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„Und wenn es doch die Pest ist, die die Leute dahinrafft?“ – „Davor bewahre uns der Herrgott, mein Freund. Vor allem Euch, mein lieber Jude!“ Frankreich im Jahre 1318: Gemeinsam mit seinen Gefährten Joshua und Uthman begleitet der schottische Tempelritter Henri de Roslin den Knappen Sean ins bretonische Quimper. Dort hat dieser sein Herz an die schöne Angelique verloren. Doch das lang ersehnte Wiedersehen mit der Geliebten führt Sean nicht etwa in den siebten Himmel, sondern mitten in die Hölle – denn in der Stadt grassiert die Pest. Fällt auch Angelique ihr zum Opfer? Als die Not unter der Bevölkerung immer größer wird und eine rasende Panik um sich greift, wird plötzlich ein Sündenbock gefunden: Joshua, der Jude. Gelingt es Henri, das Leben seines Freundes vor dem Zorn der Bürger zu retten? Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!
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Seitenzahl: 448
Über dieses Buch:
Frankreich im Jahre 1318: Zusammen mit seinen Gefährten Joshua und Uthman begleitet Henri de Roslin, der schottische Templer, seinen Knappen Sean ins bretonische Quimper. Dort hat dieser sein Herz an die schöne Angelique verloren. Doch das lang ersehnte Wiedersehen mit der Geliebten führt Sean nicht etwa in den siebten Himmel, sondern mitten in die Hölle – denn in der Stadt grassiert die Pest. Fällt auch Angelique ihr zum Opfer? Als die Not unter der Bevölkerung immer größer wird und eine rasende Panik um sich greift, wird plötzlich ein Sündenbock gefunden: Joshua, der Jude. Gelingt es Henri, das Leben seines Freundes vor dem Zorn der Bürger zu retten?
Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!
Über den Autor:
Der in Dänemark geborene Philipp Espen ist ein ausgewiesener Kenner des Alltagslebens im europäischen Mittelalter. Er übersetzte unter anderem den Polycraticus des Johann von Salisbury ins Deutsche. Für die Tempelritter-Saga konnte er außerdem auf sein Expertenwissen zur englisch-schottischen Geschichte des Tempelritterordens zurückgreifen: Er erforschte für die Londoner Universität den ehemaligen Tempelbezirk in der City of London.
Philipp Espen lebt mit seiner Familie in England.
Für die Tempelritter-Saga schrieb Philipp Espen folgende Bände:
Die Tempelritter-Saga – Band 2: Der König muss sterben
Die Tempelritter-Saga – Band 4: Die Verschwörung von Toledo
Die Tempelritter-Saga – Band 6: Der Klostermord
Die Tempelritter-Saga – Band 12: Die Treue in Zeiten der Pest
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Neuausgabe Februar 2015
Copyright © der Originalausgabe 2006 bei Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Copyright © der Neuausgabe 2014 bei dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/bazzier und shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich
ISBN 978-3-95520-823-3
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Philipp Espen
Die Treue in Zeiten der Pest
Die Tempelritter-Saga
Band 12
dotbooks.
Frühling 1318. Verletzte Liebe
Die Luft im Gasthaus von Quimper war zum Schneiden. Die Stimmung unter den Gästen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Es war einer jener Abende, an denen jede Not vergessen wird, alle Sorgen zum Stillstand kommen und die Menschen sich in Sicherheit wiegen. Bootsleute und Steinmetze, Arbeiter der Bauhütte und Matrosen saßen zusammen, tranken und erzählten.
Die Kalvarienberge, die rund um die Stadt errichtet wurden, brachten Hunderten von Familien Arbeit und Brot. Und auch an der Kathedrale sollte weitergebaut werden. Dies wünschte neben dem asketischen Priester Josselin Rohan auch der Bischof von Brest, der sogar schon den neuen, hochfahrenden Turm gesegnet hatte. Die Zukunft der kleinen Hafenstadt an der Odet sah somit rosig aus. Jeder, der darum bat, bekam eine Anstellung. Schon machten die ersten Arbeiter Schulden, Tagelöhner ließen anschreiben, Geldwechsler stellten unbedenklich Kreditgeschäfte in Aussicht, die Zinsen stiegen. Und wer es sich leisten konnte, der trank, bis er unter den Tisch fiel.
Ein Sänger, der sich selbst auf einer Laute begleitete, saß auf einem der dicken Bohlentische und sang ein keltisches Liebeslied. Seine Stimme erhielt durch die fremde Sprache einen ungewohnt kehligen Klang. Der Vortrag erinnerte die Gefährten daran, dass Henris Knappe in diesem Augenblick vielleicht ebenfalls ein Liebeslied sang, für seine Angebetete, die er nach so langer Zeit endlich wiedersehen durfte. Die Gefährten lauschten dem Gesang und hingen ihren Gedanken nach.
Die letzten Wochen waren seltsam gewesen. Während ihres Ritts von Süden herauf hatten sich zwar keine größeren Zwischenfälle ereignet, doch die Freunde hatten die allgemeine Verwirrung, die in Frankreich herrschte, nicht übersehen können.
Hatte es mit dem Kometen zu tun, der seit Wochen am Himmel zu sehen war? Überall waren Henri de Roslin, sein Knappe Sean of Ardchatten und seine beiden Freunde Uthman ibn Umar und Joshua ben Shimon auf düstere Vorzeichen gestoßen. Auf Menschen, die nicht mehr ein noch aus wussten. Auf Geißler, Propheten, Henker und Hexenjäger. In der Champagne hatten zahlreiche Menschen ihre Häuser verlassen, um nach Lirey zu pilgern und das Leichentuch Christi anzubeten. Man erwartete das Ende der Zeiten. Viele Felder lagen brach, und wo noch ausgesät worden war, fraßen Vögel die Saat.
Die Gefährten versuchten zu vergessen. Joshua lachte verhalten auf. Er folgte seiner Angewohnheit, in die hohle Hand hineinzukichern. Henri und Uthman blickten den Freund überrascht an.
»Was ist, warum lachst du, mein Alter?«, fragte Uthman.
»Ich musste gerade an Sean denken. Ich sehe ihn vor mir, wie er seine Angelique anhimmelt und nicht weiß, ob er singen oder Flöte spielen soll, und vielleicht sogar versucht, beides gleichzeitig zu tun.«
»Joshua!« Henri bemühte sich, ernst zu klingen. »Du machst dich über einen liebeskranken Knaben lustig, das solltest du nicht. Erinnere dich an deine eigene Jugend.«
Joshua, der den Knappen besonders mochte, hörte auf zu kichern. »Vielleicht singt ja auch Angelique ein Lied für ihn. Und er überlegt dabei, ob sie begabt ist oder nicht. Die Sängerfeste in der Provence, die er in den letzten Monaten miterleben konnte, scheinen ihn immerhin gelehrt zu haben, schönen Gesang von schlechtem zu unterscheiden. Er ist selbstbewusst geworden, unser Sean.«
»Hoffentlich«, meinte Uthman. »Denn nichts ist lächerlicher als ein liebeskranker Gockel, der nicht merkt, wie schlecht er singt.«
»Wie die vielen Gecken in den engen, bunten Strumpfhosen, deren Gekrächze wir in Arles und den umliegenden Dörfern zu hören bekamen«, warf Henri lachend ein. »Aber ich wäre froh, wenn dies unsere einzige Sorge wäre.«
»Es ist nicht einmal einen Mondumlauf her, da entgingen wir knapp dem Tod«, erinnerte sich Uthman. »Die Provence ist ein Land der Wohlgerüche und ein Land des Lichts, aber damit scheint sie auch eine ganze Menge Gesindel anzuziehen, Raubritter und Unholde.«
»Es gab dort in der Tat zu viele Häscher, die uns verfolgten«, seufzte Henri. »Die Welt scheint nur noch aus Spionen zu bestehen.«
»Hier in der Bretagne ist zum Glück alles friedlich«, versuchte Joshua zu beschwichtigen.
»Freue dich nicht zu früh«, sagte Henri und blickte zum Eingang der Schenke hinüber. »Dort kommt Sean. Und ich sehe, er macht ein Gesicht, als sei ihm der Leibhaftige erschienen.«
»Tatsächlich! Was mag er haben?«
Henri winkte seinem Knappen zu. Die blonden Locken, die ihm in die Stirn hingen, wirkten wie leuchtende Farbtupfer vor seinem bleichen Gesicht. Mit hängenden Schultern steuerte er auf die Gefährten zu, und er begrüßte niemanden, als er an ihren Tisch trat. Joshua und Uthman bedachte er nicht einmal mit einem Blick.
»Es ist aus«, sagte Sean. »Ich bin am Ende. Wie konnte das nur geschehen? Was für eine Sünde habe ich nur begangen?«
»Langsam, mein Sean!« Henri packte seinen Knappen sanft an der Schulter und drückte ihn auf einen Schemel hinab. »Setz dich erst mal. Was ist passiert?«
Sean griff gierig nach Henris Becher mit Holunderblütensaft und nahm einen kräftigen Schluck. Erstaunt blickte er die Gefährten an, seine Augen wanderten von einem zum anderen, als sähe er sie alle zum ersten Mal. Die Gefährten merkten, dass der Junge in Gedanken woanders war.
»Ich befürchte das Schlimmste.«
»Sprich nicht in Rätseln, Sean!«, tadelte Henri. »Hat Angelique dich abgewiesen?«
»Dazu ist sie gar nicht mehr in der Lage.«
»Sprich deutlicher!«
»Angelique ist sehr krank«, sagte Sean. »Ich weiß nicht, was sie hat. Sie ist schwach und ganz bleich, sie liegt erschöpft in ihrem Bett, und ihr ganzer Körper glüht.«
»Hm. Sie war wohl zu lange im Kalten, hier im Norden geht selbst im Frühling ein ungemütlicher Wind.«
»Und unter den Achseln hat sie merkwürdige harte Knospen.«
»Harte Knospen? Was meinst du damit?«, fragte Joshua verwirrt.
»Angelique ist ganz weich. Weich und warm. Und ich liebe sie so sehr. Aber unter ihren Achseln bilden sich dunkle Knospen, die immer größer werden, und ich habe Angst davor, dass sie aufblühen.«
»Sean«, sagte Henri. »Jetzt rede zu uns wie ein Mann. Was ist es, das Angelique unter ihren Achseln hat?«
»Knoten. Feste, dunkle Stellen. Wenn man sie berührt, schreit Angelique vor Schmerz auf.«
Die Gefährten schwiegen und blickten einander betroffen an. Jeder dachte an etwas anderes. Aber es war nichts Gutes.
»Du hast diese Knoten selbst gesehen?«
»Ja, Herr Henri. Ich habe sie sogar angefasst. Ich war sogar der Einzige, der sie anfassen durfte! Der Einzige, der sie überhaupt zu Gesicht bekam. Sie hat solche Angst!«
Und das vielleicht zu Recht, dachte Henri bei sich. »Ist denn ein Medicus bei ihr?«
»Nein«, gestand Sean.
»Was ist mit ihrer Familie?«, wollte Henri wissen.
»Ihr Vater ist ja vor Jahresfrist gestorben, und ihre Mutter und ihre Schwester Maufra sind seit vorgestern in Brest. Sie besuchen dort die Jahresmesse im Auftrag der Buchmaler. Jean-François, ihr neuer Geselle, begleitet sie. – Oh, es ist furchtbar! – Angelique hat ihre Herberge an der Ausfallstraße nach Brest aufgegeben und liegt im Haus ihrer Eltern in der Buchmalergasse. Sie ist ganz allein. Der Hausbesorger kümmert sich nur um die notwendigsten Dinge. Und deshalb sollte ich bei ihr sein. Aber ich hielt es an ihrem Lager nicht länger aus.«
»Du bist weggelaufen?«
»Ich konnte ihr nicht helfen! Es ist etwas Furchtbares im Gange, Herr Henri! Hilf ihr!«
»Was soll ich tun? Ich bin kein Medicus.«
»Aber wir müssen ihr helfen! Sie ist ganz allein in dem großen Haus!«
»Ich werde den Stadtmedicus holen«, erbot sich Joshua. »Er soll nach dem Mädchen sehen.«
Sean zog ein Tuch aus der Rocktasche, auf dessen weißem Untergrund das Antlitz Angeliques abgebildet war. Ihr Vater hatte dieses Kunstwerk einst gemalt und es Sean als Andenken an seine Tochter geschenkt.
»Mir scheint, selbst dieses Bild sieht krank aus. Findet ihr nicht? Es ist seltsam. Auch hier scheint ihr Gesicht zu welken. Wirkt es nicht, als sitze der Schmerz darin?«
»Du übertreibst, Sean! Das ist nicht möglich. Geh jetzt besser in dein Zimmer und versuche zu schlafen. Du bist viel zu erregt.«
»Ich werde den Medicus suchen«, sagte Joshua.
»Wir werden beide gehen«, schlug Henri vor. »Du suchst den Stadtmedicus, und ich gehe in die Buchmalergasse. Dort führt dieser Magister, der Sean damals nach dem Überfall versorgte, ein Hospiz. Priziac hieß er, glaube ich. Ihn werde ich zu Angelique bringen. Du, Joshua, versuchst, den Stadtmedicus ebenfalls dorthin zu lotsen, du kennst die Adresse.«
»Gut, so machen wir es.«
»Joshua, sei vorsichtig. Du weißt, warum.«
»Ich weiß, was du denkst, Henri. Und ich hoffe, du täuschst dich.«
»Das hoffe ich auch, Joshua.«
*
Am Vortag hatte Henri Priester Rohan aufgesucht. Der mutige Mann hatte ihn vor Jahresfrist vor Nachstellungen geschützt, und für sein couragiertes Auftreten hatte Henri ihm nun noch einmal gedankt. Der damalige Zwischenfall war mittlerweile längst vergessen. Die umstrittene Kreuzreliquie wurde inzwischen in Saint-Corentin, der im Aufbau befindlichen Kathedrale von Quimper, gezeigt und lockte große Pilgerströme an. Henri wusste allerdings, dass die Reliquie eine Fälschung war.
Nach seinem Besuch bei Priester Rohan hatte Henri die Gelegenheit genutzt, auch die Offizin am Mont Frugy aufzusuchen, die er vor Jahresfrist aus Gründen der Tarnung betrieben hatte. Inzwischen arbeitete dort ein Tuchhändler, den Henri zwar nicht kannte, dem er aber dennoch viel Glück und Erfolg wünschte. In seine damalige Tarnung wollte er nicht mehr schlüpfen, er hatte sich in Quimper jetzt als einfacher Reisender auf dem Weg nach Schottland ausgegeben. Sollte ihn jemand wieder erkennen, wäre das nicht schlimm, dann hielt man ihn halt für den Tuchhändler Meister Henri, der mit zwei Mitarbeitern reiste. Das war ihm in jedem Fall lieber als die Rolle des Minnesängers, die er in der Provence gespielt hatte.
Während Henri nun durch die Straßen von Quimper ritt, spürte er seine Kräfte zurückkehren. Die Luft der Bretagne machte ihn frei. Hier fühlte er sich näher an seinen Wurzeln.
Auf dem Weg zum Hospiz von Magister Priziac kam Henri in der kleinen, überquellenden Stadt kaum vorwärts. Er sah rasch ein, dass es sinnlos war, sein Pferd in der Menschenmenge zur Eile zu drängen, und so nutzte er die Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Henri konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Zeit für den Weg vom Schanzentor zur Kathedrale aufgewendet zu haben. Sein Pferd wurde unruhig, und er musste den Falben kräftig zügeln.
Ganz Quimper schien an diesem Abend auf den Beinen zu sein. Henri bemühte sich, sein Pferd elegant und ohne einen Passanten zu verletzen durch die holprigen, engen Gassen zu lenken, die trotz der neu verlegten und festgestampften Flusskiesel von heftigen Gewitterregen aufgeweicht waren. Was hatten all die Menschen so spät am Tag miteinander zu schaffen?
Vielleicht witterten sie etwas, dachte Henri. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es Momente gab, wo so etwas wie Blutgeruch in der Luft lag. Es war ein Geruch, der allen in die Nase kroch und von dem jeder angestachelt wurde, nicht nur der Pöbel.
Vielleicht behinderten sich die Leute deshalb so eifrig, stießen sich an und schimpften miteinander, besonders wenn sie an einem der vielen hölzernen Laufbrunnen Halt machten, um sich zu erfrischen. Wenn der eine den anderen dabei aufhielt, griff so manche Hand drohend zu dem Schwert, das beinahe jeder männliche Einwohner von Quimper an der Seite trug.
Während Henri weiterritt, beschlich ihn das seltsame Gefühl, all das schon einmal erlebt zu haben. Als er die Menschen auf den Straßen genauer betrachtete, begriff er allmählich, was die Stadt aufwühlte.
Die einen kamen mit Banner und großem Gefolge, um das baldige Eintreffen des englischen Königs vorzubereiten, unter dessen Lehnsherrschaft Quimper ebenso stand wie die restliche Bretagne. Die anderen begannen mit den Kirchenfeiern zur Karwoche und trugen Weihestatuen aus Kalkstein in langen Gebetszügen zur Kathedrale. Die Handelshäuser wiederum ließen eine neue, breitere Straße durch die Stadt treiben; unförmige Baufahrzeuge auf hohen Speichenrädern waren schon aufgefahren und riegelten einen ganzen Bezirk ab.
Henri zügelte seine Ungeduld. Wenn es nur Angelique nicht schlechter geht, dachte er. Und wenn nur mein Verdacht sich nicht bestätigt. Nebenbei erfuhr er von einem Einwohner, der trotz der warmen Witterung eine Pelzkappe trug, dass die Kapelle mit der Kreuzreliquie noch in dieser Nacht geweiht werden sollte.
Inmitten des Trubels ergossen sich lange Pilgerströme in die Stadt. Die Pilger waren mit Filzhut, Stab, Pilgertasche und einem Reisesack ausgestattet, in dem bestimmt ihr Geleitbrief steckte, und alle kamen, um dem Reliquiar zu huldigen, einem Splitter des Heiligen Kreuzes, der bisher in der Kapelle des benediktinischen Nonnenklosters Notre-Dame-de-Locmaria, am anderen Ufer der Odet, aufbewahrt worden war. Nun schmückte das reich verzierte Kreuz, welches den Splitter barg, die Kathedrale und machte sie zu einem Wallfahrtsort für Pilger und Seefahrer.
Obwohl sie nicht echt ist, dachte Henri. Aber dann schüttelte er den Gedanken ab, er hatte sich vor Jahresfrist bereits ausreichend damit beschäftigt. Heute hatte er anderes zu tun.
Henri blickte nach oben. Selbst auf den hölzernen Galerien der umstehenden Häuser und hinter den Zinnen der Häuser mit Grabendächern standen Neugierige und beobachteten das Geschehen. In der Nähe der Kathedrale war es besonders voll, denn hier standen aufklappbare Verkaufsläden in Reih und Glied nebeneinander. Die ganze Nacht lang würden dort Waren verkauft werden.
Wie lange war er nicht mehr in einer so lebendigen Stadt wie Quimper gewesen! Auf dem Weg hierher hatten er und die Gefährten jegliche Städte gemieden, um eventuellen Häschern zu entgehen. Sie waren durch menschenleere Regionen gezogen und auf geheimen Wegen und Pfaden gereist.
Quimper wirkte wie eine Hafenstadt, obwohl das offene Meer ein paar Meilen entfernt lag und nur über die Odet zu erreichen war, die durch die Stadt floss. Henri hatte das Flair solcher Städte auf dem einsamen Ritt über Land vermisst – der Duft der vielen Menschen auf engem Raum, vor allem der Mädchen und jungen Frauen, stieg ihm, zusammen mit dem Geruch verdampfenden Regens im Straßenstaub, erregend in die Nase. Er musste an Marie denken, die er in Arles zurückgelassen hatte. In diesem Moment sah er sie ganz nah vor sich, und er merkte gar nicht, dass er aufseufzte. Marie war eine wunderbare Frau gewesen.
Henri versuchte, die Kathedrale nicht aus den Augen zu verlieren, hinter der die Buchmalergasse begann, wurde aber von der wogenden Menge abgedrängt. Der Weinmarkt am Rathaus war ebenso verstopft wie der Platz vor der Kathedrale. Widerstrebend schlug er eine andere Richtung ein. Wenn es nur Angelique nicht noch schlechter ging! Henri sah die junge Frau vor seinem geistigen Auge allein in ihrem Krankenbett liegen. Was konnte in wenigen Stunden nicht alles geschehen. Sean hätte sie nicht allein lassen dürfen!
An der fürstbischöflichen Residenz bemerkte Henri, dass zerlumpte Tagelöhner unter Anleitung städtischer Zunftarbeiter mit dem Abriss von Zuschauertribünen beschäftigt waren. Sie mussten für die große Hochzeit aufgestellt worden sein, die kürzlich hier stattgefunden hatte. Von einem Passanten hatte Henri erfahren, dass ein Cousin und eine Cousine des Herrschergeschlechtes der Adriennes sich vermählt hatten. Eintausend königliche und bretonische Reiter hatten sie zu Saint-Corentin geleitet, wo der Fürstbischof von Quimper ihnen das Sakrament der Ehe gespendet hatte.
Henri war jetzt völlig eingekeilt. Einen solchen Pilgerstrom hatte er noch nie erlebt. Henri stieg vom Pferd und versuchte, es am Zügel durch die Menge zu führen, aber auch das war kaum möglich.
Die Pilger waren aus allen Himmelsrichtungen gekommen. Die Seeleute waren in der Mehrheit, aber Henri sah auch Vertreter anderer Berufsgruppen und ständische Abgesandte unter gelben Sonnensegeln, Menschen aller Altersgruppen, Männer und Frauen, die hofften, auf der Wallfahrt geheilt oder von Dämonen befreit zu werden.
Überall tranken die Pilger Wein, der von den Theken der Weinstände ausgeschenkt wurde. Brauer in fleckigen Lederschürzen rührten daneben in großen Holzbottichen Bier an, das in großen Krügen an den Mann kam. Auf den Plätzen brannten Holzkohlenfeuer, auf denen Fische gebraten wurden. Ein geschlachteter Ochse drehte sich am Spieß über lodernden Flammen. Frauen rupften Federvieh und legten es in Töpfe über offenes Feuer. Schweine wurden aus einem Stall zum Metzger getrieben, und über allem hing der Geruch von Vergorenem, von Vieh, von Ausdünstungen und von Gebratenem.
Henri erblickte auch Kupplerinnen in der großen Menschenmenge. Sie sahen sich die Männer genau an, in denen sie Kunden witterten. Sie versuchten, die müden Pilger zu bestimmten Herbergen zu locken, schließlich mussten ja alle irgendwo unterkommen und ernährt werden. Und die Arkadengänge auf den Emporen der Kirchen, auf denen die Pilger während der großen Wallfahrten übernachteten, waren schon überbelegt. Selbst auf öffentlichen Plätzen lagerten Pilger. Aber die Kupplerinnen waren vor allem unterwegs, um junge, willige Mädchen anzubieten, Hübschlerinnen, die in den Frauenhäusern arbeiteten oder, von ihren Zuhältern beaufsichtigt, in gewissen Herbergen auf Besucher warteten.
Henri suchte Schleichwege und bog gleich hinter Saint-Corentin in stillere Gassen ein. Da er die gesamte Stadt durchqueren musste, gab er seinem Pferd unwillkürlich die Hacken.
Wieder kam er überhaupt nicht mehr weiter. Am Eingang zu dem Viertel, in dem Angeliques Elternhaus stand, hatte man eine Barrikade aus Balken und Karren errichtet. Henri musste leise fluchen, obwohl das sonst eigentlich nicht seine Art war. Hinter der Barrikade hantierten Maurer mit Kellen und Spitzeisen und rührten Mörtel in Bottichen an; über Seilwinden zog man zudem Gerüsthölzer an Häuserfronten empor. Die Straße hinter der Absperrung war aufgerissen, Erdarbeiter mit groben Kapuzen stapelten Kopf- und Quadersteine.
»Lasst mich durch bis zum Haus des Buchmalers. Ich muss zu seiner Tochter. Angelique Maxime ist krank und braucht die Hilfe des Medicus!«
Ein Arbeiter, dessen mageres Gesicht von Schmutz und Schweiß überzogen war, sagte: »Das ist traurig, Kaufmann, aber dennoch werdet Ihr einen Umweg nehmen müssen. Hier geht es nicht weiter, das seht Ihr ja.«
»Sagt mir, wie ich in die Gasse der Buchmaler gelangen kann!«
»Mit dem Pferd kommt Ihr überhaupt nicht hinein, mein Bester. Ihr müsst absteigen und das Viertel zu Fuß durchqueren. Aber auch das ist nur über den Zugang von Süden her möglich.«
»Aber bei dem Menschengewimmel wird es sicher eine geschlagene Stunde dauern, bis ich diesen Zugang erreiche!«
Der Mann wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Sicher. Aber so ist es nun mal. Wir feiern bald die Tage der Karwoche. Und das neue Reliquiar wird eingeweiht. Und meine Frau kommt zum achten Mal in die Wehen. Und bis es so weit ist, müssen wir uns eben durch die Stunden quälen, jeder von uns, einerlei, womit.«
»Hab Dank für deine kuriose Predigt! Wenn Angelique stirbt, bevor ich den Arzt alarmiert habe, komme ich zurück und werde dich mit meiner Art der Predigt bekannt machen!«
Der Arbeiter musterte Henri von oben bis unten, machte eine abfällige Geste und wandte sich dann wieder den Steinen zu.
Henri nutzte die Gelegenheit, stieg vom Pferd und zwängte sich über die Baustelle. Mehrere Arbeiter protestierten, aber Henri kümmerte sich nicht darum. Er wusste, dass er sich beeilen musste. Angelique brauchte Hilfe, und wenn sich sein Verdacht bestätigte, wäre bald auch die gesamte Stadt in Gefahr.
*
Als Joshua das Haus des Stadtmedicus verließ und auf die Gasse trat, zogen dunkle Wolken auf. Er sah sie in der abendlichen Dunkelheit nicht, aber er spürte sie. Sie brachten eine ungewöhnliche, feuchte Wärme mit sich. Ein Gewitter kündigte sich an. Es würde einige von Quimpers gewundenen, abfallenden Gassen sicher bald in Sturzbäche verwandeln. Joshua hörte die Glocken läuten, die den Kupferschmieden wegen des herannahenden Regens erlaubte, das Feuer in ihren Essen wieder zu entfachen.
Jetzt, wo sich das Gewitter so deutlich ankündigte, schienen die Menschen noch schneller zu hasten. Joshua war zu Fuß unterwegs. Er hatte nichts erreicht und war wütend darüber. Der Medicus sei nicht abkömmlich, hatte man ihm gesagt, er habe neue, ungewöhnliche Pulver zu studieren, aus denen wichtige Medikamente bereitet werden könnten, für Hausbesuche habe er keine Zeit. Joshua beschloss, Angeliques Elternhaus in der Buchmalergasse aufzusuchen. Vielleicht war Henri ja schon dort.
Kurze Zeit darauf erreichte Joshua das Buchmalerhaus. Die Mansarde, in der sich Angelique vermutlich gerade quälte, lag im überstehenden Obergeschoss eines dreistöckigen Ständerbaus mit roten Gerüsthölzern und hellgrünen Fachen. Über dem Eingang hing das Wappen der Buchmaler.
Henri war nirgends zu sehen, aber der Hausbesorger öffnete Joshua die Tür, als er ankam. Anschließend überreichte er ihm die Schlüssel zum Haus – er war über die nahende Hilfe bereits informiert worden. Der kleine ehrerbietige Mann, dessen Frau ihn um Kopflänge überragte, hieß André. Die beiden unteren Räume des Hauses waren sein Refugium, doch er weilte nur dort, wenn die Familie Maxime anwesend war oder ihn wie jetzt brauchte.
»Die arme Kranke liegt im ersten Stock, ein Herr und Medicus Priziac sind bereits bei ihr. Ihr wartet am besten unter dem Dach in der Mansarde, bis die Untersuchung beendet ist. Ich werde Euch rufen, sobald es so weit ist.«
Joshua war einverstanden und stieg die Treppe hinauf. Hinter verschlossenen Türen hörte er die Stimme Henris und die eines Fremden. Und zwischendrin vernahm er ein Stöhnen.
Im ersten Stock lag neben den Wohnräumen auch die Werkstatt des Buchmalers. Die Arbeit ruhte, das Haus war wegen der Messe in Brest verwaist, machte aber einen sauberen Eindruck.
Unter dem Dach war es warm. André hatte die Fenster nicht geöffnet. Joshua hing seine Mütze an einen hölzernen Wandzapfen. Er atmete den Geruch von Holz und Honigwachs ein, der dort in der Luft hing, und vernahm auch den feinen Geruch nach Öl, Leim und Farbe sowie nach gestärkten Bütten und Schwarzpulver, der von der Werkstatt heraufzog.
Joshua öffnete die hölzernen Klappläden der drei glaslosen Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Durch das bretonische Marienglas der drei übrigen Fenster fiel von draußen gedämpftes Licht von Kienspanfackeln in den Raum. Joshua blickte über die Dächer der Stadt bis zu den beiden schlanken, hoch aufragenden Türmen der Kathedrale: Die Wolken hatten sich geöffnet und ließen den blendend weißen Vollmond sehen. In der Ferne, dort, wo die immer breiter werdende Odet mündete, schimmerte das Meer.
Joshua lauschte nach unten. Noch immer drangen gedämpfte Stimmen herauf. Während er ungeduldig wartete, sah er sich in der Wohnung um.
Die Küche mit dem vertäfelten Einbauschrank und die Schlafkammer mit Strohsack, steifem Leinenzeug und Kissen wirkten aufgeräumt. Im Halbdunkel schienen die Gegenstände fast lebendig, als würden sie nur auf ihre Benutzer warten. Die karge Inneneinrichtung der ganz aus Holz gezimmerten Wohnstube mit ihren aufgemalten Bildern gefiel Joshua. Obwohl er zum ersten Mal hier war, schien ihm alles vertraut. Die Möblierung bestand aus einem runden Eichentisch, über dem sich ein hübscher Hängeleuchter befand, drei Faltstühlen mit Armlehnen und einem Sitz aus grünem Samt, einer abgetragenen Truhe mit Eisenbändern, einem Waschkästchen auf vier dünnen Beinen und einem schmucklosen, zweigeschossigen Kastenschrank. An einem Fenster stand ein Lesepult.
In einem Ofen mit grün lasierten Reliefkacheln, um den die Bank mit umlegbarer Lehne lief, war eine Reihe Schlagholz aufgeschichtet. Joshua setzte sich auf die Bank und wartete. Hier also war das Heim von Angelique und ihrer Familie. Konnte man in dieser gepflegten Umgebung tatsächlich krank werden? Joshua sah, dass auf die Bohlenbalken zweier Wände Naturszenen gemalt waren – Vögel und allerlei Phantasieblumen, eine Paradiesszene in leuchtenden Farben.
Nach einer Weile überlegte er, wie es wohl in der Werkstatt aussehen mochte. Er hatte einmal den Platz der Buchmaler in Toledo gesehen und sich nur schwer davon verabschieden können. Bislang hatte es solch prachtvolle Werkstätten nur in den Klöstern gegeben, mittlerweile jedoch erblühten sie in vielen reichen Städten des Südens, und auch hier in der Bretagne wurden immer mehr davon eröffnet.
Er stand auf und ging hinaus. Im Flur war es dunkel und stickig. Er stieg auf ausgetretenen Stiegen in die Werkstatt hinab, die bis auf den Raum, in dem Angelique jetzt lag, das gesamte erste Stockwerk einnahm.
Auch hier schien es Joshua, als ob die gesamte Einrichtung auf die Rückkehr ihrer Besitzer wartete. Es roch wunderbar. Aus dem Nebenraum drangen leise Stimmen zu ihm herüber, und er überlegte, ob er sich nicht doch bemerkbar machen sollte. Vielleicht konnte man seine Hilfe gebrauchen. Aber die Werkstatt zog ihn unweigerlich an, und schnell warf er noch einen Blick hinein.
Er nahm ein Buch aus dem Regal, das vor kurzem frisch ausgemalt worden sein musste. Die Farbe roch noch. Es war ein Liebesbrevier, das ein Handelsherr für seine jüngste Tochter in Auftrag gegeben hatte. Seit seinen Tagen in Toledo wusste Joshua, dass Handelsherren solche Aufträge oft vergaben, um die Künste und vor allem die Künstler einer bestimmten Stadt zu fördern.
Joshua blätterte in dem handgeschriebenen Buch und bestaunte die wunderbaren Miniaturen. Szenen des Alltags, der Frömmigkeit, der Lustbarkeit. Gerahmt von Arkanthusblättern und Blumen auf Goldgrund. Wer auch immer dieses Buch ausgemalt hatte, war ein Meister!
Joshua legte es ins Regal zurück. Er seufzte auf. Jetzt war keine Zeit für Schönheit und Kunst. In diesem Haus bahnte sich etwas Schlimmes an. Es war deutlich zu spüren.
Er trat auf den dunklen, kühlen Flur des Hauses. Im gleichen Moment ging nebenan eine Tür auf, und Henris Stimme rief:
»Joshua? Bist du hier? Der Hausbesorger sagt ...«
»Hier bin ich, Henri! Ich bin gerade gekommen.«
»Ist der Stadtarzt bei dir?«
»Nein, er hat keine Zeit für Hausbesuche. Aber du hast den Magister mitgebracht, wie ich hörte?«
»Ja, er hat sich sofort bereit erklärt, mitzukommen. Ich habe ihm meinen Verdacht noch nicht genannt, er wird sich sein eigenes Bild machen.«
Als Joshua das Krankenzimmer betrat, spürte er, wie sich ein dunkler Schatten auf sein Gemüt legte.
Frühling 1318. Die Tiere
»Können wir sie hier pflegen, Magister Priziac?«
»Wie wollt ihr das anstellen? Ihr bekommt kein einziges Medikament, in Quimper wird alles streng kontrolliert. Die Apotheker werden euch nichts geben. Und ich habe euch ja erklärt, unter welchen Schmerzen die Kranke leidet. Nein, sie kommt in mein Spital. Es ist nicht weit von hier. Ich lasse sie dahin transportieren.«
»Es ist ein schwerwiegender Verdacht«, sagte Joshua. »Müssen wir nicht die Boten des Vogts verständigen?«
»Ich bin dazu nicht verpflichtet. Nur die Wundärzte müssen Verletzte unverzüglich dem Rat melden – und natürlich die Schneidärzte, wenn jemand im Leichenschauhaus landet. Aber das werden wir in diesem Fall hoffentlich vermeiden können. Die Vögte würden die Arme ohnehin nur ins Hauptsiechenhaus einweisen, und dort müsste sie sich ein Bett mit zwei anderen Kranken teilen – über die hygienischen Verhältnisse wollen wir lieber gar nicht reden.«
»Die Krankheit könnte ansteckend sein, wenn sich unser Verdacht bestätigt«, warf Henri ein. »Sie könnte sich binnen Tagen ausbreiten.«
»Ja, natürlich. Wir dürfen diesen Verdacht nicht außer Acht lassen. Ich werde die Offizin des Stadtvogts vorsichtshalber darüber informieren. Aber später, zunächst muss ich ganz sicher sein. Wie Ihr wisst, gehörte Angeliques Vater zu Lebzeiten zu den unteren Räten der Stadt, die Familie Maxime ist daher sehr angesehen. Im Spital hat die Kranke jedenfalls die beste Pflege. Ich kann ihre Wunden mit allen Präparaten, Opiaten und Laxantien behandeln. Selbst wenn sie sterben sollte, ist sie dort bestens aufgehoben. Die Stadtboten kommen später dran, ich werde mich darum kümmern.«
»Magister Priziac, Angelique darf nicht sterben! Mein Knappe liebt sie. Ihr Tod würde ihn umbringen.«
Der Magister hob die Augenbrauen. »Es schmerzt mich, das zu hören, aber vor Liebesgefühlen hat eine solch schwere Krankheit noch nie Halt gemacht.«
Henri seufzte. Dass Priziac Recht hatte, wusste er nur allzu gut.
Der Magister fuhr mit seiner Arbeit fort. »Reicht mir bitte noch einmal das Wasser, damit ich ihren Körper ausreiben und auswaschen kann. Und auch Alrauntropfen, bitte.«
Während Priziac Angeliques ausgemergelten und vor Hitze glühenden Körper abrieb, hielten sich Henri und Joshua im Hintergrund. Es herrschte eine beklommene Stille, in der jeder seinen Gedanken nachhing.
»So«, sagte Priziac, als er seine Behandlung beendet hatte. »Mehr kann ich im Moment nicht tun. Ruft die vierzehn Nothelfer oder den Heiligen Achatius an, wenn ihr wollt.«
»Magister«, sagte Henri, »ich weiß, dass es nicht gut um die Kranke steht, aber tut trotzdem Euer Bestes. Und scheut keinen Aufwand, wir zahlen alles!«
Der Arzt schloss das Fläschchen mit dem Alraunenöl und blickte dann zu Henri auf. »Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit, aber über Geld wollen wir nicht reden. Ich bin kein Bader oder Pfuscher.«
»Aber ...«, protestierte Joshua, doch er wurde von Priziac unterbrochen.
»Als einer der Stadtärzte erhalte ich ein jährliches Gehalt von 30 Sous, dafür kümmere ich mich um jeden, egal, ob arm oder reich. Ob einer überlebt oder nicht, liegt ohnehin nicht in meiner Hand. Sollte dieses Mädchen hier wieder gesund werden, müsst ihr unserem Schöpfer danken. Ich bin nur ein Werkzeug des Herrn.«
»Damit mögt Ihr Recht haben«, sagte Henri. »Und das werden wir sicher tun. Aber, ich bitte Euch, bedenkt noch einmal, was Ihr tun wollt. Wenn die Tochter des Buchmalers die Krankheit hat, von der ich glaube, dass sie in ihr steckt, dann gnade uns Gott! Wollt Ihr sie wirklich in Euer Spital bringen?«
»Meine Herrn, ich glaube, es ist besser, von diesem leidigen Verdacht nicht mehr zu sprechen. Lasst uns hoffen, dass er sich nicht bestätigt, und zum Herrgott beten, dass er etwas Ähnliches, wie diese schlimme Seuche, die vor mehr als sechshundert Jahren hier gewütet hat, von uns fern hält.«
»Ich denke, das wird uns am besten gelingen, wenn wir die Kranke hier behalten«, warf Joshua ein. »Wenigstens so lange, bis wir Klarheit haben!«
»Und wer soll sich solange um sie kümmern?«
»Das machen wir«, sagte Henri. »Wir haben keine Angst vor der Krankheit. Und mein Gehilfe Joshua besitzt große Heilkenntnisse. Er wird sie betreuen.«
»Joshua?« Priziac runzelte die Stirn, als er den Namen hörte. »Seid Ihr Jude?«
Joshua wurde bleich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich war es einmal. Aber ich bin konvertiert.«
»Ah, das ist gut. Denn Juden sind in dieser Stadt nicht gern gesehen. Schon gar nicht, wenn bald eine Seuche ausbrechen sollte. Ich brauche Ihnen sicher kaum zu erklären, was die Leute dann denken würden.«
Henri war sich nicht sicher, ob Priziac sie warnen oder ihnen drohen wollte. Daher sagte er einfach: »Wir pflegen Angelique, solange es geht.«
Der Magister schloss seine Tasche. »Gut. Ich lasse sie hier. Aber ihr müsst mir garantieren, zweimal am Tag ins Spital zu kommen und mich über ihren Zustand in Kenntnis zu setzen! Und ich komme jeden Morgen herüber und schaue sie mir an. Zudem schicke ich euch eine Pflegerin, die sie wäscht, denn ihr werdet das kaum übernehmen können.«
»Danke«, sagte Henri, »und seid unbesorgt. Wir werden uns an all Eure Vorschriften halten.«
Der Medicus verschwand. Eine Stunde später erschien die Pflegerin im Haus des Buchmalers. Sie trug einen langen, braunen Kittel und aus Sorge vor schlechten Ausdünstungen einen Atemschutz vor Nase und Mund. Sie legte die Kranke vorsichtig auf eine Bahre, reinigte das verschwitzte Bett und trug das abgezogene Linnen hinunter. Angelique war fast die ganze Zeit über nicht bei Bewusstsein gewesen, doch kurz nachdem die Pflegerin gegangen war, kam sie zu sich. Sie erkannte die beiden Männer an ihrem Lager und fragte schwach:
»Wo ist ...?«
»Er kommt später«, beruhigte Henri die Kranke.
Angelique wollte etwas erwidern, schloss aber entkräftet die Augen und verlor erneut das Bewusstsein.
»Lassen wir sie schlafen«, sagte Joshua. »Sie hat viel Kraft verloren. Sie kämpft mit einem inneren Dämon, der sie vergiftet. Wenn sie schläft, kann sie sich besser gegen ihn wehren.«
»Das klingt in meinen Ohren ziemlich widersinnig«, meinte Henri.
»Es ist aber so. Ich habe viel darüber gelesen. Beim Schlafen konzentriert sich der Kranke ganz auf die Kräfte, die ihn bedrohen.«
Die beiden Gefährten setzten sich zu beiden Seiten des Krankenlagers nieder. Angelique trug ein weißes Nachthemd, ihr Hals war von einem Wolltuch umwickelt. Sie lag ausgestreckt und willenlos auf dem Strohlager, und ihr Körper war bis zum Kinn von einer Decke bedeckt. Sie schien gleichzeitig zu frieren und zu schwitzen.
»Was hältst du von dieser Krankheit, Joshua? Du hast so viel gesehen und gelesen. Was sagen deine Heilkenntnisse?«
»In der Bibliothek von Toledo las ich einmal ein Buch von Evagrius Scholastikus aus Antiochia. Der Autor beschrieb darin eine Epidemie, die im Winter des Jahres 543 in Asien, Dalmatien, Italien, Spanien und Nordafrika grassierte. Tausende starben, insbesondere in den Hafenstädten des Mittelmeers. Der Schiffsverkehr und Menschen, die sich mit der Krankheit infiziert hatten und aus den Elendsgebieten flüchteten, sorgten für eine rasche Ausbreitung der Seuche. Evagrius nannte sie das Justinianische Feuer, aber die Kranken litten unter anderen Symptomen als Angelique. Zwar hatten auch sie Knoten, die blutig anschwollen, Unterblutung der Haut, Drüsenschwellungen und Gelenkschmerzen, wie Magister Priziac sie hier diagnostiziert hat, aber wenn es sich um die Seuche handelte, die Evagrius beschrieb, müsste Angelique auch Wahnsinnsanfälle und Lähmungen bekommen und Traumgesichter haben. Doch sie schläft jetzt so ruhig.«
»Wir müssen sie weiter beobachten. Am besten abwechselnd. Und vielleicht übertreiben wir es auch mit unserer Sorge. Evagrius schrieb immerhin von einer Krankheit, die vor achthundert Jahren grassierte. Seitdem scheint sie nirgendwo mehr aufgetreten zu sein. Daher ...«
»Das stimmt nicht. Sie trat anschließend noch mehrmals auf. In den Jahren 577 und 750 in Italien. Aber die Ausbreitung hielt sich in diesen Fällen wohl in Grenzen, das heißt, sie verbreitete sich nicht so weit wie im Jahr 543. Dennoch waren ganze Städte und Landstriche betroffen, und viele Menschen starben.«
»Sch, Joshua. Schau, Angelique bewegt sich. Wie rissig ihre fiebrigen Lippen sind! Lass uns ihr etwas zu trinken geben, sie scheint sehr durstig zu sein.«
»Befeuchte nur einen Schwamm«, riet Joshua seinem Freund. »Dieser Durst ist nicht zu stillen. Er gleicht einem Fieber, das den Körper von innen her auszehrt. Wenn sie zu viel Flüssigkeit bekommt, ist es auch nicht gut.«
»Was empfahl Evagrius gegen das Fieber?«
»Gar nichts. Man betrachtete die Seuche damals als Strafe Gottes, von der man glaubte, dass man sie nicht zu bekämpfen hatte, sondern als notwendig ansehen musste, damit alle Sünden und Ausschweifungen vergeben werden konnten.«
»Hm«, entgegnete Henri gedankenverloren. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber der Magister wird sicher wissen, womit er es zu tun hat, oder was meinst du?«
»Ich glaube, er tappt im Dunkeln. Dieses Justitianische Feuer ist mittlerweile so gut wie vergessen. Keiner der hiesigen Mediziner wird sie kennen oder je von ihr gehört haben. Gerade das macht sie ja so gefährlich.«
»Können wir uns anstecken, Joshua?«
»Natürlich. Wir wissen ja auch nicht, wo diese Krankheit herkommt und wie sie weitergegeben wird. Vielleicht sind wir schon infiziert. Genaueres können wir nur aus Angeliques weiterem Befinden schließen. Wir müssen abwarten, was in den nächsten Stunden und Tagen mit ihr geschieht.«
»Wenn sie stirbt – sterben wir dann auch?«
»Das ist möglich. Aber es muss nicht sein. Wie gesagt, wir wissen nicht, wie sich diese Krankheit überträgt.«
»Sie hustet! Richten wir sie auf. Sonst erstickt sie womöglich.«
»Sie hustet ihr Fieber aus sich heraus. Das ist gut so. Huste nur, Angelique! Huste uns dein Fieber entgegen. Dann wird dir leichter werden!«
Nach dem Anfall wurde die Kranke ruhiger. Sie lag jetzt still auf ihrem Lager. Ihr Nachtkleid wurde allerdings immer feuchter. Angelique war glühend heiß. Und nach einer Weile trat ein, was Joshua befürchtet hatte: Die Gefährten sahen, wie die Kranke ihre Augen öffnete. Darin war jedoch nur das Weiße zu erkennen, die Pupillen waren verschwunden. Und dann fuhr Angelique mit einem Ruck in die Höhe. Sie schoss förmlich empor, hob ihre Arme und rief:
»Nein, nein! Ich will nicht!«
»Still doch, Mädchen!« Joshua versuchte, sie in die Kissen zurückzudrücken. Doch Angelique wehrte sich mit ungeahnten Kräften und stieß ihn zurück.
Anschließend wurde ihr Körper weiß und starr. Wie unter Krämpfen saß sie auf ihrem Lager. Sie begann zu zittern, ihre Augen rollten, Schaum trat vor ihren Mund. Dann sackte sie in sich zusammen und fiel auf ihr Bett.
Joshua fuhr über ihre Stirn, und Henri wischte ihre Lippen ab. Anschließend deckten die beiden Angelique wieder zu. »Ich befürchte das Schlimmste«, sagte Joshua leise.
»Was meinst du?«
Joshua nickte. »Es geschieht genau das, was Evagrius beschrieb. Ich kann mich täuschen, und noch können wir abwarten. Aber Angeliques Zustand verschlechtert sich zusehends.«
»Sollen wir den Arzt zurückholen?«
»Nein, warten wir. Aber unsere Hoffnung können wir, glaube ich, begraben. Ich befürchte, Angelique hat die Pest.«
*
Joshua blieb am Krankenlager zurück, während Henri zur Herberge zurückkehrte. Dort angekommen wäre er beinahe über eine tote Ratte gestolpert, die kurz vor Seans Zimmertür lag. Er schob das außergewöhnlich große, pelzige Tier mit dem Fuß beiseite und betrat Seans Kammer. Der Knappe blickte ihm aus geröteten Augen entgegen.
»Was ist mit Angelique, Herr Henri, wie geht es ihr?«
Henri setzte sich und blickte Sean lange an. Dann sagte er: »Wir wissen nur, dass sie sehr krank ist. Magister Priziac ist bei ihr gewesen. Er wollte sie in sein Spital mitnehmen, aber Joshua und ich glaubten, dass sie im Buchmalerhaus besser aufgehoben ist. Joshua ist jetzt bei ihr. Er verfügt über sehr viel Heilwissen, er wird ihr sicher helfen können.«
»Wird sie sterben?«
»Wir müssen abwarten. Noch ist zu es früh für solch düstere Gedanken. Schon morgen kann Angelique vielleicht wieder gesund sein.«
»Machst du mir auch nichts vor, Herr Henri?«
Henri seufzte innerlich. Er konnte Sean unmöglich die Wahrheit sagen. Er würde daran verzweifeln. Also wich er der Frage seines Knappen aus, so gut er konnte. »Warten wir bis zum Morgengrauen. Der Erfahrung nach erholen sich auch scheinbar schwer Kranke oft schnell. Wenn nicht, dann muss Magister Priziac das Nötige tun.«
»Ich kann nicht bis morgen warten! Warum gibt es etwas so Furchtbares wie Krankheiten überhaupt? Will Gott uns damit wirklich für unsere Sünden strafen, wie die Priester es immer sagen?«
»Ich weiß es nicht, Sean. Meiner Erfahrung nach ist es wahrscheinlicher, dass Krankheiten durch bestimmte Umstände bedingt werden, etwa durch Schmutz und Elend. Und diese Umstände sind veränderbar – von uns Menschen. Aber ich bin kein Medicus, und ich habe noch nicht viele Krankheiten erlebt. Niemand weiß, woher die großen Seuchen kamen, die früher auf Erden gewütet haben. Ihr plötzliches Auftauchen und ebenso plötzliches Verschwinden lassen tatsächlich eine Gottesstrafe vermuten. Vielleicht liegen die Ursachen für solche Seuchen aber auch woanders verborgen, und wir konnten sie nur noch nicht finden.«
»Wir müssen sie aber finden!«
»Das versuchen die Medici. Aber sie müssen aufpassen, dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Die Kirche ist sehr empfindlich.«
Als Sean gerade etwas erwidern wollte, polterte Uthman in die Kammer. »Wir scheinen nicht gerade in einem sauberen Haus abgestiegen zu sein«, beschwerte er sich. »Draußen liegen zwei tote Viecher herum.«
»Zwei Ratten?«, stieß Henri überrascht hervor. »Eben war es doch nur eine. Seltsam, ich muss die zweite wohl übersehen haben.«
Sie traten auf den Flur. Die beiden Ratten lagen übereinander, als hätten sie sich in Todesangst zusammengekauert. Und aus ihren Schnauzen sickerte Blut.
*
Nachdem Henri seinen Knappen zum Herbergswirt geschickt hatte, damit er diesen bat, die verendeten Tiere zu beseitigen, nahm er Uthman mit in seine Kammer und erzählte ihm von Joshuas Verdacht.
Kurz danach hörten die Gefährten vom Flur her die Stimme des Wirts, der lautstark sein sauberes Haus verteidigte und nicht glauben wollte, dass es dort auch nur eine einzige Ratte gab. Als Sean ihm die toten Tiere zeigte, war er empört und kündigte an, die Schlingel, die ihm die Ratten untergeschoben hätten, zu finden und ihnen die Ohren langzuziehen.
Uthman und Henri schwiegen, solange sie Geräusche vom Flur her vernahmen. Erst als sie hörten, dass Sean wieder in seine Kammer gegangen war, sprachen sie weiter.
»In meiner Heimat hat es Epidemien gegeben, von denen im Abendland noch nie jemand gehört hat«, sagte der Sarazene. »Lange Zeit traten sie immer wieder auf. Doch irgendwann gelang es unseren Ärzten, sie in den Griff zu bekommen.«
»Arabische Ärzte haben die Pest besiegt?«, fragte Henri ungläubig.
»Unsere Ärzte sind groß. Der größte war Ibn Sina, der in Isfahan lehrte und arbeitete und seine Erkenntnisse niederschrieb. Arabische Mediziner unterliegen nicht so großen Beschränkungen wie die Medici des Abendlands. Sie hatten nie Scheu davor, Tote zu öffnen und in ihr Inneres zu blicken. Sie besitzen daher ein genaues Bild vom Menschen – von außen ebenso wie von innen. Deswegen werden in meiner Heimat viele Krankheiten früh entdeckt, und man kennt nun Abwehrmaßnahmen und Heilmittel dagegen.«
»Wenn Angelique wirklich von der Pest befallen ist, dann ist die ganze Stadt bedroht. Was können wir dann tun?«
»Die Pest ist nicht heilbar«, sagte Uthman. »Sie ist aber keine Strafe Gottes, wie es früher oft vermutet wurde, sondern sie entsteht durch eine Vergiftung des Blutes.«
»Wie muss man sich das vorstellen? Was geschieht im Körper?«
»Ich bin kein Gelehrter. Aber durch die Lektüre der Schriften von Ibn Sina weiß ich, dass wir überwiegend aus Flüssigkeit bestehen.« Als Henri bei dieser Behauptung die Stirn kraus zog, wiederholte Uthman seine Worte, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. »Ja, aus Flüssigkeit!«, sagte er. »Es gibt insgesamt vier Körpersäfte: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Diese Säfte stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, und manchmal kann es geschehen, dass dieses Verhältnis durcheinander gerät. Woran das liegt, weiß niemand. Wenn es aber zu einem Überschuss von feuchtwarmem Blut im Körper kommt, besteht die Gefahr, dass die inneren Organe faulen. Ibn Sina hielt das für den Auslöser von Seuchen wie der Pest. Er nahm an, dass schlechte Gerüche und Ausdünstungen oder faulige Nahrung den Blutüberschuss im Körper fördern und die Fäulnis begünstigen, verstehst du?«
»Ich verstehe leider nicht viel von Medizin«, gab Henri freimütig zu. »Aber kann dann nicht auch fauliges Wasser aus alten Brunnen oder stehenden Gewässern die Luft verderben und die Krankheit fördern?«
»Natürlich, ebenso wie Tierkadaver und menschliche Leichen. Wir müssten herausfinden, ob in Quimper in letzter Zeit besonders viele Kadaver angefallen sind und wie sie entsorgt wurden. Oder ob ein Erdbeben stattgefunden hat, denn auch dabei wird schlechte Luft freigesetzt.«
»Ich kann mir das kaum vorstellen. Eher scheinen mir die schlechten Winde gefährlich zu sein.«
»Auch das ist nicht falsch, Henri. Als besonders gefährlich gelten die feuchtschwülen Südwinde.«
»Aber die gibt es hier nicht.«
»Ich weiß. Aber wie du bereits sagtest, auch die faulige Luft über stehenden Gewässern und Sümpfen steht im Verdacht, die Verbreitung schlechter Ausdünstungen, die man übrigens Miasmen nennt, zu begünstigen. Und auch der Atem von bereits Erkrankten soll unseren Medici zufolge die Krankheit fördern, sie prüften daher den Puls der Kranken immer mit abgewandtem Gesicht.«
»Du meinst, ein Kranker kann einen Gesunden mit seinem Atem – oder seinem Husten – infizieren?«
»Das ist zu befürchten.«
Henri stöhnte innerlich auf, erzählte Uthman jedoch nichts davon, wie Angelique ihn und Joshua angehustet hatte. Er fühlte nur, wie ihm plötzlich heiß und schwindlig wurde, und fragte: »Wie wird eine solche Krankheit, wenn sie zum ersten Mal auftritt, übertragen? Woher kommt sie?«
»Das weiß niemand. Unsere Ärzte ordneten bei Epidemien allerdings an, die Kranken zu isolieren. Man schickte die Gesunden aus der Stadt fort, sodass sich die Krankheit nicht über die Stadtgrenzen verbreiten konnte und nach einiger Zeit starb.«
»Aber woher kommt die Pest? Warum taucht sie plötzlich einfach irgendwo auf?«
»In Cordoba hörte ich, dass ein ungünstiger Stand von Himmelskörpern einen Ausbruch begünstigen könne. Wenn die drei oberen Sterne, also Mars, Jupiter und Saturn, in einer bestimmten Stellung zueinander stehen, saugen sie krank machende Ausdünstungen von Meer und Land in die Luft, erhitzen und verderben die Winde und schicken sie so wieder auf die Erde zurück. Werden diese Winde vom Menschen eingeatmet, sammeln sich giftige Dämpfe in Herz und Lunge, werden zu einer Giftmasse und verseuchen den ganzen Körper.«
»Ich weiß nicht, Uthman, das hört sich abenteuerlich an.«
»Es ist eben nur eine Theorie. Aber du solltest wissen, dass viele arabische Gelehrte, deren Schriften ich in Cordoba studiert habe, davon ausgehen, dass die Konstellation der Sterne den Ausbruch von Krankheiten beeinflusst. Astrologie ist eine seriöse Wissenschaft und an den islamischen Schulen sogar medizinisches Lehrfach.«
»Das mag stimmen. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass sich unsere abendländischen Mediziner mit Astrologie beschäftigen. Viel eher werden sie über solche Theorien lachen. Wenn ich allerdings an den Kometen denke, der uns auf unserem Weg von Süden her die ganze Zeit über begleitet hat, diese blutigrote Fackel, die uns alle so erregt und besorgt hat – wer weiß, vielleicht ist doch etwas dran an deiner Sternentheorie.«
»Es ist nicht meine Sternentheorie! Ich gebe lediglich wieder, was ...«
Henri, der befürchtete, dass eine längere Diskussion über Astrologie zu nichts führen würde, fiel seinem Freund ins Wort. »In Ordnung, Uthman, ich glaube dir ja. Aber eines haben wir immer noch nicht geklärt. Woher kommt die Pest? Das ist das Einzige, was wir im Moment wissen müssen.«
Uthman blickte verzweifelt. »Ich weiß es nicht, Henri! Bei Allah, ich habe nicht die geringste Ahnung!«
*
Joshua wusste nicht mehr weiter. Er hatte André, der die ganze Zeit über unten in seiner Kammer gesessen und sich ängstlich gefragt hatte, was wohl geschehen würde, zu Magister Priziac geschickt. Angelique hatte begonnen, Blut zu spucken.
Als Priziac ein weiteres Mal im Haus des Buchmalers erschien, schwang er seine schwere Arznei- und Instrumententasche mit mehr Elan auf das Fußende von Angeliques Lager, als Joshua es ihm aufgrund seines müden Gesichts zugetraut hätte. Angelique war blutbesudelt, ein feiner roter Faden rann noch immer über ihr Kinn unter dem weit aufgerissenen Mund. Offenbar bekam die junge Frau nun auch schwer Luft.
»Sie hat zu viel Blut in sich«, folgerte der Arzt bei diesem Anblick. »Es drängt bereits nach draußen. Wir werden die Kranke zur Ader lassen müssen, um die überquellende Flüssigkeit zu reduzieren.« Priziac zog ein Messer und mehrere Tücher aus seiner Tasche und machte sich sogleich ans Werk. Anschließend flößte er der Kranken ein Brechmittel ein. »Wir müssen alle Fäulnisgase und alte, faulige Essensreste aus ihrem Körper eliminieren«, erklärte er. »Mein Gott, wie kann ein so schöner Leib innerlich so verfault sein? Aber was nützt mein Gejammer. Ich kuriere sie, ich kuriere sie! Und wenn ich die Fäulnis mit meinen eigenen Händen aus ihrem Körper reißen muss!«
»Kann ich etwas tun?«, fragte Joshua.
»Lasst den Hausbesorger heißes Wasser machen. Und holt Holzscheite und eine Flamme herauf, ich will ein kleines Feuer machen.«
»Wozu? Was bezwecken Ihr damit?«
»Fragt nicht! Macht schon!«
Joshua lief hinunter. André blickte ihn fragend an, doch Joshua schüttelte nur den Kopf und gab Priziacs Anweisungen weiter. Die Holzscheite, von denen glücklicherweise reichlich vorhanden waren, weil sie zum Feuern des Ofens verwendet wurden, trug Joshua selbst hinauf. Wenig später folgte André mit einem brennenden Reisig.
Priziac legte die Hölzer in drei Stößen aus und entzündete sie eigenhändig. »So reinigen wir die verseuchte Luft«, erklärte er. »Wenn ich das heiße Wasser habe, werde ich das Zimmer außerdem mit Essigwasser auswaschen, das vertreibt die Ausdünstungen. Wir sollten die Kranke zudem höher legen. Fasst an, Ihr Herren.«
Priziac schob ihr zwei weitere Strohsäcke unter Angeliques Körper. »Haltet das Mädchen fest. Je höher es liegt, desto besser. Schlechte Luft steigt nach oben, so können wir hier unten davon nicht angesteckt werden.«
»Hilft das wirklich?«, fragte Joshua.
»Natürlich! Wenn das nicht hilft, dann hilft gar nichts. Oder habt Ihr vielleicht einen besseren Rat?«
Angelique lag unbeweglich und bleich in den Kissen. Obwohl das innere Fieber sie verzehrte, wirkte ihr Gesicht wächsern. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Atem ging flach und schnell. Offenbar begegneten ihr keine Traumgestalten mehr, aber manchmal zuckten ihre Lider.
Joshua beobachtete die junge Frau aufmerksam, dann sagte er: »In Toledo hörte ich davon, dass Hunde die Krankheit übertragen können.«
»Hunde? Unsinn!«
»Es wäre doch denkbar! Hunde sind schmutzige Tiere, sie lungern überall herum ...«
Der Magister hielt einen Augenblick lang inne und blickte Joshua spöttisch an. »Ja, spinnt Eure Schmutztheorie nur weiter. Als Nächstes werdet Ihr mir dann wohl erzählen, dass Ratten die Seuche übertragen! Doch egal, was Ihr sagt, Tatsache ist, dass wir nicht wissen, wie die Krankheit übertragen wird. Daher können wir auch kaum etwas dagegen tun. Wir können allerdings dafür sorgen, dass die Kranken nicht sich selbst überlassen bleiben und wir sie so elendig ausstoßen, wie Tiere das bei ihresgleichen tun. Lasst uns daher nicht unnütz diskutieren. Öffnet bitte das Fenster dort drüben, das nach Norden zeigt, der frische Seewind von dort wird uns helfen, die Ausdünstungen zu vertreiben.«
Der Magister begann unterdessen, heißes Essigwasser im Zimmer zu verspritzen, dessen säuerlicher Geruch sich schnell ausbreitete. Schließlich war er zufrieden: »So, das hätten wir. Jetzt kann nichts mehr passieren.«
»Wie lautet eigentlich Eure Diagnose, wenn ich fragen darf?«, entgegnete Joshua daraufhin, den die selbstgefällige Art des Magisters mehr und mehr erzürnte.
Dieser war angesichts des offensichtlichen Zweifels an seiner Kompetenz nicht weniger ungehalten. Unwillig blickte er Joshua an. »Die Kranke leidet unter einer Vergiftung des Blutes. Wodurch sie entstanden ist, kann ich erst sagen, wenn sie zu Verstand kommt und sprechen kann. Wenn sie erwacht, versuchen wir, sie zum Lachen zu bringen, denn durch Freude, Heiterkeit und Zuversicht erreichen wir, dass Geist und Körper kräftiger gegen die Krankheit vorgehen. Aber bis dahin – nun, wie gesagt, ich bekomme das in den Griff.«
»Es handelt sich nicht um eine ansteckende Seuche?«
»Aber wo denkt Ihr hin! Dann müssten wir beide uns ja längst angesteckt haben.« Priziac versuchte, bei dieser Vorstellung zu lachen, doch es gelang ihm nicht ganz. »An was für eine Seuche dachtet Ihr denn?«, fragte er dann.
»An die Pest!«
Bei der Erwähnung dieses Worts zuckte der Magister unwillkürlich zusammen. »Ich ermahne Euch in aller Schärfe, an so etwas nicht einmal zu denken! Allein durch Furcht, Einbildung und das Reden über diese Krankheit könnten sich die Menschen mit ihr infizieren. Also lasst diese Reden sein und habt Vertrauen zu mir!«
»Und wenn es doch die Pest ist?«
»Davor bewahre uns der Herrgott, mein Lieber. Vor allem Euch, mein konvertierter Jude!«
*
»Habt ihr es schon bemerkt? Der Komet tötet alle Ratten! Er ist uns doch gut gesinnt. Er vernichtet das gesamte Ungeziefer und nimmt uns die schlimme Arbeit ab. Wir sollten ihm dafür danken!«
Diese Nachricht verbreitete sich in Quimper wie ein Lauffeuer. Henri hörte davon auf dem Weg zum Bürgermeister. Am Mittag sollte ein Dankgottesdienst stattfinden, eine Art Nachruf auf den guten, inzwischen nach Süden abgezogenen Himmelskörper, der alle in Unruhe versetzt hatte.
Als er das Rathaus betrat, hörte er Musik und fröhliches Lachen. Er stieg die Treppe zum Sitz von Maire Michel empor. In den Gängen feierten Kalfaktor, Stadthauptmann und Vogt den Erfolg der Reliquienschau. Wie man hörte, platzte die Stadtkasse durch die zusätzlichen Einnahmen bald aus allen Nähten, und mit Quimper ging es immer weiter aufwärts.
Henri ließ sich von einem Büttel anmelden. Der Bürgermeister empfing ihn mit einem jovialen Lächeln auf den Lippen. Er war ein wohlbeleibter Mann in besten Jahren, dessen tiefschwarzes Haar erste weiße Strähnen durchzogen. Auf den ersten Blick wirkte er äußerst beeindruckend. Henri hatte ihn vor Jahresfrist allerdings als feigen Machtmenschen kennen gelernt. Maire Michel erinnerte sich jedoch anscheinend nicht mehr an ihn.
»Wie war Euer Name? Roslin? Dann stammt Ihr aus der Grafschaft Midlothian, nicht wahr? Ja, ich kenne mich da oben aus. Ich reiste selbst einmal nach Edinburgh.«
»Ich komme nicht zum Plaudern.«
»Aha«, entgegnete der Bürgermeister und klang dabei wenig begeistert. Ein verkniffener Zug bildete sich um seine Lippen. An diesem Tag war ihm nach Feiern zumute. Das Letzte, was er hören wollte, waren schlechte Nachrichten. »Was ist es denn, das nicht bis morgen warten kann?«
»Ich muss Euch eine schwere Erkrankung melden. Es könnte sich um eine gefährliche Seuche handeln. Ihr müsst sofort verhütende Maßnahmen ergreifen, sonst ist ganz Quimper in Gefahr.«
Als der Bürgermeister das hörte, musste er sich setzen. »Ihr seid Kaufmann, nicht wahr?«, sagte er. »Dann wisst Ihr sicher, was geschieht, wenn ich den Leuten sage, dass eine Seuche in der Stadt umgeht?«
»Ja, dann erliegt alles. Aber so weit soll es gar nicht kommen. Ergreift geeignete Maßnahmen, dann können wir das Schlimmste vielleicht abwehren.«
»Von welcher Seuche sprecht Ihr denn?«
»Von der Pest.«
Maire Michel stützte seine Fäuste auf die Tischkante und stemmte sich so langsam empor, dass es bedrohlich wirkte, fast so, als müsse er eine aufbrausende Wut unterdrücken. »Wie bitte? Ich glaube, ich höre nicht recht. Doch egal, was Ihr gesagt habt, ich will nichts mehr davon hören. Ich verbiete Euch, darüber zu sprechen. Habt Ihr verstanden? Sprecht von etwas anderem, oder die Audienz ist beendet.«
»Maire Michel! Mir ist nicht zum Spaßen zumute! Schickt selbst einen Arzt ins Haus von Buchmaler Maxime. Dort liegt seine Tochter und ringt mit dem Tod! Lasst sie untersuchen! Und dann urteilt selbst!«
Der Bürgermeister ließ sich wieder in seinen Armsessel fallen. Henri sah ihm an, wie er mit seinen Gedanken rang. Dann griff er nach einer kleinen Glocke und läutete. Dem Büttel, der daraufhin erschien, gab er die Anweisung, Henris Behauptung zu überprüfen. Wenn er von dem Krankenlager zurückkomme, solle er unverzüglich Meldung machen.
»Es müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden, Bürgermeister!«, mahnte Henri, als der Büttel gegangen war. »Noch ist es früh genug!«