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Während die Mutter mit einem Theaterstück durch Nordafrika reist und der Vater sich in Südamerika obskuren Geschäften widmet, werden Patoche und sein kleiner Bruder in die Obhut von vier exzentrischen Frauen gegeben. Ihr neues Zuhause, ein efeubewachsenes Haus in der Nähe von Paris, bleibt den beiden Jungen eine unverständliche Welt, die vier Frauen ein nicht zu lösendes Rätsel: da ist Helene, die ehemalige Zirkusakrobatin, Annie und deren sture Mutter Mathilde. Und schließlich noch Schneewittchen, das junge Mädchen, das eines Tages spurlos vom Erdboden verschwindet. Auf sich allein gestellt erkunden Patoche und sein Bruder die ungewöhnliche ›maison Guillotin‹, steigen nachts ins unweit gelegene Schloss und unternehmen Ausflüge nach Paris. Bis sich mit dem Auftauchen von drei mysteriösen Männern ihr Schicksal ein weiteres Mal wendet ...
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Seitenzahl: 91
Während die Mutter mit einem Theaterstück durch Nordafrika reist und der Vater sich in Südamerika obskuren Geschäften widmet, werden Patoche und sein kleiner Bruder in die Obhut von vier exzentrischen Frauen gegeben. Ihr neues Zuhause, ein efeubewachsenes Haus in der Nähe von Paris, bleibt den beiden Jungen eine unverständliche Welt, die vier Frauen ein nicht zu lösendes Rätsel: da ist Hélène, die ehemalige Zirkusakrobatin, Annie und deren sture Mutter Mathilde. Und schließlich noch Schneewittchen, das junge Mädchen, das eines Tages spurlos vom Erdboden verschwindet. Auf sich allein gestellt erkunden Patoche und sein Bruder die ungewöhnliche ›maison Guillotin‹, steigen nachts ins unweit gelegene Schloss und unternehmen Ausflüge nach Paris. Bis sich mit dem Auftauchen von drei mysteriösen Männern ihr Schicksal ein weiteres Mal wendet …
Patrick Modiano, geboren 1945 bei Paris als Sohn einer Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten, publizierte bereits im Alter von 22 Jahren seinen ersten Roman. 1978 erhielt er für Die Gasse der dunklen Läden den Prix Goncourt. 2014 wurde Modiano der Nobelpreis verliehen.
Im Suhrkamp Verlag sind von ihm u. a. erschienen: Eine Jugend (st 4615), Villa Triste (st 4616), Die Gasse der dunklen Läden (st 4617), Pariser Trilogie (st 4618), Sonntage im August
Patrick ModianoStraferlaß
Roman
Die Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel
Remise de peine
bei Seuil.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4619
© Suhrkamp Verlag Berlin 1990
© Éditions du Seuil 1988
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Umschlagfoto: Edouard Boubat/RAPHO/Getty Images
»Es gibt kaum eine Familie, die vier Generationen zählt und die nicht Anspruch erhöbe auf irgendeinen ruhenden Rechtstitel oder auf irgendein Schloß oder einen Besitz: ein Anspruch, der vor keinem Gericht einklagbar wäre, der aber der Phantasie schmeichelt und die Stunden der Muße verkürzt.
Der Anspruch eines Mannes auf seine eigene Vergangenheit ist noch weniger begründet.«
R. L. Stevenson,
A Chapter on Dreams
Es war die Zeit, als die Theatertourneen nicht nur durch Frankreich, die Schweiz und Belgien führten, sondern auch durch Nordafrika. Ich war zehn Jahre alt. Meine Mutter war mit einem Stück auf Tournee, und mein Bruder und ich wohnten bei Freunden von ihr, in einem Dorf der Umgebung von Paris.
Ein einstöckiges Haus mit efeubewachsener Fassade. Eines jener vorspringenden Fenster, die die Engländer bow windows nennen, verlängerte den Salon. Hinter dem Haus ein in Terrassen angelegter Garten. Am Ende der ersten Gartenterrasse lag unter Klematis das Grab von Doktor Guillotin versteckt. Hatte er in diesem Haus gelebt? Hatte er dort seine Maschine zum Köpfeabschneiden weiterentwickelt? Ganz oben im Garten zwei Apfelbäume und ein Birnbaum.
Die kleinen Emailschilder, die mit Silberkettchen an den Likörkaraffen im Salon befestigt waren, trugen Namen: Izarra, Sherry, Curaçao. Das Geißblatt überwucherte den Brunnenrand in der Mitte des Hofs, der dem Garten vorgelagert war. Das Telefon stand auf einem Tischchen ganz nah an einem der Fenster des Salons.
Ein Gitter schützte die Fassade des leicht zurückgesetzten Hauses in der Rue du Docteur-Dordaine. Eines Tages war das Gitter neu gestrichen worden, nachdem man es mit Mennige überzogen hatte. War es wirklich Mennige, dieser orangefarbene Anstrich, der mir hartnäckig in Erinnerung bleibt? Die Rue du Docteur-Dordaine sah dörflich aus, vor allem am Ende: eine von Ordensschwestern geführte Schule, dann ein Bauernhof, wo man Milch holen ging, und weiter weg das Schloß. Ging man die Straße hinunter, kam man an der Post vorbei; auf gleicher Höhe, links, waren hinter einem Gartentor die Gewächshäuser des Blumenhändlers zu erkennen, dessen Sohn mein Banknachbar war. Etwas weiter, auf demselben Trottoir wie die Post, verborgen unter dem Laub der Platanen, die Mauer der Jeanne-d'Arc-Schule.
Dem Haus gegenüber eine sanft abfallende Allee. Sie war rechts von der protestantischen Kirche und einem kleinen Gehölz gesäumt, in dessen Dickicht wir einen deutschen Soldatenhelm gefunden hatten; links von einem langen weißen Wohnhaus mit Giebeldach und einem großen Garten mit einer Trauerweide. Weiter unten begrenzte diesen Garten das Gasthaus Robin des Bois.
Am Ende des Abhangs und quer dazu die Straße. Rechts der immer menschenleere Bahnhofsplatz, auf dem wir Fahrrad fahren gelernt haben. In der anderen Richtung ging man an den öffentlichen Anlagen entlang. Auf dem linken Trottoir ein Gebäude mit einer Galerie aus Beton, wo der Zeitungshändler, das Kino und die Apotheke aufeinanderfolgten. Der Sohn des Apothekers war einer meiner Klassenkameraden, und eines Nachts brachte sich sein Vater um, indem er sich mit einem Strick, den er an der Terrasse der Galerie befestigt hatte, erhängte. Im Sommer hängen sich die Leute offenbar auf. Zu den anderen Jahreszeiten ertränken sie sich lieber in den Flüssen. Der Bürgermeister des Dorfes hatte das zum Zeitungshändler gesagt.
Sodann ein verlassenes Gelände, wo jeden Freitag Markt war. Manchmal erhoben sich dort die Kuppel eines Wanderzirkus und Jahrmarktsbuden.
Man gelangte vor das Rathaus und zum Bahnübergang. Nachdem man ihn hinter sich gebracht hatte, folgte man der Hauptstraße des Dorfes, die bis zum Kirchplatz und zum Gefallenendenkmal hinaufging. Eine Weihnachtsmesse lang waren mein Bruder und ich Chorknaben in dieser Kirche.
Es gab nur Frauen in dem Haus, wo wir beide wohnten.
Die kleine Hélène war eine Brünette von etwa vierzig Jahren mit einer breiten Stirn und vorstehenden Backenknochen. Durch ihre sehr kleine Gestalt war sie uns nahe. Infolge eines Arbeitsunfalls hinkte sie leicht. Sie war Kunstreiterin gewesen, dann Akrobatin, und das verlieh ihr in unseren Augen Ansehen. Der Zirkus – den wir, mein Bruder und ich, eines Nachmittags im Médrano entdeckt hatten – war eine Welt, an der wir teilhaben wollten. Sie hatte uns gesagt, daß sie ihren Beruf schon lange nicht mehr ausübe, und sie zeigte uns ein Album, in das Fotos von ihr im Reit- und im Akrobatinnenkostüm eingeklebt waren, und Seiten aus Varietéprogrammen, auf denen ihr Name erwähnt war: Hélène Toch. Oft bat ich sie, mir dieses Album zu geben, damit ich vor dem Einschlafen im Bett darin blättern konnte.
Sie bildeten ein merkwürdiges Trio, sie, Annie und Annies Mutter, Mathilde F. Annie war eine Blondine mit kurzem Haar, gerader Nase, sanftem und zartem Gesicht, hellen Augen. Doch etwas Brutales in ihrer Haltung kontrastierte mit der Sanftheit des Gesichts, vielleicht wegen der alten braunen Lederjacke – einer Männerjacke –, die sie tagsüber zu sehr engen schwarzen Hosen trug. Abends zog sie oft ein hellblaues Kleid an, das in der Taille durch einen breiten schwarzen Gürtel zusammengehalten wurde, und so war sie mir lieber.
Annies Mutter sah ihr nicht ähnlich. War sie wirklich ihre Mutter? Annie nannte sie Mathilde. Graues Haar, zum Knoten gesteckt. Ein hartes Gesicht. Immer dunkel gekleidet. Sie machte mir angst. Sie kam mir alt vor, und doch war sie es nicht: Annie war damals sechsundzwanzig und ihre Mutter fünfzig. Ich erinnere mich der Kameen, die sie an ihre Bluse steckte. Sie hatte einen südlichen Akzent, den ich später bei den Einwohnern von Nîmes wiederfand. Annie hatte diesen Akzent nicht, sondern, wie mein Bruder und ich, den von Paris.
Jedesmal, wenn Mathilde sich an mich wandte, nannte sie mich »dummes Seelchen«. Eines Morgens, als ich aus meinem Zimmer herunterkam, um zu frühstücken, hatte sie wie üblich zu mir gesagt:
– Guten Morgen, dummes Seelchen.
Ich hatte zu ihr gesagt:
– Guten Morgen, Madame.
Und nach all diesen Jahren höre ich noch, wie sie mir mit ihrer barschen Stimme mit dem Akzent von Nîmes antwortet:
– Madame? … Du kannst Mathilde zu mir sagen, dummes Seelchen …
Die kleine Hélène mußte, unter ihrer Freundlichkeit, eine stahlharte Frau sein.
Später habe ich erfahren, daß sie Annie kennengelernt hatte, als diese neunzehn Jahre alt war. Sie übte einen solchen Einfluß auf Annie und ihre Mutter Mathilde F. aus, daß die beiden Frauen Herrn F. verließen, um mit ihr zusammenzuleben.
Sicherlich hat der Zirkus, in dem die kleine Hélène arbeitete, eines Tages in einem Provinzstädtchen haltgemacht, wo Annie und ihre Mutter wohnten. Annie saß in der Nähe des Orchesters, und die Trompeten kündigten den Auftritt der kleinen Hélène an, die ein schwarzes Pferd mit silbernem Harnisch ritt. Oder ich stelle sie mir da oben auf dem Trapez vor, wie sie sich auf den dreifachen Salto vorbereitet.
Und Annie trifft sie nach der Vorstellung in dem Wohnwagen, den die kleine Hélène mit der Schlangenfrau teilt.
Eine Freundin von Annie F. kam oft ins Haus. Sie hieß Frede. Heute, in meinen Erwachsenenaugen, ist sie nur noch eine Frau, die in den fünfziger Jahren ein Nachtlokal in der Rue de Ponthieu betrieb. Damals schien sie gleich alt zu sein wie Annie, doch sie war ein bißchen älter, ungefähr fünfunddreißig. Eine Brünette mit kurzem Haar, zierlichem Körper, blassem Teint. Sie trug taillierte Herrenjacketts, von denen ich glaubte, es seien Reitjacken.
Neulich blätterte ich bei einem Antiquar in einer alten Nummer von La Semaine à Paris vom Juli 1939, wo die Programme der Kinos, der Theater, der Varietés und Kabaretts aufgeführt waren. Zu meiner Überraschung stieß ich auf ein winziges Foto von Frede: mit zwanzig Jahren trat sie schon in einem Nachtlokal auf. Ich habe dieses Programm gekauft, ein wenig so, wie man sich ein Beweisstück verschafft, ein greifbares Zeugnis, daß man nicht geträumt hat.
Darin steht:
La Silhouette
58, rue Notre-Dame-de-Lorette
Montmartre. TRI 64-72
FREDE präsentiert
von 22 Uhr bis zum Morgengrauen
ihr weibliches Tanz-Kabarett
Zurück aus der Schweiz
DON MARYO
von dem berühmten Orchester
Der Gitarrist Isidore Langlois
Betty and the nice boys.
Und ich finde flüchtig das Bild wieder, das mein Bruder und ich von Frede hatten, wenn wir sie bei der Rückkehr von der Schule im Garten des Hauses sahen: eine Frau, die zur Welt des Zirkus gehörte, wie die kleine Hélène, und die diese Welt mit dem Nimbus des Geheimnisses umgab. Es bestand für uns kein Zweifel, daß Frede in Paris einen Zirkus leitete, kleiner als der Médrano, einen Zirkus unter einem Zelt aus weißer Leinwand mit roten Streifen, der »Carroll's« hieß. Diesen Namen hörte ich oft aus Annies und Fredes Mund: Carroll's – das Nachtlokal in der Rue de Ponthieu, ich aber sah das rot-weiße Zelt und die Tiere der Menagerie, und Frede mit der schmalen Silhouette und den taillierten Jacketts war die Dompteuse.
Donnerstags brachte sie manchmal ihren Neffen mit ins Haus, einen Jungen unseres Alters. Und wir spielten den Nachmittag über alle drei zusammen. Er wußte viel besser Bescheid über das Carroll's als wir. Ich erinnere mich an einen sibyllinischen Satz, den er uns gesagt hatte und der noch in mir nachklingt: