brillanz zeigen, die zum Sehen fähig sind.

Bedeutet dies, dass die Verwendung von Symbolen eine Notwendigkeit ist? Hier muss man folgende Unterscheidung machen: Auf absolute Weise gesehen ist keine äußere Form notwendig, da alles bedingt und nebensächlich zu dem ist, was es in seinem Wesen darstellt. Daher kann man nach der Lehre des Hinduismus jegliches Bild wie beispielsweise eine Statue, die einen der göttlichen Aspekte symbolisiert, nur als eine „Unterstützung“ und einen Anfangspunkt für weiteres Nachsinnen ansehen. Nach diesem Verständnis ist jedes Symbol nichts anderes als eine Hilfe. In dieser Hinsicht macht ein vedischer Text einen Vergleich, der die Rolle von Symbolen und äußeren Formen verdeutlicht: Es wird gesagt, dass Äußerlichkeiten wie das Pferd seien, das es dem Menschen ermögliche, eine Reise schneller und mit weniger Mühe hinter sich zu bringen, anstatt zu Fuß zu gehen. Auch ohne Pferd kann also das Ziel der Reise erreicht werden, aber wie mühevoll wäre dies! Wer denkt, dass es ein größerer Verdienst sei, ohne Hilfsmittel voranzukommen – also das Pferd nicht zu benutzen –, liegt daher falsch. Ist dies nicht auch das Argument der Gegner jeglicher Symbolik? Und auch wenn die Reise zu Fuß zurückgelegt werden kann, so muss man doch berücksichtigen, wie lange und entbehrungsreich sie dann wird – und es ist nicht ausgeschlossen, dass das Ziel dann überhaupt nicht erreicht wird. Auf ähnliche Weise verhält es sich mit Riten und Symbolen: Sie sind nicht unbedingt notwendig, aber für die menschliche Natur von einer nicht zu unterschätzenden Zweckmäßigkeit.

Es ist aber nicht ausreichend, die Symbolik nur von der Seite des Menschen aus zu sehen, wie wir es bislang getan haben. Um das vollständige Ausmaß ihrer Bedeutung verstehen zu können, muss man sie sozusagen auch von „göttlicher Seite“ her betrachten. Wir haben gesehen, dass die Symbolik ihre Grundlage in der Natur der Wesen und Dinge hat und dass sie in vollkommener Übereinstimmung mit den Gesetzen dieser Natur steht. Diese Gesetze sind – und das darf man nie vergessen – ein Ausdruck und somit eine Veräußerlichung des göttlichen Willens. Daher kann man, wie die Hindus es tun, durchaus sagen, dass die Symbolik einen „nicht-menschlichen“ Ursprung hat, also dass ihr Prinzip weiter zurück und höher als die Menschheit reicht.

Wir möchten hier in Bezug auf die Symbolik nicht ohne Grund die ersten Worte aus dem Johannes Evangelium in Erinnerung rufen: „Am Anfang war das Wort.“ Das „Wort“, Logos, ist zugleich Gedanke und Wort: In sich selbst ist es der göttliche Geist, der der „Ort der Möglichkeiten“ ist. In Bezug auf uns manifestiert und drückte es sich durch die Schöpfung aus, in der einige dieser Möglichkeiten Existenz erlangen, während sie in ihren Wesenheiten in ihm bis in alle Ewigkeit enthalten bleiben. Die Schöpfung ist das Werk des „Wortes“. Sie ist damit auch dessen Manifestation und dessen nach außen hin wahrnehmbare Bestätigung. Dies ist der Grund, warum die Welt wie eine göttliche Sprache auf jene wirkt, die dazu in der Lage sind, sie zu verstehen: Coeli enarrant gloriam Dei.2 Der Philosoph Berkeley lag daher nicht falsch, als er sagte, dass die Welt „die Sprache ist, in der der unbegrenzte Geist zu begrenzten Geistern spricht“. Aber seine Behauptung, dass die Sprache nur eine Sammlung willkürlicher Zeichen sei, war falsch. Tatsächlich gibt es nichts Willkürliches in der menschlichen Sprache, da jede Bedeutung in ihrem Ursprung auf eine natürliche Entsprechung oder Harmonie zwischen dem Zeichen und der damit bezeichneten Sache zurückzuführen ist. Da Adam von Gott das Wissen über die Natur aller Lebewesen erhalten hatte, konnte er ihnen ihre richtigen Namen geben. Auch die anderen antiken Traditionen betonen, dass der wahre Name eines Seins immer mit seiner Natur oder seinem Wesen verbunden sein muss.

Alles in der Welt kann als ein Symbol einer übernatürlichen Wirklichkeit verstanden werden, wenn die Welt als Gedanke im Inneren, als „Wort“ im Äußeren und als Ergebnis des göttlichen „Wortes“ am Anbeginn der Zeit angesehen wird. Und alles, was auf irgendeine Art existiert, hat sein Prinzip im göttlichen Geist. Es überträgt ihn und stellt ihn auf eine gewisse Art und Weise durch seine Existenz dar. So sind über die Ordnungen hinweg alle Dinge miteinander verbunden und entsprechen einander, was aus ihnen eine universale und gesamthafte Harmonie macht, die wie ein Abbild der göttlichen Einheit selbst ist. Diese Entsprechung ist die wahre Grundlage der Symbolik, nach der die Gesetze eines niederen Bereiches als Symbole für die Wirklichkeiten einer höheren Ordnung verstanden werden können. Nur in dieser höheren Ordnung liegt ihr Grund und nur dort ist ihr Prinzip und ihr Ziel zu finden. Wir möchten in diesem Zusammenhang auf einen Fehler aufmerksam machen, der in gewissen modernen „naturalistischen“ Auslegungen antiker traditioneller Lehren zu finden ist. Diese Auslegungen drehen einfach die Hierarchie der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Ordnungen der Wirklichkeit um. So war es beispielsweise nie die Aufgabe der Symbole und Mythen, die Bewegung der Sterne darzustellen. Man findet in den Mythen oft Figuren, die von diesen Bewegungen inspiriert wurden und dazu gedacht waren, etwas völlig anderes darzustellen, da die Gesetze dieser Bewegungen auf körperlicher Ebene die metaphysischen Prinzipien darstellen, von denen sie abhängen. Das Niedere kann das Höhere symbolisieren, aber das Gegenteil ist nicht möglich. Wenn überdies das Symbol der sinnlich wahrnehmbaren Ordnung nicht näher wäre als das, was es darstellt, wie könnte es dann seine Aufgabe erfüllen, für die es vorgesehen ist? In der Natur kann nur das sinnlich Wahrnehmbare das Übersinnliche symbolisieren. Daher kann die gesamte Ordnung der Natur als ein Symbol für die göttliche Ordnung dienen. Und wenn man den Menschen im Speziellen betrachtet, so ist auch er ein Symbol aufgrund der Tatsache, dass er als Abbild Gottes erschaffen wurde.3 Die Natur und die Welt erhalten ihre volle Bedeutung nur dann, wenn wir sie als ein Hilfsmittel betrachten, das es uns erlaubt, die Erkenntnis über die göttlichen Wahrheiten zu erlangen. Und dies ist keine andere Rolle als jene, die wir versucht haben, der Symbolik als solcher zu geben.4

Diese Betrachtungen ließen sich noch weiter fortsetzen, was wir aber unseren Lesern selbst überlassen möchten, da aus der persönlichen Beschäftigung mit diesem Thema der größte Nutzen gezogen werden kann. So sollen diese Anmerkungen ähnlich wie die Symbole selbst als Anfangspunkt für weiteres Nachsinnen dienen. Worte drücken in diesem Zusammenhang nur unvollkommen aus, um was es eigentlich geht. Viel wichtiger ist es, sich selbst mit den Symbolen vertraut zu machen. Zum Abschluss möchten wir noch auf einen weiteren Aspekt zu diesem Thema hinweisen, der uns als so wichtig erscheint, dass wir ihn hier zumindest in Kürze erörtern möchten.

Die göttliche Welt wird – wie wir in diesem Kapitel versucht haben dazulegen – in der Schöpfung ausgedrückt. Über eine Analogie lässt sich sagen, dass dies vergleichbar mit einem Gedanken ist, der in einer Form ausgedrückt wird (hier ist es nicht mehr notwendig, zwischen Sprache und Symbol zu unterscheiden), die ihn gleichzeitig sowohl verhüllt als auch manifestiert. Die anfängliche Offenbarung, die wie die Schöpfung die Tat des Wortes ist, ist sozusagen in den Symbolen verkörpert, die von Epoche zu Epoche seit Beginn der Menschheit weitergegeben werden. Dieser Vorgang selbst ist wiederum in seiner Ordnung analog zur Schöpfung selbst zu sehen. Die Entstehung der Symbole aus der „nicht-menschlichen“ Tradition kann als eine Art von vorweggenommenem Bild für die Verkörperung der Welt angesehen werden. Und auf gewisse Weise kann man dadurch auch die geheimnisvolle Beziehung erkennen, die zwischen der Schöpfung und der Erschaffung des Menschen besteht, der deren Krönung ist.

Wir möchten dieses Kapitel mit einer Anmerkung über die Wichtigkeit des Herzens als universales Symbol beenden und zwar insbesondere hinsichtlich der Form, die es in der christlichen Tradition innehat und die die des „Heiligen Herzens“ ist. Wenn die Symbolik in ihrem Wesen streng dem „göttlichen Plan“ entspricht und wenn das „Heilige Herz“ das Zentrum des Wesens ist – und zwar sowohl tatsächlich als auch symbolisch – dann nimmt das Symbol des Herzens als solches und in seinen Entsprechungen einen wahrhaft zentralen Platz in allen Lehren ein, die mehr oder weniger direkt von der anfänglichen Tradition ausgehen.5

2 „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes.“, PSALMEN 19:2.

3 „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“, GENESIS 1:26 - 27.

4 Die Sichtweise, dass die Natur ein Symbol für das Übernatürliche sei, ist keineswegs neu. Sie war in der Zeit des Mittelalters weit verbreitet und hatte in Bonaventura einen bekannten Fürsprecher. Ebenfalls nicht unerwähnt soll die Ansicht bleiben, nach der man vom Wissen über die Kreaturen zum Wissen über Gott gelangen kann. Auch hier liegt eine symbolische Ausdrucksweise zu Grunde, die auf der Entsprechung zwischen der Ordnung der Natur und der übernatürlichen Ordnung basiert.

5 Siehe unsere Studie ASPEKTE DER CHRISTLICHEN ESOTERIK, Teil 2, Kapitel 8 und 9.

3. Die Tradition und das „Unbewusste“

An anderer Stelle haben wir bereits die Rolle der Psychoanalyse im Rahmen der Zersetzung beschrieben, die nach der „Verfestigung“ der Welt im Zuge des fortschreitenden Materialismus die nächste Phase der anti-traditionellen Aktivitäten darstellt, die für die gesamte moderne Periode charakteristisch sind.6 Wir kehren hier nun zu diesem Thema zurück, da sich in der Zwischenzeit die Psychoanalyse weiter verbreitet hat und die Tradition unter dem Vorwand, sie erklären zu wollen, direkt angreift. Auf diese Weise wird die Bedeutung der Tradition untergraben, was eine neue und vor allem nicht zu unterschätzende Gefahr ist. In dieser Hinsicht ist es sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Varianten der Psychoanalyse zu machen: Die von Freud erdachte Psychoanalyse war bis zu einem gewissen Punkt durch die dem Materialismus zugewandte Haltung eingeschränkt. Damit hatte sie zwar auch einen „satanischen“ Ursprung, aber sie hegte zumindest keine Absichten, über gewisse Bereiche hinausgehen zu wollen. Ihre Resultate waren daher nicht mehr als einige grobe Verfälschungen in Bezug auf die traditionelle Lehre, die zwar zu Verwirrungen führten, aber doch einfach zu durchschauen waren. Wenn Freud von Symbolik sprach, so war das, was er auf diese Weise fälschlicherweise bezeichnete, nur das Erzeugnis der menschlichen Einbildung, die sich von einem Individuum zum anderen unterschied und nichts mit traditioneller Symbolik zu tun hat. Aber dies war nur das erste Stadium, denn die nachfolgenden Psychoanalysten erweiterten und veränderten die Theorien ihres „Meisters“, so dass es letztlich dazu kommen konnte, dass sie heute eine falsche Geistigkeit verbreiten. Durch eine schwer zu durchschauende Verwechslung können sie diese erfundene Geistigkeit zur Auslegung der traditionellen Symbolik verwenden. Dies trifft insbesondere auf Carl Gustav Jung zu, dessen erste Versuche in diesem Bereich weit zurückgehen.7 Dabei möchten wir darauf hinweisen – da dies ein äußerst interessanter Punkt ist –, dass Jung für diese Auslegung Vergleiche als Ausgangspunkt nahm, die er zwischen gewissen Symbolen und den Zeichnungen von geistig gestörten Menschen hergestellt hatte. Und man muss zugeben, dass sich in diesen Zeichnungen manchmal durchaus gewisse Ähnlichkeiten zu echten Symbolen finden lassen, was ein bedrückendes Gefühl hinterlässt, wenn man an die Quelle denkt, von der diese Menschen diese Eingebung erhalten haben.

Was die Sache jedoch zuspitzt, ist der Versuch Jungs, zu dem, was rein individuelle Faktoren nicht erklären können, eine Hypothese aufzustellen, nach der dies auf ein „kollektives Unbewusstsein“ zurückzuführen sei, das auf gewisse Weise in oder unter der Psyche aller Menschen existiere. Dieses „Unbewusstsein“ sei die Quelle sowohl für die Symbole selbst als auch für die Nachahmungen, die er bei den geistig gestörten Menschen beobachtet hatte. Dazu ist zu sagen, dass bereits der Begriff „Unbewusstsein“ völlig unzutreffend ist. Das, was es bezeichnen soll – wenn es überhaupt existiert –, lässt sich auf das zurückführen, was die Psychologen im Allgemeinen das „Unterbewusstsein“ nennen und das die Gesamtheit der untergeordneten Verlängerungen des Bewusstseins umfasst. Wir haben bereits an anderer Stelle auf die oft auftretenden Verwechslungen zwischen dem „Unterbewussten“ und dem „Überbewussten“ hingewiesen. Aufgrund seiner Natur entflieht das „Überbewusste“ vollständig dem Bereich, der von den Psychologen untersucht wird. Selbst wenn diese auf eine von dessen Manifestationen stoßen, so bezeichnen sie sie in ihrer Unkenntnis ebenfalls als Erzeugnisse jenes „Unterbewusstseins“. Und genau diese Verwechslung liegt auch bei Jung zu Grunde: Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Zeichnungen dieser kranken Menschen dem „Unterbewussten“ entspringen. Im Gegensatz dazu zählt alles, was der traditionellen Ordnung angehört zum „Überbewussten“. Dies umfasst neben der Symbolik eben all das, über das man eine Verbindung zum „Über-Menschlichen“ herstellen kann. Das „Unterbewusste“ zieht im Gegensatz dazu zu dem hin, was das „Unter-Menschliche“ ausmacht. Jung stellt die Dinge somit auf den Kopf, was im Allgemeinen für die Erklärungen, die auf diesen Grundlagen fußen, durchaus charakteristisch ist. Sie erhalten nur dadurch einen gewissen Anschein einer Rechtfertigung, indem das „Unterbewusste“ dank seiner Kontakte zu psychischen Einflüssen aus niederen Ordnungen das „Überbewusste“ sehr wirksam nachahmt. Zu beachten ist, dass wir hier vor der Quelle der Einbildung stehen, die zu einer „umgekehrten Geistigkeit“ führt und die aufgrund ihrer Verfälschungen jene in die Irre leitet, die ihre wahre Natur nicht erkennen können.

Die Theorie von Jung über das „kollektive Unbewusste“ ist dazu gedacht, die Tatsache zu erklären, dass das Symbol dem „individuellen Gedanken vorausgeht“ und über ihn hinausreicht. Dabei ist es jedoch wichtig zu erkennen, in welche Richtung die Symbolik über ihn hinausgeht: also entweder nach unten, was der Bezug zum „Unbewussten“ nahelegt, oder nach oben, so wie es alle Traditionen lehren. In einem kürzlich erschienenen Artikel fanden wir einen Hinweis, in dem diese Unklarheit deutlich zu Tage tritt: „Die Auslegung von Symbolen öffnet das Tor zum großen Allumfassenden: Sie sind der Weg, der durch das Labyrinth der dunklen Winkel unserer Individualität zum gesamthaften Licht führt.“ Dazu muss man anmerken, dass die große Gefahr besteht, sich in diesen „dunklen Winkeln“ zu verlaufen und etwas völlig anderes zu finden als das „gesamthafte Licht“. Auch die Doppeldeutigkeit des „großen Allumfassenden“ ist problematisch, da dieses – wie auch das „kosmische Bewusstsein“, in das manche ihre Individualität auflösen möchten – nur aus unklar definierten psychischen Kräften bestehen kann, die aus den niederen Regionen der feinstofflichen Welt stammen. So führen letztlich diese gegensätzlichen Ansichten dazu, dass die Auslegung von Symbolen aus psychoanalytischer und traditioneller Sicht völlig verschiedene Ergebnisse zu Tage bringen.

In diesem Zusammenhang möchten wir eine weitere wichtige Anmerkung machen: Das „Volkstum“ gehört nach Ansicht dieser Leute auch zu den Erscheinungen, die sich durch das „kollektive Unbewusstsein“ erklären lassen sollen. Und in diesem Fall kann die Theorie sogar zutreffend sein. Genauer gesagt sollte man hier von einem „kollektiven Gedächtnis“ sprechen, das im menschlichen Bereich ein Bild oder ein Widerschein des „kosmischen Gedächtnisses“ ist, das wiederum ein Aspekt der Symbolik des Mondes ist. Wer aber versucht, den Ursprung der Tradition aus der Natur des „Volkstums“ abzuleiten, begeht einen schweren Fehler. Es ist offensichtlich, dass das „Volkstum“ einen Zustand der Rückbildung darstellt, da es aus Elementen zusammengesetzt ist, die längst vergangenen Traditionen angehören, aber in keinem gemeinsamen Zusammenhang mehr stehen. Es ist jedoch der einzige Weg, diese Elemente bis heute bewahren zu können. Dabei muss auch berücksichtigt werden, unter welchen Umständen die Bewahrung dieser Elemente dem „kollektiven Gedächtnis“ anvertraut wurde. Wie wir bereits an anderer Stelle dargelegt haben,8 stellt dieser Vorgang aus unserer Sicht eine bewusste Handlung derer dar, die die letzten Vertreter einer dem Untergang geweihten Tradition waren. Dabei muss man jedoch davon ausgehen, dass diese Art von „kollektiver Geisteshaltung“ – so weit überhaupt etwas existiert, das auf diese Weise bezeichnet werden kann – sich rein auf die Funktion eines „Gedächtnisses“ beschränkt, was über die astrologische Symbolik dadurch ausgedrückt wird, dass es dem Mond zugeordnet ist. Es kann also die Funktion der Bewahrung gewisser Inhalte erfüllen – was im Falle des „Volkstums“ geschieht – aber es ist nicht dazu fähig, etwas hervorzubringen, was der transzendenten Ordnung zugerechnet werden kann und das ja genau das ist, was durch die traditionelle Lehre weitergegeben wird.

Die psychoanalytische Auslegung von traditionellen Symbolen zielt darauf ab, diese Transzendenz zu leugnen. In jüngerer Zeit geschieht dies auf eine neue Art und Weise, die sich von jenen Versuchen unterscheidet, die früher unternommen wurden. Es geht nun nicht mehr um das vollständige Ablehnen oder Ignorieren jeglicher „nicht-menschlicher“ Elemente wie es beispielsweise bei den verschiedenen Formen des Rationalismus zu Tage tritt. Im Gegensatz zu diesen Formen ist die psychoanalytische Auslegung durchaus bereit, den „nicht-menschlichen“ Charakter der Tradition anzuerkennen, allerdings verkehrt sie dessen Bedeutung ins Gegenteil. So finden wir am Ende des bereits zitierten Artikels folgenden Absatz:

Wir werden möglicherweise zu jenen psychoanalytischen Auslegungen unseres geistigen Schatzes zurückkehren, dessen „Dauerhaftigkeit“ über die Zeit und Zivilisationen hinweg sehr gut auf seinen traditionellen oder nicht-menschlichen Charakter hindeutet – wenn man das Wort „menschlich“ auf eine voneinander abgrenzende und individualisierende Weise versteht.

Dieses Eingeständnis zeigt vielleicht am besten, was sich tatsächlich hinter dieser Art von Auslegung verbirgt. Die Absicht ist möglicherweise auch nicht all jenen bewusst, die über dieses Thema schreiben. Man muss sich vor Augen halten, dass es sich hier nicht um diese oder jene individuelle Meinung handelt – und selbst wenn der Autor wie bei Jung der Kopf einer „Schule“ ist –, sondern um die Quelle für eine höchst fragwürdige Eingebung, von der diese Art der Auslegung ausgehen. Man muss auch nicht tief in das Studium der traditionellen Lehren einsteigen, um zu erkennen, um was es geht, wenn dort von einem „nicht-menschlichen“ Element gesprochen wird, das den überindividuellen Zuständen des Seins angehört. Dies alles hat nichts mit dem zu tun, was von „kollektivem“ Charakter ist, da dies nur vom individuellen Bereich ausgehen kann. Gleiches gilt auch für das, was in der zitierten Passage als „voneinander abgrenzend“ beschrieben wird und das aufgrund seines „unterbewussten“ Charakters keinesfalls den Austausch mit höheren Zuständen herstellen kann, so dass diese Verbindung nur in Richtung dessen möglich ist, was das „Unter-Menschliche“ ist. Man erhält hier einen unmittelbaren Einblick in die Arbeit der Zersetzung, die gewisse traditionelle Bedeutungen aufgreift, sie dann aber in ihr Gegenteil verkehrt. So wird aus dem „Überbewussten“ das „Unterbewusste“ und das „Über-Menschliche“ wird zum „Unter-Menschlichen“. Diese Zersetzung der wahren Bedeutung ist in unseren Augen noch viel gefährlicher als deren reine Ablehnung. Wir übertreiben nicht, wenn wir darin den Weg für eine „Gegen-Tradition“ sehen, die das Hilfsmittel für die genannte „umgekehrte Geistigkeit“ ist. Am Ende unseres derzeitigen Zyklus wird dies dazu führen, dass die „Herrschaft des Anti-Christen“ deren höchster Triumph sein wird!

6 Siehe DIE HERRSCHAFT DER QUANTITÄT UND DIE ZEICHEN DER ZEIT, Kapitel 34.

7 Zu diesem Thema siehe LE FLEUR D’OR ET LE TAOISME SANS TAO von André Préau.

8 Siehe unsere Studie ASPEKTE DER CHRISTLICHEN SYMBOLIK, Teil 2, Kapitel 8.

4. Die Wissenschaft der Buchstaben

In der Einleitung zur Studie La Théodicée de la Kabbale finden wir folgende Aussage des Autoren Francis Warrain: „In der Kabbala lässt sich die Hypothese finden, dass die hebräische Sprache die vollkommene Sprache sei, die Gott den ersten Menschen gelehrt habe.“ Im Folgenden macht er dazu jedoch noch einige Einschränkungen, die sich auf die seiner Meinung nach illusorische Anmaßung beziehen, „die reinen Elemente der natürlichen Sprache zu besitzen, wenn man aber tatsächlich nur noch über deren Bruchstücke und Deformierungen verfügt“. Er gesteht jedoch zu, dass „es wahrscheinlich ist, dass die antiken Sprachen von einer priesterlichen Sprache abgeleitet wurden, die von auserwählten Menschen durch eine besondere Eingebung gebildet wurde“ und dass „diese Sprachen daher Wörter beinhalten, die das Wesen der Dinge und ihre numerischen Beziehungen ausdrücken und dass dies auch für die wahrsagenden Künste anwendbar ist“. Wir sind der Ansicht, dass es lohnenswert ist, näher auf dieses Thema einzugehen. Allerdings möchten wir noch anmerken, dass Warrain eine Sichtweise vertritt, die im Grunde philosophisch ist, wogegen wir uns im Folgenden strikt an eine initiatische und traditionelle Auslegung halten werden.

Der erste Aspekt, mit dem wir uns befassen möchten, ist der folgende: Die genannte Behauptung, dass das Hebräische die Sprache der ersten Offenbarung gewesen sei, muss man als aus dem exoterischen Bereich stammend ansehen. Sie lässt sich nicht aus der Lehre der Kabbala ableiten, so dass zu vermuten ist, dass es dafür keine tiefergehenden Gründe gibt. Die gleiche Behauptung lässt sich auch bei anderen Sprachen finden, wobei dieser Anspruch auf „Ursprünglichkeit“ – wenn man ihn wörtlich nimmt – nicht in jedem Fall gerechtfertigt sein kann, da bereits ja die verschiedenen Ansprüche im Widerspruch zueinanderstehen. Auch für die arabische Sprache wird die gleiche Behauptung aufgestellt und in den Ländern, in denen diese Sprache benutzt wird, ist entsprechend die Ansicht verbreitet, dass Arabisch die ursprüngliche Sprache der Menschheit sei. Bemerkenswerterweise ist allerdings diese weit verbreitete Ansicht unbegründet und entbehrt jeglicher Rechtfertigung. Sie steht sogar zur formalen Lehre des Islam im Widerspruch, nach der die „Sprache Adams“ die „Syriaische Sprache“, lughat suryāniyyah, gewesen sei. Dabei möchten wir gleich anfügen, dass diese Bezeichnung nichts mit dem Land zu tun hat, das heutzutage Syrien genannt wird. Es gibt auch keine bekannte antike Sprache, die mit dieser Sprache verglichen werden kann. Wenn man die Bezeichnung lughat suryāniyyah näher betrachtet, deutet sie auf eine Sprache der „solaren Erleuchtung“, shams ishrāqiyyah, hin. Sūryā ist in Sanskrit der Name für die Sonne, was darauf hindeutet, dass dessen Wurzel sur – die eine jener ist, die „Licht“ bezeichnet – selbst zu dieser ursprünglichen Sprache gehört. Es geht daher um das urzeitliche Land von Syria, das von Homer als eine „Insel jenseits von Ogygia” beschrieben wurde.9 Daher kann es mit dem Tula der Hyperboreer gleichgesetzt werden, „wo sich die Drehungen der Sonne finden lassen“. Nach Flavius Josephus wurde die Hauptstadt dieses Landes Heliopolis, die „Stadt der Sonne“, genannt.10 Diese Bezeichnung wurde später einer Stadt in Ägypten gegeben, die auch On genannt wurde, so wie auch Theben einer der ursprünglichen Namen der Hauptstadt von Ogygia gewesen sein soll. Die Weitergabe dieser und weiterer Namen wäre ein interessantes Thema für eine eigene Studie über den Aufbau von nachrangigen geistigen Zentren in verschiedenen Perioden. Dieses Thema ist auch eng mit der Bildung von Sprachen verbunden, die dazu dienen, Hilfsmittel für die Weitergabe traditioneller Formen zu sein und daher als „heilige Sprachen“ bezeichnet werden. Die Methoden der Kabbala wie auch vergleichbarer Vorschriften anderer Traditionen beruhen im Wesentlichen auf der Unterscheidung, die zwischen diesen heiligen Sprachen und den gewöhnlichen oder weltlichen Sprachen gemacht werden muss.

Es lässt sich also das Folgende festhalten: So wie jedes nachrangige Zentrum ein Bild des höchsten oder anfänglichen Zentrums ist,11 so kann jede „heilige Sprache“ – oder anders gesagt jede „priesterliche Sprache“ – ebenfalls als ein Abbild oder ein Widerschein der ursprünglichen Sprache angesehen werden. Die anfängliche Sprache stellt das „verlorene Wort“ dar und ist zumindest für die Menschen des „dunklen Zeitalters“ verborgen, so wie auch das höchste Zentrum unsichtbar und unzugänglich geworden ist. Es geht also bei dem, was man heute noch finden kann, nicht um „Bruchstücke oder Deformierungen“ wie Warrain behauptet, sondern es handelt sich um rechtmäßige Anpassungen, die aufgrund der örtlichen und zeitlichen Umstände notwendig wurden. Nach der Lehre von Muḩyi ’d-Dīn ibn al- ‘Arabī12 musste jeder Prophet oder Verkünder eine Sprache benutzen, die von jenen verstanden werden konnte, an die er sich gewandt hat – also eine Sprache, die für die Geistesverfassung eines bestimmten Volkes zu einer bestimmten Zeit passend war. Dies ist auch der Grund für die Vielfalt der traditionellen Formen, die sich als unmittelbare Folge davon einer entsprechenden Anzahl von Sprachen als Ausdrucksmittel bedienen mussten. Alle „heiligen Sprachen“ müssen daher als das Werk derer angesehen werden, die von einer Eingebung geleitet wurden, da sie ansonsten nicht für die Funktion geeignet gewesen wären, für die sie vorgesehen waren. Der Ursprung der anfänglichen Sprache muss dagegen wie der der anfänglichen Tradition „nicht-menschlich“ sein. Über die „heiligen Sprachen“ lässt sich somit sagen, dass sie in ihrer Struktur (al-mabānī) und in ihrer Bedeutung (al-ma‘ānī) immer ein Abbild dieser anfänglichen Sprache sind. Diese Abbilder können auf verschiedene Wege entstanden und in die daraus abgeleiteten Sprachen übertragen worden sein. Diese Wege haben jedoch nicht alle die gleiche Bedeutung und sie werden auch von der Anpassung beeinflusst, der die Traditionen im Laufe der Zeit unterlegen sind. Zu diesen Wegen zählt beispielsweise die symbolische Form der Zeichen, die in der Niederschrift verwendet wird13 oder – wie insbesondere im Hebräischen und Arabischen – die Entsprechung von Zahlen zu Buchstaben und daraus abgeleitet die Entsprechung der Zahlenwerte von Wörtern, die aus den Buchstaben gebildet werden.

Für die Menschen der modernen westlichen Welt ist es sicher schwierig, sich ein klares Bild von dem zu machen, was „heilige Sprachen“ tatsächlich sind, da sie unter den heutigen Umständen keinen direkten Kontakt mehr mit ihnen haben. Wir möchten hier auch auf das verweisen, was wir ganz allgemein bei anderen Gelegenheiten hinsichtlich der Schwierigkeit gesagt haben, traditionelle Wissenschaften in eine andere Tradition übertragen und dort aufnehmen zu wollen. Dies ist unserer Ansicht nach sogar noch schwieriger als die Übertragung von Lehren aus der metaphysischen Ordnung, da diese Wissenschaften durch ihren speziellen Charakter besonders für eine ganz bestimmte traditionelle Form geeignet sind. Sie können daher nicht einfach von einer Zivilisation auf eine andere übertragen werden, da sie ansonsten möglicherweise nicht mehr vollständig verstanden und korrekt angewendet werden können. Um daher die volle Bedeutung der Symbolik von Buchstaben und Zahlen verstehen zu können, ist es notwendig, sie bis zu einem gewissen Maße in ihrer Anwendung zu erleben, wie dies in manchen östlichen Ländern noch der Fall ist und wozu auch die Umstände des täglichen Lebens zählen. Es wäre jedoch völlig widersinnig und nutzlos, derartige Überlegungen und Anwendungen auf europäische Sprachen übertragen zu wollen, für die sie nicht gemacht sind und in denen beispielsweise ein numerischer Wert von Buchstaben nicht existent ist. Die Versuche, die in dieser Richtung unternommen wurden, beruhen daher alle auf einer falschen Grundlage. Wenn nun dennoch manchmal Übereinstimmungen gefunden wurden – wie dies beispielsweise in der Onomantie vorkommt –, beweist dies nicht den Wert oder die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens, sondern nur das Vorhandenseins einer Art von „Intuition“ (die natürlich mit der wahren geistigen Eingebung nichts zu tun hat), die jene hatten, die diese Übereinstimmungen entdeckten, so wie dies auch oft bei den wahrsagenden Künsten beobachtet werden kann.14

Um das metaphysische Prinzip der „Wissenschaft der Buchstaben“ (‘Ilm al-Ḩurūf) darzulegen, stellte Muḩyi ’d-Dīn ibn al-‘Arabī in seinem Werk al-Futūḩāt al-Makkiyyah das Universum als ein Buch dar: Dies ist auch das Symbol des Liber Mundi den Lehren der Bruderschaft der Rosenkreuzer und des Liber Vitae der Apokalypse.15 Alle Buchstaben dieses Buches werden gleichzeitig und untrennbar durch den „göttlichen Stift“ (al-qalam al-ilāhī) geschrieben. Diese „transzendenten Buchstaben“ sind die ewigen Essenzen oder die göttlichen Ideen. Und da jeder Buchstabe auch gleichzeitig eine Zahl ist, fällt wiederum die Übereinstimmung dieser Lehre mit der der Pythagoräer ins Auge. Die „transzendenten Buchstaben“ werden in der göttlichen Allgegenwart verdichtet, steigen durch den göttlichen Atem in niedere Ordnungen ab und bilden dort das manifestierte Universum. Hier drängt sich ein Vergleich mit der Rolle der Buchstaben in der kosmogonischen Lehre des Sepher Jesira auf. So lässt sich sagen, dass die „Wissenschaft der Buchstaben“ sowohl in der hebräischen Kabbala als auch in der islamischen Esoterik eine gleich wichtige Bedeutung hat.16

Von diesem Prinzip ausgehend kann man eine Verbindung zwischen Buchstaben und verschiedenen Teilen des manifestierten Universums herstellen, was im Speziellen natürlich auf unsere Welt zutrifft. In dieser Hinsicht ist das Vorhandensein von Entsprechungen zwischen und zu Planeten und Sternbildern ein gutes Beispiel. So wird die „Wissenschaft der Buchstaben“ mit der Astrologie verbunden, wenn diese als eine kosmologische Wissenschaft angesehen wird.17 Aufgrund der Analogie, die zwischen dem Aufbau des Mikrokosmos (al-kawn aş-saghīr) und des Makrokosmos (al-kawn al-kabīr) besteht, entsprechen diese Buchstaben auch den verschiedenen Teilen des menschlichen Organismus. Und in dieser Hinsicht möchten wir noch ergänzen, dass es auch eine Anwendung dieser „Wissenschaft der Buchstaben“ im Bereich der Heilung gibt, bei der jeder Buchstabe auf eine bestimmte Weise zur Heilung jener Krankheiten verwendet wird, die das Organ befallen haben, auf das sich dieser Buchstabe bezieht.

Aus dem, was wir gerade dargelegt haben, folgt, dass die „Wissenschaft der Buchstaben“ in all jenen Ordnungen betrachtet werden muss, die in den „drei Welten“ vorkommen. Im höchsten Sinne geht es um die Erkenntnis aller Dinge im Prinzip, insoweit wie sie die ewigen Essenzen jenseits aller Manifestation sind. In einem dazwischenliegenden Sinne handelt es sich um die Kosmogonie, also den Aufbau und die Bildung der manifestierten Welt. Und im niedrigsten Sinne steht die Kenntnis der Kräfte im Vordergrund, die den Namen und Zahlen innewohnen und die die Natur jedes Seins ausdrücken. Eine Anwendung dieses Wissens, das sich aus den Namen und Zahlen und den unter ihnen bestehenden Entsprechungen ergibt, erlaubt die Ausübung gewisser magischer Handlungen auf die Wesen und die Geschehnisse, auf die sie sich beziehen. Nach einer Auslegung von Ibn Khaldūn haben auf diese Weise geschriebene Formeln die Macht, Einfluss auf ein Wesen auszuüben, wenn sie aus den gleichen Elementen aufgebaut sind, wie dieses in seiner Daseinsweise aufgebaut ist. Und damit kann der, der den wahren Namen eines Wesens kennt – also sich des Ausdrucks seiner spezifischen Natur bewusst ist –, Gewalt über dieses Wesen gewinnen. Die Anwendung der „Wissenschaft der Buchstaben“ wird daher üblicherweise mit dem Namen sīmīā bezeichnet,18 wobei es dabei um viel mehr als nur darum geht, die Zukunft vorherzusagen. Man kann durchaus gewisse Ereignisse durch eine Berechnung (ḩisāb) vorhersagen, die die Zahlen beinhaltet, die den Buchstaben und Namen entsprechen.19 Dieses Wissen stellt aber nur den ersten und elementarsten Grad dar, da es auf Grundlage dieser Berechnung dann auch möglich ist, weitere Ableitungen vorzunehmen, die Änderungen in zukünftigen Ereignissen herbeiführen können, die sich auf dieses Wesen beziehen.

Wichtig ist, dass man hier – wie bei jeder anderen Art des Wissens auch – eine Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Graden machen muss, auf die sich die jeweilige Kenntnis bezieht. Die gerade beschriebene Art des Wissens bezieht sich lediglich auf eine Anwendung. Und wenn die damit verbundene Handlung sich nur auf die sinnlich wahrnehmbare Welt bezieht, die sich auf der untersten Ebene befindet, kann man tatsächlich von Magie sprechen. Es geht aber um etwas völlig anderes, wenn man es mit einer Handlung zu tun hat, die ihren Widerhall in einer höheren Ordnung findet. In einem solchen Fall befindet man sich tatsächlich in der initiatischen Ordnung. Nur der, der den Grad des „roten Schwefels“ (al-kibrīt al-aḩmar) erreicht hat, kann in allen Welten seine Handlungen ausführen.20 Diese Bezeichnung deutet auf eine gewisse Verschmelzung der Alchemie und der „Wissenschaft der Buchstaben“ hin. Diese beiden Wissenschaften sind jedoch – wenn sie in ihrer tieferen Bedeutung verstanden werden – in Wahrheit das gleiche. Beide drücken in ihren unterschiedlichen Darstellungsformen den Vorgang der Initiation aus, der wiederum genau den kosmogonischen Vorgang der Schöpfung widerspiegelt. Die gesamte Verwirklichung der Möglichkeiten eines Seins wird daher nur dann erreicht, wenn es die gleichen Phasen durchläuft wie die der universalen Existenz.21

9 Siehe ODYSSEE, 15:453.

10 Zu dieser Bezeichnung sind viele Parallelen zu finden wie beispielsweise die „Solare Zitadelle“ in den Lehren der Bruderschaft der Rosenkreuzer oder die „Stadt der Sonne“ (La città del Sole) von Tommaso Campanella. Auch die zyklische Symbolik des Phönix lässt sich auf diese erste Heliopolis beziehen.

11 Siehe unsere Studie DER KÖNIG DER WELT.

12 Näheres dazu ist am Anfang des zweiten Teils seines Werks AL-FUTŪḨĀT AL-MAKKIYYAH (MEKKANISCHE ERÖFFNUNGEN) zu finden.

13 Diese äußere Form kann Veränderungen unterlegen haben, die durch eine spätere Wiederanpassung an die Tradition ausgelöst wurden. Dies fand beispielsweise im Hebräischen nach der babylonischen Gefangenschaft statt. Wir sprechen hier von einer Wiederanpassung, da es unwahrscheinlich ist, dass die alte Schrift innerhalb der kurzen Zeitspanne von 70 Jahren völlig verloren gegangen sein soll. Dennoch ist es überraschend, dass diese Anpassung weitgehend unbemerkt stattgefunden hat. Ähnliche Änderungen sind sicherlich auch in anderen Schriften zu finden wie im Sanskrit Alphabet oder den chinesischen Schriftzeichen.

14 Über die Ergebnisse, die die moderne Astrologie erzielt, kann man das Gleiche sagen, selbst wenn sie sich den Anschein wissenschaftlicher Methoden gibt. Sie ist überdies weit von der wahren Astrologie entfernt, deren Geheimnisse heute nicht mehr zugänglich sind und die viel mehr als nur eine wahrsagende Kunst war, wenngleich sie sich auch auf diese nachrangige Art anwenden ließ.

15 Wir hatten bereits an anderer Stelle die Möglichkeit, auf die Beziehung hinzuweisen, die zwischen der Symbolik des „Buches des Lebens“ und der des „Baumes des Lebens“ besteht: Die Blätter des Baumes und die Buchstaben des Buches stellen auf vergleichbare Weise die Gesamtheit der Wesen des Universums dar (was wiederum den „zehntausend Lebewesen“ der fern-östlichen Tradition entspricht).

16 Wir möchten nicht unerwähnt lassen, dass das „Buch der Welt“ auch die „göttliche Mitteilung“ (ar-risālatu l-ilāhiyyah) ist, also das erste aller heiligen Bücher. Alle traditionellen Schriften sind letztlich nichts anderes als dessen Übertragung in die menschliche Sprache, was in der Veda und im Koran ausdrücklich erwähnt wird. Die Idee eines „ewigen Evangeliums“ zeigt, dass diese Vorstellung auch dem Christentum nicht fremd ist.

17 Es gibt auch andere Entsprechungen wie beispielsweise mit den Elementen, den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten oder den himmlischen Sphären. Ein weiteres Beispiel ist die Tatsache, dass das arabische Alphabet über 28 Buchstaben verfügt, die sich zu den lunaren Häusern in Beziehung setzen lassen.

18 Das Wort sīmīā ist allem Anschein nach nicht rein arabischen Ursprungs. Es leitet sich möglicherweise vom griechischen Wort sēmeia, „Zeichen“, ab, was es zum Gegenstück des Wortes gematria der Kabbala macht, das ebenfalls griechischen Ursprungs ist und sich nicht von geometria ableitet, wie oft vermutet wird, sondern von grammateia, „Buchstabe“.

19 In manchen Fällen ist es auch möglich, durch derartige Berechnungen Antworten auf Fragen zu erhalten, die sich auf die Ordnung der traditionellen Lehre beziehen. Derartige Antworten werden teilweise in bemerkenswerten symbolischen Formen dargestellt.

20 Muḩyi ’d-Dīn ibn al-‘Arabī wird auch als Ash-Shaikh al-Akbar wa-l-Kibrīt al-Aḩmar bezeichnet.

21 Wir möchten noch darauf hinweisen, dass die Symbolik der Freimaurerei, in der die „Verlorene Welt“ und die Suche nach ihr eine große Rolle spielt, die initiatischen Grade durch Ausdrücke bezeichnet, die allem Anschein nach der „Wissenschaft der Buchstaben“ entliehen sind: buchstabieren, lesen und schreiben. Der „Meister“, der zu seinen Zeichen das „Zeichenbrett“ zählt, ist – wenn er wirklich das ausfüllt, was diesen Grad umfasst – nicht nur in der Lage, aus dem „Buch des Lebens“ zu lesen, sondern auch in es zu schreiben, so dass er zur Umsetzung des Planes des „Großen Architekten des Universums“ beiträgt. Diese Beschreibung zeigt sehr deutlich den Unterschied, der zwischen dem virtuellen Besitz und dem tatsächlichen Besitz dieses Grades besteht.

5. Die Sprache der Vögel

Wa-ş-şāffāti şaffan,

Faz-zājirāti zajran,

Fat-tāliyāti dhikran…22

Bei den sich in Reihe Reihenden,

Und den scheuchend Verscheuchenden,

Und den Ermahnung Vorlesenden…

In verschiedenen Traditionen wird oft auf eine geheimnisvolle Sprache verwiesen, die die „Sprache der Vögel“ genannt wird. Dabei handelt es sich offensichtlich um einen symbolischen Namen, da die große Bedeutung, die diese Sprache als ein Vorrecht für eine hohe Initiation macht, es nicht erlaubt, diesen Ausdruck wörtlich zu verstehen. Im Koran findet sich dazu folgende Stelle:

Und Salomo beerbte David und sprach: O ihr Menschen, der Vögel Sprache (ūllimnā manţiq aţţyr) ist uns gelehrt worden, und alles ist uns gegeben. Wahrlich, das ist eine offenbare Gnade.23

In den nordischen Legenden lesen wir von Helden wie Siegfried, die Drachen besiegen und plötzlich die Vögel verstehen können. Dies erlaubt es uns wiederum, die dahinter liegende Symbolik verstehen zu können: Der Sieg über den Drachen hat als unmittelbare Folge die Erlangung der Unsterblichkeit, was nichts anderes bedeutet als die Rückkehr in das Zentrum des menschlichen Zustandes, also zu dem Punkt, von dem aus die Verbindung mit den höheren Zuständen des Seins möglich wird. Diese Verbindung wird durch das Verstehen der Sprache der Vögel ausgedrückt. Vögel werden überdies oft als Symbole für Engel verwendet und stehen damit für die höheren Zustände des Seins. Wir haben bereits in einer anderen Studie die Erzählung aus den Evangelien zitiert, die sich in diesem Sinne auf die „Vögel im Himmel“ bezieht, die zu den Zweigen des Baumes fliegen und sich dort niederlassen.3 Der Baum stellt dabei die Achse dar, die durch das Zentrum jeden Zustandes des Seins geht und alle Zustände miteinander verbindet.24

In dem eingangs zitierten Text aus dem Koran wird der Begriff aş-şāffāt dazu verwendet, Vögel im wörtlichen Sinne zu bezeichnen, wobei sie jedoch symbolisch als Engel zu verstehen sind (al-malā’ikah). Daher bezieht sich der erste Vers auf den Aufbau der himmlischen oder geistigen Hierarchien.25 Der zweite Vers drückt den Kampf der Engel gegen die Dämonen aus, also der himmlischen gegen die höllischen Mächte und damit den Gegensatz zwischen den höheren und niederen Zuständen.26 In der hinduistischen Tradition wird dies als Kampf der devas gegen die asuras dargestellt und auch als der Kampf von Garuda gegen Nāga, bei dem wir ebenfalls auf eine Schlange beziehungsweise einen Drachen stoßen und der damit sehr ähnlich zu der gerade erwähnten Symbolik ist. Garuda ist ein Adler, der in anderen Fällen durch Vögel wie den Ibis, Storch oder Reiher ersetzt wird. All diesen Vögeln ist gemein, dass sie als Jäger von Reptilien gelten.27 Der dritte Vers beschreibt, wie die Engel das dhikr vortragen, was normalerweise als eine Rezitation aus dem Koran ausgelegt wird, wobei es hier nicht um den in menschlicher Sprache ausgedrückten Koran geht, sondern um den ursprünglichen Koran, der in der „Bewachten Tafel“ (al-lawḩ al-mafūz) eingeschrieben ist, die wie die Leiter Jakobs vom Himmel zur Erde reicht und sich damit über alle Grade der universalen Existenz erstreckt.28 Auf ähnliche Weise wird in der hinduistischen Tradition gelehrt, dass sich die devas während ihres Kampfes gegen die asuras durch die Rezitation von Hymnen aus der Veda schützten (achhandayan). Aus diesem Grund erhielten die Hymnen die Bezeichnung chhandas, was ein Wort ist, das normalerweise „Rhythmus“ bedeutet. Die gleiche Vorstellung ist auch im Wort dhikr enthalten, das in der islamischen Esoterik für rhythmische Formeln verwendet wird, die wiederum ihre Entsprechung in den hinduistischen mantras