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Eine schwebend schöne Liebesgeschichte von Patrick Modiano. »Der zarteste, grazilste und lichteste seiner Romane.« Le Nouvel Obs
Eine zufällige Begegnung auf der Straße und sie ist wieder da: die längst vergangene Zeit, als er, jung und voller Schriftstellerambitionen, in Paris eine Balletttänzerin kannte und vielleicht auch liebte. Da waren ihr scheuer Sohn Pierre, um den er sich kümmerte, die charismatische Pola Hubersen und Serge Verzini, in dessen „Zauberkasten“ sie sich trafen und unter die Pariser Nachtgestalten mischten. Doch wer war die Tänzerin wirklich und welch schweigsame Verbundenheit teilte er mit ihr? Modiano erzählt schwebend schön von zwei Menschen, die ihre Herkunft hinter sich lassen und ein neues, freies Leben beginnen können.
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Seitenzahl: 83
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Eine schwebend schöne Liebesgeschichte von Patrick Modiano. »Der zarteste, grazilste und lichteste seiner Romane.« Le Nouvel ObsEine zufällige Begegnung auf der Straße und sie ist wieder da: die längst vergangene Zeit, als er, jung und voller Schriftstellerambitionen, in Paris eine Balletttänzerin kannte und vielleicht auch liebte. Da waren ihr scheuer Sohn Pierre, um den er sich kümmerte, die charismatische Pola Hubersen und Serge Verzini, in dessen »Zauberkasten« sie sich trafen und unter die Pariser Nachtgestalten mischten. Doch wer war die Tänzerin wirklich und welch schweigsame Verbundenheit teilte er mit ihr? Modiano erzählt schwebend schön von zwei Menschen, die ihre Herkunft hinter sich lassen und ein neues, freies Leben beginnen können.
Patrick Modiano
Die Tänzerin
Roman
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser
Brünett? Nein. Eher dunkles Kastanienbraun mit schwarzen Augen. Sie ist die Einzige, von der man noch Fotos finden könnte. Bei den andern, ausgenommen der kleine Pierre, sind die Gesichter mit der Zeit verblasst. Übrigens war das eine Zeit, in der man viel weniger fotografiert hat als heute.
Und dennoch, gewisse Details bleiben ganz gegenwärtig. Man müsste eine Liste anlegen. Sehr schwierig wäre freilich, sich an die chronologische Reihenfolge zu halten. Die Zeit hat nicht nur die Gesichter verwischt, sondern auch die Orientierungspunkte. Übrig sind ein paar Puzzlesteine, für immer auseinandergerissen.
An einem November- oder Dezemberabend hatte ich ein Kind namens Pierre abgeholt, aus einem Wohnhaus im Nordwesten von Paris, ich sollte es heimbegleiten. Den Straßennamen habe ich vergessen. Ein wuchtiges Eingangstor und einer jener Fahrstühle mit Glastür, so langsam und leise, dass man sich fragt, ob er nicht steckenbleibt zwischen zwei Etagen. In einem großen Raum, wahrscheinlich das Wohnzimmer, waren etwa zehn Kinder versammelt. Auf einem niedrigen Tisch die Reste von einem Geburtstagsimbiss. Die elegante Frau, die mir geöffnet hatte, führte mich nach hinten in den Raum, wo Pierre Karten spielte, mit einem kleinen Blonden, den die Frau »Ronnie« nannte.
»Dein Freund muss gehen, Ronnie … Sag ihm auf Wiedersehen, Ronnie …«
Und dann standen wir beide auf dem Treppenabsatz.
Draußen war es dunkel. Ich hatte ihn an der Hand genommen. Ja, alle Kinder in der Wohnung waren seine Klassenkameraden aus der Privatschule Dieterlen, im selben Viertel, wo ich ihn manchmal abholte, am späten Nachmittag. Ronnie, der kleine Blonde, der mit ihm Karten spielte und dessen Geburtstag gefeiert wurde, war sein bester Freund. Bald kamen die Weihnachtsferien, und er hoffte, jemand würde ihn dann zusammen mit Ronnie ins Kino ausführen.
So prägt sich ein Augenblick der Vergangenheit ins Gedächtnis, wie der Lichtstrahl von einem Stern, den man längst erloschen glaubt. Pierre. Geburtstagsimbiss. Ronnie. Natürlich würde er ins Kino gehen während der Weihnachtsferien. Ich nahm mir sogar vor, ihn selbst hinzuführen, hätte seine Mutter keine Zeit. Als wir an jenem Abend nebeneinander hermarschierten, schwiegen wir meistens, doch unser Weg war viel kürzer als der, den wir manchmal nachmittags zurücklegten, von der Dieterlen-Schule.
Wir waren durch den Gitterzaun der großen backsteinernen Häuserblocks an der Porte de Champerret getreten. Wir stiegen die Zementtreppe hoch bis in den zweiten Stock. Hovine öffnete die Tür, als habe er uns erwartet. Die Wohnung war ganz anders als die, wo wir herkamen. Vier Räume entlang eines Flurs. Links vom Eingang die Küche mit einer Dusche. Die Fenster gingen auf den Hof.
»Die Tänzerin kommt heute Abend nicht nach Hause«, sagte Hovine. »Sie probt Le Train des Roses …«
Die Tänzerin, das war Pierres Mutter. Wir gaben ihr diesen Spitznamen. Und Der Rosenzug: ein Ballett, in dem sie oft mitgewirkt hatte.
Pierre hatte sich in den ledernen Fauteuil gesetzt und las ein illustriertes Heftchen.
»Ich geh noch was einkaufen, fürs Abendessen«, sagte Hovine.
Zeigte mir heute jemand zwei anthropometrische Fotos seines Gesichts — von vorn und im Profil —, würde ich ihn noch erkennen?
Er war von mittlerer Größe. Lockiges schwarzes Haar. Helle Augen. Soviel ich verstanden hatte, kannten die Tänzerin und er sich seit ihrer Kindheit.
Wir befanden uns im ersten Raum gleich nach der Küche, er diente als Wohnzimmer, hier kamen hin und wieder die Freunde der Tänzerin zusammen, auf dem großen Diwan und dem ledernen Fauteuil, in dem Pierre an jenem Abend saß. Der nächste Raum, der auf den Flur ging, war das Schlafzimmer der Tänzerin, und ihr Sohn Pierre bewohnte das Zimmer ganz hinten.
Ich habe jedoch keine genaue Erinnerung an die Farbe der Wände. Ich glaube, sie waren ziemlich dunkel, und heute ist mir, als hätte ich diese Wohnung nie bei Tageslicht gesehen. Ein trübes Licht, als wären die Glühbirnen in den Lampen und im Kronleuchter des Wohnzimmers nicht stark genug.
Hovine ist in seinen üblichen Mantel mit Fischgrätmuster geschlüpft. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Bestimmt waren die Wände recht dünn, denn immer hörte man Schritte und laute Stimmen vom Treppenhaus.
Pierre las noch in dem Heftchen auf seinem Schoß. Ich ging den Flur entlang und betrat das Zimmer der Tänzerin. Wann würde sie heimkommen? Wahrscheinlich spätnachts. Wenn Hovine nach dem Abendessen wegmusste, würde ich auf Pierre achtgeben und ihn dann vielleicht am nächsten Morgen zur Dieterlen-Schule bringen. Unnötig, in diesem Zimmer die Lampe anzuknipsen. Es war hell genug durch das Licht aus den Fenstern des gegenüberliegenden Wohnhauses. Auf diese Fenster blickte ich oft, und mit der Zeit erkannte ich die Silhouetten hinter den Glasscheiben.
Zurück im Wohnzimmer sah ich, dass Pierres Heftchen auf den Boden gefallen war. Er schlief, den Kopf auf der Armlehne des Fauteuils.
So kamen mir schon seit ein paar Tagen bruchstückhaft Bilder aus einer sehr fernen Zeit meines Lebens ins Gedächtnis. Bisher lagen sie tief unter einer Eisschicht. Dennoch hatte ich zuweilen das unbestimmte Gefühl, so könne es nicht weitergehen. Es war unvermeidlich, eines Tages musste das Eis schmelzen, und dann tauchten diese Bilder auf, von neuem, so, wie Ertrunkene wieder an die Oberfläche der Seine steigen. Und warum geschah das heute in einer Stadt, die sich so sehr verändert hatte, dass sie keinerlei Erinnerungen mehr in mir wachrief? Eine fremde Stadt. Sie glich einem großen Vergnügungspark oder dem Duty-free-Bereich eines Flughafens. Mehr Menschen auf den Straßen, als ich je zuvor gesehen hatte. Die Leute trotteten in Zehnergruppen, zogen Rollkoffer hinter sich her, und die meisten trugen Rucksäcke. Woher kamen diese Hunderttausende von Touristen, bei denen man sich fragte, ob inzwischen nicht sie allein die Pariser Straßen bevölkerten? Ich wartete an der roten Ampel, um den Boulevard Raspail zu überqueren, und ein Mann stand auf dem Trottoir gegenüber. Augenblicklich erkannte ich Verzini. Und ich spürte ein jähes Unbehagen, denn ich sah mich jemandem gegenüber, den ich seit langem tot glaubte.
Vielleicht war es ein böser Traum. Oder ein Irrtum meinerseits. Doch ich erkannte den immer noch dichten Haarschopf, nicht mehr schwarz, sondern schneeweiß, und das Gesicht mit den groben Zügen.
Ich wartete, bis er den Boulevard überquerte. Als er auf meiner Höhe war, das Trottoir erreichte, drehte ich mich zu ihm.
»Sie sind doch Serge Verzini?«
Er warf einen Blick auf mich, den gleichen Blick wie einst, durchdringend und zugleich hart.
»Nein. Sie irren.«
Immer noch diese Bassstimme, die ein bisschen heiser wirkte.
Er rührte sich nicht, starrte mich nur an.
»Wirklich? Wir kennen uns?«
Ich zögerte mit der Antwort. Ich musste ihm Namen nennen und ein genaues Jahr. Doch in meinem Kopf schwirrte alles durcheinander. Am liebsten hätte ich ihn einfach stehenlassen, aber schließlich sagte ich:
»Ja, wir haben uns in grauer Vorzeit gekannt.«
Er hatte die Stirn gerunzelt, und sein Blick verhärtete sich.
»Was soll das heißen: in grauer Vorzeit?«
Plötzlich war er in Abwehrstellung.
»Verzeihung … ich glaubte, Sie wären Serge Verzini.«
Ich hatte einen gleichgültigen Ton angeschlagen und sogar die Schultern gezuckt.
Er schien ein paar Sekunden zu überlegen. Sagte dann:
»Sollen wir ein Glas trinken gehen, da drüben?«
Und er deutete auf das Café an der Ecke Boulevard und Rue du Cherche-Midi.
*
Wir saßen an einem Tisch, einander gegenüber, allein im Gastraum, was mich wunderte. Seit einiger Zeit waren die Pariser Cafés und Restaurants überfüllt. Vor den meisten standen sogar Warteschlangen.
Zwischen uns herrschte Stille. Er wirkte verlegen. Wahrscheinlich musste ich als Erster reden.
»Haben Sie immer noch die Boîte à Magie?«
Dieser Zauberkasten war ein Restaurant, in dem jeden Samstag ein »Diner mit Unterhaltung« stattfand. Merkwürdige Nummern folgten aufeinander, in schnellem Rhythmus gespielt von nicht weniger merkwürdigen Darstellern. Aber wir kamen eher während der Woche und waren dann unter uns. Dieses Lokal lag in einer kleinen Straße, nicht weit von der Porte de Champerret, wo die Tänzerin und Pierre wohnten. Aber das alles gehörte zu einer so fernen Vergangenheit …
Er hatte ein Lächeln angedeutet. Und sein Blick war milder geworden. Ich glaube sogar, er betrachtete mich jetzt mit einem gewissen Mitgefühl.
»Boîte à Magie? Nein, das sagt mir gar nichts. Aber ich kannte in grauer Vorzeit, wie Sie sich ausdrücken, einen gewissen Serge Verzini. Vielleicht sind Sie mir einmal zusammen mit ihm begegnet, und Sie verwechseln uns beide.«
Wir bekamen unsere Grenadines serviert. Er nahm einen großen Schluck und stellte das Glas langsam zurück auf den Tisch.
»Ich erinnere mich kaum noch an diesen Serge Verzini. Bloß an seinen Namen.«
Ich beobachtete sein Gesicht. Es kam mir weniger brutal vor als in jener Zeit, da ich ihn gekannt hatte. Die Wangen waren jetzt hohler, die Nase schmaler, die Augen wirkten kleiner und tiefliegender, die Stirn höher unterm weißen Haar.
»Verzeihung«, sagte er, »aber ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie.«
»Dann erinnern Sie sich vielleicht an eine Frau, die wir die Tänzerin nannten, und an ihren Sohn, den kleinen Pierre?«
»Kein bisschen.«
Ich hatte den Eindruck, dass er meinen Fragen auswich. Ich wollte ihm weitere Namen nennen und ihn in die Enge treiben, doch es war nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen, und das genügte, dass einer alles vergessen hatte. Und sogar, dass er ein andrer geworden war in einer Stadt, wo du deine alten Spuren nicht mehr wiederfinden konntest.