Die Tempelritter-Saga - Band 6: Der Klostermord - Philipp Espen - E-Book
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Die Tempelritter-Saga - Band 6: Der Klostermord E-Book

Philipp Espen

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Beschreibung

„Noch als sie auf ihren Pferden saßen und nach London zurückritten, wussten sie nicht, ob sie ihren Sinnen trauen konnten. Welches Spiel wurde in diesem Kloster gespielt?“ London im Jahre 1300: Die Templer sind der mächtigste Orden der Christenheit in Europa. Henri de Roslin, der wagemutige Ritter, erhält einen verzweifelten Hilferuf des Abts von St. Albans. Doch als er das Kloster erreicht, ist der Mann tot. Ermordet. Henri setzt alles daran, die Gewalttat aufzuklären. Schnell zeigt sich: Die Klostermauern bergen dunkle Geheimnisse. Hat der Abt zu viel gewusst? Handelt es sich bei seinem Mörder um den zwielichtigen Javierre de Bastard? Und steht am Ende, wie Henri bald befürchten muss, sogar die Existenz des Templerordens auf dem Spiel? Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!

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Seitenzahl: 426

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Über dieses Buch:

London im Jahre 1300: Die Templer sind der mächtigste Orden der Christenheit in Europa. Henri de Roslin, der wagemutige Ritter, erhält einen verzweifelten Hilferuf des Abts von St. Albans. Doch als Henri das Kloster erreicht, ist der Mann tot. Ermordet. Henri setzt alles daran, die Gewalttat aufzuklären. Schnell zeigt sich: Die Klostermauern bergen düstere Geheimnisse. Hat der Abt zu viel gewusst? Handelt es sich bei seinem Mörder um den zwielichtigen Javierre de Bastard? Und steht am Ende, wie Henri bald befürchten muss, sogar die Existenz des Templerordens auf dem Spiel?

Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!

Über den Autor:

Der in Dänemark geborene Philipp Espen ist ein ausgewiesener Kenner des Alltagslebens im europäischen Mittelalter. Er übersetzte unter anderem den Polycraticus des Johann von Salisbury ins Deutsche. Für die Tempelritter-Saga konnte er außerdem auf sein Expertenwissen zur englisch-schottischen Geschichte des Tempelritterordens zurückgreifen: Er erforschte für die Londoner Universität den ehemaligen Tempelbezirk in der City of London. 

Philipp Espen lebt mit seiner Familie in England. 

 Für die Tempelritter-Saga schrieb Philipp Espen folgende Bände: 

Die Tempelritter-Saga – Band 2: Der König muss sterben 

Die Tempelritter-Saga – Band 4: Die Verschwörung von Toledo 

Die Tempelritter-Saga – Band 6: Der Klostermord 

Die Tempelritter-Saga – Band 12: Die Treue in Zeiten der Pest

***

Neuausgabe Februar 2015

Copyright © der Originalausgabe 2005 bei Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Copyright © der Neuausgabe 2014 bei dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Andrey Kuzmin und shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich

ISBN 978-3-95520-783-5

***

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Philipp Espen

Der Klostermord

Die Tempelritter-Saga

Band 6

dotbooks.

1

Frühsommer 1316

Die Hulk rollte in der Dünung, blieb aber unbeirrbar auf Kurs. Sie zog ihre Bahn nach Westen.

Henri de Roslin hatte von einem Seefahrer gelernt, dass es im Meer Fahrstraßen gab. Das waren Strömungen, die unter der Oberfläche unabhängig von Gezeiten und Jahreszeiten dahinflossen. Zusammen mit dem Wind erzeugten sie eine Drift, die in die gewünschte Richtung führte wenn man wusste, wohin man wollte. Die Gefährten wussten es. Ihr Ziel war England. Und ihre Zwischenstation würde Lübeck sein. Dort sollte ein Bote nach dem südfranzösischen Uzés reiten, um Henris Knappen Sean of Ardchatten, der bei Ritter Fabian in der Lehre war, in das Schleswig'sche Hamburg zu bestellen. Von dort aus wollten sie über die Mündung der Elbe auf die grüne Insel übersetzen. Sie dachten, dass in dieser schweren Zeit Freunde zusammen sein mussten.

Henri de Roslin hatte eine unbezähmbare Sehnsucht nach England. Er konnte es kaum erwarten, unter der milden Sonne seines Heimatlandes zu sein.

»In England, meine Freunde, werden wir nach all den Kriegen und Strapazen den wahren Frieden erleben. Ich werde euch auch das Herz von Midlothian zeigen.«

Am Ende des Junis fühlten die Gefährten einmal mehr, wie schnell die Zeit über die Erdenscheibe eilte. Man konnte sie wahrhaftig nicht festhalten. Und wäre das nicht auch frevelhaft gewesen? Denn dem Ratschluss des Herrn oblag es, wie viel Zeit oder wie wenig Zeit er in das irdische Dasein streute.

Die Hulk glitt dahin, und die Freunde hatten Zeit genug, um sich mit Fragen zu beschäftigen, die im Kampf gegen ihre Feinde zu kurz kamen. Und sie nutzten diese Zeit.

»Wir können die Krone des Lebens empfangen«, sagte Henri, »wenn wir endlich unseren gemeinsamen Glauben an einen einzigen Gott feiern. Denn allzu lange, es sind nun beinahe 200 Jahre, haben wir uns blutig bekämpft.«

»Mein Gott ist der Einzige, der Allmächtige«, sagte Uthman.

»Und meiner auch.«

»Und meiner ebenso.«

»Wir Juden«, sagte Joshua ben Shimon, »haben niemand bekämpft. Wir wurden bekämpft. Wir haben immer nur auf den Messias gewartet.«

»Aber ist es nicht so, dass Petrus als Erster den Glauben an Christus bekannt und aus Israels heiligem Rest die erste Kirche gesammelt hat? Und Paulus empfing die Gnade tiefer Einsicht und die Berufung zum Lehrer der Heiden. Mit dem Heiden bist du gemeint, Uthman ibn Umar.«

Der Sarazene verzog das Gesicht. »Mein Freund, die Zeiten, in denen mich ein solches Reden beleidigte, sind vorbei. Mein Glaubensstifter Muhammad, Friede sei mit ihm, war ein wahrhaft weiser Mann. Übrigens war er der letzte Prophet der Menschen, und Jesus war nur einer von hundert. Muhammad sagte, dass Jerusalem die heilige Stadt aller drei großen Religionen sei und dass es nur einen Stammvater des Glaubens gibt, nämlich Abraham – wir nennen ihn Ibrahim. Und selbstverständlich gibt es nur einen Gott. Nur die christlichen Kreuzfahrer wussten davon nichts. Sie kamen ins Heilige Land, nahmen sich, wozu sie ein Recht zu verspüren glaubten, und sie töteten wie Tiere. Kann der Gott, den diese Mörder anbeteten, der Gott von friedliebenden Muslimen sein?«

»Kann es der Herr sein?« Joshua schüttelte den Kopf. »Die Christen waren es, die den Glauben an den einzigen Gott verrieten. Sie zogen mit ihrem Fanatismus das tiefe Glaubensgefühl in den Schmutz. Das wirst du zugeben, Henri de Roslin.«

»Ich habe gar nichts zuzugeben. Ich war als unschuldiger Knappe bei der Rückeroberung von Akkon dabei. Ich habe in Palästina höchstens Fliegen getötet – die allerdings in Massen, und das nicht nur am Turm der Fliegen, der, wie ihr vielleicht wisst, zwischen dem Turm der Deutschen und dem pisanischen Viertel lag. Aber ich will euch Recht geben, weil die Abendsonne auf der Ostsee im Augenblick so schön ist – Gottes Schöpfung ist für uns alle da. Und es gibt nur den Gott des Friedens. Kriegsgötter sind für Häretiker und Renegaten da. Und für Ungläubige.«

»Aber genau genommen«, beharrte Joshua, »haben die Kreuzfahrer durch ihr Tun jeden hellen Tag in eine Nacht verwandelt, in der wir besonders die Gottferne spüren. In die Nacht der Sünde, in der wir Menschen uns in besonderer Weise widergöttlichen Anderen ausgeliefert sehen. Wir müssten zum Kampf gegen so viel frechen Unglauben antreten. Aber das viele vergossene Blut demoralisiert uns.«

»Joshua! Gib Acht, dass du nicht ungerecht wirst! Auch wir Christen haben die Verantwortung für alle Menschen gespürt. Und wir haben für ihre Erlösung die nächtlichen Gottesdienste gehalten, gerade die nächtlichen, in denen das Wort Christi die Finsternis erhellte. In solchen durchwachten, ja durchkämpften Nächten erneuerten wir die Zeit der Bereitschaft, der Erwartung. Und gewiss nicht nur für uns selbst.«

»Nein«, sagte Uthman. »Aber Joshua hat dennoch ganz Recht. Ich weiß, dass die Anführer der Kreuzfahrer versuchten, eine andere Zeiterfahrung einzuführen. Die sinnvolle Einteilung der Christen in drei Vigilien, den Nachtwachen zu jeweils drei Stunden, hoben sie auf. Sie zerstörten diese zutiefst natürliche Einheit, sie unterteilten die Nacht und schließlich auch den Tag in die Zeit des kalten Hasses – nämlich des Angriffs und des Tötens von Feinden. Das war neu, und es ist zutiefst ungläubig. Die Zeiterfahrung von uns Muslimen beachteten sie schon gar nicht. Dass wir fünfmal nach Mekka beten – unsere ureigene Zeit –, das wollten sie nicht einmal sehen, geschweige denn respektieren.«

»Für uns Juden ist die Nacht Unzeit«, sagte Joshua. »Weil Licht und Wärme fehlen, alle Ordnung sich auflöst, das Leben still steht und vernünftiges menschliches Wirken unmöglich wird. Wir Juden empfinden die Nacht immer als dunklen Urgrund unliebsamer Überraschungen, als Zurückweichen des Lebens. Wir begegnen dem durch Licht, Gesang und Gebet. – Aber Uthman hat Recht, als die christlichen Kreuzfahrer kamen, führten sie ihre eigene mörderische Zeit ein.«

»Dennoch behielt alles seine eigene Zeit«, beharrte Henri. »Auch die Kreuzfahrer legten natürlich ihre religiösen und kultischen Handlungen auf bestimmte Zeiten fest, in denen der Krieg verpönt war und dann stillstand.«

»Für uns«, sagte Joshua nachdenklich, »ist jeder Tag ein Abbild, eine zusammenfassende Erinnerung der Geschichte des Herrn mit seinem Volk. Jeder Abend vergegenwärtigt den Auszug unseres Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten, jeder Morgen erinnert an den Bundesschluss am Berg Sinai. Dieses tägliche Gedächtnis der Heilsgeschichte begingen wir bis zu seiner Zerstörung durch die Abendopfer und die Morgenopfer im Tempel Salomons. Als das Exil kam, sind an die Stelle der Opfer feste Gebetszeiten getreten, die in den Synagogen eingehalten werden. – Wie gern würde ich wieder in einer Synagoge beten! Wie gern würde ich wieder den siebten Tag feiern, den stillstehenden Tag, den Sabbat.«

»Warte, bis wir in Lübeck sind«, tröstete ihn Henri. »Dort geht jeder von uns in seine Kirche. Danach sind wir für alles gerüstet.«

»Eine schöne Vorstellung.«

Uthman sagte: »Du hast Recht, Joshua, der Schöpfungsgott Israels ist ein Gott der Arbeit und der Muße. Und der Mensch hat an diesem Wesen teil, er ist homo faber, der tätige Mensch, und homo festivus, der Mensch, der sich auch in Muße, Feier und Spiel verwirklicht. Das gilt für Juden und für Christen gleichermaßen ...«

»Wie klug unser Sarazene daherredet, seit er in der Bibliothek von Cordoba studiert!«

Uthman beachtete Henris Einwand nicht. »... Aber nimm einmal Christen wie unseren Henri. Er kennt den Ausgleich nicht, er gibt nie Ruhe. Er muss immer ...«

»Aber hör mal!« Henri begehrte auf. »Das meinst du wohl nicht ernst. Hast du nicht selbst auf unseren Reisen immer wieder ...«

Joshua sagte empört: »Ach, hört doch auf! Immer dieser Streit! Ich verbiete euch ...«

Unbeirrt von diesem Schlagabtausch zog die Hulk ihre Bahn nach Westen. Nur ein paar Wolken waren aufgezogen, und die Abendsonne versuchte, sie mit ihren Strahlen zu durchdringen. Das Segel der Hulk war mäßig gespannt.

Das Schiff war den Koggen ähnlich, und die Gefährten erinnerten sich oft an ihre Abenteuer auf einer dieser Hansekoggen entlang der slawischen Küsten. Sie sahen noch vor ihrem geistigen Auge, wie estnische Piraten die Kogge in der Narwabucht versenkten und sie in die Gefangenschaft verschleppt hatten. Henri ging nach ihrem unterbrochenen Gespräch auf der Hulk herum und versuchte, die unguten Erinnerungen an die Zeit mit dem Deutschorden abzuschütteln. Dieses Frachtschiff war kleiner, hatte ein Rahsegel und ein hinten angehängtes Ruder, der Mast wurde von Wanten und Stage gehalten. Henri beugte sich über die Reling und starrte in das grüne Wasser, er verspürte noch immer den Schmerz, den das grausame Kielholen über den rauen Schiffsboden verursacht hatte. Grimmig dachte er, man sollte Hulks zukünftig mit glatten äußeren Schiffswänden bauen.

Alles auf diesem Schiff machte einen soliden Eindruck. Sechs patrouillierende Bewaffnete auf der hinteren, hochbeinigen Kampfplattform, dem Kastell, verstärkten noch das Gefühl von Sicherheit. Aber Henri hatte ebenso schmerzlich wie seine Gefährten erfahren müssen, wie trügerisch ein solches Gefühl im Ernstfall sein konnte.

*

Während der Fahrt über die ruhige See hatten die Gefährten genug Muße, um immer wieder an die zurückliegenden Gefahren und Abenteuer zu denken. Erst jetzt, in der Ruhe, kamen die Bilder der Erinnerung mit Macht zurück. In all den Strapazen hatten sie auch die Bewährungsprobe gesehen. Vor allem die für ihre Freundschaft. Es hatte sie fester verbunden als alles Geschehene zuvor. Warum sollten sie sich jemals wieder trennen?

»Aber vielleicht sollten wir uns nicht erinnern«, sagte Henri. »Denn nur in der Erinnerung sind wir getrennt. Es ist schwer vorstellbar. Aber es gab eine Zeit, da kannten wir uns noch nicht. Wir ritten über drei verschiedene Kontinente, so als wären es drei verschiedene Lebenszeiten. Und doch war es eine einzige, ungeteilte Zeit. Doch dann kreuzten sich durch Gottes Ratschluss schließlich unsere Wege.«

»Es war ein kluger Ratschluss Allahs«, lachte Uthman. »Er muss erzieherische Absichten damit verbunden haben, denn ich habe viel von deiner Keuschheit profitiert, Henri.«

»Du warst ein wilder Hund, als ich dich kennen lernte! Du hast es nur deinem Vater zu verdanken, dass du nicht auf die schiefe Bahn geraten bist.«

»Joshua war immer schon brav«, sagte Uthman. »Er ist unser leuchtendes Beispiel.«

Joshua fühlte bei Uthmans Worten etwas ganz anderes aufsteigen – eine innere Hitze. Er musste an seine junge, christliche Haushälterin Mara in Toledo denken, eine einfache Frau, die er insgeheim verehrte. Liebte er sie nicht sogar?

»Hört mal«, sagte Henri, »wie wäre es, wenn wir in Strelasund einen gemeinsamen Gottesdienst abhielten? Ich hörte, die Kaufleute wollen dort ihre Fahrt unterbrechen, um neue Ware zu laden. Es wäre vermutlich das erste Mal, dass die Anhänger der drei Religionen Gott zusammen verehren.«

»Du bist ein richtiger Menschenfischer, Henri«, sagte Uthman. »Wie dein Prophet.«

»Er war nicht mein Prophet. Jesus ist der Sohn Gottes – Und auf diesem Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.«

»Amen«, sagte Joshua und schlug Henri freundschaftlich auf die Schulter.

»Es klappt«, sagte Uthman. »Wir streiten uns bei allen erlaubten Unterschieden nur mäßig. Wir verkörpern verschiedene Ansichten, aber es führt nicht zum Krieg. Jedoch täuscht euch nicht, das Schwert eines Sarazenen rostet nie – also Vorsicht!«

»Und nun sollten wir essen gehen«, schlug Henri vor. »Der Koch der Hulk gibt schon Zeichen. Auch das ist gemeinsames Handeln – ein Jude, ein Muslim und ein Christ essen zusammen ausgenommene Ostsee-Heringe mit rohen Zwiebeln.«

»Der Genuss von Fisch führt immer zur Mäßigung«, sagte Joshua.

*

Die Hulk lief am Nachmittag Strelasund an. Die Hansestadt vor Rügen erstrahlte an diesem frühen Julitag mit allen ihren vergoldeten Kirchenkuppeln. Während die Kaufleute am Hafen Rohmaterial für Werkzeuge aufluden und dafür Marderfelle tauschten, nutzten die drei Gefährten die geschenkte Zeit für einen Besuch des Doms. Synagoge und Moschee gab es im christlich kolonisierten Strelasund nicht.

Sie begannen, eine gemeinsame, in den Kirchenbüchern nicht vorhandene Juli-Andacht zu halten. Jeder kniete und betete inbrünstig. Der Inhalt ihrer Gebete waren nicht die Glaubensinhalte von Christentum, Judentum, Islam, sondern die Feier ihrer Freundschaft. Sie setzten an die Stelle der Dreieinigkeit Gottes die Dreieinigkeit ihres persönlichen Glaubens. Jeder dachte seinen Teil hinein. Sie waren überzeugt davon, dass sie nicht ketzerisch handelten. Und als sie sich wieder erhoben, fühlten sie, wie ihre Freundschaft gefestigt war.

Strelasund war eine schöne Stadt. Sie lag inmitten eines heidnischen Hinterlandes, aber man lebte zur Zeit friedlich. Die Freunde erinnerten sich, wie sie auf der Hinfahrt nach Osten auf Rügen Bekanntschaft mit slawischen Göttern gemacht hatten. War nicht jeder Glaube eingebettet in die Erfahrung eines Naturjahres? Besaß nicht jedes kultische Handeln einen natürlichen Rahmen zwischen Geburt und Tod, zwischen Jahresanfang und Jahresende? Wer konnte sich darüber erheben – selbst, wenn er es wollte?

Sogar die Götter starben. In jedem kultischen Handeln wurde das Schicksal der Götter dramatisch nachvollzogen. Jeder Gott und jedes Volk verbürgten in ihrer Einheit den Fortgang und die Erneuerung der Welt.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, schlenderten die drei Freunde durch die Hansestadt. Strelasund war nicht so bedeutend wie Lübeck, aber ebenso interessant. Und die Stadt lag günstiger für den Handel mit Schweden und Dänemark. Die jungen Frauen hatten ein natürliches inneres Strahlen, wie es nur bei Küstenbewohnern vorkam. Uthman schaute alle verliebt an, hütete sich aber, ihnen zu nahe zu kommen.

Ein Händler stürzte auf sie zu und breitete zu ihren Füßen seine Waren aus. Er beschwor sie, ein Stück zu kaufen. Sie konnten nicht weitergehen und besahen Seidengewebe mit byzantinischen Ornamenten, die der Händler aus Staraja Ladoga und Novgorod Wielki bezogen hatte, bunte Glasperlen aus dem Orient, Kauri-Muscheln vom Roten Meer und verzierte Schmuckgehäuse einer Schnecke, die der Händler Pelikanfuß nannte.

»Kauft, kauft«, flehte der Mann. »Es ist alles über Jumne zu uns gekommen. Dort ging alles unter, wisst ihr davon? Auch diese Perlen aus Karneol und Bergkristall kamen von dort. Und diese kunstvollen Eierklappern und die Spinnwirteln aus reinem Silber. Und was ganz Besonderes sind diese Schmuckstücke für eure Geliebten! Sie sind aus dem Eckzahn des Walrosses, das Elfenbein des Nordens! So viele Walrosse gibt es nicht, alles ist wertvoll! Kauft es!«

Die drei Freunde verspürten keine Lust, ein Andenken aus Jumne mit sich zu tragen. Aber Joshua erbarmte sich doch und kaufte dem Händler ein Halsband aus den Früchten und Pflanzenkernen der Tropenzone ab. Er verschenkte es ein paar Schritte weiter an ein junges, hübsches Mädchen mit roten Haaren, das errötend und glücklich davonsprang.

Uthman blickte erstaunt. »Joshua! Du hast ja ein Herz! Ich dachte bisher, dort säße bei dir die Thorarolle.«

»Joshua ist nicht herzloser als du, Sarazene!«, sagte Henri im gespielten Ernst.

Sie machten wieder kehrt. In der Nähe des Hafens lag eine Gasse, in der vor jedem Haus Bernsteinarbeiter saßen. Die Freunde blieben stehen und sahen ihnen zu. Sie benutzten für ihre sorgfältige Arbeit kleine Meißel, Handsägen, Feilen, Bohrer und Drehbänke mit eisernen Spezialscheiben. In heiß gemachtem Sand färbte man die Bernsteine, aus gelben und hellbraunen wurden grüne und rote. Daraus entstanden Anhänger und Amulette. Uthman fiel besonders ein Anhänger auf, der mit drei Pferdeköpfen versehen war. Gerade wollte er den Handwerker fragen, ob er einem heidnischen Kult der Slawen folge, da sah er auch Anhänger in Form von Thora-Hämmerchen, die auf skandinavischen Geschmack hinwiesen. Auf einem Gestell wurden sogar Halbmondanhänger hergestellt. Der Handel ging offenbar bis zu islamischen Gläubigen. Uthman kaufte eine Kette aus Bernsteinperlen und ließ die einschmiegsamen Perlen wie einen Rosenkranz durch die Finger laufen.

Henri erstand bei einer jungen Händlerin drei besonders schöne, durchsichtige Bernsteine. Jeder behielt einen. Es war ein neues Erkennungszeichen für Zeiten der Not, seit Henri seine von innen leuchtenden Steine im französischen Poitiers losgeworden war.

Bevor sie auf die Hulk zurückgingen, hielten sie am Hafenmarkt, wo Garköche gebratenen Fisch anboten. Die drei Gefährten verspürten Hunger und verzehrten die gut gewürzte Mahlzeit. Es schmeckte herrlich. Hinterher erfuhren sie, dass es sich um Walfisch gehandelt hatte. Keiner von ihnen hatte je Wal verzehrt.

»Gibt es Walfisch vor dieser Küste?«, fragte Henri.

Der Garkoch nickte eifrig. »Seit einiger Zeit besonders viele! Es sind weiße Wale, woher sie kommen, weiß der Himmel. Bisher hatten wir höchstens kleine, graue Tümmler, jetzt kommen solche Ungeheuer bis nahe an die Küste heran. Und hinter Rostock ist sogar vor kurzem eine Kogge gesunken, die mit einem Rudel bösartiger Wale zusammenstieß. Man erzählt, die Wale hätten richtig Jagd auf das Schiff gemacht und nicht eher davon abgelassen, bis es sank. Alle Seeleute starben!«

»Seemannsgarn!«, murmelte Uthman, als Henri die Erzählung übersetzte.

Als sie weitergingen, sahen sie, wie Fischer einen großen Walkörper zerlegten, alles wurde verwendet, Tran floss in kleine Behälter ab. Das riesige Tier sah selbst zerstört Furcht einflößend aus. Hunde umsprangen es kläffend, als könnte es noch im Tod eine Gefahr bedeuten.

Langsam schlenderten die Freunde zur Hulk zurück. Sie sahen zu, wie die Materialien verladen wurden. Ein hölzerner Kran, in dessen Laufrad mehr als zwanzig halb nackte Männer liefen, hievte die Waren an Deck, wo die Mannschaft sie verstaute. Dann war das Verladen abgeschlossen, die Männer stiegen aus dem Laufrad und wurden von ihren Frauen mit Getränken empfangen.

Der Kapitän der Hulk winkte ihnen zu. Man ging auf das Schiff. Die Matrosen turnten in die Brassen. Die Leinen wurden losgemacht. Die drei Freunde suchten ihren Platz unter dem hinteren Kastell auf und ließen sich für den Abend nieder.

In einer leichten Abendbrise blähten sich die beiden Segel. Das Schiff fuhr hinaus auf die offene See, in der sich das Abendrot spiegelte.

*

Noch in dieser Nacht überwältigte Henri de Roslin eine besondere Erinnerung. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Es war die Erinnerung an seine Heimat.

Er starrte zum sternenübersäten Himmel auf. Der Himmel war nah, die Sterne strahlten wie ausgestochen. Und die Bilder seines Wachzustands wurden so stark, dass er das Bedürfnis hatte, sich den Freunden mitzuteilen. Weil auch Joshua und Uthman nicht schlafen konnten, hörten sie dem Freund gerne zu.

Henri griff einen Gedanken auf, den er vorher gehabt hatte. Er begann von der Zeit zu erzählen, als sie sich noch nicht gekannt hatten. Die beiden Gefährten rückten näher heran und lauschten gespannt.

Sie verspürten den Zauber der Erinnerung ihres engsten Gefährten. Voller befremdlicher Spannung blickten sie aus der Gegenwart dieser raunenden Nacht mit ihren eigenen Sternen in eine ferne und fremde Zeit und in ein ganz eigenes und einmaliges Leben.

Und sie begannen sich vorzustellen, wie dieses frühere Leben ihres Gefährten in seinen Auswirkungen, mit seinen Bildern, Menschen und Begegnungen, mit seinen hinterlassenen Wunden, noch immer in ihrem Gefährten Henri verborgen war.

Wie ein Schatz.

Aber auch wie der Beginn alles folgenden Unheils.

2

Frühling 1300, im Tempel zu London

Henri de Roslin dachte nicht an die kommenden Jahre. Für ihn gab es keine Zeit nach dieser Zeit. Das lag daran, dass er noch jung war. Und daran, dass er eingespannt war in den Alltag von Tag und Nacht im Tempel von London. Er schwamm wie ein Fisch im Wasser in seinem Alltag und kam kaum zum Schlafen. Seine Ausbildung zum Fiskal des Tempels war fast abgeschlossen. Aber noch musste er die letzten Lektionen bewältigen.

Man hatte ihm gesagt, dass sein Freund Neville of Gwyn ihn unbedingt sprechen wollte. Aber Henri war in strenger Klausur, er büffelte Zahlen und Organisationsstrukturen. Der Tempelbruder hatte einige Zeit vor dem Unterrichtsgebäude gewartet und war dann gegangen. Henri de Roslin war verwundert, denn Neville wusste, dass er während der Unterweisung keinen Besuch empfangen durfte. Henri hatte versucht, ihm vom Turm aus zuzuwinken, aber Neville hatte es nicht bemerkt.

Henri dachte mit Sympathie an Neville, der junge Magister war ihm ans Herz gewachsen, seit er als fertiger Medicus vom Heiligen Stuhl in Rom nach London gekommen war. Sie saßen meistens vor dem Schlafengehen zusammen und sprachen über die zurückliegende Zeit im Heiligen Land.

Henri beschäftigte die Frage, ob er noch einmal Palästina sehen würde. Was geschah mit dem Besitz des Tempels, jetzt, da die lateinischen Staaten des Heiligen Landes zu existieren aufgehört hatten? Sein Präzeptor hatte vorgeschlagen, eine kleine, geheime Armee aufzustellen, die zumindest den beweglichen Reichtum heim in den Tempel des Okzidents holte. Henri war der Gedanke abenteuerlich vorgekommen, aber er hatte ihn fasziniert. Würde er auf diese Weise doch noch einmal kämpfen dürfen? Aber im Augenblick beugte er sich nur über seine Papiere und versuchte zu begreifen, worin der Unterschied zwischen einer Stiftung und einer Schenkung lag.

Henri de Roslin blickte nachdenklich aus dem Fenster des Templersitzes. Die weißroten Fahnen flatterten in der Frühlingssonne. Er seufzte. Es wäre schön, unten im Garten in der Wärme zu sitzen. In den dicken Mauern der Gebäude war es noch winterkalt. Das förderte die düsteren Gedanken.

Er stand auf, trat ans Fenster und sah, wie auf dem Gerüst gegenüber Bauarbeiter herumgingen, die Überholung der Tempelkirche war beinahe fertig gestellt. Der junge Baumeister John Sandys und seine Steinmetze aus der Bauhütte Holborn würden es schaffen, die Arbeiten noch vor dem geplanten Termin abzuschließen.

Henri beschäftigte sich wieder mit den Akten. Ein Ritter des Hauses Chigwell hatte mit Zustimmung seiner beiden Söhne dem Tempel die Stadt und die Einwohner von Stapleford Tawney, seine Gemarkung und die hohe Gerichtsherrschaft geschenkt. Ein anderer Ritter, diesmal aus dem Frankenreich, namens Roger von Campagne, hatte einen Teil der Grafschaft Razs übereignet. Henri las aufmerksam die Urkunde und schrieb dann die wesentlichen Passagen ab.

Da stand: »Ich trete mein Hab und Gut mit all seinen Bewohnern, Männern, Frauen und Kindern, den Gefällen und Abgaben, dem Ackerland, den Wiesen, dem Weideland und Buschwerk, dem bestellten und unbebauten Land, den Wassern und Aquädukten, den Mühlen und Mühlenbannen, den Fischteichen mit allen Rechten ab. Die Tempelbrüder schulden mir auf diesem Besitz weder Gefälle noch Treugeld, weder Wegzoll noch Durchgangszoll.«

Henri konnte nicht klären, warum Ritter Roger seinen Besitz nicht dem französischen Tempel schenkte. War das nicht ein Affront? Der Ritter hatte wohl seine ganz persönlichen Gründe. Henri schloss die Kopie ab und setzte das Siegel des Tempels von London darunter.

Schon seit einigen Jahrzehnten bildeten Schenkungen den Grundstock für die Templerkomtureien, ganze Kirchensprengel wechselten den Besitzer, die Kirchenmänner erhofften sich besondere Gnade und größeres Seelenheil, wenn sie den Brüdern im Fleische und Brüdern im Geiste der Miliz des Tempels alles übereigneten. Ein Bischof gab 400 Morgen Land für das Heil seiner Seele, weil er die Schrecken der Hölle fürchtete und die Freuden des Paradieses erlangen wollte.

Dann hast du falsch gelebt, Bischof, dachte Henri.

Manche Adlige traten auch selbst dem Tempel bei, entweder als Brüder oder als Donats, dienende Brüder, die den Beitritt später wieder rückgängig machen konnten. Henri notierte die Schenkungen, schrieb Briefe an die Behörden vor Ort und gab Anweisungen, wie mit den Werten umzugehen war, welche Verwalter einzusetzen waren.

Am einfachsten war es noch, Geldspenden direkt auf die Bank der Templer zu überweisen. Nur Henris Vorgesetzte wussten, wie hoch der finanzielle Besitzstand des Tempels von London inzwischen war. Bald würde Henri de Roslin der Einzige sein, der genau eingeweiht war. Er musste nur die Geduld aufbringen, die Akten zu Ende zu studieren, während draußen die Frühlingsvögel sangen.

Henri kannte alle Güterverzeichnisse, er wusste auch, dass einige Schenkungen mit Auflagen verbunden waren. Er selbst sollte von einem Waliser einmal verpflichtet werden, für die Übereignung eines Bauerngutes nördlich von Cardiff ein halbes Jahr lang die Waffen in einer Fehde zu tragen. Er hatte abgelehnt. Andere Schenkungen, die ausgedehnte Gebiete betrafen, beinhalteten, dass die Templer sie besiedeln und bestellen sollten. Auch dies war selten zu bewerkstelligen, denn die Brüder waren keine Bauern. Auch auf einem Templerfriedhof bestattet zu werden, in den weißen Mantel mit dem roten Kreuz gehüllt, war sehr begehrt. Renten, Unterhalt und Schutz des Lebens erwarteten manche Stifter als Gegengabe. Henri de Roslin hatte immer gefunden, dass die ehrlichsten Motive von alten Männern kamen, die in den Tempel aufgenommen werden wollten, um dort den Rest ihrer Tage zu verbringen und behütet zu sterben und begraben zu werden.

Henri stand erneut auf und trat ans Fenster. Jemand schrie auf dem Baugerüst gegenüber und winkte heftig. Unten stand eine junge Frau und schaute geradewegs zu ihm auf. Henri kannte die Frau nicht. Wahrscheinlich war sie in Gedanken versunken oder schaute sich den Sonnenuntergang an. Henri ließ seinen Blick eine Weile auf ihr ruhen. Ein angenehmes Gefühl. Sie meinte eindeutig ihn. Unbeweglich stand sie in der Sonne und schaute empor.

Henri ging nachdenklich im Zimmer herum. Er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt. War dies wirklich das Leben, das er führen wollte? Er erschrak über die Frage, die schon den ganzen Morgen über durch seine Gedanken zog. Er sah keinen Grund für Zweifel. Aber der Anblick der jungen Frau im Tempelhof hatte erneut etwas in ihm ausgelöst.

Henri versuchte, wieder zu seiner Arbeit zurückzukehren, und musste an die Zeit im Heiligen Land denken. Dort hatte er erfahren, dass die Kämpfe nicht nur mit Waffen geführt wurden. Manche Stifter erinnerten die Templer an die Pflicht, Pilger, Arme und Kranke zu unterstützen. Zahlreiche Spitäler waren von frommen Gläubigen gestiftet worden. Wenn sie nicht die Mittel aufbrachten, sie zu unterhalten, wurden sie den geistlichen Orden anvertraut, meistens den Hospitalitern, aber auch den Templern. Henri hatte damals als Knappe seines Ritters alle Spitäler aufgesucht, in denen ihre eigenen Verwundeten lagen, deren Anblick dem hohen Pathos der Kreuzzüge widersprach. Damals hatte er den Wunsch verspürt, Medicus zu werden.

Aber vor neun Jahren, nach dem Fall der letzten christlichen Hafenstadt Akkon, hatten sie überstürzt alles zurückgelassen. Vielleicht war das gut so. Es war gewiss der Wille des Herrn gewesen, dass sich die Ritterorden aus dem Heiligen Land zurückzogen. Wie viel Blut geflossen war! Jetzt, wo man nicht mehr den Heiligen Krieg zu finanzieren hatte, konnte man sich auch um den Ausbau des Besitzes in Europa kümmern. Auch hier gab es Kranke und Arme, mehr als genug, die Unterstützung brauchten. Allzu lange hatten die Templerkompture nur an Jerusalem gedacht. Aber Henri wollte nicht ungerecht sein, er dachte voller Liebe an den Großmeister seines Ordens, Jakob von Molay.

Der Großmeister tat stets das Richtige. Henri liebte ihn mehr als seinen eigenen Vater, an den er kaum Erinnerungen besaß.

Henri trat erneut ans Fenster und sah Schwalben in Scharen hinabstürzen. Die Frau unten war verschwunden.

*

Kurze Zeit vorher hatte ein junger Bruder der armen Ritter Christi den soeben erhaltenen Brief in eine Schatulle gelegt, nachdem er ihn hin und her gewendet hatte. Warum war ausgerechnet er damit beauftragt worden, ihn an Henri de Roslin weiterzugeben? Er erhob sich und trat mit leichten Schritten an die schmale, hohe Fensteröffnung mit dem verschlungenen Maßwerk. Leise summte er eine Melodie vor sich hin, brach ab und begann sie erneut. Sie klang finster, fremd. Dieses Lied! Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wurde davon abgelenkt. Das Lied flatterte hinter seinen Augen wie ein gefangener Schmetterling umher.

Die hoch gewachsene Gestalt des jungen Templers straffte sich, als habe er zu lange über den Büchern gesessen. Er starrte lange hinunter auf den begrünten Innenhof, um seinen Blick auszuruhen, aber er wollte diesen Blick auf den Kräuterbeeten eingraben, um nichts anderes sehen zu müssen als die einfachsten Formen der Schöpfung. Es war warm, in der Luft hing der Geruch vieler Blüten und von Ysop, Bärlauch und Bockskraut. Vielleicht hielt sich der Duft auch nur, weil die Mauern des Tempelbezirks so hoch waren. Im übrigen London dagegen stank es erbärmlich, und nicht nur dort, wo die Kloaken in Bächen durch die engen, gewundenen Gassen sprudelten.

Neville of Gwyn kannte das Lied. Er musste es nur endlich entschlüsseln! Denn das Lied, das ihm nicht aus dem Sinn ging, wollte ihm etwas sagen. Wieder summte er die Melodie bald lauter, bald leiser vor sich hin, mit seiner wohltönenden Baritonstimme, die im Kontrast zu seiner jungenhaften, schlaksigen Erscheinung stand. Er blieb kerzengerade wie ein Mann stehen, der Anklägern die Stirn bieten will, bis sich auf der gebräunten Haut seiner Wange plötzlich ein Zucken zeigte. Als wolle er eine lästige Fliege loswerden, schlug er mit der Hand auf die Wange. Dabei brach die Melodie ab.

»Das ist es!«, sagte der Tempelbruder erstaunt. »Der Heilige Vater selbst hat das Lied gesungen, weißt du? Irgendwann bei Nacht, als ich noch Adept meines Medicus war und ihn zur Ader lassen musste. Warum ist mir das nicht eher eingefallen? Etwas in meinem dummen Kopf war wohl dagegen, nun seltsam – es drückte wohl seine Art aus, mit der Angst vor den Schmerzen umzugehen.«

»Ja«, sagte jemand, der sich in der Zimmerecke hinter einer spanischen Wand befand. »Aber warum löst verdammt noch mal diese Melodie unsere Rätsel, Magisterchen?«

Der junge Arzt des Londoner Tempels, Neville of Gwyn, winkte übertrieben mit dem Zeigefinger in die Richtung der Stimme, und eine zwergenhafte Gestalt sprang daraufhin hinter dem Schirm hervor. »Schau einmal dort hinüber, Giacomo.«

»Ich schaue schon, lieber Herr.«

»Und was siehst du?«

»Was Er wohl auch sehen möcht', Herr«, antwortete der verwachsene Lakai vorsichtig.

»Nein, das tust du nicht, mein Freund. Du siehst einen Garten, der unseren mächtigen Tempelturm umgibt – stimmt's?«

»Das will ich meinen«, sagte Giacomo bedächtig und schielte nach oben. »Und was für einen! Vom Magisterchen selbst angelegt!«

»Ich hingegen sehe die Schöpfung. Das kommt daher, weil ich sie sehen will! Würdest du dich anstrengen, dann könnte es dir auch gelingen.«

»Dafür bin ich nicht angestellt, Herr! Das bleibt für die hohen Herren, die in Büchern lesen und auf Samtsesseln sitzen«, erwiderte der Zwerg listig.

»Vorsicht, Giacomo! In unseren Zeiten kann ein solcher Satz schon ausreichen, um geradewegs auf die Streckbank geworfen zu werden, wie du am besten weißt! Aber gut, wir haben ja keine Zuhörer – einer der Vorteile dieses Tempels. Ich werde bis zur Visite im Krankensaal hinüber in den Garten gehen. Zwanzig Runden dürften reichen. Dann weiß ich, warum diese Melodie in meinem Kopf an meine tiefste Seele rührt. Du passt inzwischen auf den Brief auf, als gelte es dein Leben. Du weißt, niemand darf ihn zu Gesicht bekommen, bis ich ihn an seinen Empfänger abliefere.«

»Zu dienen«, murmelte der Zwerg und krümmte sich wie unter Schmerzen.

Der junge Tempelmedicus hatte sanft und langsam gesprochen, aber jetzt durchquerte er den kargen, weiß getünchten Raum schnell wie ein geübter Läufer. Als er die Treppenstufen genommen hatte – auf jeder Stufe hinunter schien es etwas weniger kühl zu sein –, die Pforte durchquerte und in den menschenleeren Garten des Tempels zu London trat, setzte er seine Füße auf, als wolle er die Festigkeit der roh behauenen, aber glatt geschliffenen Sandsteine testen. Er raffte seinen leichten, weißen Rock und spürte die Kühle an den nackten Beinen und Füßen, die in Sandalen steckten. Mit wiegendem, geschmeidigem Gang drehte er die erste Runde. In der zwölften wusste er plötzlich, woher er das Lied noch kannte.

Seltsames Ding! Er hatte es in den Kellern eines Gerichtes gehört, dem er in seiner Ausbildungszeit am römischen Tiber oft als Medicus zur Hand gehen musste. Dort hatte es jemand mit fester Stimme gesungen, bis diese brach. Darüber hatten das Stöhnen der anderen Häftlinge in Ketten gelegen und der Geruch nach hinfälligem Fleisch.

Aber die Schöpfung? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. An diesem Ort der Folter, zu dieser Stunde war sie nicht zu spüren gewesen. Das Erschrecken vor ihrer völligen Abwesenheit ließ ihn später umso mehr danach suchen. Allein deshalb, das war klar, war er ein gläubiger Mensch geworden und in den Tempel eingetreten, obwohl seine Lehrer ihm sagten, dass er den sezierenden Verstand des Chirurgen besaß und dass es seine Aufgabe sei, die Menschen von den Schmerzen zu befreien.

Neville of Gwyn brach seine Runden ab, stand einen Augenblick lang unbeweglich da, versunken in den Anblick von vier afrikanischen Löwen aus rotem Sandstein, die den leise sprudelnden Brunnen im Innenhof schmückten, und kehrte in das kleine Arbeitszimmer zurück. Auf dem Weg dorthin überlegte er, welche Anweisungen er dem Zwerg geben wollte, der ständig beschäftigt werden musste, damit er keinen Unsinn anstellte. Der Magister spürte Mitleid mit dem Krüppel, der so viel Unrecht erlitten hatte.

Neville of Gwyn sperrte die Tür des spärlich möblierten Raumes auf, und sofort überfiel ihn ein heftiges Unbehagen. Unwillig blickte er um sich. Irgendetwas hatte sich inzwischen verändert. Er bemerkte nicht auf den ersten Blick, was es war, aber auf den zweiten desto genauer. Und er erschrak.

Das Schreibpult in der Ecke war leer gefegt, die Papiere lagen sämtlich auf dem kalten Steinfußboden. Und der Zwerg?

»Giacomo!« Keine Antwort. »Zum ...!« Wo war der Kerl? »Giacomo!«

Neville ging schnell in die Knie und wühlte in den Pergamentblättern. Über einige hatte sich Tinte geleert, andere waren zerknüllt. Auf einem Büttenpapier mit dem Siegel des Londoner Tempels lag eine rote, klebrige Masse. Der Brief des Abtes von St. Albans war verschwunden.

Neville gab die Suche schnell auf. Und er machte sich Vorwürfe. Jemand hatte die Zeit seiner Abwesenheit gründlich genutzt. Warum um Himmels willen hatte er den Brief nicht sofort an Henri de Roslin ausgehändigt? Er hätte unter allen Umständen Zutritt zu seiner Klausur erzwingen müssen. Wenn doch nur nicht so viel davon abhing.

»Giacomo!«

Er konnte nicht weit sein. Sicher war er beim Eindringen des Unbekannten sofort ängstlich davongelaufen, ohne an Gegenwehr zu denken und die Abschrift zu verteidigen. Jetzt hockte er womöglich wimmernd unter den Betten im Schlafsaal.

Neville rannte hinüber, die Treppen hinunter, hinter dem Klausursaal wieder hoch und betrat den von fünfundzwanzig Säulen getragenen, tagsüber verlassenen Schlafsaal der einfachen Brüder.

»Giacomo?«

Er ging den lang gestreckten Saal entlang, an den Wänden links und rechts je zwei Reihen sorgfältig gerichteter Betten, er legte sich flach auf den Bauch und blickte unter jedes. Giacomo war nicht zu sehen. An der Stirnseite des kühlen Raumes mit der flachen Ebenholzdecke blieb er stehen, sah zurück und überlegte. Wer konnte der Eindringling gewesen sein? Müßig, darüber zu spekulieren, denn genau genommen kam jeder der Brüder in Frage.

Von der Existenz des Briefes wusste allerdings nur der Präzeptor, der jeden Postverkehr kontrollierte. Neville musste zu ihm gehen und die Sache aufdecken. Aber eine Hitzewelle überflutete den Magister bei dem Gedanken – konnte er dem Präzeptor angesichts der Sachlage überhaupt trauen? Wenn sein Vorgesetzter sah, dass Neville seine Sorgfaltspflicht verletzt hatte – also, was war zu tun?

Er musste auf die Suche gehen. Von der angemessenen Geheimhaltung dieses Briefes hing wohl einiges ab. Jedenfalls hatte es sein Überbringer, der Bote des Abtes von St. Albans, behauptet.

Im inneren Tempelbezirk blieb es ruhig. Kein Laut störte den Frieden der Nachmittagszeit. Neville überfiel ein Gefühl völliger Einsamkeit, wie er es seit seiner Kindheit im Lateran nicht mehr gehabt hatte. Er war allein. Es war der Beginn eines Verhängnisses ... Aber nein, Unsinn!, schalt er sich, das machten nur diese ungewöhnlich frühe Hitze auf den Mauern und diese lähmende Stille in der Ruhezeit des Nachmittags. Aber aus dem Eindruck der Leere heraus, in die er haltlos hinunterzufallen drohte, entschloss er sich, doch den Präzeptor aufzusuchen. Der Brief war geraubt! Er musste diese befremdliche Nachricht einfach an eine Instanz weitergeben. Dann war er zwar die Verantwortung nicht los, aber er teilte sie mit jemandem.

Mit langsamen Schritten betrat er den vom Wohntrakt der Brüder getrennten Hof der Tempelverwaltung. Vorsichtig klopfte er an die Tür zum Arbeitszimmer des Präzeptors. Von drinnen ertönte eine gedämpfte Stimme, die ihn aufforderte einzutreten. Er betrat das dunkle Zimmer.

Der Präzeptor hatte die Angewohnheit, sämtliche Vorhänge zuzuziehen. Seine schwachen Augen vertrugen keine Helligkeit. Neville versuchte, sich im Halbdunkel zu orientieren. Der Präzeptor saß auf dem Stuhl am Fenster, mit dem Rücken zur kalten Wand, und sah ihm angestrengt entgegen. Sein lang gezogenes Gesicht mit den harten Konturen schimmerte bleich. Er trug wie immer das blütenweiße Ornat des Tempels mit dem roten Tatzenkreuz auf den Schultern.

»Nun, mein Sohn?«

»Präzeptor – ich habe ein Anliegen.«

»Davon gehe ich aus, Magister.«

Lag Spott in seiner Stimme? Neville riss sich zusammen. »Es gilt, etwas Entsetzliches zu melden ... einen Raub. Der Brief des Abtes Thomas von St. Albans, der heute Morgen kam, ist verschwunden. Ein Einbrecher ...«

Der Präzeptor hob die Hand. »Ich habe nichts gehört! Ich will auch nichts hören! Das kann nicht sein!«

»Und doch ist es so.«

»Der Brief wurde Euch durch den Boten anvertraut! Er ist geraubt? Noch niemals ist im Tempel etwas abhanden gekommen. Wenn das dennoch wahr ist, dann beschafft ihn wieder, und wenn Ihr ihn habt, dürft Ihr wiederkommen!«

Hatte Neville etwas anderes erwartet? Er machte Anstalten, noch etwas zu sagen, er wollte erklären. Aber der Präzeptor sagte scharf: »Beschafft ihn wieder. Geht!«

Neville antwortete nicht, er nickte nur stumm und verließ den Raum, allerdings nicht, ohne die Tür lauter zuzuschlagen, als es statthaft gewesen wäre. Draußen stand er einen Moment lang ratlos. Was sollte er jetzt tun? Zunächst einmal musste er in sein Zimmer zurückgehen, nach Spuren suchen, vielleicht war der Zwerg inzwischen wieder aufgetaucht.

Und wenn nicht ...

Giacomo blieb verschwunden, das entsprach ganz und gar nicht seinen Marotten. Im Gegenteil ging er dem Magister oft durch seine ständige, listige Gegenwart auf die Nerven. Im Tempel gab es natürlich viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Aber warum versteckte er sich?

Neville versuchte, die Situation zu rekonstruieren. Es gab nur eine Tür zum Schreibzimmer, der Eindringling war über den Gang im ersten Stockwerk gekommen, an dem zu beiden Seiten die Klausen der anderen Brüder lagen. Da in den Konventbereich keine dienenden Brüder hineinkamen, musste sein ungebetener Besucher aus den Reihen der Brüder sein. Ein Mitbruder! Oder hatte Giacomo seine ungewaschenen Finger im Spiel? Nein, entschied Neville, der Gnom war ihm ergeben und nach seinem Verhör durch die iberische Inquisition auch viel zu feige für irgendeine unbotmäßige Tat.

Was blieb ihm übrig, als die Zellen der Brüder aufzusuchen, eine nach der anderen, vierundzwanzig insgesamt. Irgendwo musste der Brief sein. Vielleicht wollte ihn jemand nur ausleihen? Unsinn! Niemand sonst wusste von dem Dokument.

Oder sollte er einfach zu Henri de Roslin gehen und ihm die Sache beichten? Er musste sofort zu ihm gehen, auch wenn der Templer zurzeit seine Unterweisungen in fiskalischen Dingen erhielt.

Neville seufzte. Man würde ihn jetzt ebenso wenig vorlassen wie am Morgen, als er es versucht hatte. Henri war abgeschirmt. Auch wenn ihm die Rolle eines Ermittlers gar nicht gefiel, er musste den Tathergang aufklären. Der Brief schien wichtig zu sein, der Bote hatte ein dringendes Gesicht gemacht und sofortige Antwort gefordert. Neville gab sich einen Ruck und trat auf den Gang hinaus.

Die Brüder hielten noch nachmittägliche Ruhe, aber die Stunde war gerade zu Ende, und er konnte stören, ohne Schimpf zu ernten. Er klopfte an die erste Tür zur Linken, die zum Raum neben dem seinen führte. Ein dumpfes Geräusch war drinnen zu hören, dann wieder Stille. Neville klopfte erneut. Keine Antwort.

»Bruder Robin?«

Kaum hatte er den Namen des französischen Tempelbruders ausgesprochen, der im Konvent seit einigen Wochen als Gast weilte, hörte er von jenseits der dunklen Eichentür ein unterdrücktes Geräusch. Es klang wie ein Schluchzen. Dann rannte jemand davon. Der Magister spürte ein ekelhaftes Kribbeln im Nacken. Deutlich vernahm er sich entfernende Laufgeräusche. Durch welche Tür wollte der französische Bruder verschwinden? Es gab keine zweite in den Zellen. Und wohin?

Neville klopfte noch einmal, nichts geschah. Er beschloss, sich mit Gewalt Eingang in den Raum zu verschaffen. Aber das war gar nicht nötig, denn die Tür war nicht verriegelt, wozu aber jeder Bruder während der Ruhezeiten verpflichtet war. Die Tür ging leicht nach innen auf, als er die Klinke herunterdrückte.

»Bruder? Verzeiht, Bruder ...«

Neville brach ab, das Zimmer war verwaist. Im ersten Moment wollte er umkehren, aber dann machte er sich klar, dass bei seinem Klopfen jemand hier gewesen war. Aber ... ein unchristlicher Fluch formte sich auf seinen Lippen ... wohin sollte der Bruder gegangen sein?

In einem Augenblick des Erschreckens sah Neville, dass am Fensterrahmen ein Leinentuch verknotet war. Schnell trat er an die Öffnung. Das Leinentuch endete gut und gern fünf Meter über dem Boden. Unten, im weichen Sand des Weges, sah er Spuren nackter Füße. Neville erkannte selbst von hier oben deutlich die abgespreizten Zehen, die Füße waren beim Sprung tief eingesunken. Bruder Robin!, dachte er in einem Anflug von schmerzhafter Erinnerung an den jungen, liebenswerten Zimmernachbarn, der schnell errötete. Er war aus Paris gekommen, um im Tempel seine ersten Exerzitien zu erhalten.

Neville hielt sich nicht mit Gedanken auf. Er raste mit klappernden Sandalen hinunter in den Garten. Vielleicht konnte er die frischen Spuren des Flüchtigen eine Weile verfolgen.

Unten begegnete er einem anderen Bruder, den er nach Robin Gelmour-Bryson fragte. Er erhielt nur ein stummes, verwundertes Kopfschütteln als Antwort. Erst auf dem sauber geharkten Sandweg sah er wieder Fußspuren, sie führten geradewegs zum Durchgang nach dem Kapitelsaal.

Neville lief mit gleichmäßigen Bewegungen den Weg entlang und über die wenigen Steinstufen, die in den Saal hinunterführten. Hinter dem Eingangsportal erwartete ihn jemand.

*

Eine Hand strich über den Brief und glättete ihn. Die Hand war schneeweiß, mit Spuren von dunklen Hautflecken, das Briefpapier schimmerte glatt, geheimnisvoll mit seiner Schrift aus roter Tinte. Jetzt kam die Hand, die einen Siegelring trug, auf dem Papier zur Ruhe, lag wie eine Spinne darauf. Ein befriedigtes Knurren war zu hören.

»Er will sich also mit Henri treffen, der Hund!«, murmelte eine brüchige Stimme. »Woher hat er bloß Wind von der Verschwörung bekommen?«

Die Gestalt, die jetzt in den Lichtkreis des Kerzenhalters trat, war jung, aber die Stimme war greisenhaft. Auch das Lächeln im Gesicht war jung und boshaft. Es drückte Triumph aus. Das Lächeln triumphierte über etwas, das mehr bedeuten musste, als ein Brief es sein konnte. Es war etwas im Dunkeln, in der Vergangenheit, das den Mann im roten Ornat triumphieren ließ, und sein erstarrtes Wesen drückte aus, dass er ganz in dieser Vergangenheit zu leben schien. Zumindest verweilten seine Gedanken dort und holten sich reichlich Nahrung, während die Gegenwart des kleinen, schmucklosen Zimmers mit dem roten Kreuz des Tempelordens über dem Türsturz keinen Anlass zur Freude bot.

Er las laut: »... Deshalb muss ich Euch warnen, Henri de Roslin. Gegen Euch und Eure Brüder ist etwas Unheiliges im Gange. Ich kann es noch nicht beweisen, aber es ist da. Ich versichere Euch, was dort im Geheimen entsteht, das ist ungeheuerlich – und es bedroht Euch alle. Kommt nach St. Albans, ich werde Euch in alle Einzelheiten einweihen, von denen ich zur Stunde Kenntnis habe. Wählt selbst die Stunde. Ich werde Euch immer empfangen.«

Der Briefleser faltete das Pergament zusammen und drückte das Siegel vorsichtig wieder auf die Falzkanten. Jetzt sah der Brief ungelesen aus.

»Du Hund!«, murmelte er, »eigenmächtiger Verräter! Das ist dein Todesurteil!«

Es war nichts Friedfertiges an dem geistlichen Mann, der so sprach, nichts Versöhnliches glättete seine Züge, seine ganze Erscheinung drückte in der Welt des Sichtbaren aus, was er dachte. Er schien der personifizierte Hass zu sein. Und Hass verbrannte noch einmal im Selbstgespräch seine Stimme.

»Deine Botschaften werden nicht ankommen, Abt Thomas. Wir werden vor dir da sein, wenn du den Schlaf des Selbstgerechten schläfst. Ist nicht die Passionszeit wunderbar geeignet für das Leiden? Unser Herr hat dort gelitten, um wie viel mehr hast du es verdient. Du wirst sterben!«

Er blies die Lichter aus, der Kerzenrauch umwölkte einen Moment lang sein hageres Haupt wie Schwefeldampf. Er tuschte die Farbe seiner Lippen und das Weiß der Wangen nach, rückte seine Kleider zurecht. Der Präzeptor wartete mit dem Abendessen auf ihn. Die Vorfreude darauf fuhr wie Lüsternheit in seinen Körper. Dann verließ er lautlos den Raum.

*

Neville erkannte ihn sofort. Es war der Bischof von London, zuständig für die Glaubenskongregation. Er sah den Magister mit einem so finsteren Blick an, dass Neville schauderte. Der Magister konnte es nicht glauben. Was machte der hohe geistliche Herr hier im Tempel? Henri wusste, dass König Edward I. gerade die Kirche aus dem Rechtswesen verbannt hatte und dass Bischof Savior seitdem wie besessen nach neuem Einfluss suchte. Wusste der Präzeptor von seiner Anwesenheit?

»Stell keine Fragen!«

»Nein, Eminenz, aber ...«

»Es geht um diesen Brief des Abtes von St. Albans. Wo ist er?«

Neville wollte fragen, woher der Bischof davon wisse. Aber er sagte: »Er ist verschwunden, ich konnte ihn nicht übergeben.«

»Für wen war der Brief?«

»Für Henri de Roslin.«

»Schau an. Für den verehrungswürdigen Bruder Henri.«

Jetzt konnte sich Neville doch nicht zurückhalten. »Woher wisst Ihr von diesem Brief, Eminenz?«

»Das ist gleichgültig. Aber Ihr seid jetzt ein Geheimnisträger. Ihr allein kennt den Brief.«

»Der Präzeptor weiß ebenfalls von diesem Brief.«

»Natürlich, natürlich.«

Neville schüttelte den Kopf. »Was wird mit dem Brief? Bruder Robin ist damit verschwunden. Ich weiß nicht, wohin ...«

»Um den Brief kümmern sich andere. Du bist der Verantwortung dafür enthoben.«

»Aber Eminenz ...«

»Keine Einwände! Ich sorge dafür, dass der Brief wieder auftaucht und ordnungsgemäß an Henri de Roslin weitergegeben wird. Es sind Umstände eingetreten, die besondere Maßnahmen erfordern, darum bemüht Euch nicht mehr. Und kein Wort zu Bruder Henri! Ist noch was?«

»Mein Diener, Giacomo. Er ist auch verschwunden, ich weiß nicht ...«

»Wir werden ihn suchen. Er wird wieder auftauchen, glaubt mir. Und nun kümmert Euch um Eure Aufgaben im Tempel, mein Sohn! Es werden Verletzte aus Wales eingeliefert, die der ärztlichen Betreuung bedürfen, nachdem sie die geistliche bereits erhalten haben. Sie haben ausdrücklich meine Betreuung erbeten, und sie haben sie erhalten. Und jetzt erwartet mich der Präzeptor.«

Dem jungen Magister schwirrte der Kopf. Seine schlaksige Gestalt straffte sich. Er verbeugte sich und ging hinaus. Seltsam, dachte er draußen. Was geschieht hier bloß?

*

Henri de Roslin war für heute endlich entlassen. Er hatte bis zuletzt ausgiebig das Kreditwesen des Tempels studiert. Die vielen Konten mussten geführt werden. Im Moment gingen Schenkungen von überall ein, die ordnungsgemäß verwaltet werden mussten. Die meisten Stifter beanspruchten einen geringen Gegenwert, um spätere Ansprüche von Erben abzuwehren. Gerade heute hatte ein Landlord eine ganze Region nördlich von London nebst der darauf liegenden Dörfer dem Tempel vermacht. Henris Präzeptor, der die Güter des Ordens in England verwaltete, hatte seinen jungen Leutnant bestimmt, die Region in der kommenden Woche zu inspizieren.

Es war bereits spät am Abend, die Sonne war verschwunden. Henri ging hinüber in die Tempelkirche. Sie war für die spirituellen Bedürfnisse aller Ordensbrüder des Tempels da und deshalb am Abend voll. Die Kaplansbrüder versorgten die schöne Kirche, gingen umher und zündeten immer neue Kerzen an. Henri blickte in die Höhe und sah, dass der Bau wirklich fast fertig hergestellt war. Nur noch unter dem Dach musste gestrichen werden. Auch in der Runde des Altarraums, an den sich das Mittelschiff anschloss, stand noch ein Holzgerüst vor den Fresken.

Henri liebte den heiter-luftigen Raum mit den steil aufsteigenden Gewölben, er kannte keine Kirche, in der er lieber gewesen wäre. Schöner war auch der Tempel Salomons in Jerusalem nicht und nicht die Grabeskirche. Vielleicht lag es daran, dass diese Kirche nach der gleichen geheimnisvollen Alchimie der Zahlen gebaut worden war. Henri hatte sich damit beschäftigt. Ihre Baumeister hatten mit diesem Rundbau die Anastasis nachahmen wollen, um den Geist Jerusalems zu spüren. Henri spürte diesen Geist mit allen Sinnen und mit jedem Herzschlag.

Henri betete. Dann fiel ihm plötzlich Neville of Gwyn ein. Er hob den Kopf und suchte ihn vergeblich in der Menge der betenden Brüder. Er würde ihn morgen darüber befragen, was er gewollt hatte. Nach einer Weile der Versunkenheit verließ er die Kirche.

In seiner Kammer lag ein Brief. Der Absender war der Abt von St. Albans. Henri kannte die Abtei nördlich von London und ihren Abt Thomas. Er wusste, dass der Abt dieses Klosters gleichzeitig der Erzabt von England war ein bedeutender Mann. Er hob den Brief verwundert auf und wollte das Siegel gerade aufbrechen, da stutzte er. Das Siegel hielt nur halb. Deutlich waren darunter Kratzspuren wie von einem Messer zu erkennen. Außerdem entdeckte er Flecken. Wer hatte den Brief hierher gelegt? Er hatte nur zu Neville of Gwyn engen Kontakt. Wollte der ihm tagsüber den Brief übergeben?

Henri öffnete das Siegel. Er las den Brief. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es ein Notruf war oder eine Warnung. Was wollte der Abt ihm nun wirklich mitteilen?

Henri überlegte. Erst in vier Tagen war Sonntag. Der Tag der Ruhe. Der stillstehende Tag. Da konnte er nach St. Albans reiten. Vielleicht konnte er gleichzeitig die geschenkten Güter inspizieren. Dann fiel ihm die Frau ein, die am Tag zu seinem Fenster emporgestarrt hatte. Hatte sie etwas von ihm gewollt? Ihr Gesicht fiel ihm ein. Es war jung, zart und schön gewesen. Ihre Gestalt im leichten Kleid war ihm im Wind zerbrechlich erschienen, wie bei einem Kind. Aber Henri war zu müde, um sich dieses Bild noch länger in Erinnerung zu rufen. Er kleidete sich aus und legte sich auf sein Lager. Wie schön, dachte er, dass unsere Templerregel uns Anspruch auf weiches Bettzeug gewährt. Er streckte sich aus. Draußen war es still.

*

Neville of Gwyn wachte auf und sah als Erstes, dass Giacomo in der Zimmerecke saß. Er sah eingeschüchtert aus.

»He, da bist du ja wieder! Was war los?«

»Möcht' nicht drüber sprechen, Herr. War nichts Schlimmes.«

»Nun sag schon.«

»Der Herr Bischof brauchte mich.«

»Was? Wozu?«

»Hatte einen kleinen Auftrag.«

»Er hat dich für eine Weile aus dem Verkehr ziehen wollen, was? Warum?«

»Musste den Brief hinlegen.«

»In das Zimmer von Henri?«

Giacomo nickte.

»Moment! Heißt das, du warst es, der den Brief aus meinem Zimmer gestohlen hat?«

»Nein, Herr. Das war ein anderer.«

»Bruder Robin?«

»Darf ich nicht sagen, Herr!« Giacomos Stimme klang jämmerlich.

»Nicke nur, wenn es stimmt.«

Giacomo nickte stumm.

»Giacomo, Giacomo!«, sagte Neville. »Hab keine Angst, dir passiert nichts, solange ich für dich sorge. – Wer gab dir die Anweisung dazu?«

»Darf ich nicht sagen, Herr.«

»Doch, du darfst. Oder ich entlasse dich.«

»Nein, nein! Nur nicht das! Dann sterbe ich!«

»Also sprich schon, du Narr!«

»Der Bischof.«

»Nun«, sagte Neville, »ich habe es mir schon gedacht. Dieser – na ja.«

»Was geschieht jetzt mit mir, Herr?«

»Mit dir? Gar nichts. Aber ich kann dir nicht mehr vertrauen, Giacomo. Das ist schlimm.«

»Sehr schlimm, Herr.«

»Ich kann dich nicht mehr bei mir behalten.«

»Ja, Herr.«