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Während einer Wanderung auf dem Jakobsweg erfährt Marie-Édith Laval von einem Pilgerweg auf der japanischen Insel Shikoku. 1200 Kilometer führt dieser auf den Spuren Kūkais, des Gründers des Shingon-Buddhismus, um die Insel, zu 88 Tempeln. Fasziniert von diesem exotischen Ziel, beschließt Laval, sich als »henro« – japanischer Pilger – auf das Abenteuer einzulassen. Der Weg repräsentiert die vier Stufen der Entwicklung: Erwachen, Askese, Erleuchtung und Nirwana. Und mit jedem Tag des Wanderns richtet sich auch Marie-Édith Lavals persönliche Wahrnehmung zunehmend von den äußeren Begebenheiten auf ihr Inneres, auf ihren Weg zu Frieden, Glück und Dankbarkeit. Geistreich und unterhaltsam beschreibt sie ihre Erfahrungen – ein inspirierender Pilgerbericht.
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Für das Leben und das Wunder, lebendig zu sein.
Für meine Eltern, Fährleute des Lebens.
Aus dem Französischen von
Barbara Neeb und Bettina Müller Renzoni
Mit 18 farbigen Fotos, sechs Schwarz-Weiß-Abbildungen, zwei Illustrationen und einer Karte
ISBN 978-3-492-97514-8
August 2016
© Le Passeur Editeur, 2015. All rights reserved
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Comme une feuille de thé à Shikoku« bei Le Passeur Editeur, Paris.
Fotos: Marie-Édith Laval
Karte: Dörte Rehberg, nach einer Vorlage aus Shikoku, les 88 temples de la Sagesse von Léo Gantelet, © Éditions de l’Astronome
Illustrationen: aus Carte guide pour le pèlerinage des 88 temples, © Organisation pour la promotion du tourisme à Shikoku
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Covermotiv: Robert Harding/Look-foto (Kirschblüte beim Schloss von Matsuyama, Shikoku/oben), Marie-Édith Laval (Autorin beim Pilgern/unten)
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Hut auf, den Mantel vom Haken,
Fäuste in die Taschen – und los.
Arthur Rimbaud
»Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Begegnungen«, sagte Paul Éluard. Und das Leben hat mir wirklich eine ganz wunderbare Begegnung beschert.
Im August 2012 habe ich auf dem Jakobsweg in Spanien, wenige Kilometer vor der Stadt Melide, »zufällig« einen japanischen Pilger kennengelernt. Diese Begegnung war ausschlaggebend dafür, dass ich im folgenden Sommer ganz allein, nur mit einem Rucksack bepackt, aufgebrochen bin, um auf dem 1200 Kilometer langen Shikoku-Pilgerweg zu wandern, auf den Spuren eines gewissen Kūkai, von dessen Existenz ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Manchmal führt eine spontane Wendung in einer angeregten Unterhaltung mit einem Unbekannten von einem Pilgerweg zum nächsten, von einem Kontinent zum anderen. An jenem Tag habe ich von diesem buddhistischen Pilgerweg erfahren, der Shikoku, die kleinste der vier Hauptinseln des japanischen Archipels, umrundet. Was mein vorübergehender Wegbegleiter mir damals erzählte (ihm sei hiermit von Herzen gedankt!), weckte mein Interesse, und ich nahm mir vor, das Thema zu vertiefen, sobald ich wieder zu Hause in Paris wäre.
Nach den 1600 Kilometern zu Fuß auf dem Jakobsweg von Le Puy-en-Velay bis Kap Finisterre – das Kap in Galicien bildet traditionell die Verlängerung des Pilgerwegs bis ans »Ende der Welt« an der Atlantikküste – und der Heimreise mit dem Schiff nach Frankreich musste ich feststellen, dass das Leben nach einer Pilgerschaft keineswegs ein Spaziergang ist. Die Rückkehr von einer Reise hat für mich seit jeher einen bitteren Beigeschmack: Kaum zu Hause, träume ich schon wieder mit einer Weltkarte vor den Augen von neuen Ländern und berausche mich an Erzählungen aus der Ferne und dem Zauber fremdländischer Namen.
Während ich nach meiner Wanderung auf dem Jakobsweg gegen die Trägheit steifer Glieder und die Routine des Alltags ankämpfte, der im krassen Gegensatz stand zu den erfüllten und genussvoll erlebten Augenblicken beim Pilgern, stieg der Ruf des fernen Shikoku mit vehementer Kraft in mir auf. Eine ebenso unwiderstehliche wie irrationale Faszination brach sich aus der Tiefe meiner Seele Bahn wie ein innerer Befehl. Ich saß vor meinem Computerbildschirm und wusste plötzlich: Nächsten Sommer werde ich nach Shikoku reisen!
Das Startzeichen zu einer neuen Pilgerreise war also gegeben, ein fantastisches Abenteuer im Land der aufgehenden Sonne erwartete mich. Und so kam es, dass ich am 30. Juni 2013 zu diesem Abenteuer aufbrach, mit einer »inneren Empfänglichkeit«, wie Pierre Rabhi die »Bereitschaft, Gaben und Schönheiten des Lebens mit Demut, Dankbarkeit und Freude anzunehmen«, so treffend bezeichnet hat – gleich einem auf die Fahne meines Herzens geschriebenen Motto, einem Mantra tief in meinem Innersten. Obwohl meine Pilgerfahrt nach Shikoku keine Sinnsuche war im Stil der Ritter der Tafelrunde auf der Suche nach dem Heiligen Gral, hat sich dennoch im Laufe meiner Wanderung ganz von selbst ein Sinn ergeben.
Seit vielen Jahren schon war ich fasziniert von den großen Abenteurern der Vergangenheit und Gegenwart, verschlang ihre Berichte mit Heißhunger und spürte in der lebhaften Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen eine eindringliche und anhaltende Versuchung, mein eigenes Leben in eine unaufhörliche Reise zu verwandeln.
Auf meinen Bücherregalen stehen die Werke der bedeutendsten Weltreisenden und Schriftsteller: Alexandra David-Néel, Nicolas Bouvier, Victor Segalen, Romain Gary, Bruce Chatwin, Bernard Ollivier, Sylvain Tesson und viele mehr. Ihre Schicksale sind der Stoff, aus dem meine Träume sind …
Diese großen Vorbilder flüstern mir zu, dass es möglich ist, den Alltag vor Sinnlosigkeit und einem Gefühl der Unvollständigkeit zu retten, einer Existenz zu entfliehen, die ins Stocken geraten ist, sich nach Erfüllung sehnt, dass man dem Überdruss entrinnen kann wie auch dem Gefühl der Entfremdung unter der herrschenden Routine. »Den Wanderstab und das symbolische Bündel zur Hand nehmen und losziehen! Wer den Wert und den köstlichen Geschmack der einsamen Freiheit kennt, für den ist der Aufbruch der schönste und mutigste Schritt. Ein egoistisches Glück vermutlich, aber das Glück desjenigen, der es zu genießen versteht. Allein sein, wenige Bedürfnisse haben und unerkannt bleiben, fremd und doch überall bei sich, und im Alleingang die Welt erobern!«[1]
Haben Sie nicht auch schon den unwiderstehlichen Drang verspürt, Türen und Fenster weit aufzureißen, die heimtückischen Kellerfenster, die hinterhältigen Dachfenster, weil Ihnen die Gewohnheit die Kehle zuzuschnüren scheint und Sie in Ihrem verriegelten und versiegelten Universum an Sauerstoffmangel leiden?
Kamen Sie sich auch schon vor wie die wunderschönen und anmutigen Schmetterlinge in den Schaukästen, deren Flügel man mit Nadeln festpinnt, um sie am Davonfliegen zu hindern, sie ihrer Himmelsreisen zu berauben …?
Haben Sie sich auch schon wie der Ast eines Baums gefühlt, der beschnitten, vom Lebenssaft abgetrennt ist?
Wer hat noch nie von einer illusorischen Zukunft geträumt, von einem utopischen Anderswo, einem schimärenhaften Anderswie, einer Existenz des Was-wäre-wenn, die so viel glücklicher, lebendiger, vollständiger, berauschender wäre, wenn doch nur tausendundeine Bedingung erfüllt wäre (wenn ich dies hätte und jenes besäße, wenn ich von dieser oder jener Pflicht befreit wäre usw.)? Das bewegt und empört Sie gleichermaßen, wenigstens von Zeit zu Zeit, nicht wahr?
In der trägen Abfolge der Tage, die nicht vom Fleck kommen, hallt schon seit Langem der eindringliche Ruf zur Reise, dieser »quälende Juckreiz des Unbekannten«[2], wie Gauguin es empfunden hat, der jede Zelle meines Körpers besetzt und als Ruder wirkt, Kurs auf das Anderswo nimmt. Um die nächste Ecke schauen, in eine fremde Welt eintauchen – vielleicht findet sich ja ein Anker für mein Dasein und Antworten auf den ungestillten Hunger, den ich dunkel in mir spüre.
Befeuert von den Bildern und Berichten der berühmten Reiseschriftsteller, die meine Seele zum Schwingen brachten, mich von fernen Ländern träumen ließen und meinen sehnlichen Wunsch, die Welt zu erkunden, zum Leitmotiv meines Lebens machten, bin ich aufgebrochen, ohne besonderes Vorwissen über das Land der aufgehenden Sonne, seine Sitten und Bräuche und seine faszinierende, einzigartige und komplexe Kultur. Lesend der Realität entfliehen und neue Gegenden entdecken ist schön und gut, aber ich möchte hingehen und sie mir ansehen!
Ich habe nicht viel Zeit mit sorgfältigen Vorbereitungen verloren, sondern zog es vor, mich überraschen zu lassen, mich von dem, was mich in Japan erwarten würde, formen zu lassen wie eine Tonfigur. In der Überzeugung, dass »die Wege uns erfinden« und man »den Schritten freien Lauf lassen muss«[3], wie Philippe Delerm schreibt.
Ich wollte nichts planen, wollte die bevorstehende Erfahrung nicht intellektualisieren, hatte keine Lust, mich mit Wissen vollzupacken oder mich zu beruhigen, indem ich mich schon mal im Geist mit den Gegebenheiten vertraut machte, sondern zog es vor, mir nach Möglichkeit die naive und unschuldige Frische des kindlichen Blicks zu bewahren, ohne Vorurteile, frei von Glaubenssätzen und Gewissheiten, nach Entdeckungen dürstend, dem Fremden gegenüber ganz und gar empfänglich.
Ich liebe nichts so sehr wie das Neuartige. Offen für die mir unbekannten Eigenheiten der japanischen Gesellschaft und ihre unverständlichen Verhaltenscodes, die mich in meiner Art und mit meinen westlichen Gewohnheiten anfangs unweigerlich verstören würden, bin ich abgereist – ohne Erwartungen oder Prognosen.
Gleichwohl häuften sich in den Monaten vor meinem japanischen Abenteuer Erlebnisse, die ich gern als kleine Zeichen des Schicksals interpretierte, zahlreiche Sterne, die mir den künftigen Weg wiesen – Wegmarken wie die gelben Pfeile auf dem Jakobsweg in Spanien. Es war wie eine Verschwörung kleiner »Zufälle«, die alle auf den Bestimmungsort im Fernen Osten verwiesen, ein Füllhorn, in dem sich geschickt eins zum anderen fügte. Jeder meiner Schritte schien in Richtung des Pilgerwegs der 88 Tempel zu führen, der sich mit erstaunlicher Leichtigkeit vor mir auftat und mich mit offenen Armen willkommen hieß. Gewiss, der menschliche Geist giert nach Zeichen, die einen Sinn versprechen, das weiß ich wohl, aber trotzdem … Es war, als ob der japanische Pilgerweg es nicht erwarten könnte, beschritten zu werden. Türen öffneten sich mühelos, Kontakte ergaben sich ganz von selbst, die Organisation war unkompliziert, der ganze Ablauf erfolgte reibungslos. Als ob alles auf ganz natürliche Weise seinen Platz fände, ohne dass ich groß etwas dazu beitragen musste. Als ob alles sich dazu verschworen hätte, die optimalen Bedingungen zur Verwirklichung einer facettenreichen Erfahrung zu schaffen. Werden wir vielleicht in der sichtbaren Welt durch unsichtbare Pfeile geleitet, durch nicht wahrnehmbare Fäden bewegt, die uns dazu bringen, einen Weg einzuschlagen, dessen Richtung bereits vorgegeben ist?
Ich hatte zum Beispiel das große Vergnügen, Léo Gantelet kennenzulernen, einen ehemaligen Pilger auf dem Jakobsweg und Shikoku, der unter anderem Berichte über seine Pilgerreisen veröffentlicht hat und interessanterweise im gleichen Dorf der Haute-Savoie lebt wie eine meiner besten Freundinnen. Die Begegnung mit ihm und unsere Gespräche haben mich begeistert und es mir ermöglicht, Zugang zur japanischen Realität zu finden und mich geistig auf diese Pilgerschaft einzustimmen.
Ein weiteres glückliches Ereignis waren die Irrgänge meiner Mutter zwei Monate vor meinem Abflug: Auf dem Jakobsweg hatte sie eine Abkürzung gewählt und sich verlaufen, einen Tag lang irrte sie umher und stand plötzlich geheimnisvollerweise vor einem Aufkleber, der an einem Hinweisschild prangte. Die stilisierte rot-weiße Gestalt eines Shikoku-Pilgers erregte ihre Aufmerksamkeit, und daraus ergab sich meine erste Kontaktadresse in Japan. Dieser Aufkleber war nämlich in dem winzig kleinen Weiler im entlegensten Winkel Frankreichs von einer Vereinigung von Shikoku-Pilgern angebracht worden, die sich auch für den Jakobsweg begeistert hatten. Diese Vereinigung namens NPO (Network for Shikoku Henro Pilgrimage and Hospitality) hat mich später bei meiner Ankunft auf Shikoku empfangen und bei meinem einzigartigen Abenteuer entlang der japanischen Küste eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.
Es kommt mir manchmal vor, als sei unser Leben von einem unergründbaren geheimnisvollen Plan gelenkt, gleich einer Partitur, die sich unter der Wirkung der richtigen und majestätischen Gesten eines großen Dirigenten belebt und Gestalt annimmt.
Leichtigkeit war auch das bestimmende Element bei der Zusammenstellung meines Gepäcks: weder Zelt noch Campingausrüstung und nur eine auf das Minimum reduzierte Auswahl an Kleidung. In der Überzeugung, dass das Loslassen zuerst im Kopf und erst danach im tatsächlichen Leben stattfindet, dass das Entrümpeln zuerst psychisch und dann erst konkret erfolgt, wollte ich mich von allen »Für den Fall, dass«-Dingen befreien, von allen unnötigen Lasten, die meinen Rucksack beschweren und mein Vorwärtskommen behindern könnten – im doppelten Wortsinn.
Das Sich-Entledigen als erster Schritt auf dem Pilgerweg. Ich denke dabei auch an den russischen Pilger und die Beschreibung seines Gepäcks: »Folgendes ist meine Habe: Auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles.«[4] Desgleichen machten sich die Jakobspilger ursprünglich nur mit einer Umhängetasche, einer Kalebasse und einem Pilgerstock auf den Weg. So weit bin ich noch nicht, muss ich gestehen. Aber ich arbeite daran!
Die hektische Beschleunigung und die innere Aufregung, die meiner Abreise vorausgingen, hatten etwas von einer Bestandsaufnahme. Hier ein Auszug aus meiner Liste der kunterbunt zusammengewürfelten Dinge, die ich vor der Abreise abhaken wollte: alle bürokratischen und praktischen Angelegenheiten erledigen, damit ich bei der Rückkehr keine Unannehmlichkeiten zu erwarten habe; eine französische Übersetzung des Herz-Sutras[5] ausdrucken; eine neue Mitarbeiterin für meine Praxis einstellen; die Dichtung am tropfenden Wasserhahn in der Küche auswechseln; alles auf den neuesten Stand bringen; das Badezimmer ausräumen, damit die anstehenden Arbeiten in meiner Abwesenheit durchgeführt werden können; meine beruflichen Unterlagen überprüfen und zu den Akten legen; meine Ausweispapiere einscannen und per E-Mail an mich selbst senden; Sonnencreme kaufen; Termine nach der Rückkehr vereinbaren; meiner Wohnungshüterin die Zimmerpflanzen anvertrauen und einen Zweitschlüssel zur Wohnung bei ihr hinterlegen; der Pilgervereinigung, die mich am Busbahnhof von Shikoku erwartet, die Ankunftszeit mitteilen; Daueraufträge für die Zahlungen veranlassen, die während meiner Abwesenheit fällig sind; die Batterien an meiner Stirnlampe auswechseln; mich mit den Einstellungen meines funkelnagelneuen Fotoapparats vertraut machen; mein Elle-Abo über die Sommermonate kündigen; eine automatische Abwesenheitsnotiz in meinem beruflichen E-Mail-Account einrichten; neue Kontaktlinsen besorgen; die automatische Ansage auf meinem Anrufbeantworter ändern; Geschenke für meine Neffen und Nichten organisieren, die im Sommer Geburtstag haben; den Kühlschrank leeren und das Gefrierfach abtauen; die Namen der Bushaltestellen auf Shikoku von Ōsaka bis Takamatsu übersetzen lassen; zum Friseur gehen; die Notfalltelefonnummern (Konsulat, Kreditkartensperrung) aufschreiben; Euro in Yen wechseln; ein neues, leichtes Kurzarm-T-Shirt kaufen; eine kleine Abschiedsparty organisieren; die Skype-App auf dem iPhone installieren; eine gute Flasche Wein als Mitbringsel für meinen japanischen Gastgeber kaufen; eine Reiselektüre aussuchen; einen Zahnarzttermin vereinbaren; auf der Bank eine Änderung der Obergrenze für Bargeldabhebungen im Ausland veranlassen; vor der Abreise in der Wohnung den Haupthahn für Wasser- und Stromzufuhr abdrehen; Informationen über die Handytarife in Japan einholen … Kurzum, ein gewaltiger, wirrer Strudel, bei dem einem schwindlig wurde, ein endloses Durcheinander, das kaum zu bewältigen war.
Es gibt Reisen, die wie dafür gemacht zu sein scheinen, das Leben selbst zu illustrieren, und die als Symbol für das Dasein dienen können.
Joseph Conrad
Pas de deux am Scheideweg, ein Duett zwischen einem äußeren Pfad und einem, der zu den Tiefen des Seins führt. Wie schon Milan Kundera schrieb: »Es gibt nichts Schöneres als den Augenblick, der einer Reise vorangeht, den Moment, in dem der Horizont von morgen uns besucht und uns Versprechungen macht.«[6] Doch trotz einer leichten Vorahnung bin ich an diesem 30. Juni 2013 meilenweit davon entfernt, abschätzen zu können, wie einschneidend und fruchtbar diese Pilgerreise sich auf den weiteren Verlauf meines Lebens auswirken sollte. Ich ahne noch nicht, dass diese Erfahrung die Basis einer großen Grundströmung bilden wird, die immer noch jeden Moment meines täglichen Lebens entscheidend prägt.
Ein strahlend blauer Himmel prangt über Paris, das seit den frühen Morgenstunden von einer wunderbaren Sonne geflutet wird. Hier stehe ich nun am Beginn eines neuen Abenteuers, innerlich beherrscht von Aufregung, brennendem Eifer, freudiger Sorglosigkeit, Begeisterung, Neugier, Vertrauen und Ungeduld angesichts der neuen Erfahrung. Ich verlasse mein »Hier«, um mit riesigem Vergnügen in dieses »Dort« einzutauchen, das mich anzieht, ich lasse mein »Heute« hinter mir, um mich in dieses »Morgen« zu stürzen, das mich fasziniert.
Und das Abenteuer beginnt bereits auf der Schwelle meiner Haustür, am Morgen nach einer spontanen Abschiedsfeier (unter dem Motto »Sake nun Auf Wiedersehen«), die als denkwürdig in die Annalen meines Freundeskreises eingehen wird. Meine Freunde Hervé und Renaud, die mir netterweise angeboten haben, mich zum Flughafen zu bringen, klingeln an meiner Tür. Die Nacht war kurz, die letzten Packvorbereitungen haben mich auf Trab gehalten bis spät in die Nacht oder früh am Morgen, je nachdem, wie man es sehen will. In der Aufregung und Aufbruchshektik ziehe ich ganz automatisch die Tür hinter mir zu und schaue erst nach meinem Schlüssel, als ich schon im Auto sitze. Und prompt kann ich ihn nicht finden. Er ist weg, futsch, verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst! Also Kommando zurück, weil ich überzeugt bin, dass er mir im Treppenhaus oder auf der Straße aus der Tasche gefallen sein muss. Aber nein, trotz einer gemeinsamen Suchaktion gibt es vom Schlüssel weit und breit keine Spur. Ich nehme es mit Humor, scherze über das unverhoffte Glück, dass nun mein Rucksack um dreißig Gramm leichter ist, und verschiebe die Schlüsselangelegenheit auf meine Rückkehr, denn im Grunde spielt es keine Rolle – meine Wohnungshüterin hat einen Zweitschlüssel. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Leben gemacht … Denn das Leben spielt einem gern einen Streich! Im Vorjahr hatte ich in dieser Beziehung die Latte bereits sehr hoch gehängt: Ich war zum Jakobsweg aufgebrochen und hatte seltsamerweise vergessen, meine EC-Karte einzupacken. Was wohl Freud zu meinen Fehlleistungen sagen würde?
Auf jeden Fall habe ich in diesem Moment symbolhaft erlebt, wie man die Leinen im wahrsten Sinne des Wortes kappen kann, ein fast vitales Bedürfnis, mich von den Fesseln eines beschränkten, spießigen Alltags zu befreien, eine Sehnsucht, den Käfig meiner Gewohnheiten weit aufzustoßen, aus dem gemütlichen Dahinschlummern im gewohnten Ablauf meiner Tage aufzuwachen und jeglichen Ballast abzuwerfen. Kein Netz mehr, keine Bindungen, kein fester Wohnsitz. Eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit ohne Türschlösser. Vollkommen frei zu sein, den Duft der Welt einzusaugen. Mich voll und ganz in einem stimmigen Vorgehen einzubringen. In ein Universum einzutauchen, das meinen gewohnten Strukturen fremd ist. Die Unendlichkeit in all ihren Möglichkeiten zu erleben. Macht Platz für einen neuen Horizont! Macht Platz für eine Freiheit ohne Türen oder Fenster! Platz für den, der in den Tag lebt!
Ankunft am Flughafen. Ein Blick zurück. Meinen lieben Freunden noch ein letztes Mal zuwinken. Und dann die Entschleunigung beim Warten, wenn die Zeit sanft verstreicht. Wie ich dieses Ambiente liebe, wo alle Wege sich kreuzen, wo das Ende der Welt so nah ist, nur eine Spannweite entfernt! Ein Ort, der von Worten des Abschieds und dem Jauchzen des Wiedersehens hallt. Die, die fortgehen, die, die bleiben, die, die wiederkehren. Kopf und Sinne erwachen im Angesicht der Unendlichkeit des Universums, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt. Aufbrechen, verlassen, sich lösen, loslaufen, entdecken: So viele Glücksversprechen liegen vor mir!
Und so vergeht mit der Neugier als Führerin, dem Unbekannten als Lehrmeister, dem Vertrauen als Weggefährten und einem abenteuerlustigen Herzen mein Flug bis zur Landung in Ōsaka.
Ich bin in Japan, kein Zweifel! Meine erste Begegnung mit dem Land der aufgehenden Sonne. Wir landen auf dem Flughafen von Ōsaka, der auf einer künstlichen Insel erbaut wurde. Am anderen Ende der Welt, acht Zeitzonen und 10 000 Kilometer von Paris entfernt. Meine ersten Schritte auf japanischem Boden vollziehen sich so reibungslos, dass es mich selbst verblüfft. Ich fühle mich in meinem Element, lasse mich von der neuen Umgebung durchdringen. Die Anpassung erfolgt ganz sanft. Dieses Universum kommt mir seltsam vertraut vor. Ich genieße das angenehme und merkwürdige Gefühl eines Déjà-vu und fühle mich hier unmittelbar willkommen.
Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, die notwendigen Informationen zu bekommen, und finde auch gleich den Bus, der mich nach Takamatsu auf der Insel Shikoku bringen soll, wo Herr Matsuoka mich erwartet, der Leiter der lokalen Pilgervereinigung NPO, mit dem ich schon vor meiner Abreise Kontakt aufgenommen hatte. Ich bekomme einen ersten Eindruck von der Disziplin und Organisation dieses Landes, als ich die Warteschlange meiner Mitreisenden entdecke, in der alle ruhig und gemessen darauf warten, im Bus Platz nehmen zu dürfen. Was für ein Unterschied zu einem Land wie Frankreich!
Dem Jetlag zum Trotz versuche ich angestrengt, die Augenlider während der Busfahrt offen zu halten, damit ich meine Haltestelle nicht verpasse. Zudem möchte ich die Landschaft, die an meinen staunenden Augen vorbeizieht, ganz in mich aufnehmen.
Wir sind unterwegs zur kleinsten der vier großen Inseln dieses legendären Archipels. Shikoku, im Süden der Hauptinsel, zwischen dem Seto-Binnenmeer und dem Pazifik gelegen, ist wilder und ländlicher als die anderen Inseln. Hier erwartet mich ein Pilgerrundweg, der auf 1200 Kilometern 88 Tempel miteinander verbindet (es sind sogar 1400 Kilometer, wenn man die zwanzig zusätzlichen Tempel dazuzählt). Durch vier ehemalige Provinzen (shi bedeutet »vier« und koku »Provinzen«), die den heutigen Präfekturen entsprechen, wandern die Pilger über diese bergige Insel von einem Heiligtum zum nächsten auf dem Weg zum »Erwachen«, dem Zustand, in dem sich für die Buddhisten der Geist mit dem Universum vereint.
Falls ich nicht unfreiwillig in Tiefschlaf versinken sollte, ist es unmöglich, die Haltestelle zu verpassen, an der ich erwartet werde. Pünktlichkeit und Genauigkeit sind als Grundwerte in Japan zum Prinzip erhoben, und der öffentliche Verkehr funktioniert so präzise wie eine Partitur. Man braucht nur auf die Uhr zu schauen, um sicherzugehen, dass man am richtigen Ort aussteigt. Um Punkt 15.07 Uhr erreichen wir fahrplanmäßig den Busbahnhof von Takamatsu.
Herr Matsuoka in seinem eleganten grauen Anzug zeigt keinerlei Gefühlsregung. Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, und seine strahlenden kleinen Augen hinter der Brille drücken eine unverbrüchliche Würde aus. Harunori Shishido hingegen, sein Assistent, lächelt mich an und zeigt sich etwas warmherziger. Beide haben den Blick auf eine Fotografie geheftet, um die ich im Voraus gebeten wurde, damit sie mich erkennen würden. Da ich allerdings der einzige westliche Fahrgast im Bus und eine der ganz wenigen Pilgerinnen auf Shikoku bin, war mein Foto wohl nicht unbedingt notwendig …
Empfang und gegenseitiges Vorstellen werden nach den landesüblichen Gepflogenheiten vollzogen: Austausch der Visitenkarten, eine leichte Neigung des Kopfes und des Oberkörpers, wie ein reifer Reishalm, der sich im Wind biegt. Je weiser und lebenserfahrener eine Person ist, umso tiefer neigt sie den Kopf, wurde ich belehrt. Umgekehrt lässt ein flüchtig hingeworfener Gruß auf einen Mangel an Erziehung und guten Manieren schließen. Ich bemühe mich deshalb um eine möglichst anmutige und ehrerbietige Begrüßung.
Harunori dolmetscht auf Englisch, und schon sitzen wir in einem Auto – wohin, verstehe ich erst, als ich das Wort »Krankenhaus« aufschnappe. Verblüfft erkundige ich mich bei Harunori. Er erklärt mir, dass die Pilgervereinigung die gesundheitlichen Vorteile des Wanderns aufzeigen und dazu einige meiner Blutwerte zu Beginn und am Ende des Pilgerns ermitteln möchte. Ich habe nun allerdings keinerlei Lust, mich mit Nadeln traktieren zu lassen, zudem schwirren mir wilde Geschichten über Organhandel im Kopf herum, und so lehne ich höflich ab. Meine japanischen Gastgeber insistieren nicht, und das ist mir sehr angenehm.
Sobald ich aus dem Auto gestiegen bin, begebe ich mich unverzüglich in ein Geschäft, das die Ausrüstung für den »Pilger der 88 Heiligen Stätten«, auf Japanisch henro*[7] genannt, anbietet, um mich einzukleiden. Die typische henro*-Kleidung, die sich seit 1200 Jahren nicht verändert hat, ist reich an Symbolkraft, bedeutet sie doch für den Neuling, in die Haut eines Pilgers zu schlüpfen und sich mit Leib und Seele auf Wanderschaft zu begeben.
Stolz trage ich das weiße Gewand mit dem Schriftzug Namu Daishi Henjō Kongō auf dem Rücken, was wörtlich übersetzt bedeutet: »Ehre gebührt Daishi, dem alles erleuchtenden Diamanten«, in Erinnerung an den buddhistischen Mönch und Gelehrten Kūkai, dem nach seinem Tod von Kaiser Daigo der Ehrentitel »Kōbō Daishi«, »Großer Meister, der das Gesetz verbreitete«, verliehen wurde. Die Kopfbedeckung besteht aus einem kegelförmigen chinesischen Seggenhut, der mich vor Sonne und Regen schützen soll. Außerdem stehen Mantras in Sanskrit darauf, die mir Mut machen sollen. In der Hand halte ich den kongozue, den hölzernen Pilgerstab, dessen Knauf mit einem bunten und goldgewirkten Stoff überzogen ist. Er steht symbolisch für Kūkai, der an meiner Seite wandert, genau wie der Pilgerstab auf dem Jakobsweg den heiligen Jakobus verkörpert. Darüber hinaus hängt an meinem Stock ein Glöckchen, japanisch suzu genannt, das bei jedem Schritt bimmelt und wilde Tiere oder böse Geister verscheuchen soll und mir den lieblichen Eindruck schenkt, die Erde zum Singen zu bringen. Kleider machen die Pilgerin! Und auf Shikoku ist diese Tracht unabdingbar, um als henro* auf der Straße erkannt zu werden und besonderen Respekt und Achtung zu erfahren, die einem gewöhnlichen Wanderer nicht zuteilwerden. Ich habe auch das nōkyōchō* gekauft, das Büchlein, mit dem man nach jedem Tempelbesuch ins Kalligrafiebüro geht, wo ein Stempel und eine Kalligrafie eingetragen werden, entsprechend dem Pilgerpass auf dem Jakobsweg. In meiner Tasche sind auch die fuda*[8], die Papierstreifen, auf die ich meinen Namen, mein Alter, meine Adresse sowie meine Wünsche schreiben und die ich bei jedem Tempel niederlegen oder als Dank und Glücksbringer verschenken kann, wenn mir jemand etwas spendet oder mir einen Dienst erweist. Dazu kommen noch die kleinen weißen Kerzen und Räucherstäbchen, die ich für die Rituale in den Tempeln brauche.
So bin ich nun mit der traditionellen Ausstattung eines henro* gerüstet und bereit, in den Fußstapfen von Kūkai zu wandern, der im 8. Jahrhundert wirkte und den das japanische Volk sehr verehrt. Er ist der Begründer des Shingon-Buddhismus in Japan, der Schule des »Wahren Wortes«. Durch die Lehre Buddhas verkündete er, dass alle Menschen in diesem Leben die Erleuchtung erreichen können. Das sind wahrlich schöne Aussichten für meine Pilgerreise!
Nun ist der Moment gekommen, die jahrhundertealten Andachtsgesten zu erlernen, die bei jedem Tempel stets auf die gleiche Weise auszuführen sind. Herr Matsuoka, Harunori und ich machen uns zum nächstgelegenen Tempel auf, es ist der Tempel 86, Shido-ji, was so viel heißt wie »Seine Wünsche erfüllen«. Klingt doch vielversprechend für die Generalprobe!
Meine beiden Begleiter weisen mich mit viel Geduld und religiöser Hingabe in die uralten Rituale ein. Ich gebe mir große Mühe, aber meine Gesten sind unbeholfen und zögerlich. Macht nichts, ich habe eine lange Reihe von Tempeln vor mir, um die Gesten zu üben, damit sie geschmeidiger werden!
Folgende Rituale müssen vollzogen werden: Vor jedem Tempel verbeugt sich der henro* zur Begrüßung am großen Hauptportal, die Hände vor der Brust gefaltet. Zu beiden Seiten des Eingangs prangen zwei bedrohliche Schutzgottheiten, die mit gerunzelter Stirn, gebleckten Zähnen und einer Angst einflößenden Miene den Tempel beschützen. Normalerweise halten sie ein Schwert, ein Seil oder eine andere Kampfwaffe in den Händen und weisen damit in die vier Himmelsrichtungen. Danach geht der Pilger zu dem oft mit einem Drachenkopf verzierten Brunnen, wo Kellen mit einem langen Holzgriff bereitliegen. Damit schöpft er Wasser, lässt es erst über die linke, dann über die rechte Hand fließen und spült sich den Mund, ehe er sich mit einem der daneben ausliegenden Handtücher abtrocknet. Das ist das Reinigungsritual.
Dann schlägt der Pilger den Gong. Er begibt sich zum hondō*, dem Buddha geweihten Hauptschrein, und folgt dabei dem Pappkarton-Wegweiser, auf dem ein kleines lächelndes Männchen – es sieht aus wie aus einem Zeichentrickfilm – die Richtung anzeigt. Der Pilger zündet nun eine weiße Kerze an und stellt sie, windgeschützt, hinter Glas. An dieser Flamme entzündet er drei Räucherstäbchen – das erste symbolisiert die Vergangenheit, das zweite die Gegenwart und das dritte die Zukunft – und steckt sie in ein riesiges, dafür vorgesehenes Sandbecken. Daraufhin steigt er die Stufen des hondō* hinauf, zieht an einem Seil, um je nach Heiligtum eine Glocke oder ein kleines Glöckchen zum Erklingen zu bringen, legt eine Opfergabe in Form von ein paar Münzen in einen großen Holzstamm sowie ein fuda* in einen Metallkasten. Nun faltet er die Hände um seine buddhistische Gebetskette, spricht laut das Herz-Sutra und rezitiert bestimmte Mantras, je nachdem, welcher Gottheit an diesem Ort gehuldigt wird.
Erneut vom Wegweiser mit der kleinen Figur geführt, begibt sich der Pilger zum daishidō*, dem Teil des Tempels, der Kukai gewidmet ist und wo er dieselben Gesten wiederholt: die Kerze, die Räucherstäbchen, die Treppenstufen, die Glocke, die Opfergabe, das fuda* und das Herz-Sutra. Am Ende lässt er, zum Preis von 300 Yen, im Kalligrafiebüro sein nōkyōchō* abstempeln und mit einer Kalligrafie versehen. Das Büchlein wird zusammen mit einem o-sugata zurückgegeben, einem kleinen weißen Blatt mit der Darstellung des honzon, das heißt der in diesem Tempel neben Kūkai verehrten Shingon-Gottheit.
Beim Verlassen des Tempels dreht sich der Pilger abschließend noch einmal um und verneigt sich dankend mit gefalteten Händen.
Der erste Abend wartet mit weiteren neuen Eindrücken auf. Lauter Premieren an diesem Tag! Meine erste japanische – oder zumindest in Japan gegessene – Mahlzeit. Und mein erstes Bad in einem o-furo*, dem traditionellen Badezimmer, das folgendermaßen aussieht: Neben der Badewanne steht vor einem Wasseranschluss mit Duschkopf ein sehr niedriger Hocker, damit der Badende sich waschen, einseifen und abspülen kann, bevor er in die große, tiefe Wanne steigt, ins Wasser eintaucht und sich in dem (gelinde gesagt!) extrem heißen Wasser entspannt. Was ich an diesem Abend noch nicht weiß, aber später erfahren werde: Das Wasser des o-furo* wird aufbewahrt und muss mit einer oder mehreren Holz- oder Kunststoffplatten abgedeckt werden, damit es warm bleibt und so von allen Mitgliedern der Hausgemeinschaft genutzt werden kann.
Eine neue Erfahrung bietet auch meine erste Nacht auf einem Futon, der auf den sogenannten tatami, gewebten Reisstrohmatten, in einem Mehrzweckraum, wie es in Japan üblich ist, eingerichtet wird. Dieser Bereich ist von den anderen Räumen durch eine Schiebetür aus shōji, dem auf Holzrahmen geklebten Transparentpapier, abgetrennt. Was für ein Ambiente! Ja, ich bin zweifelsohne in Japan!
Bevor ich das Licht ausmache, packe ich noch meinen ganzen Rucksack aus, um den Hausschlüssel zu suchen, der bestimmt irgendwo zwischen meine Sachen gerutscht ist, aber vergeblich … Mein Schlüssel hat das Weite gesucht, die Leinen sind gekappt, wie es sich gehört, ich entfliehe dem Alltagstrott, bin weit weg von der Erstarrung im Sumpf des Alltäglichen … Eine Fahnenflucht aus der Enge hinter einer zweifach verriegelten Tür … Zeit für das Erwachen! Den Körper auf Wanderschaft schicken und alles Geistige vertreiben, die Fesseln des Bekannten, Vertrauten abwerfen, aus meiner Lethargie, meiner Schläfrigkeit erwachen, mich dem Nebel entziehen, der mein Bewusstsein umhüllt und trübt, Last abwerfen, mich auf das Wesentliche konzentrieren, mich einer anderen Wirklichkeitsebene öffnen, weg von den Belanglosigkeiten der gewohnten Realität, einen neuen Blick gewinnen, eine neue Dimension des Seins finden. Auf zur wahren Freiheit, der ontologischen Freiheit, der einzigen, die Sinn hat und ergibt!
Der Tag beginnt mit Aufregung und Hektik. Herr Matsuoka hat schon sehr früh am Morgen einen Termin mit einem Fernsehreporter von TV Asahi vereinbart, der extra aus Tōkyō angereist ist und uns den ganzen Tag begleiten will, um eine Reportage über den Pilgerweg auf Shikoku zu drehen. Er drängt nun darauf, endlich loszufahren, wiederholt fortlaufend wie ein eindringliches, hypnotisierendes Mantra: »Hurry up!« Ich bin gefangen in einem Rennen gegen die Zeit. Geschwindigkeit ist Pflicht, und es gilt, im Gleichschritt mit den anderen zu marschieren. Diktatur der hektischen Dringlichkeit, ein bedrückendes Joch der linearen Zeit. Wir holen erst Harunori ab, dann unseren Reporter in seinem Hotel und fahren zum ersten Tempel, damit das Abenteuer beginnen kann. Die Sonne steht bereits hoch, und es ist sehr heiß.
Als wir ankommen, fordert mich der Reporter auf, meine wunderschöne henro*-Kleidung, die ich an diesem Morgen ganz stolz angezogen hatte, wieder abzulegen und so zu tun, »als ob« ich sie gerade erst in einem der zahlreichen Geschäfte vor dem Hauptportal des Tempels, wo sich die henro* von Kopf bis Fuß einkleiden, kaufen würde. Und dieses »als ob« bleibt das Leitmotiv des ganzen ersten Tages: Der Kameramann dreht jede Szene mehrmals, und bei jeder Wiederholung muss ich zurückkehren, die gleichen unbeholfenen Gesten wiederholen und tun, »als ob« ich zum ersten Mal beim Tempel ankommen würde, »als ob« ich mich vor dem Tempeleingang noch nicht verneigt, »als ob« ich meine Hände am Brunnen noch nicht gewaschen, »als ob« ich meine Räucherstäbchen noch nicht angezündet, »als ob« ich das Herz-Sutra noch nicht gesprochen hätte … Gewiss, meine unverhoffte Rolle als VIP (das hier für Very Important Pilgrim steht!) ist amüsant und neu, passt aber nicht ganz zu meinen Plänen, mich auf die Einfachheit und die Realität des Landes zu konzentrieren. Grenzt diese ganze Inszenierung nicht schon fast an einen Schwindel?
Bei jedem Tempel sorgen mein recht ungewöhnlicher Status als westlicher henro* sowie die Dreharbeiten des japanischen Fernsehteams für Aufsehen. Nach dem dritten Tempel noch eine Premiere: ein Zwischenstopp in einem Restaurant, das die lokaltypische Spezialität ramen anbietet, Nudeln in einer kräftigen Brühe aus Schweineknochen und Huhn (eine Spezialität aus Tokushima), die mit tempura serviert wird, im Teigmantel frittierten Fleisch-, Fisch- oder Gemüsehappen. Entsprechend den örtlichen Gepflogenheiten müssen die Nudeln geräuschvoll eingesogen werden. Allein so ein Mittagessen ist ein kleines Abenteuer! Was, wie, mit welcher Soße, in welcher Reihenfolge verspeisen?
Nach dem Essen lässt Herr Matsuoka, der mit dem Auto gefolgt ist und auf den alle mit großem Respekt hören, die ganze Truppe wieder diszipliniert einsteigen, um zum nächsten Tempel zu fahren. Ich unterdrücke meinen aufkommenden Wunsch nach Unabhängigkeit, doch plötzlich erfasst mich Verärgerung. Ich habe das unangenehme Gefühl, fest bei der Hand gehalten zu werden wie ein kleines Kind. Aber ich bemühe mich, so diplomatisch wie möglich vorzugehen, möchte Herrn Matsuoka auf keinen Fall beleidigen. Ich will kein Sandkorn im Getriebe sein, aber ich möchte mein »Ich« auch nicht in einen Tiefschlaf versetzen – vor allem jetzt, wo es auf dem Weg zum Erwachen ist. Ich versuche, Herrn Matsuoka mehr recht als schlecht zu verstehen zu geben, dass es für mich Ehrensache ist, meine Pilgerfahrt aruite* durchzuführen, das heißt zu Fuß. Obwohl mich vermutlich alle für verrückt halten, nehme ich nun zusammen mit Harunori meine Wanderung wieder auf und bin sehr stolz darauf, dass ich mich durchgesetzt habe und für das einstehe, was ich tief in mir fühle.
Konsequenz ja, aber kein Extremismus, deshalb akzeptiere ich – und schätze es, offen gesagt, sehr –, dass mein Rucksack mit dem Auto befördert wird. Der Jetlag, die drückende Hitze und die erwachenden Muskeln machen sich allmählich unangenehm bemerkbar, deshalb passt es mir ganz gut, dass mein Körper beim Warmlaufen etwas entlastet wird. Das Tempo wird jetzt allerdings beschleunigt: Vor siebzehn Uhr sind wir schon bei Tempel 6, wo der shukubo*, die Pilgerherberge, auf mich wartet. Diese uralte Einrichtung einiger Tempel wurde ursprünglich für die Mönche geschaffen und später, zur Edo-Zeit[9], auch Pilgern und Samurais auf Reisen zugänglich gemacht. Die Straße, auf der wir den Tempel erreichen, ist allerdings nicht diejenige, auf der Herr Matsuoka und der Reporter uns erwarten. Darum müssen wir wieder zurück, eine andere Straße wählen und erneut so tun, »als ob« wir gerade ankommen würden …
In Tempel 6, Anraku-ji, »Ewiges Glück«, genannt, empfängt uns strahlend ein charmanter Mönch mit frisch rasiertem Schädel und Gesicht, den lachenden Augen und dem offenen Lächeln eines Menschen, der von einer einfachen und tiefen Freude erfüllt ist. Der Mann sieht liebenswert aus und hat eine magnetische Ausstrahlung. Er führt mich in mein Zimmer, wo meine deutliche Verblüffung und das Unverständnis angesichts des völlig leeren Raums den Reporter sehr belustigen. Der Mönch öffnet einen Schrank, in dem sich Futons, Bettdecken und Kissen stapeln, die man selbst ausrollen und auf die tatami legen muss. An jeder Ecke gibt es etwas Neues für mich, und mit Freuden entdecke ich in mir diesen erstaunten Kinderblick, der die Umwelt ganz unbefangen wahrnimmt, ohne vorgefasste Meinungen oder Gewissheiten.