Die Tempelritter-Saga - Band 24: Die Säulen Salomons - Mattias Gerwald - E-Book
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Die Tempelritter-Saga - Band 24: Die Säulen Salomons E-Book

Mattias Gerwald

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Beschreibung

„Es waren die Christen, denen er misstraute, weil sie Unruhe in das heilige, friedliche Land brachten“: „Die Tempelritter-Saga“ – als eBook bei dotbooks. In Jerusalem vereinen sich die drei großen Weltreligionen – das sorgt immer wieder für heftige Unruhen und Kämpfe zwischen Gruppierungen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Als seltsame Gestalten in den Straßen auftauchen und scheinbar wahllos Menschen umbringen, ist der Frieden zerstört. Die Bewohner sind in Panik: Wer steckt hinter den grausamen Morden – und wer wird der Nächste sein? Sean und seine Gefährten müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer die Morde in Auftrag gibt. Als sie erkennen, dass es sich bei den Meuchelmördern um Anhänger des fanatischen Schwanenritterordens handelt, schweben sie in großer Gefahr … Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 420

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Über dieses Buch:

In Jerusalem vereinen sich die drei großen Weltreligionen – das sorgt immer wieder für heftige Unruhen und Kämpfe zwischen Gruppierungen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Als seltsame Gestalten in den Straßen auftauchen und scheinbar wahllos Menschen umbringen, ist der Frieden zerstört. Die Bewohner sind in Panik: Wer steckt hinter den grausamen Morden – und wer wird der Nächste sein? Sean und seine Gefährten müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer die Morde in Auftrag gibt. Als sie erkennen, dass es sich bei den Meuchelmördern um Anhänger des fanatischen Schwanenritterordens handelt, schweben sie in großer Gefahr …

Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!

Über den Autor:

Mattias Gerwald ist das Pseudonym des Erfolgsautors Berndt Schulz, dessen Kriminalreihe rund um den hessischen Ermittler Martin Velsmann ebenfalls bei dotbooks erscheint: „Novembermord“, „Engelmord“, „Regenmord“ und „Frühjahrsmord“. Er lebt in Frankfurt am Main.

Unter dem Namen Mattias Gerwald veröffentlichte er historische Romane, in denen entweder eine außergewöhnliche Persönlichkeit oder ein ungewöhnliches historisches Ereignis im Mittelpunkt steht. Er gilt als Experte für die Geschichte der europäischen Mönchsritterorden.

Für die Tempelritter-Saga schrieb Mattias Gerwald folgende Bände:

Die Tempelritter-Saga – Band 5: Die Suche nach Vineta

Die Tempelritter-Saga – Band 8: Das Grabtuch Christi

Die Tempelritter-Saga – Band 9: Der Kreuzzug der Kinder

Die Tempelritter-Saga – Band 18: Das Grab des Heiligen

Die Tempelritter-Saga – Band 20: Die Stunde des Rächers

Die Tempelritter-Saga – Band 24: Die Säulen Salomons

***

Neuausgabe Juni 2016

Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel Die sieben Säulen Salomons bei Pabel-Moewig Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2007 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Copyright © der Neuausgabe 2014 bei dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/artforce und shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich

ISBN 978-3-95520-835-6

***

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Mattias Gerwald

Die Säulen Salomons

Die Tempelritter-Saga

Band 24

dotbooks.

1

Jerusalem, Herbst 1324

Er war der Lehrmeister. Sie folgten allem, was er sagte oder tat. Und er gab sich alle Mühe, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Sean of Ardchatten war an diesem Tag vierundzwanzig Jahre alt geworden. Ein stattliches Alter für einen jungen Mann, ein frühes Alter für einen Ritter. Aber ein Ritter der Armen Brüder Christi vom Tempel Salomonis, das durfte er ohnehin nur im Verborgenen sein. In Jerusalem, dem Königreich der Himmel, wurden christliche Kämpfer von den Mamlucken enthauptet.

So trafen sich Sean und seine Freunde Suleiman ibn Abu Lahab und Elazar ben Aaron für das, was sie tun wollten, in aller Heimlichkeit.

Sean fungierte als kampferprobter Lehrmeister der kleinen schlagkräftigen Gemeinschaft, er kannte den Kampf von seinem Meister Henri de Roslin, war durchdrungen von den Idealen und Fähigkeiten der Tempelritter.

Elazar war zum Lernen angetreten, sein Ideal war der Frieden in jeder Form. Sein jüdisches Gewissen verbot es ihm, zu töten. Aber er wollte lernen, sich zu verteidigen.

Suleiman hatte von seinem Vater Abu Lahab die Geheimnisse des Ribat gelernt. Er hatte für ein ganzes langes Jahr in einem dieser befestigten militärischen und religiösen Zentren an den Grenzen der islamischen Welt gelebt. Er hatte gelernt, dass der Djihad, der Heilige Krieg, für einen Muslim Pflicht war – wenn das Haus des Islam in Gefahr geriet.

Jeder der drei brachte seine Kenntnisse mit, und so war der kleine, verschwiegene Platz hinter der Stadtmauer von Jerusalem, dort, wo das Tal von Sion begann und wo es keine Zuschauer außer Skorpionen und Schlangen gab, vom Klirren der Waffen und Rufen der jungen Menschen erfüllt.

Die drei Freunde standen noch im Bann ihrer Begegnung mit ihren Ziehvätern in Aleppo. Sie hatten über die alten Zeiten gesprochen, in denen die Kriege der Kreuzzüge tobten. Die Zeiten, in denen geistliche Ritterorden die Ehre des Abendlandes verkörperten. Und Henri de Roslin hatte seinem ehemaligen Knappen Sean das Erbe übertragen – das Erbe eines ganzen Lebens. Sean trat in die Fußstapfen des letzten Tempelritters des Abendlandes. Als sie die Rückreise nach Jerusalem angetreten hatten, kam der Abschied Sean vor wie ein kleiner Tod.

Die Sonne brannte, obwohl Wolken schon die Regen des Herbstes ankündigten. Staub wirbelte auf. Die Kämpfer umkreisten einander. Sean hob das Schwert und ließ es mit voller Wucht auf das Schild von Suleiman niedersausen. Der junge Muslim trat zwei rasche Schritte zurück und blickte ihn erstaunt an. Was war heute los mit dem Christen?

Sean hob erneut sein Schwert und drang auf Suleiman ein. Der junge, hochgewachsene Muslim parierte im letzten Augenblick, seine Klinge glänzte für einen Augenblick in der Sonne. Dann griff er an. Im Kampf Mann gegen Mann hatte Sean rein physisch deutliche Vorteile, während Suleiman mehr Finten kannte und den jungen Christen ein ums andere Mal ins Leere laufen ließ. Bevor er jedoch selbst zuschlagen konnte, verstand es Sean, sich blitzschnell umzudrehen und ihn in Verteidigungsstellung zu erwarten.

Elazar machte Übungen mit der Lanze, er stach, fintierte, zog sich zurück, griff erneut an. Der junge Jude aus dem teutschen Überlingen überragte seine beiden Freunde um Haupteslänge, aber als Krieger war er nicht ausgebildet. Das machte seine imposante Erscheinung mit der Waffe allerdings zumindest optisch mehr als wett.

»Komm her, Christ«, rief Suleiman, »ich zeige dir, was ich im Ribatä gelernt habe! Wir Muslime schlagen euch alle!«

»Was ich im Tempel gelernt habe, Ungläubiger, das wirst du nie können! Verteidige dich, Gottloser!«

Elazar hörte auf zu fintieren. Was war mit seinen Freunden los? Es klang wie ein echter Kampf, nicht wie ein Spiel. Er rief vom Rand des Kampfplatzes her: »Meine Freunde! Beachtet, wer ihr seid und wo ihr seid!«

»Keine Angst!«, schnaufte Sean, »ich weiß, dass die Kreuzzüge beendet sind. Aber ich führe meinen eigenen Kreuzzug. Noch gibt es viele Feinde.«

Sean wich einer Attacke des Muslims aus. Dann traf sein Schild den Schild des Freundes. Es klirrte, es gab Beulen. Sean schlug erneut zu, sein Schwert hinterließ eine Kerbe im mit Kupferblech ausgeschlagenen Lederschild Suleimans. Der Muslim drückte Seans Schwert zur Seite und ließ sein Kurzschwert auf den Angreifer herabsausen. Er traf ihn an der Schulter – mit der flachen Seite.

»Jetzt hört auf!«, ließ sich Elazar vernehmen. »Es reicht! Kommt zu euch!«

Schwer atmend folgten die beiden Kampfhähne seiner Anweisung. Sie ließen sich in den Sand fallen. Mit überkreuzten Beinen saßen sie da, wischten sich den Schweiß von der Stirn, legten die Waffen neben sich.

»Ein Heidenspaß!«, meinte Sean lachend.

»Wie meinst du das?«, fragte Suleiman argwöhnisch.

»Es macht Spaß, dich zu schlagen, Heide, und dennoch dein Freund zu sein.«

»Lange währt das nicht mehr, wenn du so vehement vorgehst! Eines Tages töte ich dich – mit Blicken!«

Jetzt lachten alle. Die Stimmung des Kampfes verflog. Elazar ging zu einem kleinen Feuer, das bereits an einem Höhleneingang brannte. Er schürte das Feuer und legte einen eingefetteten Rost darüber.

»Was bereitest du vor?«, wollte der hungrige Sean wissen.

»Beachtet die friedensstiftende Wirkung von Essen und Trinken«, empfahl Elazar vom Feuer her. »Ich mache euch ein Versöhnungsessen, meine Freunde. Es gibt Hamantaschen mit Pflaumenfüllung, dazu Lammspieße mit Gurken. Und wir trinken kalte Ziegenmilch mit Dill.«

»Herrlich!«, freute sich Sean.

»Mein Freund«, verkündete Suleiman in getragenem Tonfall, der nur durch sein feines Lächeln ein wenig gestört wurde. »Ich schlage dich als Friedensrichter von Al-Quds vor, denn du bist wahrhaftig versöhnlich.«

»Wie ist das eigentlich, mit diesem Ribat?«, wechselte Sean das Thema. »Erzähle davon, während wir auf das Essen warten.«

»Es wird dir nicht gefallen, wenn ich es erzähle«, befürchtete Suleiman.

»Darauf brauchst du nicht zu achten, mein Freund«, erklärte Sean. »Ich verspreche, ich starte keinen Kreuzzug gegen dich.«

Elazar hantierte an der Feuerstelle; es dampfte und zischte, ein unwiderstehlicher Duft zog herüber.

»Dein Herr Henri wüsste, was ein Ribat ist«, sagte Suleiman. »Denn du hast ihn als aufgeklärten Mann geschildert, und so habe ich ihn auch in Aleppo erlebt. Er ist ein Wissender. Im Ribat lernen wir den Kampf auf Zeit. Während man im Abendland davon ausgeht, dass die Tempelritter aus den christlichen Klöstern und den Mönchsorden stammen, wird er gewusst haben, wie viel die Templer von den Sarazenen übernommen haben. Der Kampf auf Zeit ist eines ihrer Ideale.«

»Die Templer lernten von den Sarazenen? Das glaube ich kaum«, meinte Sean. »Für die christlichen Templer war Töten immer eine Sünde, auch wenn der Krieg gerecht war. Der Krieg war getauft, nicht geheiligt. Für die Sarazenen ist beim Heiligen Krieg immer das Töten von Ungläubigen gerecht gewesen. Wo soll es da eine Verbindung geben?«

»Du kennst dich aus, mein Freund. Aber dennoch. Denk an Iberien. Gibt es dort nicht die Bruderschaften, die an den Grenzen gegen die Mauren kämpfen, Bruderschaften, die beten und auch töten?«

»Du meinst die fratres ad terminum, die auf Zeit und gegen Geld kämpfen, Alfons von Aragón hat sie gegründet. Sie kämpfen wie in deinem Ribat nur für eine gewisse Zeit. In dieser kurzen Zeitspanne können sie sich nicht so stark versündigen, dass ihre Seele verloren ist. Aber es ist eine Ausnahme, mein Freund. Denn die Vorstellung eines begrenzten geistlichen Dienstes ist dem christlichen Mönchtum fremd geblieben.«

»Gewiss, deshalb haben die iberischen Bruderschaften sie von den Mauren übernommen!«

»Ach, darauf willst du hinaus. Nun, wo du recht hast …«

»Worüber streitet ihr euch eigentlich?«, ließ sich Elazar vernehmen. »Es ist doch klar, dass sich die christlichen und die muslimischen Kämpfer annähern, wenn sie ständig zusammen sind – entweder im Frieden oder auch im Krieg. Das sieht man schon allein bei euch beiden! Ihr seid wie Brüder!«

»Allah, der Einzige, lebe ewig, sei davor!«, rief Suleiman, scheinbar entsetzt.

Und Sean schlug ein Kreuz. »Gott im Himmel!«

»Essen ist fertig«, konstatierte Elazar.

Suleiman und Sean gingen hinüber zur Feuerstelle. Der jüdische Freund trug auf. Und bei den folgenden Genüssen waren die gedanklichen Haarspaltereien schnell vergessen.

Dennoch kam Sean nach dem Essen noch einmal auf das Thema zurück. In seiner Zeit als Knappe des Templers Henri de Roslin war es ständig auf der Tagesordnung gewesen. Gerade eben in Aleppo hatte man wieder darüber gesprochen.

»Gerechter Krieg oder Heiliger Krieg – das ist der schnellste Weg zum Frieden. So hat es mein Meister immer ausgedrückt. Frieden ist gottgewollte Ordnung. Wer ihn stört, kann mit allen Mitteln bekämpft werden.«

»Das sehen wir Muslime genauso.«

Elazar kaute an einem Stück Lammfleisch herum. Er leckte sich die Finger ab und sagte dann: »Zum Glück müssen wir Juden uns nicht ständig mit solchen Dingen beschäftigen. Unser Interesse ist der Alltag, das Miteinander, die Gemeinschaft.«

»Und das Überleben!«, sagte Suleiman. »Dafür muss man kämpfen können.«

»Ich lerne es gerade«, sagte Elazar. »Durch euch.«

Sean überlegte. »Krieg zu führen ist gerechtfertigt, um Frieden zu erlangen, aus keinem anderen Grund, ich glaube, das sagte unser Augustinus. Wir sollten friedfertig auch im Kampf sein, um durch den Sieg und das Vorbild auch die Feinde zu beeindrucken und ihnen Friedensglück zu bringen.«

»So poetisch waren eure frühen Kirchenfürsten?«, staunte Suleiman. »Aber auf dem Schlachtfeld gab es nie Zeit, um über solche Tugenden nachzudenken. Da hieß es immer: Stirb oder töte!«

»Als der Heilige Bernhard von Clairvaux in Vezelay den zweiten Kreuzzug predigte, betonte er, dass der Islam im Unrecht sei, den Krieg angezettelt habe und deshalb mit Feuer und Schwert niedergemacht werden müsse. Da war es schon vorbei mit dem Gedanken, dem Feind ein Vorbild an Moral und an Würde zu sein.«

»Auch der Islam gab den Christen von vornherein die Schuld an allem Bösen und rief dagegen zum Kampf auf.«

»Ganz recht«, stimmte Sean zu. »Und wie war es im Abendland? Gott schuf den Heiligen Krieg, damit der Ritterstand und die unstete Masse, die gewohnt war, sich gegenseitig niederzumetzeln wie die Heiden von einst, einen neuen Weg fanden, das Seelenheil zu erlangen. Und das versuchten sie dann mit allen Mitteln, nachgedacht wurde dabei nicht mehr.«

»Vielleicht solltet ihr eure Diskussion den alten Herren in Aleppo überlassen? Denn sie haben alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken«, warf Elazar ein. »Unterdessen könnten wir uns darum kümmern, was wir in den nächsten Tagen in Yerushalaiym tun müssen.«

»Frieden stiften, mein Freund!«, sagte Sean. »Das ist schließlich das Problem. Dort herrscht kein Frieden, zu viele Orden und Fanatiker machen ihn streitig. Und ohne Gewaltanwendung geben sie auch nicht klein bei.«

»Wie wir ja im Fall dieses militanten Ordens der Schwanenritter gesehen haben«, ergänzte Suleiman, »der das Chaos in Al-Quds stiften wollte.«

»Beten und Töten!«, konstatierte Elazar.

»Im Abendland«, erklärte Sean, »gab es lange Zeit eine Trennung zwischen Betenden, Kriegführenden und Arbeitenden. Jeder stand an seinem Platz. Aber die Tempelritter beendeten diese Trennung. Sie taten alles zugleich, und sie konnten auch alles. Das war ein neues Ideal und Vorbild. Seitdem bildeten sich die geistlichen Ritterorden nach diesem Ideal. Mein Herr Henri hat mir so oft davon erzählt, dass ich die Entstehungsgeschichte im Schlaf hersagen kann.«

»Erspare uns das bitte«, lachte Suleiman. »Das würde mein sarazenisches Herz unnötig aufstacheln. Denn die Folge war ja, dass ihr in unser Land eingefallen seid und Gewalt ausgeübt habt.«

»Die Gewalt war schon vorher da«, lehnte Sean ab. »Der Islam verbot es, dass Christen das Grab unseres Herrn Jesus besuchten. Viele Pilger wurden überfallen, deshalb gründeten wir ja die geistlichen Ritterorden, die Pilger schützten.«

»Geschichtsverdrehung!«, meinte Suleiman. »Gewalt kam durch die Christen nach Al-Quds. Als eure Kreuzfahrer die Stadt eroberten, ermordeten sie alle – auch Frauen und Kinder. Das erst war der Beginn der Gewalt.«

»Du widersprichst einem Christen? Wehre dich, Ungläubiger!« Sean war aufgesprungen und richtete sein Schwert gegen Suleiman. Es war spielerisch gemeint. Doch alle drei spürten plötzlich, welch kleiner Schritt vom Spiel zum Ernst sein konnte. Die Generation vor ihnen hatte es blutig ausgetragen. Während der Kreuzzüge hatten es alle erlebt.

Suleiman rührte seine Waffe nicht an. Und Sean setzte sich ohne ein weiteres Wort.

»Palästina war friedlich, bevor die Christen kamen. Ihr habt die Gewalt in unsere Heimat getragen. Deshalb musstet ihr auch wieder verschwinden.«

»Palästina gehört allen«, widersprach Sean. »Allen gläubigen Menschen der Erdenscheibe. Und Jerusalem ist die Hauptstadt dieser Gemeinschaft. Deshalb haben wir ein Recht, hier zu leben und unseren Gottesdienst zu tun.«

»Streitet nicht«, meinte Elazar. »Das kraftvolle und heldenhafte Feuer, das ihr in eure Verteidigungsreden legt, solltet ihr für andere Dinge entfachen.«

»Gerecht nannten jedenfalls zu allen Zeiten die Kriegführenden ihre eigene Seite«, wusste Suleiman. »Mit dieser Begründung war dann alles möglich. Auch die furchtbarsten Dinge. Ob nun Soldaten Christi oder Soldaten Muhammads Gewalt ausüben, töten ist töten. Und es ist nie irgendetwas Gutes daran.«

»Weise gesprochen«, meinte Elazar.

»Den Kreuzfahrern wurden sämtliche Sünden erlassen, wenn sie das Erbe Christi mit der Waffe verteidigten«, erinnerte sich Sean. »Die größten Verbrecher konnten sich damit reinwaschen, wenn sie nur möglichst viele Feinde töteten.

So kam der Abschaum der Straße zum Zug und wurde geadelt. Es ist ein Glück, dass wir alle drei erst nach den Kreuzzügen geboren wurden.«

»Vielleicht stehen wir auch am Beginn neuer Kreuzzüge, wer weiß das schon?«, überlegte Elazar. »Wir kennen nicht die Gedanken der Kirche und der adligen Kaste im Abendland. Vielleicht machen sich die Heere schon auf den Weg? Dann gnade uns Gott!«

»Jerusalem wird leider immer der Mittelpunkt der Auseinandersetzungen sein«, mutmaßte Sean. »Aber gerade deshalb sind wir ja hier zusammengetroffen. Hier ist unser Platz. Hier können wir am meisten dafür tun, dass der Frieden eingehalten wird.«

»Noch Ziegenmilch?«, fragte Elazar.

Beide Freunde nahmen noch eine Schale. Sie blickten zum Himmel hinauf. In der Ferne näherten sich dunkle Wolken. Die Anzeichen des sich verdichtenden Herbstes waren nicht mehr zu übersehen. Bald würde es regnen. Aber würde dadurch irgendetwas in der Stadt Jerusalem reingewaschen werden?

***

Bevor der Regen einsetzte, waren die drei Freunde bereits zurück in den schützenden Mauern. Sie hatten beim Zurückreiten noch einmal über Aleppo gesprochen. Auch bei ihrem zweiten Besuch in der ehrwürdigen Stadt hatte die Begegnung mit ihren Ziehvätern sie stark berührt. Dennoch waren sie enttäuscht abgereist, denn sie hatten es nicht geschafft, die alten Herren zum Umzug nach Jerusalem zu bewegen.

Uthman ibn Umar hatte Suleiman in Aleppo auf den Markt für Pferde geführt. Die stärksten und schönsten Araberhengste wechselten dort die Besitzer. Und Suleiman durfte sogar reiten. Uthman hatte ihm einen edlen Rappen geschenkt. Er stand jetzt im Stall hinter der Herberge, in der nun neben Sean auch Suleiman wohnte. Elazar hingegen blieb im Haus seines Adoptivvaters Ben Shalon.

Joshua ben Shimon hatte sich in Aleppo besonders rührend um Elazar gekümmert. Er hatte ihm vom iberischen Toledo erzählt und ihm versprochen, eines Tages dorthin zu reisen, um die Kultur dieses großartigen Landes kennenzulernen, in dem die Juden mit den anderen Religionen friedlich zusammenlebten. Auch wenn jetzt die Reconquista wütete und Krieg gegen die Muslime geführt wurde. Damit wurde das Zusammenleben schwierig.

Sean und sein ehemaliger Herr Henri de Roslin waren durch Aleppo gegangen, als hätten sie sich nie getrennt. Sean erzählte vom Leben auf Burg Roslin und von dem Überfall am Firth of Forth in Edinburg. Und er erzählte die traurige Geschichte von Madeleine, die in der Nähe des Klosters vom heiligen Andreas tragisch umgekommen war. Henri war schockiert. Und Uthman, der Madeleine einst geliebt hatte, war so erschüttert, dass er aus der Stadt ritt und zwei Tage lang allein in der Wüste blieb – mit sich und seinen Tränen.

Sean of Ardchatten wusste nach diesem Aufenthalt in Aleppo, dass für ihn die neue Zeit wirklich begonnen hatte. Er war auf sich gestellt. Er war es jetzt, dem alle diese Dinge geschahen. Nicht mehr den anderen, an deren Seite er schritt und ritt. Und so war er zwar traurig nach Jerusalem zurückgekehrt, aber auch mutiger. Jetzt begann das Leben erst richtig, denn er war in sein eigenes eingetreten.

Als sie in Jerusalem ankamen, sahen sie, dass die mamluckische Regierung erneut den Tempelberg abgesperrt hatte. Seit dem Attentat auf die Klagemauer waren die Herren der Stadt nervös geworden. Soldaten patrouillierten durch die Straßen. Die Behörden wollten unter allen Umständen neue Unruhen vermeiden.

Sean überlegte, ob die Regierung überhaupt eine Ahnung davon hatte, dass die Schwanenritter in den Ruinen des Salomonischen Tempels Ausgrabungen durchgeführt hatten. Und dass sie dort etwas gefunden hatten, das sie für die Bundeslade der Israeliten hielten. Eine Expedition war nun auf dem Weg nach Äthiopien, um den Schatz dorthin zu bringen. In das altchristliche Kernland. Nach Aksum.

Sean musste an Clemens de Sidan denken, der die Expedition begleitete. Es war für ihn sicherlich kein leichter Weg. Denn er reiste an der Seite Teilhard de Chardins, den er verdächtigte, der Mörder seiner Frau zu sein. Wie konnte er dessen Gegenwart überhaupt ertragen?

Sean hoffte inbrünstig, dass sie sich wiedersehen würden. Er hatte Clemens als einen Gleichgesinnten erlebt.

Jerusalem schien Sean an diesem Tag, verdunkelt durch seine Gedanken, ein unsicherer Ort zu sein. Der Untergrund war morsch, er stammte aus früheren Jahrhunderten. In jeder Schicht befanden sich Geheimnisse und Rätsel. Und es gab in der Stadt viele geheimnisvolle Existenzen, die versuchten, diese Rätsel zu lösen. Dadurch war die Stadt in ständiger Bewegung. In jedem Moment konnte etwas geschehen, das Chaos bedeutete. Und dann würden erneut Menschen sterben.

An diesem Tag blieb es ruhig. Sie ritten durch die Straßen, und man grüßte sie. Die Bewohner der Stadt hatten sich an ihren Anblick gewöhnt: an den blonden Christen mit den verträumten Augen, der manchmal auf seiner Knochenflöte blies. An den hochgewachsenen, breitschultrigen Juden, der schwache Augen besaß und deshalb manchmal unwillig und mit Stirnfalten schaute. An den schwarzhaarigen Muslim mit dem leuchtenden Blick, der ihnen meist voranritt. Eine kleine Miliz, die versuchte, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und Streit zu schlichten.

Die drei Freunde ritten mit verhängten Zügeln und ließen ihre Pferde leicht dahintraben.

Und plötzlich waren die Schwanenritter wieder da.

***

Als Elazar, Suleiman und Sean of Ardchatten an der Paternoster-Kirche vorbeiritten, lag sie, von außen gesehen, völlig verlassen da. Die Bauarbeiten an der geduckten Ostseite, wo ein großer Chor im neuen, hochfliegenden Stil entstehen sollte, waren eingestellt worden, nachdem ein Gerüst eingebrochen war und zwei Steinhauer unter sich begraben hatte. Sean blickte nach oben, die Fahnen auf den beiden durchbrochenen Spitzen der Türme waren abgebaut worden.

Als sie am nördlichen Seitenschiff vorbeiritten, erinnerte sich Sean an die Dinge, die im vergangenen Sommer dort passiert waren.

Ein Mord war geschehen. Ein kleiner, nach den Kloaken der Stadt stinkender Mann hatte einen der Schwanenritter ermordet, eben den, der Sean of Ardchatten auf Zypern überfallen hatte. Sean wusste noch immer nicht, wie das alles zusammenhing. Er ahnte nur, dass die Vergangenheit damit nicht abgeschlossen war. Und das war ungut. Etwas blieb auf der Lauer liegen.

Ein Seiteneingang führte unter den Kirchenraum in die gewölbten Kapellen. Die schwere, niedrige Tür ließ sich öffnen. Von hier aus konnte man direkt in die unterirdischen Gewölbe unter dein Kreuzgang gelangen. Durch diese Pforte war Sean in die Kirche eingetreten und hatte einem Ritual beigewohnt, das ihn erschauern ließ.

Sean sah jetzt, beim Vorbeireiten, noch einmal über die Schulter zurück. In einiger Entfernung bemerkte er plötzlich zwei kräftige Männer, die aus der Kirche traten. Er sah einen großen, blonden Mann – und erschauderte. Das war nicht möglich! Dieser Mann war tot! Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ein Messer ihn durchbohrte!

Sean erinnerte sich mit Schaudern daran. Er wollte die Erinnerung loswerden, aber das gelang ihm nicht. Zu tief war sie in ihn eingedrungen.

Er sah die Bilder erneut.

Eine Gruppe von weiß gekleideten Ordensleuten der Schwanenritter umstand den Altar mit der Muttergottesfigur. Sean suchte nach seinem Eintreten den auffälligen, blonden Ritter. Dabei fiel sein Blick auf einen gedrungenen Priester, der auf den Ziegelplatten des Fußbodens kniete. Von der Predella des Altars herab blickten die finsteren Porträts von Männern, die gerade eben erst dort aufgehängt worden sein mussten, denn Sean kannte die Kapelle und wusste, dass sie keinen Schmuck trug. Und die mächtige Figur des heiligen Georg, die Sean bisher ebenfalls nicht wahrgenommen hatte, schien die Versammlung mit hocherhobenem Schwert anzuspornen, vielleicht nur zu ihrem rätselhaften Tun, vielleicht zum Krieg gegen irgendwelche eingebildeten Feinde.

Es war ein befremdliches Bild gewesen!

Sean war auf halber Höhe auf dem Treppenabsatz stehen geblieben und hatte die Versammlung beobachtet. Worum bemühten sie sich, was wiegten sie mit ihrem Gemurmel hin und her? Was verursachte im flackernden, springenden Zwielicht dieses Ortes diese innige, selige Stimmung, wie Sean sie nicht für möglich gehalten hatte?

Nach und nach begriff er es. In schwarze Tücher mit Goldposamenten eingefasst, hielt der Priester einen Balg im Arm. Einen Herzschlag lang nahm Sean ein kleines Gesicht wahr. Und er erschrak. Es war das verschrumpelte Gesicht eines Wesens, das missgestaltet schien. Was beteten sie da an?

Seans Blick wurde wieder verdeckt, als sich die Schwanenritter über das Bündel beugten. Einige schwenkten die Kessel mit dem hell brennenden Duftharz. Jemand begann zu singen. Es war ein Lied mit heiserer Stimme. Und es kam immer näher. Sean begriff plötzlich, dass die Stimme hinter ihm war. Er fuhr herum. In seinem Rücken stand ein weiterer Schwanenritter.

Und jetzt kamen die Lichter in der Kapelle zur Ruhe. Die Schwanenritter drehten sich um und blickten Sean entgegen, als hätten sie ihn erwartet. Der Priester verbarg sein Bündel in den Falten seines Gewandes. Einer aus ihrer Mitte winkte Sean zu.

Sean of Ardchatten folgte dem Druck der Hand in seinem Rücken und schritt die Stufen hinab.

»Was hast du, Sean? Was ist mit dir?«

Sean of Ardchatten wurde aus seiner Erinnerung gerissen. Suleiman war an seine Seite geritten.

»Du bist es?«

»Ja, wer sonst?«

»Ach, ich musste gerade an meine letzte Begegnung mit den Schwanenrittern denken!«

»Du armer Kerl! Es hat dich mitgenommen!«

»Ich kann es nicht abschütteln. Lass mich einen Augenblick einfach stehen.«

»Wir reiten voraus. Wir treffen uns in der Herberge!«

Sean nickte dankbar. Seine Gedanken flogen erneut in die Vergangenheit dieses blutigen Sommers zurück.

Der Blonde starrte ihn lange an. Er starrte durch ihn hindurch, als könne er ihn nicht wirklich sehen. Er war wie aus einer anderen Welt und sagte wie in Trance: »Schwäne mit goldenen oder silbernen Ketten um den Hals, versteht Ihr? Sie sind die übernatürlichen Erscheinungen von Gottheiten. Aber auch wir sind Gottheiten. Deshalb tragen wir die silberne Kette mit dem Schwan. Wir setzen uns an ihre Stelle und beanspruchen unsterbliches, göttliches Ansehen.«

Sean ließ seinen Blick schweifen. Die Gruppe in ihren Umhängen stand im Halbdunkel, der Priester verbarg ängstlich sein Bündel, der Blonde vom Firth of Forth schien sich unmerklich auf ihn zu zu bewegen. jedenfalls kam er näher. Sean zog mit einer entschlossenen Bewegung sein Schwert.

Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf

Durch die Versammlung ging ein Seufzen, ein Knurren, ein Ausatmen. Etwas in ihrer Mitte setzte zum Sprung an.

Sean spürte plötzlich, wie hinter ihm eine Bewegung entstand. Der andere stand noch immer in seinem Rücken.

Der blonde Schwanenritter knurrte: »Ich wusste, dass ihr den Schatz eures Meisters Henri übernommen habt. Ich wollte ihn. Und ich will ihn noch immer! Wir Schwanenritter brauchen diesen Schatz der Templer! Und du hast ihn, verfluchter Templerbengel! Du bist der einzige überlebende Geheimnisträger dieses Ordens! Du führst das Werk des letzten Templers weiter! Wir wissen das! Und wir verfolgen dich deshalb so lange, bis du uns alles preisgibst!«

»Ich sagte dir schon in Edinburg, dass du dich täuschst!«, erwiderte Sean. »Es gibt keinen Schatz der Templer, der nicht für einen guten Zweck bereits verwendet wurde.«

»Zum Beispiel, um den Orden wieder zu errichten, was?«

»Ich dachte, die Schwanenritter bewundern den Orden der Tempelherren!«

»Unsinn! Wir beerben nur seine Tugenden, vor allem den Todesmut und die Gewaltbereitschaft. Alles andere ist Gewimmer um Verständigung. Wir hassen das!«

Ein Wimmern erscholl zu seiner Rechten. Der Priester hatte sich emporgewuchtet und streckte Sean das Bündel entgegen. Sean sah aus den Augenwinkeln eine Art Kind. Dunkel, faltig, ohne Augen. Aber es schien nur eine Puppe aus Stoff zu sein. Vielleicht verehrten sie so das Jesuskind.

»Dann müsst ihr es täten!«, keifte der Priester, »es hat ohne diesen Bruder kein Leben! Es ist doch von ihm geweiht!«

Sean blickte den Mann vom Firth of Forth an und stieß kräftiger zu. Die Spitze seines Schwertes bohrte sich in dessen weiße Haut über dem Kehlkopf Vom Kinn herab tropfte Blut. Einer der Schwanenritter warf sich daraufhin zu Boden und wischte es mit seinem Umhang auf Die anderen rührten sich nicht. Irgendetwas hielt sie davon ab, sich auf Sean zu stürzen.

Der Schwanenritter hinter ihm sprang auf ihn zu. Dann geschah das Unerwartete: Noch bevor Sean reagieren, geschweige denn seinen Gefangenen in den Sattel hieven und ihm die Hände am Sattelknauf festbinden konnte, sprang aus dem Dunkeln eine zweite Gestalt auf ihn zu.

Er roch einen infernalischen Gestank. Und er sah einen kleinen Mann mit langen Armen. Der Unbekannte stieß den Schwanenritter in seinem Rücken zur Seite und fiel über seinen Gefangenen her. Aus seinem Mund kam ein anklagender Singsang.

»Er ist es! Er ist es! Wir kannst du es wagen, ihn mir zu rauben! Wenn du nun schon den Zweiten getötet hast!«

Sean wollte fragen, was das zu bedeuten hatte. Aber der Gedrungene hatte schon seinen Dolch geschwungen. Mit einer einzigen schnellen Geste zog er diesen über den Hals des Gefangenen. Er musste sich dabei vor ihm auf die Zehenspitzen stellen.

Sean war zu überrascht, um eingreifen zu können.

Der Blonde vom Firth of Forth taumelte, dann fiel er in sich zusammen. Aus seinem Hals strömte ungehindert Blut.

Sean richtete sein Schwert gegen den Mörder. Doch der Mann kreischte einmal auf und verschwand dann hinkend wie ein krankes Tier, in den Schatten, die ihn im Nu verschluckten.

Das war es, woran sich Sean von jenen Geschehnissen erinnerte. Die beiden Gestalten, die wie Schwanenritter aussahen, ließen die Bilder sofort wieder auferstehen.

Hier stirbt nichts, dachte Sean, nichts versinkt wirklich, es lagert sich nur ab. Und das gärt und will nicht vergessen sein.

Jerusalem war die Stadt der Auferstehung. Und er fragte sich, wie jetzt alles weitergehen sollte.

Gewiss, er war in die Fußstapfen seines Herrn Henri getreten, aber das bedeutete neben der Ehre auch neue Gefahren. Denn seine Feinde wussten davon. Sie hielten ihn für den Bewahrer der Schätze des Tempels.

Sean ahnte, dass er keine Ruhe mehr finden würde. Es würde nie mehr so sein wie zuvor. Die Zukunft schien ihm unsicherer denn je geworden zu sein.

2

Das dunkle Erbe, Herbst 1324

Sean of Ardchatten konnte es sich nicht erklären. Er sah es mit eigenen Augen. Und doch begriff er nicht, was er sah. Es war eine Täuschung. Der Mann, der aus der Kirche des Paternoster-Ordens gekommen war, musste ein Gespenst sein. Oder der Earl of Lighton hatte einen Zwillingsbruder.

Einen Zwilling, wie jener unselige Boetius, der aus der Kanalisation Jerusalems aufgetaucht war, nachdem sein Bruder den Weg alles Irdischen gegangen war. Was war übrigens aus diesem Boetius, dem stinkenden Ungeheuer, geworden? Sean hatte ihn nicht mehr wiedergesehen. Eine Schimäre!

Sean of Ardchatten beschloss, seine Blicke und seine Gedanken von diesen Dingen zu lösen. Er musste sich den Herausforderungen von heute stellen.

So ritt er weiter. Die engen, gewundenen Straßen Jerusalems waren an diesem Tag besonders von Menschen und von Lärm erfüllt. Jemand trieb eine endlose Schafherde in Richtung Tempelberg, dort würde am Abend ein großer Tiermarkt stattfinden. Sean behielt beim Weiterreiten die Augen offen. Doch es zeigte sich nichts Auffälliges. Vielleicht hatte man in Jerusalem doch eingesehen, dass Frieden der einzige Weg war, das gemeinsame Leben zu meistern.

Sean war so sehr in seine Gedanken verstrickt, dass er seinen Verfolger nicht bemerkte.

Der Mann bewegte sich in Begleitung eines anderen zu Pferde durch die Straßen. Er trug ein bodenlanges, weißes Gewand, das ihn sowohl als Araber wie auch als Ordensbruder erscheinen ließ. Sein Begleiter sah ähnlich aus. Der Mann war blond, kräftig, stolz, an seiner Seite trug er ein mächtiges, glänzendes Schwertgehänge. Wehrhafte Männer gab es in Jerusalem viele. Aber dieser verkörperte geradezu den Kampf. Er schien die Behörden nicht zu fürchten.

Sean bemerkte ihn nicht und auch nicht den anderen. Er musste an seine beiden Freunde denken. Wie sah ihre gemeinsame Zukunft aus? Wäre es nicht schön, ins Abendland zu reisen? Er würde Elazar die jüdischen Bibliotheken in Iberien zeigen können. Und er würde Suleiman zu den muslimischen Siedlungen am Kaspischen Meer und im Donaudelta führen. Überall im Abendland gab es phantastische Menschen und eine blühende Kultur für alle Religionen.

Sean hoffte, die Reconquista in Iberien würde das Zusammenleben nicht für immer unmöglich machen.

Die Verfolger kamen näher. Sie hielten sich aber so, dass sie die Deckung in den Straßen mit ihren Menschen, Hauseingängen, Verkaufsständen ausnützen konnten.

Sean stellte sich noch immer vor, wie Henri de Roslin eines Tages zu ihm nach Jerusalem kommen würde. Er war Seans geistiger Vater, seinem eigenen, leiblichen Vater war er nicht mehr begegnet, seit dieser ihn in den Tempel zu London eingewiesen hatte. Sean verspürte Sehnsucht nach seinem Ziehvater Henri.

Jeder junge Mann sollte einen Vater um sich haben, dachte er, der ihn liebt und leitet.

Sean ritt an Marktständen vorbei, an denen Früchte aus dem Sidoahtal verkauft wurden, einer besonders fruchtbaren Oase mit viel sauberem Wasser. Er stieg ab und kaufte eine Handvoll Granatäpfel. Als er wieder aufsteigen wollte, musste er das Pferd herumdrehen, denn die Wege waren überfüllt und eng.

Im nächsten Moment begriff er, dass er einem Schwanenritter gegenüberstand.

***

Mariam Dentrevez musste an diesem Tag an ihre Familie denken. In ihrem Haus mit Garten nahe dem Jerusalemer Fischmarkt war es still. Und es roch nach Früchten. Mariam blickte einer Vogelschar hinterher. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater kümmerte sich überwiegend um den Import von Pergament, Papier und Stoffen. Sie war auf sich allein gestellt. Die schlanke junge Französin kämmte ihr hüftlanges, hellbraunes Haar; im geschliffenen Schildpatt, der ihren Spiegel darstellte, konnte sie ihre grünen Augen nicht erkennen, aber sie sah den schönen, ebenmäßigen Umriss ihres mädchenhaften Gesichtes. Sie überlegte, ob es nicht an der Zeit war, Suleiman zu ehelichen.

Denn hatte das Leben einen Sinn, wenn nicht Liebe gegenwärtig war? Und konnte das Gefühl der Liebe etwa durch etwas anderes entstehen als durch einen Mann, dessen Begehren deutlich zu spüren war?

Mariam ließ sich Zeit, ihr Haar zu kämmen. Von draußen drangen sanfte Geräusche zu ihr. Jemand sang zur Leier. Vögel huschten vorbei und warfen flüchtige Schatten. Mariam liebte diese Tage, an denen überhaupt nichts geschah. Sie konnte dann ihre Gedanken zu Suleiman laufen lassen. Aber wie lange würde ihr das noch genügen?

Sie war jetzt siebzehn. War das nicht schon viel zu alt, um zu heiraten und Kinder zu kriegen? Manchmal fühlte sie sich alt. Aber das hatte wohl nur mit Stimmungen zu tun.

Mariam seufzte. Während die Sonne höher und höher stieg und das Licht schön und klar genug wurde, um etwas mit der Rohrfeder auf Pergament zu schreiben, vielleicht einen Liebesbrief an Suleiman, dachte sie an ihre Kindheit und die Armut und ihre Spielgefährten. Sie erinnerte sich an alles. Auch an ihre Ahnungslosigkeit, mit der sie bisher das Leben betrachtet hatte.

Sie dankte ihrem Gott, der sie bis hierhin geleitet hatte. Das schöne junge Mädchen stand kurz entschlossen auf. Ja, sie wollte Suleiman einen Brief schreiben. Sie wollte ihn bitten, sie zu heiraten.

Mariam tauchte die Rohrfeder in das zylindrische Tintenfass aus Kupfer und Bronze, auf dem eine Silberinschrift umlief, die Buchstaben mit Menschenköpfen und Bilder abendländischen Lebens zeigte. Mariam las die Inschrift, obwohl sie diese auswendig kannte.

Schenk mir doch Lebenswasser. Gib mir die wahre Essenz, doch du verbrennst mich stattdessen. Wie kann ich mich retten vor der Gewalt des Lebens?

Starke Worte waren das, befremdlich noch dazu, befand Mariam. Sie liebte solche Sätze, die nicht erbaulich waren, sondern die Sinne schärften und den Verstand schulten und dennoch rätselhaft blieben. In ihrem Alter gab es nur Mädchen, die kicherten und alberten und nicht nachdenken wollten. Sie kannte das. Deshalb war sie gern allein.

Aber Suleiman sollte den Schmerz mindern, den Einsamkeit auch bedeutete.

Mariam Dentrevez dachte zärtlich an Suleiman. Der Junge war so schön! Und seine Hände waren wie weiße Tauben, die an der Sonne vorbei strichen. Mariam hörte auf zu schreiben, sie schloss die Augen und überließ sich ihren inneren Bildern.

Sie sah plötzlich eine Karawane von einhundert Kamelen. Sie trugen bunte Ballen mit Samt und Seide. Und da waren ebenfalls einhundert junge Sklaven in gelben Seidengewändern, von denen jeder ein Tablett mit Juwelen auf dem Kopf trug. Dann aber sah sie, dass diese Sklaven weinten. Warum nur? Mariam vermied es, die Augen wieder zu öffnen, denn die Bilder waren wie die eines schönen Traumes.

Mariam glaubte, dass auch sie jetzt weinen müsse. Alle Tränen dieser Welt wurden von einer unsichtbaren Hand in Perlenketten aufgezogen, die aussahen wie ein Milchstrom, der aus einem Felsen sprudelte. Und die Perlen hatten Rubinverschlüsse, rot wie das Blut eines Geliebten. Und ganz hinten kam der Bräutigam auf einem weißen Ross und überquerte tapfer den Strom aus Perlenmilch. Es war Suleiman. Strahlend wie die Sonne, mächtig wie ein Krieger. Und vielleicht sogar wie ein König. Schön und reich.

Mariam blieb noch eine Weile sitzen, selbst als die Bilder vor ihrem geistigen Auge schon lange erloschen waren.

Dann schrieb sie weiter. Ihre Worte hatten die Traumbilder ausgelöst. Jetzt schrieb sie den Brief an Suleiman zu Ende.

Als sie fertig war, las sie den Brief als Ganzes durch. Er schien ihr gelungen, ihre Gefühle waren in den Sätzen ausgedrückt. Die kunstvolle Schrift, die sie beherrschte, würde Suleiman gefallen. Sie versah die Worte mit gemalten Ornamenten, die dem Muslim ebenso gut gefallen würden. Und die Farben, die sie verwendete, wurden tiefer und schöner, je weiter die Sonne den Zenit verließ.

Es war später Nachmittag, als sie aufhörte. Draußen war es noch immer ruhig. Mariam stand leise auf, faltete den Brief und übergab ihn einem Diener. Der junge Araber besaß ein merkwürdig erloschenes Gesicht, vielleicht war er nur müde. An diesem Tag war es besonders heiß, auch wenn sich in der Ferne dunkle Wolken zeigten. Mariam fiel plötzlich ein, dass Suleiman ihr einmal gesagt hatte, Al-Quds, wie er die Stadt Jerusalem nannte, würde auf den Sieben Säulen Salomos ruhen.

Daran erinnerte sie sich jetzt. Sie hatte nicht verstanden, was er meinte. Bei ihrem nächsten Zusammentreffen wollte sie ihn fragen.

***

Suleiman kannte seine Heimatstadt wie kein Zweiter. Und er benutzte mit Vorliebe die tausend Verstecke und heimlichen Gänge von Al-Quds.

Als er jetzt mit Elazar zur Herberge ritt, kam ihm der Tag seltsam undeutlich vor. Er wollte nicht mit dem Freund darüber sprechen, denn der war selbst in Gedanken.

Elazar verabschiedete sich bald nach Erreichen der Herberge, um zur Werkstatt seines Adoptivvaters Ben Shalon zu reiten.

Suleiman beschloss, in die Unterwelt von Al-Quds abzutauchen. Er band sein Pferd im Stall der Herberge an und machte sich auf den Weg. Er wusste nicht mehr, wann er das erste Mal hier gewesen war. Es gab nicht viele, die diese unterirdische Welt kannten. Nicht einmal Sean war damit vertraut.

Es machte Suleiman Spaß, er verspürte das Gefühl des Abenteuers, jetzt war er in den Katakomben, die den ersten Christen als Zufluchtsstätte gedient hatten. So viele Menschen waren hier im Lauf der Jahrhunderte untergetaucht. Auch die ersten Muslime, als sie vor der mächtigen Sippe der Quraisch fliehen mussten, die sie aus Mekka vertrieben. So viele konnten sich dadurch vor Verfolgung retten. Aber unzählige waren auch einfach verschwunden. Die Unterwelt führte vielleicht zum Mittelpunkt der Erdenscheibe, und dort mochte das allergrößte Geheimnis auf sie warten – die Erklärung für alles.

Suleiman sah, dass auch in der Unterwelt Wasser sprudelte. Es kam aus den Wüstentälern, und es floss nach Al-Quds hinein. Durch Rinnen und Rohre, die schon der König der Juden Herodes gelegt hatte, floss es bis hin zu Schalen und Becken, wo es aufgefangen, abgeleitet und umgeleitet wurde.

Was für ein Aufwand, dachte Suleiman. Und wie großartig sind diese Anlagen, hier mitten in der Wüste. Mitten im menschenfeindlichen, heiligen Land.

Er schlug den Weg in das Innerste und Unterste der Stadt ein. Es war dunkel. Nur manchmal kam von oben Licht, dort, wo sich Brunnen befanden oder Öffnungen in den Fundamenten von Straßen, Brücken und Häusern. Es war eine faszinierende Welt, die ihn alsbald umfing. Suleiman ging langsam, er wollte nicht stolpern, die Labyrinthe waren uneben, führten hinauf und hinab. Ratten huschten umher. Suleiman ließ sich nicht stören.

Er liebte diese Unterwelt. Und er hatte nie das Gefühl, hier weiter von seinem Gott entfernt zu sein als oben am Tageslicht. Allah war überall. Und sein im Glauben an ihn Ergebener, sein treuer und junger Muslim, trug ihn in seinem Herzen, während er in der Dunkelheit weiter und weiter ging.

Aber plötzlich ging es nicht mehr weiter.

***

Elazar kam in der Werkstatt seines Adoptivvaters Ben Shalon an. Er betrat die Werkstatt und atmete tief den vertrauten Geruch nach Holz, Leim und Farbe ein. Der alte Handwerker blickte auf und lächelte ihm entgegen. Seine Augen fragten, woher Elazar kam, sein Mund blieb stumm.

Elazar setzte sich neben ihn und schaute zu, was Ben Shalon gerade herstellte. Es war ein längliches Etui für Zeichenfedern, geschmückt mit Einlagen aus Schildpatt. Kleine, vergoldete Nägel hielten das Ornament auf Zedernholz.

Elazar hatte auf dem Weg hierher jungen Frauen nachgeblickt, die mit wehenden Umhängen, den hauchdünnen Schleier vor dem Gesicht, wie numidische Kraniche auf langen Beinen herumstolziert waren. Dattelpalmen und Hibiskusbüsche hatten ein zierliches Netzwerk aus Sonnenstrahlen und Schatten auf sie geworfen. Elazar hatte sich einen Moment in ihrem Anblick verloren. Eine unbestimmte Sehnsucht war in ihm aufgestiegen. Eine Zärtlichkeit. Dann war er weitergegangen.

Ben Shalon hämmerte mit einem kleinen Hammer, und Elazar fand schnell zurück in die Gegenwart dieser Werkstatt. Er kannte seinen Adoptivvater eigentlich nur so, wie er an seiner Werkbank saß und Dinge herstellte. Er sprach wenig und lächelte manchmal. Sein sanftes Wesen teilte sich über seine Augen mit, seine Stimme war gütig, und so war auch sein Denken. Der Jude hatte viel in dieser Welt erlebt, und jetzt hatte er seinen Platz gefunden.

Er teilte ihn mit Elazar ben Aaron.

Der Junge stand auf, holte einen Krug mit frischem Wasser aus dem Brunnen vor dem Fenster, brachte Becher und zwei Teller mit Oliven. Ben Shalon trank einen Schluck, aß zwei Oliven. Dann beugte er sich wieder über seine Arbeit.

Elazar konnte jetzt draußen die Schatten länger werden sehen. Er dachte an Sean und Suleiman. Jeder der beiden Gefährten ging in diesem Moment durch diese Stadt, tat etwas und dachte an etwas.

Wir tun und denken unaufhörlich, überlegte Elazar. Und wohin bringt uns das?

Das Leben würde auch ohne dieses Bemühen weiterfließen. Stetig und ruhig. Und manchmal heftig, wenn draußen Unruhe entstand. Wenn Menschen auftraten, die sich einbildeten, alles beschleunigen zu können. Nein, das Leben besaß seinen eigenen Fluss. Und Jahwe wachte darüber, dass es unbeschädigt blieb.

Der Gedanke beruhigte Elazar. Er brauchte manchmal solche Gedanken, wenn in ihm Unruhe aufstieg, gleichzeitig mit den Bildern vom Pogrom im teutschen Überlingen. Wenn er die Schreie und Geräusche hörte, die sich hässlich in seinen Verstand bohrten.

Dann brauchte er einfache, klare Gedanken.

Elazar aß noch eine Olive. Dann noch eine. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Und er sah dem Handwerker zu, der seine selbstverständliche Arbeit tat.

***

»Dies irae!«, murmelte der Mann, der an Sean herangerückt war. Er konnte seinen Schweiß riechen. »Es ist der Tag, an dem der Zorn Gottes Gericht hält. Der Tag der Abrechnung.«

»Wer seid Ihr, wovon sprecht Ihr, was wollt Ihr?«, sagte Sean.

Der Mann lachte ein tiefes Lachen. »Viele Fragen!«

»Ich habe mit Euch nichts zu schaffen.«

»Oh, doch! Meine ermordeten Brüder verlangen ein Strafgericht! Du wirst dich wohl an den unseligen Abend vor ein paar Monaten erinnern? An die Paternoster-Kirche?«

Es war Sean bereits klar geworden, dass ein Schwanenritter vor ihm stand. Und er erkannte jetzt auch, dass dieser dem verstorbenen Earl of Lighton ähnlich sah, und zwar zum Verwechseln ähnlich. Aber natürlich konnte er nicht der Earl sein. Denn der verfaulte inzwischen auf dem Friedhof im christlichen Viertel.

Sean sagte, indem er einen Schritt zurücktrat: »Gebt den Weg frei. Ich will weiterreiten.«

»Dein Weg ist hier zu Ende, Sohn«, sagte der Mann vor ihm höhnisch. Und sein Begleiter postierte sich an der Seite. »Du wirst mir ein paar Dinge erzählen. Und dann entscheide ich, was mit dir geschieht.«

»Ihr müsst irre sein, Mann!«, sagte Sean ruhig. »Gebt endlich den Weg frei.«

»Halt! Keine Bewegung!« Der Schwanenritter hatte blitzschnell sein Schwert gezogen. Er hielt die Spitze drohend gegen Seans Kehle gerichtet. Sein Begleiter richtete sein Kurzschwert ebenfalls auf ihn.

Sean erstarrte. Die Männer verhielten sich ungeniert. Sie schienen nichts zu befürchten. Und doch scharten sich bereits Menschen im Kreis um sie. Die mamluckische Polizei duldete keinen Auflauf mit Waffen.

Sean sagte: »Habt die Güte und senkt Eure Waffen, Ihr Herren! Ich bin es nicht gewohnt, in aller Öffentlichkeit belästigt zu werden! Ich bin Sean of Ardchatten! Ich habe in dieser Stadt Dinge zu tun, die anerkannt werden!«

»Wir wissen wohl, wer du bist! Du bist schuldig am Tod von zweien unserer Brüder! Es war im Sommer, seitdem mussten wir uns erst wieder sammeln. Wir haben große Verluste erlitten. Auch auf dem Weg nach Aksum gab es Gefechte und Verluste. Aber jetzt, wie gesagt, ist der Tag, an dem Gottes Zorn wieder aus uns spricht. – Erzähle nun!«

»Was meint Ihr?«

»Berichte von dem, was dein Herr dir aufgetragen hat! Was sollst du hier in Jerusalem tun? Was bereitest du vor? Sprich schon, oder mein Schwert streckt dich nieder!«

»Sagt mir Euren Namen!«

»Ich bin Gerhard von Valdens. Mein Gefährte ist Michael von Fles. Wir kommen aus Teutschland. Wir wissen, dass hier in Jerusalem nicht alles so gekommen ist, wie wir es wollten. Und du allein bist schuld daran! Du bist uns in die Quere gekommen, mein Freund! Und wir wollen den Plan erkennen, nach dem du handelst. Welchen Auftrag gab Henri de Roslin dir, damit du unsere Wege kreuzt und uns Schwierigkeiten bereitest?«

»So wichtig seid Ihr nicht, Ihr Herren, dass sich mein verehrter Meister Henri mit Euch beschäftigt hätte! Glaubt mir bitte!«

»Wir werden in deinem kleinen Leben noch so wichtig werden, dass du uns vergöttern wirst!«

Der Schwanenritter an seiner Seite lachte böse.

»Kaum«, sagte Sean und bemühte sich, sein Pferd frei zu bekommen.

»Fragst du dich nicht, wie wir auf deine Spur kamen?«, wollte der Begleiter des Blonden wissen.

»Nein«, sagte Sean. »Erzählt das Eurem Kameltreiber.«

»Wir kennen dich, seit du im schottischen Roslin bist. Wir haben deinen Weg verfolgt, der dich nach Zypern führte. Gibt dir das zu denken? Hast du etwa vergessen, was auf Zypern geschah?«

Jetzt wurde Sean doch neugierig. Wie war das möglich? Was wollten diese Männer wirklich von ihm?

»Sprecht schon, wenn Ihr unbedingt wollt! Was wollt Ihr mir mitteilen?!«

»Deine Wege werden von jetzt an immer unter Beobachtung stehen, mein Sohn! Wir bleiben auf deiner Spur – und zwar rund um die Erdenscheibe. So lange, bis wir alle deine Geheimnisse kennen. Und alle deine Verstecke. Denn noch wissen wir nicht, wohin du den Schatz der Templer transportiert hast, den wir suchen. Gold, Juwelen, Silber und Geschmeide. Eines Tages wirst du uns zu dem Versteck führen.«

Sean seufzte. »Macht Platz, Ihr Herren! Ich habe nichts mehr zu sagen. Und ich will auch nichts mehr hören! Es sind schon zu viele Worte gewechselt worden. Unsinnige Worte! Heute, im vergangenen Jahr und im letzten Sommer hat es schon zu viele Verwirrungen gegeben! Lauft mir bitte nicht mehr über den Weg. Ich bitte Euch auch um Euretwegen!«

»Denke an Zypern, mein Sohn! Ich kann es dir nur raten. Verstehe, was dort geschah! Nur so wirst du das ganze Ausmaß erkennen! Und ziehe deine richtigen Schlüsse daraus! Dies ist die letzte Warnung an dich!«

Zypern!

Sean konnte nun tatsächlich nicht verhindern, dass Bilder und Situationen, Stimmen und Gesichter vor sein inneres Auge traten. Sie blitzten auf und verschwanden wieder. Und machten neuen Bildern Platz.

Zypern!

Vielleicht musste er wirklich versuchen, alle jene Ereignisse zu deuten! Denn was dort vor anderthalb Jahren, auf dem Weg ins Heilige Land, geschehen war, hatte ihn in Angst und Schrecken versetzt.

3

Zypern, März 1323 – Madeleine

Sean of Ardchatten genoss den Anblick der Landschaft.

Zur Linken schimmerte blau das Meer, darin tanzte das übermütige Licht. Zur Rechten erhoben sich Hügel, manchmal durchzogen von schroffen Felsstücken. Überall blühte und grünte es. Sean war einen halben Tag geritten, ohne eines Menschen ansichtig zu werden. Am Nachmittag zog ein Schafhirte mit seiner Herde vorüber.

Sean dachte, dies müsse das Paradies sein, genau an diesem Ort. Er wusste nicht viel von den politischen Zuständen auf der Insel. Aber wenn er durch diese Landschaft ritt, war die Vorstellung verführerisch, es gäbe keine Herrschaft und die Menschen lebten ohne Abhängigkeit einträchtig miteinander.

An einer Kapelle, die aus dem Gras der Anhöhe ragte wie eine Einbildung, stieg er ab. Er vollzog ein einsames Gebet und staunte über den Reichtum der Inneneinrichtung.

Beseligt zog Sean weiter. Aber plötzlich war es mit Ruhe und Frieden zu Ende. Es war kurz vor Kalogrea, in Richtung auf die Halbinsel Karpasia. Sean war unter einem alten Olivenbaum eingedöst, dessen Äste bis auf den Boden reichten. Plötzlich umstand ihn ein Trupp von Reitern. Es waren Männer in langen Gewändern, im Gürtel steckten Schwerter, alle trugen lange Bärte, viele davon eisgrau.

Erschreckt sprang Sean auf. Drei Männer waren abgestiegen und zückten ihre Waffen. Einer hielt Sean die Spitze des Schwertes an die Gurgel. Er fragte etwas, das Sean nicht verstand. Sean stand stocksteif da. Wieder fragte der Fremde etwas, diesmal lauter und feindseliger.

Sean verstand sie nicht. Aber dann fragte einer der Reiter auf Französisch, was er hier zu suchen habe. Sean erklärte, dass er auf dem Weg zum Kloster des heiligen Andreas auf der Halbinsel Karpasia war, um eine Nonne zu besuchen. Die Männer lachten.

»Du befindest dich hier im Aufstandsgebiet«, erklärte der Reiter vom Pferd herab. »Mittendrin. Und du erzählst uns was von einer Nonne! Womöglich hast du eine Liebesbeziehung mit ihr, was? Kriegt sie ein Kind von dir?«

»Oder er von ihr!«

Wieder lachten alle.

»Ich hatte eine Liebesbeziehung, es ist lange her«, erwiderte Sean nüchtern. »Die Nonne befand sich nicht immer im Kloster. Vorher war sie eine weltliche Dame.« Sean hatte beschlossen, die Männer nicht zu provozieren.

»Durchsucht ihn genau«, befahl der französisch sprechende Reiter.

Einige stiegen vom Pferd. Sie breiteten Seans Habseligkeiten auf dem staubigen Boden aus. Als die Goldmünzen ans Licht kamen, die Seans Prise für die Reise nach Aleppo darstellten, pfiff einer durch die Zähne. Aber er durchsuchte weiterhin die Sachen.

Es waren wohl keine Räuber, aber was hatte es mit dem Aufstand auf sich, von dem sie sprachen? Er fasste Mut und fragte, wer sich im Aufstand befände.

Die Antwort überraschte ihn: Es waren sie selbst, Zyprioten, Patrioten, im Kampf gegen die Lateiner der Papstkirche.

Sie nötigten Sean aufzusteigen. Es ging in die Berge. Das Meer und die Küste verschwanden. Als eine Bergfeste in Sicht kam, die in Himmelshöhe an einem Sporn klebte, ahnte Sean, dass er so schnell nicht weiterreisen konnte.

Wenn überhaupt jemals.

Sie ritten in die Feste ein. Sean wurde in ein Gewölbe geführt, das aus meterdicken Mauern bestand. Man stieß ihn in eine Zelle, in der es immerhin ein kleines, vergittertes Fenster gab. Hinter ihm fiel die Bohlentür dröhnend ins Schloss.

Sean of Ardchatten saß in der Falle.

Der junge Schotte ließ sich auf den schmutzigen Boden gleiten, der mit stinkendem Stroh bedeckt war.

Sein Blick ging sehnsüchtig zum Fenster hinaus, er sah darin einen kleinen Ausschnitt des Himmels. Von draußen kamen Stimmen und das Gewieher von Pferden. Man würde ihm alles wegnehmen! Und was dann?

Seans Mut sank. Würde er das Heilige Land je erreichen? Vielleicht musste er in diesem Moment von Henri de Roslin Abschied nehmen.

Sean spürte, wie Tränen über seine Wangen liefen. Er wischte sie ab.

Nimm dich zusammen, dachte er und stand auf. Er begann, in der Zelle umherzugehen. Zehn Schritte von Wand zu Wand, dann weiter, bis er zum Ausgangspunkt zurückkam. Seine Gedanken gingen ebenfalls im Kreis.

Er konnte nichts tun, als abzuwarten, wie man mit ihm zu verfahren gedachte.

Wenn sie ihn für einen Spitzel hielten, machten sie sicher kurzen Prozess. Vielleicht konnte er den Aufständischen nützlich sein, dann hätte er genug Zeit, auf eine Fluchtmöglichkeit zu warten.

Sean erwog alle Möglichkeiten, die ihm in den Sinn kamen. Darüber wurde er müde. Resigniert schloss er die Augen.

Vielleicht ließ man ihn in dieser Zelle auch einfach verfaulen. Er hatte schon Schreckensgeschichten aus Gefängnissen gehört.

Draußen wurde es dunkel.

Sean legte den Kopf gegen den kalten Felsstein der Wand und dachte nach. Allmählich döste er ein.

Später, in der Nacht, kam das Verhör.