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Jean ist Anfang zwanzig und arbeitet in einem Musikverlag nahe den Champs-Élysées. Als ihn ein Kollege eines Tages einlädt, taucht er ein in die Welt der Pariser Bohème der Nachkriegszeit: ein kleiner Freundeskreis, der sich um das elegante Ehepaar Maddy und Paul Contour schart, das einst wohlhabend war und noch immer kostspielig lebt. Fünfzehn Jahre später erinnert sich Jean, nicht ohne Nostalgie, an dieses »Grüppchen« ungleicher Freunde, die der Zufall einst zusammenführte – und nach einem kurzen Sommer an der Côte d'Azur wieder trennte.Memory Lane erschien in Frankreich erstmals 1979 und noch nie auf Deutsch. Pierre LeTans Zeichnungen unterstreichen Patrick Modianos Prosa; die beiden Künstler verband eine lebenslange Freundschaft, die sich in ihren gemeinsamen Arbeiten widerspiegelt.
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Seitenzahl: 47
Patrick Modiano
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Mit Zeichnungen von Pierre Le-Tan
Kampa
Paris, 18. Mai 1979
Ich frage mich, durch welche geheimnisvolle Chemie sich so etwas bildet wie ein »Grüppchen«: Mal fällt es ganz schnell wieder auseinander, mal bleibt es über Jahre gleich, und oft denkt man wegen der unterschiedlichen Charaktere seiner Mitglieder an Polizeirazzien, bei denen zwischen Mitternacht und Morgengrau Menschen zusammenkommen, die einander sonst nie begegnet wären.
In dem Grüppchen, das ich mit zwanzig beobachten konnte, war ich kein richtiges Mitglied. Ich stand nur lose mit ihm in Verbindung, das genügte aber, dass ich mir eine recht klare Erinnerung bewahrt habe. Eingeführt hat mich Georges Bellune. Ich arbeitete damals in einem Musikverlag – eine ganz untergeordnete Stellung –, und Bellune saß im Büro nebenan. Ich glaube, er betätigte sich als eine Art Impresario, und seine Talente wurden eingesetzt, wenn man Auslandstourneen organisieren wollte für Sänger, die noch keine wirkliche Bekanntheit hatten. Doch ich hörte nur selten das Telefon klingeln, hinter der Wand, die unsere Büros voneinander trennte. Wir trafen uns im Fahrstuhl und auf dem Flur, wir waren Freunde geworden. Nachmittags klopfte er an meine Tür.
»Könnten wir nicht eine kleine Runde drehen?«, fragte er.
Unten angelangt, folgten wir der Rue de Berri bis zu den Champs-Élysées, dann gingen wir sie zurück. Und das mehrmals hintereinander. Bellune sagte kein Wort, und ich wagte nicht, ihn aus seiner Träumerei zu reißen.
Eines Tages lud er mich zum Mittagessen ins »Saint-Gothard«, ein Restaurant in der Rue du Faubourg Montmartre, dessen Kundschaft aus alleinstehenden, nüchtern wirkenden Männern bestand. Mein Freund erklärte mir, er kenne dieses Lokal seit über dreißig Jahren. Zum ersten Mal sei er in Begleitung eines gewissen Oscar Dufrenne hergekommen, Direktor eines Varietétheaters in der Nachbarschaft, und den hatte man im Monat drauf ermordet. Als das Verbrechen geschah, rannte ein Matrose aus Dufrennes Büro und verschwand in der Menge auf den Stehplätzen hinten im Parkett, während die Girls auf der Bühne sich zum Schlussbild aufstellten. Diese flüchtige Gestalt eines im Halbdunkel untertauchenden Matrosen stimmte Bellune nachdenklich. Die Polizisten hatten zwar den als Schiffsjunge verkleideten Akkordeonspieler der Revue verhört, freilich ohne jeden Erfolg.
Nach dem Mittagessen bat mich Bellune, ihn zu einem Schuhmacher in der Cité Bergère zu begleiten: ein Freund, Paul Contour, hatte ihn ersucht, zwei Paar Mokassins abzuholen, die er in Auftrag gegeben hatte. Als wir vor dem Laden ankamen, stellten wir fest, dass er geschlossen war, für immer. Das Schaufenster war staubig, und eine Kletterpflanze wucherte in der leeren Auslage. Bellune lachte leise, während er die verwaiste Werkstatt betrachtete, mitsamt ihrer Pflanze, die immer weiter wuchs, und Contours zwei Paar Mokassins, die bestimmt in irgendeiner Ecke verrotteten.
»Das passt wirklich zu Paul«, sagte er.
Und eines Abends, als wir gemeinsam das Büro verließen, machte er den Vorschlag, mich mitzunehmen zu seinen Freunden, den Contours. Ich war einverstanden, voller Neugier, denn vor Augen hatte ich noch das Schaufenster des gespenstischen Schuhmachers.
Pauls Schuhmacher hatte sicher glanzvolle Zeiten erlebt, aber die rissige Fassade erinnerte jetzt an einen verlassenen Palazzo am Canal Grande.
Die Contours wohnten in der Avenue Paul-Doumer, und an jenem Abend sah ich sie »privat«, denn die andern Mitglieder des »Grüppchens« waren nicht da. Sie empfingen uns in einem Salon mit entschieden modernen Möbeln, deren aerodynamische Formen und grelle Farben mich verblüfften. Ich erfuhr, die Ausstattung ihres Appartements habe ein Mitglied ihres »Grüppchens« entworfen, ein Pariser Antiquitätenhändler und Fachmann für helles Holz. Sein Name, Claude Delval, kehrte häufig wieder in den Worten, die sie mit Georges Bellune wechselten, ebenso wie andere Namen, lauter enge Freunde, denen ich später noch begegnen sollte.
Anwesend war auch ein Amerikaner mit ziegelrotem Gesicht, weißem Haar und Ponyfrisur, von dem ich nie mehr erfuhr als den Vornamen: Douglas. Genannt wurde er »Doug«. Er spielte bei den Contours offenbar die Rolle eines Sekretärs oder Verwalters.
Maddy Contour war um die vierzig. Blond, groß, gebräunte Haut, helle Augen, mit ihrer sportlichen Gestalt und ihrem jugendlichen Aussehen hätte sie ebenfalls als Amerikanerin durchgehen können. Paul Contour, zehn Jahre älter, hochgewachsen, sehr dunkler Typ, die Schläfen nur leicht silbergrau, Schnurrbart, machte trotz seiner Korpulenz einen äußerst geschmeidigen Eindruck in Gesten und Bewegungen – ein Eindruck, den die locker sitzenden Anzüge und die Hemden mit ihren weit offenen Kragen noch betonten.
Ich war an jenem ersten Abend empfänglich für die wattige Atmosphäre der Wohnung. Wir alle saßen reglos in unseren Fauteuils, mit Ausnahme des Amerikaners, der von Zeit zu Zeit aufstand, um ein Getränk zu servieren oder ans Telefon zu gehen, seine Schritte jedoch hörte man nicht, denn er trug Panchos. Bei jedem Anruf fragte Contour, wer am Telefon sei, und nach einem zustimmenden Nicken behielt der Amerikaner zwar den Apparat in der Hand, warf aber den Hörer zu Contour hinüber, und der fing ihn noch im Flug. Er flüsterte, den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt. War das Gespräch zu Ende, schleuderte Contour den Hörer zurück, der Amerikaner schnappte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, hängte ein und stellte das Telefon auf ein Tischchen. Licht von einer Lampe aus Opalglas an der Wand ganz hinten. Maddy Contour lächelte mich an. Paul Contour redete. Ganz ehrlich, ich erinnere mich nicht mehr, was er sagte: Ich achtete viel zu sehr auf den Klang seiner Stimme – eine sanfte und tiefe Stimme, eine Art Säuseln.