Die Täterinnen von Majdanek - Ingrid Müller-Münch - E-Book

Die Täterinnen von Majdanek E-Book

Ingrid Müller-Münch

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Beschreibung

»Dieses Buch ist aktueller denn je: Es zeigt, wohin Rechtsextremismus und Antisemitismus führen können. In ihrem aktualisierten Bericht des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses porträtiert Ingrid Müller-Münch nicht allein die Opfer des Massenmords, sondern insbesondere die »Frauen auf der Anklagebank«: Sie waren keine fanatischen Nationalsozialistinnen, bevor sie zu brutalen, sadistischen und mörderischen KZ-Aufseherinnen wurden, sondern Hausfrauen, Fabrikarbeiterinnen oder Pflegerinnen – Frauen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Diese Täterinnen-Biografie sollte gerade jetzt auch Pflichtlektüre in den Schulen werden und zugleich uns allen Mahnung für die Zukunft!« (Günter Wallraff, Sommer 2024)

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Ingrid Müller-Münch

Die Täterinnen von Majdanek

Ingrid Müller-Münch

Die Täterinnen von Majdanek –

KZ-Aufseherinnen vor Gericht

Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2024

Printed in Germany

ISBN 978-3-910732-25-4

eISBN 978-3-910732-33-9

www.dittrich-verlag.de

Satz: Gaja Busch

Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Neubearbeitung des

1982 erschienen Buches Die Frauen von Majdanek. Vom

zerstörten Leben der Opfer und der Mörderinnen von Ingrid

Müller-Münch.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Ein Taxifahrer fällt aus der Rolle – »Ein ganz normaler Prozesstag«

Das Lager Majdanek – Auszüge aus Gerichtsakten und Urteilsbegründung

Die Angeklagte Hermine Ryan-Braunsteiner, genannt »Kobyla, die Stute«

Die Zeugin Krystyna Tarasiewicz – »Ein Bild, das ich nie vergessen werde«

Hildegart Lächert, die »blutige Brygida«

Exkurs: Die Strafverfolgung – Eine Bilanz der Versäumnisse

Die Zeugin Danuta Medryk – »Auf dem Hofraum des Frauengefängnisses lege ich die Reifeprüfung ab«

Exkurs der Autorin: Warum ich immer wieder in Saal 111 saß

Die Zeugin Danuta Kawecka – »Hungrig, steif vor Kälte«

Exkurs: Die Vorgeschichte des Prozesses

Überlebende des KZ Majdanek als Zeuginnen vor Gericht – »Hatte das Mädchen Schuhe an?«

Die Zeugin Danuta Medryk – »Hallo, hallo, hier Radio Majdanek«

Die Zeugin Danuta Medryk – »Eine Kruste, von der wir immer umgeben sein werden«

Exkurs: Alltag im Gerichtssaal – Die Verteidiger

Exkurs: Alltag im Gerichtssaal – Vier Freisprüche

Die freigesprochene Angeklagte Hermine Böttcher, »das Perlchen«

Die freigesprochene Angeklagte Charlotte Mayer, »die Lotti«

Die freigesprochene Angeklagte Rosa Süss, »die bayerische Wäscherin«

Die im Prozessverlauf verstorbene Angeklagte Alice Orlowski, genannt »Krowa, die Kuh«

Susanne v. Paczensky: Die Zeuginnen Rosa und Brenda

Das Urteil

Die Prozess-Dolmetscherin Martel Schaschynek – »Manche Zeugen hielten meine Hand fest«

Die Richterin Ruth-Marie Linden-Bettmann – »Eine Aufgabe, die wir nur unvollkommen bewältigen konnten«

Der Staatsanwalt Dieter Ambach – »Mit mindestens der gleichen Grausamkeit wie die Männer«

Gespräch mit der Tochter von Staatsanwalt Dieter Ambach, Bettina, fünfzehn Jahre alt, und ihrer Schulfreundin Katja – »Für die in der Schule ist das Omakram«

Die Zeugen »von der anderen Seite«

Josefine Jürgens – Der »Engel«, der den Nazis half

Epilog

Literaturhinweise

Bildnachweise

Buchveröffentlichungen der Autorin

Prolog

Zeugin: »Das Mädchen stand auf einem Schemel. Dann wurde der Schemel weggestoßen … durch … Brygida.«

Ein Richter hakt nach:

Richter: »Was hatte das Mädchen an? Ein dunkles Kleid. Sie haben aber vorhin gesagt, ein schwarzes Kleid.«

Der Zeugin wird vorgehalten, eine andere Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek habe gesagt, es sei ein roter Rock und eine blaue Bluse oder ein blauer Pullover gewesen. Der Vorsitzende Richter schaltet sich ein, korrigiert, braun. Roter Rock und brauner Pullover oder brauner Rock und roter Pullover.

Zeugin: »Es ging so plötzlich. Wir hatten solche Angst. Wir haben weggeschaut.«

Die Zeugin wird immer leiser, ihre Schultern sacken nach vorne. Das Gericht wird aufmerksam. Weggeschaut? Ja dann kann sie ja nichts gesehen haben.

Doch, versichert die Zeugin, es sei Brygida gewesen, die den Schemel umgestoßen habe. Ob denn das Mädchen noch etwas gesprochen habe, bevor es gehängt wurde, will der Vorsitzende Richter wissen.

Zeugin: »Vergesst mich nicht und rächt mich.« (Zeugin schluchzt und flüstert fast)

Richter: »Hatte das Mädchen Schuhe an oder war es barfuß?«

(Befragung einer KZ-Überlebenden als Zeugin im Majdanek-Prozess)

Ein Taxifahrer fällt aus der Rolle –»Ein ganz normaler Prozesstag«

Der 466. Verhandlungstag im Majdanek-Prozess. Den ganzen Vormittag hatte ich in der muffigen Atmosphäre des Düsseldorfer Landgerichts verbracht, einem der Verteidiger gelauscht, der durch sein Plädoyer eine angeklagte Massenmörderin vor lebenslanger Haft bewahren wollte. Und ich kam mir jetzt am Kölner Hauptbahnhof, auf der Suche nach einem Taxi, noch immer fremd und deplatziert in dieser hektischen Alltagsbetriebsamkeit vor. Der Wechsel von der Welt, über die man in Saal 111 des Düsseldorfer Landgerichts seit über fünf Jahren zu Gericht saß, und der, die draußen vor der Tür so gar nichts damit zu tun hatte, fiel mir fast jedes Mal schwer. So grübelte ich denn vor mich hin und ließ mich erschöpft von einem Taxifahrer nach Hause kutschieren. Ganz in Gedanken, müde und leer. An einem Zebrastreifen musste der Wagen halten, weil eine Frau mit einem Kopftuch, an der Hand zwei kleine Kinder, die Straße überquerte. Plötzlich eröffnete der Mann hinter dem Steuer mit einer Bemerkung, die ich erst gar nicht verstand, einen endlos langen Monolog. »Woanders wäre ich jetzt einfach durchgefahren«, brummte er zwischen den Zähnen. Woraufhin ich erstaunt aufhorchte und mich erkundigte, wie er das gemeint habe. Von der Frau, die da so unverhofft seinen Weg gekreuzt hatte, kam er auf die Ausländer, die sich hier breit machten und es geschickt verstünden, durch unaufhaltsames Kinderkriegen dem deutschen Steuerzahler die Würmer aus der Nase zu ziehen. Die sollte man alle »platt machen«. Dann ließ er sich über die »Zigeuner« aus, die zwar verdreckt und verarmt täten, aber im Grunde genug Geld zusammengeschachert hätten, um in dicken Mercedes-Limousinen durch die Gegend zu fahren. Und so, als hätte er geahnt, dass ich gerade aus einem Prozess kam, bei dem es um die Ermordung von hundertausenden Menschen ging, schlug er auch dorthin noch den Bogen.

Einige Tage vor diesem Dienstag, dem 12. Mai 1981, hatte der damalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin für Schlagzeilen gesorgt, als er dem deutschen Volk insgesamt die Mitschuld an dem gegeben hatte, was während der nationalsozialistischen Herrschaft den Juden angetan worden war. Was der sich eigentlich einbilde – geriet die Stimme des beleidigten deutschen Volkes da hinter dem Lenkrad immer mehr in Fahrt – wo diese Juden uns Deutsche doch nun wirklich hinlänglich geschröpft hätten. Millionen und Millionen an Wiedergutmachung hätten wir ihnen schon in den Rachen gestopft, und noch immer wollten sie keine Ruhe geben. Dabei lebte doch längst keiner mehr von denen, die seinerzeit in den KZs gewesen wären. Es sei Zeit, endlich »Schwamm drüber« zu sagen, damit deren Kinder nicht länger auf unsere Kosten ein schönes Leben in Israel führen könnten. Die ganze Fahrt über ging das so – und da ich wie versteinert diese Hasstirade über mich ergehen ließ, feuerte ihn mein Schweigen erst recht an. Endlich, vor meiner Haustüre, hörte der Redefluss auf. Aber noch immer brachte ich kein Wort heraus, gab ihm sogar ein Trinkgeld und ging nach Hause.

Bis heute habe ich mir nicht verziehen, dass ich so gar nichts dazu gesagt habe. Dass ich nicht wenigstens meine Verachtung, meinen Widerspruch, mein Entsetzen ausgedrückt habe. Und wenn es nur dadurch gewesen wäre, dass ich ihm kein Trinkgeld gegeben hätte. Ich habe seither oft darüber gegrübelt, warum mich diese Situation so gelähmt hat. Warum ich, sonst kaum um eine Antwort verlegen, gar nicht reagieren konnte.

Vielleicht ist diese Szene mit ein Grund dafür, warum ich das Buch, das ich 1982 über die Frauen von Majdanek schrieb, hier nun in einer aktualisierten und überarbeiteten Form noch einmal herausgebe. Denn nationalsozialistisches Gedankengut lebt bis heute weiter, wie auch an dem neuerlichen Erstarken von rechten und rechtsextremen Parteien zu erkennen ist.

Was mich damals an diesem Prozess gegen Hackmann u. a. (wie er offiziell nach dem Hauptangeklagten und ehemaligen SS-Hauptsturmführer Hermann Hackmann benannt war) vor allem faszinierte, waren die Rollen, die die angeklagten Frauen in Majdanek spielten. Bis dahin wusste man wenig über KZ-Aufseherinnen. Hier bot sich die Gelegenheit, ihre Motive, ihr Leben kennenzulernen. Denn Hass und Gewalt in Majdanek gingen nicht ausschließlich von den Männern aus. Sie hatten zwar das Sagen, wie in allen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Aber auch die Frauen erwiesen sich nicht dem Klischee entsprechend, das sie als weise, versöhnlich, mütterlich und friedfertig zeichnet. Die im Majdanek-Prozess angeklagten Frauen mordeten und waren auf eine Weise brutal, dass sie in so mancher Publikation über das Verfahren als wahre Furien und Monster dargestellt wurden.

Um mein Buch über die Frauen von Majdanek noch einmal in die Hand zu nehmen und meinen Zorn über das loszuwerden, was seit seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1982 geschehen war, brauchte ich mehrere Anläufe, habe mich lange gesträubt. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung daran, was in Majdanek geschah und was in Saal 111 des Düsseldorfer Landgericht noch einmal in Erinnerung gerufen wurde.

Erst 2015 begann ich ernsthaft darüber nachzudenken. Damals wurde Oskar Gröning, einst Buchhalter von Auschwitz, wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vor dem Schwurgericht Lüneburg angeklagt und verurteilt. Als Ende 2022 von einem Itzehoer Landgericht eine 97-Jährige ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof nach 40 Verhandlungstagen wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen verurteilt wurde, habe ich angefangen, meine Unterlagen zu durchforsten und zu sortieren. Und mich zurückerinnert an die Zeit, als einstige Majdanek-Häftlinge nach Düsseldorf angereist waren, um gegen ihre ehemaligen Peiniger und Peinigerinnen auszusagen. Hätte es damals schon den heutigen juristischen Umgang mit dem Personal in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten gegeben – ihre Anreise wäre nicht nötig gewesen. Sie hätten sich nicht noch einmal mit Erinnerungen und Albträumen konfrontieren müssen. Ein Umschwung, der mich heute noch wütend macht. Nicht weil er stattfand. Sondern weil er viel zu spät kam.

Am 26. November 1975 habe ich zum ersten Mal ein Gerichtsgebäude betreten. Wenige Wochen zuvor erst war mein Volontariat bei der Westdeutschen Zeitung zu Ende gegangen. Übergangslos wurde ich damals Landeskorrespondentin der Nachrichtenagentur Reuters. Das bedeutete, dass ich an manchen Tagen drei, vier Termine wahrnehmen musste. Dieser hier war Pflicht, hörte sich nach Routine an.

Altnazis vor Gericht! War dazu nicht längst alles gesagt?

Die Redaktion meinte, da müsse ich schon hingehen. Dennoch verspürte ich allgemein ein unterschwelliges Desinteresse, zunächst auch bei mir. Das änderte sich erst vier Jahre nach Prozessbeginn, Hollywood sei Dank. Mit der Ausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust« im Januar 1979 drängte sich die Erinnerung an die millionenfach ermordeten Juden plötzlich zwischen Salzstangen und Feierabendbier mitten in die deutschen Wohnzimmer.

An diesem November-Mittwoch 1975 jedoch stand ich – schlecht vorbereitet auf das, was da auf mich zukommen würde – unschlüssig auf dem Flur vor Saal 111 des Düsseldorfer Landgerichts. Jung war ich, Mitte 20, unerfahren, nervös. Ich ahnte noch nicht, dass in wenigen Minuten eines der aufwendigsten und längsten Verfahren in der Geschichte der Bundesrepublik beginnen würde. Ein Prozess, der mein Leben mitbestimmen sollte. Hier ging es um sechs Frauen und neun Männer, einst SS-Leute, allesamt als junge Menschen Aufseher und Aufseherinnen des Konzentrationslagers Majdanek. Der Prozess war eine Besonderheit, denn nie zuvor waren ehemalige SS-Frauen vor einem deutschen Gericht angeklagt worden. Man wusste wenig über KZ-Aufseherinnen, kannte weder ihre Motivation, ihre Herkunft, ihren Alltag, ihren Antrieb. Der Majdanek-Prozess hat einiges ans Licht geholt.

Noch jedenfalls waren die Saaltüren an diesem ersten Verhandlungstag verschlossen. Neben mir bildeten sich Grüppchen, Kollegen begrüßten sich, man kam ins Gespräch. Unerfahren, wie ich war, gehörte ich noch nicht zu diesem inneren Zirkel. Deshalb schlenderte ich allein den langgestreckten Flur entlang. Plötzlich kam eine Frau auf mich zu. Korpulent, die Haare zu einem altmodischen Dutt im Nacken zusammengesteckt, eher nachlässig in ein schlechtsitzendes Kostüm gekleidet. Ihr Lächeln, mit dem sie mich begrüßte, wirkte angespannt, unsicher, beinahe devot. Noch bevor ich mich erkundigen konnte, wer sie denn sei, platzte es regelrecht aus ihr heraus: Das, was hier vonseiten der deutschen Justiz gespielt werde, sei zutiefst ungerecht. Die Polen hätten sie doch schon verurteilt und inhaftiert. Jetzt müsse doch auch mal gut sein, wo sie doch immer nur das Beste gewollt hätte. Bei diesen Worten schniefte sie in ein Taschentuch.

Drei Angeklagte hinter Regenschirmen auf dem Gerichtsflur vor Saal 111

Erschrocken hörte ich ihr zu. Noch bevor ich mich erkundigen konnte, wer sie denn sei, öffneten sich die Saaltüren, auf die nun alle zustrebten. Ich schloss mich an und ergatterte einen der vorderen Plätze auf der Pressebank. Von dort aus sah ich sie wieder, diese Frau, deren Namen ich noch immer nicht kannte. Sie hatte in der zweiten Reihe Platz genommen, als Angeklagte, direkt gegenüber dem Richterpult. Kurz darauf betrat die Schwurgerichtskammer zum ersten Mal Saal 111.

Gleich zu Prozessbeginn wurde klar: Routine würde dies nicht sein, was mich hier erwartete, in diesem wilhelminisch prunkvollen, dadurch aber auch einschüchternden Gerichtsgebäude an der Düsseldorfer Mühlenstraße. Am fünften Verhandlungstag erst konnte nach endlosem Hin und Her zwischen Verteidigern und Gericht die Anklageschrift verlesen werden.

Auf meinem Stenogrammblock vom 5. Dezember 1975 erinnern mich die verwischten undeutlichen Schriftzeichen an meine Tränen und meine Wut, die ich an diesem Wintervormittag nicht zurückhalten konnte. Wut über jene Frau, die sich so dreist auf dem Gerichtsflur bei mir angebiedert hatte. Und nun, während der Hauptverhandlung, unter der Bank gerne ihr Strickzeug verbarg.

An jenem Tag verwandelte sie sich in meinen Augen zurück in die »blutige Brygida« der Jahre 1942/43. In die Aufseherin des Lubliner Lagers, die – laut Anklage – Häftlinge getreten und zu Tode gepeitscht, Frauen und Kinder zum Ersticken in der Gaskammer ausgewählt, ihren Schäferhund auf eine schwangere Jüdin gehetzt und Frauen in Latrinen gestoßen und ertränkt haben soll. Die Opfer der in Majdanek begangenen Verbrechen wurden vergast, erschossen, erschlagen, totgetreten, erhängt, ertränkt, geschunden, gefoltert. Und Hildegard Lächert, die »blutige Brygida«, habe mitgeholfen.

474 Tage lang, vom 26. November 1975 bis 30. Juni 1981, also fünfeinhalb Jahre lang, versuchte das Düsseldorfer Schwurgericht die Vorwürfe gegen Hildegard Lächert, Hermine Ryan-Braunsteinger und die mit ihnen angeklagten Männer und Frauen zu erhärten. Mithilfe von etwa 340 Zeugen aus Israel, der damaligen UdSSR, Polen, den USA, Südafrika, Australien, Österreich, Kanada und Deutschland. Darunter 215 ehemalige Häftlinge, Männer und Frauen, sowie 85 einstige Angehörige des SS-Wachpersonals. Etwa 70mal reiste das Schwurgericht zur Vernehmung derjenigen ins Ausland, die sich weigerten, wieder deutschen Boden zu betreten. Oder für die eine solche Reise einfach zu beschwerlich gewesen wäre.

Ich habe seit 1975, also seit meinem ersten Besuch im Majdanek-Prozess, fast 25 Jahre lang in NS-Prozessen vor deutschen und französischen Gerichten auf der Pressebank gesessen. In dieser Zeit habe ich immer wieder mitbekommen, welchen Qualen KZ-Überlebende ausgesetzt waren, angesichts einer minutiösen und dadurch häufig auch verletzenden, oftmals wenig rücksichtsvollen Befragung vonseiten des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Verteidiger. Einer Befragung, die deshalb notwendig war, weil jedem der Angeklagten en détail nachgewiesen werden musste, ob er oder sie die ihnen zur Last gelegte Exzess-Tat auch begangen hatte.

Deshalb musste geklärt werden, ob Zeugen sich daran erinnerten, wie die SS-Leute zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Verbrechen begangen haben sollen, gekleidet waren, zu welcher Uhrzeit sich die Angelegenheit begeben hatte, wie die Sonne stand, ob eine Erhängung mittels einer Schlaufe oder eines Hakens stattfand, usw., usw. Allesamt Fragen, die die einstigen KZ-Häftlinge kaum beantworten konnten.

Ein Überlebender vor Gericht drückte das Dilemma so aus: »Ich kann keine Name nicht. Ich weiß nur eine Sache: War er in Majdanek, hat er gemordet. Aus!«

Und eine weitere Zeugin beschrieb die juristische Prozedur folgendermaßen: »Man verlangt von uns, dass wir, wenn wir dabei gewesen sein wollen, alles gesehen und gehört haben müssen. Dabei waren wir vor Angst und Schrecken geradezu gelähmt, und unsere Sinne nahmen kaum etwas wahr. Man fordert von uns, die Stunde, den Tag zu nennen, aber wir besaßen im Lager keine Uhr, keinen Kalender. Wir wussten oft nicht einmal, ob es ein Sonn- oder Feiertag war. Wir sollen das Aussehen unserer Henker beschreiben. In ihren Uniformen sahen sie aber für uns alle gleich aus. Wenn wir uns dann in einem Punkt irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan.«

Dem Ankläger für die Verbrechen des weiblichen KZ-Personals von Majdanek, Staatsanwalt Dieter Ambach, fiel immer wieder auf, dass eine besonders große Belastung für die Überlebenden der Moment war, wenn sie vom Gericht gebeten wurden, durch die Reihen zu gehen, in denen die Angeklagten mit ihren Verteidigern saßen. Dabei mussten sie ihren einstigen Peinigern ins Gesicht schauen, um sie zu identifizieren.

Manche fingen an schrecklich zu schreien: »Er hat meine Mutter weggenommen! Das ist er.« Der Dolmetscher sagte, »Frau Jakubovic, sie müssen sich mehr beherrschen. Sie sind viel zu aufgeregt.« »Sag ich, ich kann nicht. Jetzt seh ich das ganze Bild. Er hat meine Mutter weggebracht. Ich bin nicht jetzt im Gerichtssaal. Ich bin jetzt in Majdanek.«

Von den Überlebenden wurde verlangt, im Zeugenstand möglichst emotionslos und objektiv das Erlebte zu schildern. Taten sie dies nicht, schlug sich das zugunsten der Angeklagten im Urteil nieder. Dort hieß es dann: »Ihre Angaben erschienen der Schwurgerichtskammer aber gleichwohl lediglich in begrenztem Umfang klar, verlässlich, objektiv und frei von Irrtümern bzw. Erinnerungsfehlern.« Die Zeugin habe versucht, »das objektive Tatgeschehen außerdem noch mit ausgesprochen emotional geprägten subjektiven Eindrücken und Wertungen ›anzureichern‹. In den von der Zeugin zum Teil mehrfach wiederholten Äußerungen, die SS-Aufseherin (Lächert) habe den Häftling – so wörtlich – ›zerrissen‹, sie habe ihn mit Fußtritten und Peitschenhieben ›bearbeitet‹, bis er nur noch ein ›Blut- und Fleischklumpen‹ und ›hundertprozentig‹ tot gewesen sei, kommt das nach der Überzeugung der Schwurgerichtskammer deutlich zum Ausdruck.« Die angeklagte Lächert, so das Gericht, musste deshalb in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo in diesem Anklagepunkt freigesprochen werden.

Und dann lese ich am 6. April 2013 auf der Titelseite der im Ruhrgebiet erscheinenden Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: »Fahnder sind 50 KZ-Wärtern aus Auschwitz auf der Spur«. Ich las diesen Satz mehrmals, bevor ich begriff, dass nunmehr – 68 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft – endlich die Strafverfolgung von KZ-Aufsehern und -Aufseherinnen in Gang gekommen war.

Warum jetzt? Warum erst jetzt? Ich kontaktierte den Mann, von dem ich mir Aufklärung über den so überraschenden Eifer seiner Behörde erhoffte: Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, damals Leiter der Ludwigsburger Zentralen Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen. Kleinlaut räumte er ein: »Man hätte dies auch vorher tun können. Aber in den Köpfen (einschließlich meinem Kopf) der deutschen Staatsanwälte war das Thema Auschwitz erledigt. Wir sagen heute, es war falsch, die nicht zu verurteilen. Es war falsch. Und nur weil damals Fehler gemacht wurden, diesen Fehler jetzt fortzusetzen, würde ich wiederum auch für falsch halten. Gleichheit im Unrecht gibt’s nicht.«

Es ist eine Sensation, dass dies plötzlich möglich wurde, eine radikale Wende in der Rechtsprechung. Ohne dass es eine Gesetzesänderung gegeben hätte. Lediglich durch eine andere Auslegung der bestehenden Paragrafen. Für die Kölner Strafverteidigerin Edith Lunnebach war »eigentlich immer schon klar, wenn du da warst in Majdanek, warst du beteiligt an diesem gemeinsamen, an diesem organisierten Verbrechen. Denn das Betreiben von Konzentrations- und Vernichtungslagern war ein organisiertes Verbrechen. Insoweit haben wir Strafverteidiger uns immer schon gewundert, dass die Strafverfolgung von Aufsichtspersonal und Mitarbeitern in derartigen Lagern an dem angeblich notwendigen Einzeltatnachweis krankte.«

Ausgelöst worden war das neue Denken, die neue juristische Herangehensweise, durch einen kleinen Amtsrichter aus Bayern. Kurz vor seiner Pensionierung hatte sich Thomas Walther 2006 in die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen versetzen lassen und war fassungslos darüber, wie dort mit ehemaligen NS-Tätern umgegangen wurde. »Das haben wir schon immer so gemacht, Herr Walther«, wurde ihm gleich bei seinem Amtsantritt gesagt. Und da solle er nun ja nicht dran rütteln. Doch da kannte man Thomas Walther noch nicht. Denn er beließ es nicht dabei.

Als ihm gesagt wurde, man könne nur gegen KZ-Aufseher ermitteln, wenn sie durch besondere Grausamkeiten aufgefallen seien, bei einer Erschießung zum Beispiel mitgewirkt und beobachtet wurden, oder wenn sie jemanden aufgehangen hätten und es hierfür noch einen lebenden Zeugen gäbe – da stutzte Walther. Für ihn stand außer Frage: Wer gegen Sold in einer Mordfabrik arbeitete und wusste, was er tat, leistete zumindest Beihilfe zum Mord. Das genau habe ich auch immer empfunden, in all den Jahren auf der Pressebank, und häufig habe ich diesen Umgang mit NS-Tätern in meinen Prozessreportagen kritisiert.

Die Konsequenz aus dem starren Festhalten am Nachweis jeder einzelnen Tat war: Kaum ein KZ-Aufseher, eine KZ-Mitarbeiterin stand jemals vor Gericht. 6.500 Verfahren wegen mutmaßlicher NS-Verbrechen fanden überhaupt nur statt. Die meisten endeten wegen des verlangten Nachweises über jede einzelne Tat mit beschämend geringen Strafen. Demgegenüber standen über 84.000 Einstellungsbeschlüsse. Manch einer bezeichnet sie, nicht von ungefähr, als 84.000 heimliche Begnadigungen. »Geradezu im Gnadenfieber« seien die Strafen erlassen worden, so Robert Kempner, einer der Ankläger von Nürnberg.

Das Lager Majdanek –Auszüge aus Gerichtsakten und Urteilsbegründung

Zum ersten Mal standen im Düsseldorfer Majdanek-Prozess KZ-Aufseherinnen vor einem deutschen Gericht. Neben anfangs neun Männern waren zunächst auch sechs Frauen angeklagt. Der Saal 110 des Düsseldorfer Landgerichts war kaum groß genug für alle Prozessbeteiligten. Direkt gegenüber dem Richterstisch, mit Blick auf das Gericht, saßen die Angeklagten, umrahmt von jeweils zwei Verteidigern.

Nach 474 Verhandlungstagen wurden 7 Männer und 2 Frauen verurteilt. Doch nur SS-Aufseherin Hermine Ryan-Braunsteiner bekam lebenslang wegen Mordes. Hildegard Lächert, die »blutige Brygida«, wurde wegen Beihilfe zum Mord zu lediglich zwölf Jahren Haft verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft siebenmal lebenslänglich gefordert hatte.

Wie viele Menschen tatsächlich in Majdanek inhaftiert und vergast wurden, verhungerten, durch die Schwerstarbeit oder an Seuchen starben, von SS-Leuten erschlagen, erschossen, getötet wurden, konnte in dem Prozess nicht geklärt werden. Schätzungen schwanken zwischen mindestens 200.000 und einer Million Menschen. Erschwert wird die Rekonstruktion der Anzahl von Inhaftierten dadurch, dass in Majdanek, anders als in KZs üblich, keine Numerierung der neu eintreffenden Häftlinge stattfand.

Im Spätsommer 1941 wurde mit der Errichtung des Lagers Lublin-Majdanek begonnen. Die SS-Führung hatte zu diesem Zweck ein im wesentlichen unbebautes Gelände in der Nähe des Lubliner Stadtbezirks Majdan Tartarski, volkstümlich auch Majdanek genannt, ausgewählt. Zur Durchführung der hierfür erforderlichen Arbeiten bediente man sich sowohl polnischer Zivilarbeiter als auch russischer Kriegsgefangener.

Nach Errichtung der ersten Sicherungsanlagen wurden mehrere hundert russische Kriegsgefangene als ständige Arbeitskräfte in das neue Lager verlegt. Infolge der schlechten Lebensbedingungen, insbesondere durch das im Lager grassierende Fleckfieber, ging die Zahl der Kriegsgefangenen jedoch innerhalb weniger Monate auf 150 bis 200 zurück.

An ihre Stelle traten andere Häftlingsgruppen: Häftlinge aus Konzentrationslagern im Reichsgebiet, die Ende 1941 in Lublin eintrafen und denen die in Konzentrationslagern typischen Funktionen als Blockälteste, Kapos usw. übertragen wurden. Im Frühjahr 1942 trafen die ersten größeren »Judentransporte« im Lager ein: Ende März/Anfang April 1942 waren das 10.000 Juden aus der Slowakei, denen ab Anfang 1943 jüdische Häftlinge aus allen Teilen des besetzten Europas folgten. Während dieser Zeit wurde der Ausbau des Lagers weiter fortgetrieben.

Wann genau die ersten weiblichen Häftlinge in das Lager überführt worden sind, konnte in der Beweisaufnahme des Majdanek-Prozesses nicht eindeutig geklärt werden. Sicher ist lediglich, dass dies in den letzten Monaten des Jahres 1942 geschehen ist. Und dass ab Anfang Januar 1943 hunderte von weiblichen Häftlingen eintrafen, vornehmlich aus politischen Gründen festgenommene polnische Frauen und Mädchen. Die für die Frauen reservierte Abteilung verfügte über ein eigenständiges Kinder- und Jugendlager.

Zur Beaufsichtigung der weiblichen Häftlinge wurde am 15. Oktober 1942 eine Gruppe von SS-Aufseherinnen vom Frauen-KZ Ravensbrück nach Lublin kommandiert. Es waren die kurz darauf zur sogenannten Aufseherin ernannte, nach dem Krieg wegen ihrer Tätigkeit im Lager, insbesondere der Beteiligung an der Vergasung jüdischer Kinder, in Polen zum Tode verurteilte und hingerichtete Elsa Ehrich und neun andere Aufseherinnen, darunter die Angeklagten Ryan und Lächert sowie die ehemalige Mitangeklagte Mayer. Im Frühjahr 1943 wurde die Gruppe nach und nach auf annähernd 20 Aufseherinnen verstärkt.

Bei den Aufseherinnen handelte es sich durchweg um jüngere Frauen ohne spezielle Ausbildung hierfür, die zu dieser Tätigkeit entweder aufgrund der sogenannten Notdienstverordnung aus dem Jahr 1938 dienstverpflichtet oder durch die Arbeitsämter vermittelt worden waren. Sie trugen im Dienst eine feldgraue Uniform, bestehend aus Rock, Jacke und Mantel, militärähnliche Stiefel und einem sogenannten Schiffchen als Kopfbedeckung. Zumindest einige der Aufseherinnen verfügten über einen pelerineähnlichen Umhang. Ausgerüstet waren sie mit Pistolen und verschiedenen Arten von Peitschen, die jedoch nicht alle Aufseherinnen ständig bei sich trugen.

Die Massentransporte jüdischer Menschen aus dem Warschauer Getto im Frühjahr 1943 sowie weiterer Umsiedlungsaktionen hatte zur Folge, dass sich bis zum Herbst 1943 zeitweilig einige 10.000 Gefangene im Lager befanden, darunter alleine 7.000 weibliche Häftlinge. Dadurch waren die Baracken vielfach erheblich überbelegt.

Das Gelände war zum größten Teil mit einem Stacheldrahtzaun umgeben. Der unbebaute Teil des Feldes diente als Appellplatz, auf dem sich die Häftlinge morgens und abends aufzustellen hatten. Auf jedem Appellplatz befand sich in der Mitte ein hölzerner Galgen und in der Nähe des Eingangs ein Wasserbassin. Unmittelbar am Eingang der Felder lagen Wachstuben, in denen sich die Blockführer aufhielten.

Die Unterkunftsbaracken der Häftlinge bestanden aus sogenannten Pferdebaracken, von denen die meisten keine Fenster, sondern nur Luken hatten. Anfangs schliefen die Häftlinge auf Stroh, das in dünner Schicht direkt auf der nackten Erde lag. Später, als die Baracken Fußböden bekamen, verteilte man an die Häftlinge Papierstrohsäcke mit ein wenig Spähnen oder Stroh. Im Jahre 1943 wurden dann die Baracken mit jeweils 250 dreifach übereinanderliegenden Pritschen und Barren versehen. Ungeachtet der Anzahl der Pritschen wurden die Blocks jedoch häufig mit 500 bis 1.000 Personen belegt. Darüber hinaus gab es auf jedem Feld einen sogenannten »Gammelblock«, in den die Häftlinge, die für eine medizinische Versorgung nicht mehr geeignet schienen, gebracht und ihrem Schicksal überlassen wurden.

Das Konzentrationslager Lublin-Majdanek verfügte über mehrere Gaskammern. Die beiden kleineren Kammern, die etwa je hundert Personen fassten, hatten an der Decke Öffnungen, durch die vom Dach der Baracke aus Zyklon B eingeworfen werden konnte. Die dritte, größere, sowie eine der kleineren Kammern besaßen an den Wänden in etwa 20 cm Höhe über dem Fußboden verlaufende Rohrleitungen, die an der Unterseite kleine Öffnungen hatten und an Metallflaschen mit Kohlenmonoxyd, die sich in einem Vorraum befanden, angeschlossen waren. Vor der Häftlingsbaracke befand sich ein größerer, mit Stacheldraht eingezäunter Platz, der sogenannte »Rosengarten«, auf dem die Häftlinge zur Vergasung ausgesondert oder vor der Vergasung gesammelt wurden.

Die Leichen der zu Tode gekommenen Häftlinge wurden in einem im Juni 1942 erbauten Krematorium verbrannt. Dieses Krematorium verfügte über zwei Feuerstellen, in denen in 24 Stunden ca. 200 Leichen verbrannt werden konnten. Ab Herbst 1943 wurde ein hinter Feld V erbautes größeres Krematorium in Betrieb genommen, das über fünf Öfen verfügte, in denen bis zu tausend Leichen täglich verbrannt werden konnten. Sofern die Kapazität des jeweiligen Krematoriums nicht ausreichte, wurden die Leichen auch in der Umgebung des Lagers auf Kfz-Fahrgestellen und Eisenbahnschienen verbrannt.

Dem Konzentrationslager Lublin-Majdanek waren, im Gegensatz zu Auschwitz, zu keiner Zeit bedeutende industrielle Unternehmen angeschlossen. Die aus den Reihen der Häftlinge gebildeten Arbeitskommandos waren daher hauptsächlich im Lagerbereich selbst eingesetzt. Sie errichteten Baracken und andere Lagerobjekte, bauten Straßen, legten die Stromleitung und die Kanalisation an, arbeiteten in Werkstätten der verschiedensten Art, in Wäschereien, Gärten und auf dem Lagergut und wirkten bei der Beseitigung der Leichen mit. Besondere Erwähnung hierbei verdienen das Latrinenkommando, von den Häftlingen »Scheißekommando« genannt, in dem ausschließlich weibliche Häftlinge die Fäkalien aus den provisorischen Latrinen und Aborten wegzuschaffen hatten, sowie das Krematoriums-Kommando.

Da es bei der großen Zahl der Häftlinge häufig nicht für alle sinnvolle Arbeiten gab, wurden sie oft zu zwecklosen Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Hin- und Hertragen von Steinen und Erdreich oder das Ausheben und Wiederzuschütten von Gräbern, eingesetzt. Damit sollte die geistige und körperliche Kraft und Widerstandsfähigkeit gebrochen warden.

Bedingt durch die Kriegslage begann im April 1944 die Evakuierung. Das Frauenfeld wurde völlig aufgelöst, die weiblichen Häftlinge kamen zumeist in die Lager Auschwitz und Ravensbrück. Zugleich wurden alle noch vorhandenen Aufseherinnen und ein Teil des männlichen Aufsichtspersonal in andere Lager versetzt. Am 22. Juli 1944 wurde das Lager aufgegeben und die meisten der im Lager befindlichen Häftlinge evakuiert. Am 23. Juli 1944 galt Majdanek als befreit. Die sowjetischen Soldaten stießen auf etwas über 1.000 überlebende Häftlinge, vornehmlich sowjetische Kriegsgefangene und polnische Bauern.

Die Angeklagte Hermine Ryan-Braunsteiner,genannt »Kobyla, die Stute«

Die Lufthansa-Maschine, die am Dienstag, dem 7. August 1973, vom New Yorker Kennedy-Airport kommend in Düsseldorf-Lohausen landete, barg eine ganz besondere Fracht: flankiert von zwei deutschen Kriminalbeamten entstieg ihr eine grauhaarige, unscheinbare Frau, deren Geschichte den wenigsten ihrer Mitreisenden bekannt gewesen sein dürfte. Es war Hermine Ryan-Braunsteiner die – nach jahrelangem verbissenen Gerangel zwischen deutschen Strafverfolgungsbehörden und ihren Anwälten – endlich am Vorabend von zwei New Yorker Polizisten aus dem Gefängnis East Meadow geholt und den deutschen Kollegen übergeben worden war.

Fast zehn Jahre hatte der Kampf darum angedauert, ob diese Frau von den US-Behörden an die Bundesrepublik ausgeliefert werden konnte. Seit dem Tag genau, an dem der Wiener Nazi-Jäger Simon Wiesenthal New Yorker Journalisten darauf aufmerksam gemacht hatte, dass in ihrer Stadt eine der berüchtigtsten NS-Verbrecherinnen untergetaucht war, eine ehemalige Aufseherin der Konzentrationslager Ravensbrück, Majdanek und Genthin.

1964 klingelte ein Reporter der New York Times an der Haustür des Ehepaares Ryan im New Yorker Stadtteil Queens und erkundigte sich: »Sind Sie Frau Braunsteiner, Hermine Braunsteiner?« Simon Wiesenthal hatte ihm einen Tipp gegeben. Damals waren die ersten Schlagzeilen über die ehemalige KZ-Aufseherin in der Presse erschienen. Enquire wählte die Überschrift »Hausfrau muss für ihre Tätigkeit als Wächterin in einem KZ ausgeliefert werden«. Die Daily News schrieb, dass diese Frau im KZ Majdanek eine herausragende Rolle bei der Selektion von jüdischen Frauen zur Vergasung gespielt hatte. Und Wiesenthal selbst hatte in Das Beste gefordert, »sie hat zu bezahlen für ihre Verbrechen«.

Erst als Medien über sie berichteten, Pressefotografen ihr auflauerten – um ein Bild von der Hausfrau zu machen, die eine Massenmörderin gewesen sein soll – war es vorbei mit der Ruhe in dem kleinen Haushalt des Ehepaars Ryan.

Die polnische Zahnärztin Danuta Medryk, eine Überlebende des Lagers, flog zweimal nach New York, um vor dortigen Richtern Zeugnis über die Vergangenheit der jetzigen Frau Ryan abzulegen. Mary Finkelstein, eine in New York lebende ehemalige Häftlingsfrau, schilderte der amerikanischen Justiz, welch herausragende Rolle die Hermine Ryan-Braunsteiner in Majdanek gespielt hatte.

Am 21. März 1973 unterschrieb ein Oberrichter des United States District Court die Ausweisungsverfügung der Frau Ryan, geb. Braunsteiner, die vierzehn Jahre zuvor zum ersten Mal amerikanischen Boden betreten hatte. In der Begründung dieses Beschlusses hieß es unter anderem, sie hätte sich in Amerika dem Zugriff der deutschen Justizbehörden entziehen wollen. Falsch! Die ehemalige SS-Frau brauchte sich so lange keinem Zugriff irgendeiner deutschen Behörde zu entziehen, bis Wiesenthal ihre wahre Identität öffentlich gemacht hatte. Eine deutsche Behörde, die an ihr interessiert gewesen wäre, ja die sie gesucht hätte, gab es bis dahin nicht. Noch im Sommer 1962 war sie als Touristin völlig unbehelligt auf der »Hanseatic« nach Europa geschippert und monatelang durch die Bundesrepublik gereist, in jedem Hotel, in jedem Gasthof ordnungsgemäß angemeldet.

1958 hatte die Angestellte eines österreichischen Hotels den amerikanischen Soldaten Russel Ryan kennengelernt. Kurz darauf reiste sie aus Österreich nach Kanada und heiratete ihn dort eine Woche später. Im April 1959 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann mit einem ordnungsgemäßen Visum in die USA gereist und hatte 1963 die amerikanische Staatsangehörigkeit erlangt. Beim Ausfüllen der hierfür notwendigen Fragebögen war ihr freilich ein entscheidender Fehler unterlaufen: Sie hatte ihre dreijährige Vorstrafe verschwiegen, zu der sie 1949 von einem Wiener Gericht verurteilt worden war. Das machte es später den Ausbürgerungsbehörden leicht, das förmliche Verfahren gegen sie einzuleiten. Im Verlauf dessen verzichtete sie im Herbst 1971 rückwirkend auf ihre amerikanische Staatsbürgerschaft. Eineinhalb Jahre darauf wurde sie festgenommen, inhaftiert und landete an dem Dienstag im August 1973 mit der Lufthansa-Maschine in Düsseldorf-Lohausen.

Acht Monate lang blieb sie in Untersuchungshaft. Wieder auf freiem Fuß, mietete sie sich in Bochum eine kleine Wohnung, in die Ehemann und Ex-GI Russel kurze Zeit später nachkam. Er hatte seine Stellung als Feinmechaniker in New York aufgegeben, zuerst eine Zeitlang bei einer deutschen Firma gejobbt, war arbeitslos geworden und lebte nun von der Sozialhilfe. Bis zum letzten Tag hat er während des Prozesses im Gerichtssaal ausgeharrt, kaum einen Verhandlungstag versäumt, seiner Frau Blumen mitgebracht und jedem, der nach ihr fragte, mit hoffnungsvollem Kopfnicken beteuert: »Meine Frau ist eine gute Frau.«

In den Verhandlungspausen war er zu ihr in die erste Bank der Anklagereihen gegangen, hatte ihr beruhigend über Kopf und Rücken gestreichelt oder ihr zärtlich die Hand gedrückt. Dabei wurde sie weich im Gesicht, lächelte und legte die finstere Maske ab, die sie sich in den fünfeinhalb Jahren Verhandlungsdauer aufgesetzt hatte und die ihre Gesichtszüge so feindselig erscheinen ließen. Dank seiner offenbar durch nichts zu erschütternden Liebe wurde sie wieder zu der Hausfrau Ryan aus Queens, über die Nachbarn gesagt hatten, sie sei eine nice lady und eine charming person.

Die Familie, in die diese Lady als jüngstes von sieben Kindern 1919 hineingeboren wurde, war arm. Der Vater, ein gelernter Metzger, arbeitete als Kutscher bei einer Brauerei in Wien. Die Mutter musste neben dem Haushalt durch Wäschewaschen zum Familienunterhalt beisteuern. Streng katholisch ging es zu in der Drei-Zimmer-Dienstwohnung der Braunsteiners. Die Eltern waren unpolitisch und führten das, was herkömmlich als »gutes Familienleben« bezeichnet wurde.

Hermine, die Jüngste in der Kinderriege, wäre gerne Krankenschwester geworden. Doch dazu reichte es nicht. Vor allem, als der Vater an Speiseröhrenkrebs verstarb, verschlechterte sich die finanzielle Situation der Familie. Nach dem Besuch der Volksschule musste Hermine daher gleich mit anfassen: Zunächst im elterlichen Haushalt, dann bei Herrn Baron von Bachhofen, dem Brauereibesitzer, bei dem die Minderjährige als Stubenmädchen, später als Köchin arbeitete. Sie verdiente dort einen Schilling pro Tag, ein auch für damalige Verhältnisse nicht gerade fürstliches Gehalt. Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Eine Rente bekam die Mutter nicht, und Hermine musste sie mit Lebensmitteln und ihrem kargen Verdienst unterstützen. Mitte der dreißiger Jahre versuchte sie ihr Glück zuerst in Holland, später als Hausgehilfin in England. Doch schon nach wenigen Monaten kehrte sie voller Angst nach Wien zurück. Eine Freundin hatte ihr gesteckt, sie habe erfahren, wenn es Krieg geben sollte, dann würden alle in England lebenden Deutschen interniert werden.

Also kam Hermine zurück nach Österreich, arbeitete als Hilfsarbeiterin in der Brauerei des Herrn Baron und meldete