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Wer noch nie einen Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano gelesen hat, sollte jetzt damit anfangen.
Wer ist Noëlle Lefebvre? Warum verlor sich Mitte der 60er Jahre ihre Spur? Jean Eyben ist knapp zwanzig, als er in einer Pariser Detektei anheuert und auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere, doch das Rätsel lässt Jean auch Jahre später nicht los. Da sind die Namen von Noëlles Kontakten, das schmale, damals heimlich entwendete Dossier und ihr sporadisch geführter Kalender mit dem geheimnisvollen Satz „Wenn ich gewusst hätte…“. Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Noëlle Lefebvre stammt aus „einem Dorf in der Umgebung von Annecy“. So wie er selbst. Ein verblüffender, tief berührender Roman über die Hoheit der Erinnerung und die Deutung der eigenen Geschichte.
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Seitenzahl: 123
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Wer noch nie einen Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano gelesen hat, sollte jetzt damit anfangen.Wer ist Noëlle Lefebvre? Warum verlor sich Mitte der 60er Jahre ihre Spur? Jean Eyben ist knapp zwanzig, als er in einer Pariser Detektei anheuert und auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere, doch das Rätsel lässt Jean auch Jahre später nicht los. Da sind die Namen von Noëlles Kontakten, das schmale, damals heimlich entwendete Dossier und ihr sporadisch geführter Kalender mit dem geheimnisvollen Satz »Wenn ich gewusst hätte…«. Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Noëlle Lefebvre stammt aus »einem Dorf in der Umgebung von Annecy«. So wie er selbst. Ein verblüffender, tief berührender Roman über die Hoheit der Erinnerung und die Deutung der eigenen Geschichte.
Patrick Modiano
Unsichtbare Tinte
Roman
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag
Wer sich erinnern will, muss sich dem Vergessen anheimgeben, dieser Gefahr, die vollkommenes Vergessen ist, und diesem schönen Zufall, denn aus ihm wird Erinnerung.
Maurice Blanchot
Es gibt Leerstellen in diesem Leben, Leerstellen, die man errät, sobald man das »Dossier« aufschlägt: ein schlichtes Karteiblatt in einer himmelblauen Mappe, ausgebleicht mit der Zeit. Fast schon weiß, auch dieses einstige Himmelblau. Und das Wort »Dossier« steht mitten auf der Mappe geschrieben. In schwarzer Tinte.
Sie ist das einzige Überbleibsel aus der Agentur von Hutte, das ich noch besitze, die einzige Spur meines Verweilens in diesen drei Räumen einer ehemaligen Wohnung, deren Fenster hinausgingen auf einen Hof. Ich war nicht älter als zwanzig. Huttes Schreibtisch stand im hinteren Raum, zusammen mit dem Aktenschrank. Warum dieses »Dossier« und nicht ein anderes? Wegen der Leerstellen, wahrscheinlich. Und außerdem befand es sich nicht im Aktenschrank, sondern lag einfach so da, auf Huttes Schreibtisch. Eine »Geschichte«, sagte er, die noch nicht gelöst sei — würde sie es jemals? —, die erste, von der er mir erzählte an jenem Abend, als er mich eingestellt hatte, »zur Probe«, wie er sich ausdrückte. Und ein paar Monate später, an einem anderen Abend um die gleiche Zeit, als ich diese Arbeit aufgab und die Agentur endgültig verließ, da habe ich, ohne Huttes Wissen, und nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, das Karteiblatt in der himmelblauen Mappe, die auf seinem Schreibtisch herumlag, in meine Ledertasche gesteckt. Zur Erinnerung.
Ja, der erste Auftrag, den Hutte mir anvertraut hatte, stand im Zusammenhang mit diesem Karteiblatt. Ich sollte die Concierge eines Mietshauses im 15. Arrondissement fragen, ob sie etwas gehört habe von einer gewissen Noëlle Lefebvre, eine Person, die Hutte vor ein doppeltes Problem stellte: Sie war nicht nur von einem Tag auf den andern verschwunden, sondern es bestand auch Ungewissheit über ihre wahre Identität. Nach der Loge dieser Concierge hatte Hutte mich auf ein Postamt geschickt, versehen mit einem Ausweis, den er mir gegeben hatte. Darauf stand der Name Noëlle Lefebvre, mit ihrer Adresse und ihrem Foto, und er diente dazu, postlagernde Briefe am Schalter abzuholen. Besagte Noëlle Lefebvre hatte ihn in ihrer Wohnung vergessen. Anschließend sollte ich noch in ein Café gehen, um herauszukriegen, ob dort irgendwer in letzter Zeit Noëlle Lefebvre gesehen hatte, mich an einen Tisch setzen und bis zum Ende des Nachmittags dableiben, für den Fall, dass Noëlle Lefebvre auftauchte. Das alles im selben Viertel und am selben Tag.
Die Concierge ließ sich Zeit. Ich hatte lauter und lauter an das Logenfenster geklopft. Die Tür öffnete sich einen Spalt, es erschien ein verschlafenes Gesicht. Zuerst hatte ich den Eindruck, der Name »Noëlle Lefebvre« sage ihr nichts.
»Haben Sie sie kürzlich gesehen?«
Schließlich antwortete sie barsch:
»… Nein, Monsieur … ich hab sie seit mehr als einem Monat nicht mehr gesehen.«
Ich traute mich nicht, ihr weitere Fragen zu stellen. Ich hätte dafür auch gar keine Zeit gehabt, denn schon war die Tür wieder zu.
Am Schalter für postlagernde Sendungen studierte der Mann den Ausweis, den ich ihm hinhielt.
»Aber Sie sind nicht Noëlle Lefebvre, Monsieur.«
»Sie ist momentan nicht in Paris«, erwiderte ich. »Sie hat mir aufgetragen, ihre Post abzuholen.«
Da ist er aufgestanden und bis zu einer Reihe Ablagefächer gegangen. Er hat die paar Briefe darin durchgesehen. Er ist zurückgekommen und hat den Kopf geschüttelt.
»Nichts unter dem Namen Noëlle Lefebvre.«
Jetzt musste ich nur noch ins Café schauen, das Hutte mir genannt hatte.
Früher Nachmittag. Niemand in dem kleinen Saal, außer einem Mann hinterm Tresen, der Zeitung las. Er hatte mich nicht hereinkommen sehen und las weiter. Ich wusste nicht mehr, mit welchen Worten sollte ich meine Frage vorbringen? Ihm einfach nur die Postlagerkarte auf den Namen Noëlle Lefebvre hinhalten? Mir war die Rolle peinlich, die Hutte mich spielen ließ und die sich schlecht vertrug mit meiner Schüchternheit. Er hob den Kopf.
»Haben Sie Noëlle Lefebvre unlängst mal gesehen?«
Mir schien, ich sprach zu schnell, so schnell, dass ich die Wörter verschluckte.
»Noëlle? Nein.«
Er hatte so kurz angebunden geantwortet, dass ich versucht war, ihm weitere Fragen über diese Person zu stellen. Doch ich fürchtete, sein Misstrauen zu wecken. Ich habe mich an einen der Tische auf der kleinen Terrasse gesetzt, die hinausreichte bis aufs Trottoir. Er kam raus, um die Bestellung aufzunehmen. Das war der richtige Augenblick, mit ihm zu reden und mehr zu erfahren. Harmlose Sätze schwirrten mir durch den Kopf, die ihm vielleicht klare Antworten entlockt hätten.
»Ich warte nun doch … bei Noëlle kann man nie wissen … Was meinen Sie, wohnt die noch hier im Viertel? … Denken Sie nur, sie hat mich hierher bestellt … Sie kennen sie schon lange?«
Als er mir dann meine Grenadine brachte, habe ich nichts gesagt.
Ich zog den Ausweis, den Hutte mir anvertraut hatte, aus der Tasche. Heute, in einem andern Jahrhundert, halte ich auf Seite 11 des Clairefontaine-Blocks für einen Augenblick inne mit dem Schreiben, um mir noch einmal diesen Ausweis anzuschauen, der zum »Dossier« gehört. »Berechtigungskarte für den gebührenfreien Empfang postlagernder Briefsendungen. Berechtigung Nr. 1. Lefebvre. Vorname: Noëlle, wohnhaft in Paris, 15. Arrondissement. Straße und Hausnr.: Convention, 88. Fotografie des Inhabers. Ist berechtigt, postlagernd an ihn adressierte Briefsendungen gebührenfrei zu empfangen.«
Das Foto ist viel größer als ein schlichtes Automatenbild. Und zu dunkel. Über die Augenfarbe kann man nichts sagen. Und die Haare: brünett? hellbraun? Auf der Caféterrasse, an jenem Nachmittag, studierte ich so aufmerksam wie möglich dieses Gesicht mit den kaum wahrnehmbaren Zügen, und war mir nicht sicher, würde ich Noëlle Lefebvre erkennen?
Ich erinnere mich, es war Frühlingsanfang. Die kleine Terrasse lag in der Sonne, und zuweilen verdüsterte sich der Himmel. Ein Wetterdach über der Terrasse schützte mich vor den Regenschauern. Wenn auf dem Trottoir eine Gestalt näher kam, die Noëlle Lefebvre hätte sein können, folgte ich ihr mit dem Blick, abwartend, ob sie das Café betreten würde. Warum hatte mir Hutte keine genaueren Anweisungen gegeben, wie ich sie ansprechen sollte? »Sie werden schon etwas finden. Einfach unauffällig beschatten, damit ich weiß, ob sie sich noch rumtreibt in dem Viertel.« Beim Ausdruck »beschatten« hatte ich laut aufgelacht. Und Hutte hatte mich schweigend betrachtet, mit gerunzelter Stirn, beinah vorwurfsvoll wegen meiner Leichtfertigkeit.
Der Nachmittag verstrich langsam, und ich saß immer noch an einem der Terrassentische. Ich malte mir die Wege aus, die Noëlle Lefebvre von ihrem Haus zur Post ging, von der Post zum Café. Wahrscheinlich besuchte sie noch andere Orte im Viertel: ein Kino, ein paar Läden … Zwei, drei Personen, denen sie auf der Straße häufig begegnete, hätten ihre Existenz bezeugen können. Oder eine einzige Person, deren Leben sie teilte.
Ich hatte mir gesagt: Ich gehe jeden Tag zum Postschalter. Irgendwann fällt mir schon ein Brief in die Hände, einer jener Briefe, die ihren Empfänger nie erreichen. Verzogen, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Oder ich bleibe für eine Weile im Viertel. Nehme mir ein Hotelzimmer. Ich würde durch die Zone zwischen Mietshaus, Post und Café streifen und mein Beobachtungsfeld konzentrisch ausweiten. Das Kommen und Gehen der Leute auf dem Trottoir aufmerksam verfolgen und mich vertraut machen mit ihren Gesichtern wie jemand, der auf die Schwingungen eines Pendels starrt, bereit, die leisesten Wellen wahrzunehmen. Ich brauchte nur ein bisschen Geduld, und in jener Zeit meines Lebens war ich imstande, stundenlang zu warten, in der Sonne oder im Regen.
Ein paar Gäste waren ins Café getreten, doch Noëlle Lefebvre hatte ich unter ihnen nicht erkannt. Durch die Scheibe hinter mir konnte ich alle beobachten. Sie saßen auf den Bänken — ausgenommen einer, der am Tresen stand und mit dem Wirt redete. Der war mir gleich bei seiner Ankunft aufgefallen. Ungefähr in meinem Alter, jedenfalls nicht über fünfundzwanzig. Er war groß, brünett und trug eine Schaffelljacke. Der Wirt deutete mit einer kaum merklichen Bewegung zu mir herüber, und der andre stierte mich an. Aber dank der Scheibe, die uns trennte, fiel es mir leicht, den Kopf etwas zu drehen und so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt.
»Monsieur, Entschuldigung … Monsieur …«
Ich höre manchmal diese Worte in meinen Träumen, ausgesprochen in einem geheuchelt sanften Ton, aus dem eine Drohung herausklang. Es war der junge Mann in der Schaffelljacke. Ich spielte den Geistesabwesenden.
»Entschuldigung … Monsieur …«
Der Ton wurde schroffer wie bei jemand, der dich auf frischer Tat ertappt. Ich hob den Kopf.
»Monsieur …«
Mich überraschte der Ausdruck »Monsieur«, den er gebrauchte, obwohl wir im selben Alter waren. Seine Gesichtszüge wirkten verkrampft, und ich spürte ein gewisses Misstrauen mir gegenüber. Ich habe ihm ein breites Lächeln geschenkt, doch offenbar irritierte ihn dieses Lächeln.
»Ich habe gehört, Sie suchen Noëlle …«
Er stand da, vor meinem Tisch, als wollte er mich provozieren.
»Ja. Vielleicht können Sie mir sagen, was aus ihr geworden ist …«
»Warum sollte ich?«, fragte er mit hochnäsiger Stimme.
Ich bekam Lust, aufzuspringen und ihn einfach stehenzulassen.
»Warum? Na, weil sie eine Freundin ist. Sie hat mir aufgetragen, ihre postlagernden Briefe abzuholen.«
Ich zeigte ihm den Ausweis mit dem angehefteten Foto von Noëlle Lefebvre.
»Sie erkennen sie doch?«
Er betrachtete das Foto. Dann hat er den Arm ausgestreckt, als wollte er sich den Ausweis greifen, doch mit einer raschen Bewegung habe ich ihn daran gehindert.
Schließlich hat er sich zu mir an den Tisch gesetzt oder vielmehr in den Korbstuhl fallen lassen. Ich sah genau, dass er mich jetzt ernst nahm.
»Ich verstehe nicht … Sie haben ihre postlagernden Briefe abgeholt?«
»Ja. Vom Postamt, ein Stück weiter oben, Rue de la Convention.«
»Wusste Roger das?«
»Roger? Was für ein Roger?«
»Sie kennen ihren Mann nicht?«
»Nein.«
Ich dachte schon, ich hätte in Huttes Büro das Karteiblatt zu schnell gelesen, ein sehr knappes Karteiblatt, gerade mal drei Absätze. Doch mir schien, darauf gab es keinen Vermerk, dass Noëlle Lefebvre verheiratet war.
»Sie meinen Roger Lefebvre?«, fragte ich.
Er hat die Schultern gezuckt.
»Ach was. Ihr Mann heißt Roger Behaviour … Und Sie, wer sind Sie eigentlich?«
Er war mit seinem Gesicht ganz nah herangekommen und glotzte unverschämt.
»Ein Freund von Noëlle Lefebvre … ich habe sie unter ihrem Mädchennamen kennengelernt …«
Das hatte ich mit so ruhiger Stimme gesagt, dass er sich ein wenig besänftigte.
»Komisch, dass ich Sie nie gesehen habe mit Noëlle …«
»Ich heiße Eyben. Jean Eyben. Ich habe Noëlle Lefebvre vor ein paar Monaten kennengelernt. Sie hat mir nie gesagt, dass sie verheiratet ist.«
Er blieb stumm und wirkte richtig niedergeschlagen.
»Sie hat mich gebeten, ihre postlagernden Briefe abzuholen. Ich dachte, sie wohnt nicht mehr hier im Viertel.«
»Doch, doch«, sagte er mit dunkler Stimme. »Sie hat hier im Viertel gewohnt, mit Roger. In der Rue Vaugelas Nr. 13. Seither hab ich nichts mehr gehört.«
»Und wie heißen Sie?«
Sofort bereute ich, dass ich ihm diese Frage so unvermittelt gestellt hatte.
»Gérard Mourade.«
Ja, wirklich, Huttes Karteiblatt enthielt eine ganze Menge Lücken. Ein Gérard Mourade war darauf nicht erwähnt. Genauso wenig ein Roger Behaviour, Noëlle Lefebvres angeblicher Ehemann.
»Noëlle hat nie von Roger erzählt? Auch nicht von mir? Ist doch seltsam … Ich heiße Gé-rard Mou-rade …«
Er hatte seinen Namen sehr laut wiederholt, die Silben voneinander abgesetzt, als wollte er ein für alle Mal seine Identität klarstellen und in mir eine verschüttete Erinnerung wachrufen oder vielmehr mich überzeugen von Gérard Mourades Wichtigkeit.
»… Ich habe den Eindruck, wir sprechen nicht von derselben Person …«
Ich wollte ihm zu seiner Beruhigung schon antworten, er habe recht und schließlich gebe es in Frankreich bestimmt viele Noëlle Lefebvres. Und nach diesen versöhnlichen Worten wären wir auseinandergegangen.
Ich versuche mehr schlecht als recht das Gespräch aufzuschreiben, das ich an jenem Nachmittag mit besagtem Gérard Mourade geführt habe, doch vorhanden sind nur mehr Bruchstücke, nach so vielen Jahren. Mir wäre lieb, ich hätte alles auf Tonband aufgezeichnet. So käme mir beim Abhören heute nicht das Gefühl, unsere Unterhaltung habe in sehr weiter Vergangenheit stattgefunden, sei vielmehr Teil einer ewigen Gegenwart. Man hätte als Hintergrundgeräusch, und auf immer, das Stimmengewirr eines Frühlingsnachmittags in der Rue de la Convention vernommen, und sogar Wortfetzen von Kindern, die aus der benachbarten Schule strömten — Kinder, die heute Erwachsene wären, in einem fortgeschrittenen Alter. Und durch diesen Schwall Gegenwart, der unbeschadet fast ein halbes Jahrhundert überdauert hätte, wäre mir klarer geworden, in welchem Geisteszustand ich mich damals befand. Hutte hatte mir eine Stelle angeboten in seiner Agentur — eine ganz untergeordnete Stelle —, aber diesen Weg wollte ich auf gar keinen Fall einschlagen. Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete. Die Schule des Lebens, sozusagen.
Er hatte mir erklärt, vor ein paar Wochen habe ihn ein »Klient« aufgesucht, sein Name stand ganz oben auf dem Karteiblatt: Brainos, Avenue Victor-Hugo Nr. 194. Dieser habe ihn gebeten, Ermittlungen anzustellen über das Verschwinden von Noëlle Lefebvre. Und als ich dort am Schalter für postlagernde Sendungen stand, hatte ich gehofft, ein Brief oder ein Telegramm an diese Noëlle Lefebvre würde uns auf ihre Fährte bringen. Auf der Caféterrasse, während die Zeit so verstrich, war die Hoffnung wieder erwacht. Ich war mir fast sicher, sie könnte von einem Augenblick zum andern auftauchen.
Es war später Nachmittag. Gérard Mourade saß mir immer noch gegenüber.
»Wir sprechen von ein und derselben Person«, sagte ich.
Wieder hielt ich ihm die Postlagerkarte hin. Er studierte sie eine ganze Weile.
»Ja, das ist sie. Aber warum Rue de la Convention? Sie wohnte mit Roger in der Rue Vaugelas.«
»Glauben Sie nicht, das war ihre Adresse, bevor sie geheiratet hat?«
»Roger hat mir gesagt, sie wäre gerade erst nach Paris gekommen, als er ihr begegnet ist.«
Die Informationen, die Hutte gesammelt hatte, waren diffus. Bestimmt hatte er das Karteiblatt in aller Eile geschrieben, wie ein schlechter Schüler seine täglichen Hausaufgaben während der Ferien.
»Aber Sie, ich wüsste gern, wo Sie Noëlle kennengelernt haben …«