Die Tiefe der Zeit - Andreas Brandhorst - E-Book
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Die Tiefe der Zeit E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Seit vielen Tausend Jahren führt die Menschheit Krieg gegen die geheimnisvollen Crul. Und seit ebenso langer Zeit erzählt man sich Geschichten von der Hauptstreitmacht des Feindes, die seit Ewigkeiten die Weiten des interstellaren Raums durchstreift, um die Kernwelten der menschlichen Zivilisation zu vernichten. Der ehemalige Soldat Jarl, dem man Verrat und Mord zur Last legt, ist auf der Flucht vor den eigenen Verbündeten. Als Gejagter muss er die legendäre Erde finden, den mythischen Ursprungsplaneten der Menschen. Dort soll die größte aller Waffen lagern, die den Krieg beenden und Frieden bringen kann. Jarls Suche führt ihn durch die Tiefe der Zeit. Doch er ahnt nicht, dass er nur ein Werkzeug in einem viel größeren Plan ist ...

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ISBN 978-3-492-99081-3 © Piper Verlag GmbH, München 2018 Covergestaltung: Guter Punkt, München Covermotiv: Arndt Drechsler Datenkonvertierung: Fotosatz Amann GmbH & Co.KG Sämtliche Inhalte dieses EBooks sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Wir töten keine Kinder

1

Wir lassen niemanden im Stich

2

3

4

M wie Mutation

5

6

7

Die letzten Menschen

8

Das Gewicht von Vergangenheit und Zukunft

9

10

11

Kongress

12

13

Zwischen Leben und Tod

14

15

16

Ein fremdes Schiff

17

18

19

Ein Freund

20

21

Eine wichtige Mission

22

23

24

Es gibt kein Paradies

25

26

Die Tiefe der Zeit

27

28

Der Feind ist da

29

30

Der Wahrheitknüpfer

31

32

Memoria darf nicht fallen

33

34

35

36

Strafgericht

37

38

Wir fliehen nicht

39

40

41

42

Staub und Sturm

43

44

45

Ein altes Geheimnis

46

47

48

Ein Ort der Schwäche

49

50

51

52

Was ich dir noch sagen wollte

53

54

55

Sei stark, wenigstens dieses eine Mal

56

57

Die Hartnäckigkeit des Lebens

58

59

60

61

62

Toter Turm

63

64

Ein Held

65

66

67

Splitternde Träume

68

69

70

Schlafen und sterben

71

72

73

Es bröckelt und bricht

74

75

76

77

Ich habe die Erde gesehen

78

79

80

81

Schrei nicht!

82

83

84

Glück ist ein unsicherer Verbündeter

85

86

87

Wer ist Gott?

88

89

90

Wir sind Menschen

91

92

Die Wahrheit

93

94

95

Hier trennen sich unsere Wege

96

97

98

Endlich bist du da

99

100

101

Körper und Geist, von uns geformt

102

103

Das Tröpfeln und Strömen der Zeit

104

Epilog

Glossar

Kontakt mit dem Autor

Vereint sind wir stark, geteilt sind wir schwach,und die Schwachen sterben.

Der Pakt

Prolog

Die Nacht wurde kälter, der Junge rückte etwas näher ans Feuer. Flammen züngelten, Schatten kamen und gingen. Am dunklen Himmel leuchteten zahllose Sterne.

»Es sieht friedlich aus, nicht wahr?«, fragte die Gestalt auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Diesmal war es ein Greis, sein Gesicht schmal und voller Falten, die Augen groß und tief in den Höhlen. Das flackernde Licht verlieh seinen Zügen manchmal etwas Fratzenhaftes.

»So viele Sterne«, sagte der Junge leise. »So viele Welten.« Er wusste längst, dass jeder Stern eine Sonne war und jede Sonne von Planeten umkreist wurde.

»So viele Gefahren«, ertönte wieder die Stimme des Alten. »Weißt du, was ein Dschungel ist?«

»Die Lehrer haben davon erzählt und uns Bilder gezeigt.« Auf Grotenthal gab es keine Dschungel, nur Wälder mit elektrischen Bäumen, die bei einem Gewitter wie Kerzen leuchteten.

»Ein Dschungel ist wild und voller Geschöpfe, die andere Geschöpfe fressen«, sprach der Greis. »Die Schwachen sterben, und manchmal erwischt es auch die Starken, wenn sie nicht aufpassen. Die Sterne dort oben sind wie ein solcher Dschungel.«

»Warum?«, fragte der Junge. Es war eine seiner Lieblingsfragen.

»So will es das Universum. Es will, dass nur der Starke überlebt. Deshalb müssen wir stark sein. Bist du stark, Junge?«

»Ich weiß nicht.«

»Möchtest du stark sein?«

Der Knabe blickte in die Flammen. Das Feuer hatte eine eigene Stimme, es knisterte leise. »Ich denke schon.«

Der Greis nickte. »Du wirst wachsen und stark werden. Und vielleicht …«

»Ja?«

»Vielleicht«, sagte der Alte, »findest du die Erde.«

»Was ist die Erde?«

»Ein Planet.«

»Es gibt viele Planeten dort draußen. So viele, dass man sie nicht zählen kann.«

»Aber es gibt nur eine Erde.« Der Greis seufzte schwer. »Von dort stammen wir. Unsere Vorfahren, meine ich.«

Das klang seltsam, fand der Junge. »Wir alle kommen von nur einem Planeten?«

»Es ist lange, lange her«, sagte der Alte. »Damals gab es nicht so viele Menschen wie heute. Sie hatten alle auf einem Planeten Platz. Irgendwann verließen sie die Welt, die sie geboren hatte. Ein Paradies soll sie gewesen sein, und es heißt, dass die Menschen aus ihrem Paradies verstoßen wurden.«

»Ein Paradies? Und wer hat die Menschen daraus verstoßen? Der Feind?«

»Könnte sein«, antwortete der Greis ausweichend. »Die anderen Erzähler wissen vielleicht mehr. Irgendwann geriet die Erde in Vergessenheit. Heute ist sie nicht mehr als eine Legende, an die sich nur noch wenige erinnern.«

Legenden waren Geschichten, und der Junge mochte Geschichten. Manchmal, wenn sie interessant genug waren, nahmen sie seine Gedanken gefangen und trugen sie fort.

»Erzähl mir mehr von der Erde«, forderte er den Alten auf.

Wir töten keine Kinder

1Prizilla

Der Wind wirbelte Staub auf, kalt und tot. Im kraftlosen Schein einer blassen Sonne ragten Ruinen wie bleiche Knochen aus der Ebene.

»Wie lange ist es her?«, fragte Prizilla. Der Atemfilter dämpfte ihre Stimme ein wenig.

»Was glauben Sie?« Ewora, eine der Großen Mütter, die man auch »die Große Ewora« nannte, trug nicht wie sonst ein buntes Amtsgewand, sondern einen kobaltblauen Schutzanzug. Ihr Leib war kostbar – in den vergangenen vierhundert Jahren hatte er mehr als siebzigtausendmal Leben geschaffen. Keine der anderen Großen Mütter konnte von sich behaupten, mehr Kinder zu haben als Ewora.

Die junge Prizilla, kaum fünfzig Jahre alt, ging in die Hocke, berührte den Staub mit bloßen Händen und fühlte seine trockene Kälte. Sie schloss kurz die Augen und lauschte dem Flüstern ihrer Adapter. Konstantin, dachte sie plötzlich und fragte sich, woher der Name kam und was er bedeutete.

»Drei Tage, nicht mehr«, sagte sie und richtete sich wieder auf. Mehrere Waffenplattformen summten über sie hinweg, gelenkt von wachsamen Soldaten. Weiter hinten ragte das Landeschiff wie ein kleiner grauer Berg auf. Licht viel aus Hangars und geöffneten Schleusen in die beginnende Dämmerung. »Es sieht alt aus, aber so fühlt es sich nicht an.«

»Welche Waffe wurde eingesetzt?«

Gibt es Überlebende?, wollte Prizilla fragen, hielt die Worte jedoch zurück. »Kalter Brand.«

Ewora nickte. »Ja.« Die mehr als vierhundert Jahre alte Mutter hob die Arme und sprach wie zu einer großen Menge. »Der Feind hat erneut zugeschlagen. Vergessen wir nie die Gefahr. Nie!«

»Nie«, wiederholte Prizilla automatisch und beobachtete mit der Zoomlinse in ihrem linken Auge die Soldaten zwischen den Ruinen.

»Nie«, sagte auch die dritte Frau, Nadala, dreißig Jahre älter als Prizilla und Taktikerin von Ewora der Großen. Seit kurzer Zeit leitete sie die Abteilung Acht, die Informationen über den Feind sammelte. »Wenn der Angriff erst drei Tage zurückliegt … Wo ist der Feind?«

»Sollte das nicht Ihre Abteilung wissen?«, fragte Ewora mit sanfter Kritik. »Vielleicht befindet er sich noch in der Nähe. Vielleicht versteckt er sich irgendwo. Suchen Sie ihn!«

»Gehört und verstanden.« Nadala aktivierte ihren Kommunikator und benutzte die Kampfsprache, um knappe, präzise Anweisungen zu erteilen.

Prizilla fühlte den Blick der Mutter.

»Sie möchten wissen, ob es Überlebende gibt«, sagte Ewora. »Ja. Sieben.« Sie zögerte kurz. »Sieben Kinder.«

Zwei Stunden später befanden sie sich wieder an Bord von Eworas Flaggschiff, der Speerspitze, die den Planeten Nimmwa wie ein neuer Mond in einer Höhe von zehntausend Kilometern umkreiste. Prizilla, Nadala und mehrere Berater und Adjutanten hatten sich im Meditationszimmer der Großen Mutter eingefunden, die wieder ein buntes Gewand trug. Prizilla beobachtete Ewora: Sie stand vor dem Wandschirm, der nicht nur den Planeten und die Schiffe der Eskorte zeigte, sondern auch die Transitstation mehrere Hundert Millionen Kilometer oberhalb der Ekliptik. Die entsprechenden Bilder waren fast zwanzig Minuten alt – so lange dauerte die Signalübertragung.

»Ein Zufall?«, fragte Ewora. »Bei meiner Rundreise durch die Peripherie war ein Besuch von Nimmwa nicht vorgesehen. Der Flug hierher …« Sie bewegte die linke Hand, eine knappe Geste. »Ich habe aus dem Stegreif entschieden. Eine Kolonie, die ich noch nicht kannte. Eine Welt, besiedelt von einem kleinen Kolonieschiff, ausgesandt vor …« Sie zögerte.

»Vor neunundsiebzig Jahren«, sagte Prizilla.

»Ja.« Ein kurzes Lächeln huschte über das schwammig wirkende Gesicht. »Dreißig Jahre vor Ihrer Geburt.«

»Ich glaube nicht an solche Zufälle«, warf Coridian ein. Er saß bei den anderen Beratern, groß und kräftig, mit dreihundert Jahren an der Grenze des männlichen Greisenalters. Coridian war einst einfacher Soldat gewesen, und die vier Silben seines Namens – sehr außergewöhnlich für einen Soldaten – deuteten auf viele Beförderungen hin. Seit Jahrzehnten zählte er zu den klugen Stimmen, denen die Große Ewora Gehör schenkte. »Informationen sind geflossen.«

»Woher?«, fragte die Taktikerin Nadala mit leisem Spott. »Und wohin?«

Coridian ging nicht darauf ein, weder auf den Spott noch auf die Fragen an sich. »Drei Tage!« Er gab den Worten mehr Nachdruck. »Wir sind seit einem Jahr unterwegs. Drei Tage sind nichts. Der Angriff hätte auch uns treffen können. Die Crul müssen gewusst haben, dass wir hierher unterwegs waren. Sie hatten es auf die Große Ewora abgesehen.«

Die Crul … Das unterschied Coridian von vielen anderen, erinnerte sich Prizilla. Er nannte den Feind beim Namen.

Ewora wandte den Kopf. »Prizilla?«

»Wie kann der Feind davon gewusst haben, wenn Sie selbst bis vor wenigen Tagen nichts davon wussten?«, erwiderte sie. »Es muss Zufall gewesen sein, ein gefährlicher Zufall. Der Angriff galt nicht uns, sondern unserer Kolonie auf Nimmwa.«

»Ja.« Ewora seufzte. »Hiermit stelle ich die obligatorische Frage: Haben wir einen Hinweis auf die Hauptstreitmacht des Feindes? Könnte dieser Angriff Teil der entscheidenden Inkursion sein?«

Schweigen breitete sich im Meditationszimmer der Mutter aus. Die ersten Nachrichten von einer Hauptstreitmacht des Feindes hatten den Pakt der Menschenwelten vor vier Jahrhunderten erreicht, kurz nach Eworas Geburt. Seitdem waren die Angriffe häufiger geworden, doch wenn es die legendäre Hauptstreitmacht tatsächlich gab, so schien sie noch unterwegs zu sein, irgendwo zwischen den Sternen.

»Nein«, antwortete Prizilla. »Wir haben Daten gefunden, automatische Aufzeichnungen von Sensoren, sowohl in den Trümmern der beiden Koloniestädte als auch bei den Resten von Satelliten. Es gibt keine Hinweise auf die Hauptstreitmacht.«

Ewora nickte knapp. »Gut.«

»Aber es gibt etwas, das diesen Angriff von den anderen unterscheidet«, fuhr Prizilla fort. »Nicht nur der Feind war hier. Die Ortungsdaten deuten außerdem auf die Präsenz eines fremden Schiffes hin. Dies ist seine energetische Signatur.« Ihr Kommunikationsadapter sendete die Informationen – sie erschienen in einem Fenster des großen Wandschirms.

»Was bedeutet das?«, fragte Nadala. Eine subtile Schärfe lag in ihrer Stimme. Vielleicht ärgerte es sie, dass sie als Taktikerin nicht vorab in Kenntnis gesetzt worden war.

»Ein neuer Feind?«, brummte Coridian.

»Wir wissen es nicht«, sagte Prizilla vorsichtig. »Vielleicht handelt es sich um einen neuen Schiffstyp des Feindes.«

Ewora sah sie an. »Ging der Angriff von diesem neuen Schiff aus?«

»Einen solchen Schluss lassen die Sensordaten nicht zu«, antwortete Prizilla.

»Aber die Daten sind nicht vollständig?«

»So ist es.«

Ewora kehrte zum Tisch zurück. »Was die Überlebenden betrifft …«

»Sie müssen getötet werden«, sagte die Taktikerin Nadala.

Bei den Beratern breitete sich Unruhe aus. Prizilla hob die Brauen. »Es sind Kinder.«

»Es sind mutterlose, vom Feind berührte Kinder«, betonte Nadala.

»Wir wissen nicht, ob der Feind sie berührt hat.«

»Jedes Risiko muss vermieden werden.« In Nadalas Augen blitzte es. »Gerade Sie als Strategin sollten das wissen.«

»Wir töten keine Kinder«, sagte Prizilla geduldig. »Kinder sind unsere Zukunft.«

»Alle anderen sind tot oder verschwunden! Warum hat der Feind ausgerechnet diese sieben Kinder am Leben gelassen?«

»Wir töten keine Kinder«, wiederholte Prizilla.

Ewora die Große hob die Hände und wandte sich an ihre Berater. »Bitte gehen Sie! Und Sie ebenfalls, Nadala. Ich möchte allein mit Prizilla reden.«

Coridian und die anderen erhoben sich wortlos und verließen den Raum. Nadala öffnete den Mund, schloss ihn wieder und ging ebenfalls.

Prizilla saß an ihrem Platz und wartete stumm.

»Nadala ist manchmal … sehr strikt«, sagte Ewora schließlich. »Aber sie will das Richtige. Es ist wichtig, dass Sie das nie vergessen. Nadala ist eine ausgezeichnete Taktikerin. Doch um den richtigen Weg in die Zukunft zu finden, brauchen wir mehr Strategie als Taktik.«

Prizilla wartete noch immer. Der Wandschirm hinter der Großen Mutter zeigte einen von Nimmwa zurückkehrenden Orbiter, und sie beobachtete, wie er von einem Eskortenschiff aufgenommen wurde.

Ewora bemerkte ihren Blick. »Die Kinder«, erklärte sie. »Natürlich töten wir sie nicht. Sie sind wenige Monate alt. Ich habe Anweisung erteilt, sie der Obhut einer Ziehmutter zu übergeben, bis ihre Gene in ein oder zwei Jahren entscheiden, was aus ihnen werden soll. Was meinen Sie, Prizilla? Warum haben diese sieben Kinder den Angriff des Feindes überlebt?«

»Zu wenige Daten«, sagte Prizilla vorsichtig.

»Sie wissen es nicht.«

»Nein.«

»Was sagt die Intuition der Strategin?«

Prizilla lauschte ihrer unentwegt raunenden inneren Stimme. Doch die blieb wortlos, ohne klare Botschaft. »Wir töten keine Kinder.«

»Natürlich nicht. Wir sind Mütter. Wie viele Kinder haben Sie, Prizilla?« In ihr buntes Amtsgewand gehüllt stand Ewora vor dem Tisch, das schwammige, von Falten durchzogene Gesicht sanft, der Blick nachdenklich.

»Nicht annähernd so viele wie Sie«, erwiderte Prizilla. »Nur dreihundertneun. Meine Eizellen wachsen langsamer, und nicht alle eignen sich für die Befruchtung. Außerdem gingen zweiunddreißig von ihnen durch einen Unfall im Lebensturm von Amliss verloren.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich bedauere sehr, dass ich nicht mehr Kinder habe.«

»Das ist der Preis, den Sie für Ihre strategischen Einsichten bezahlen. Jeder von uns bezahlt einen Preis. Bei Nadala ist er höher als bei anderen. Sie hatte nur drei Kinder – drei! – und verlor sie bei einem Angriff des Feindes auf Anbar, vor dreizehn Jahren.«

»Oh. Ich wusste nicht …«

»Ich sage es Ihnen im Vertrauen, Prizilla. Es bleibt unter uns, wie auch alles andere.«

»Gehört und verstanden.«

»Ich sage Ihnen noch etwas anderes im Vertrauen.« Ewora holte tief Luft. »Mir bleiben nur noch zwei Jahre, vielleicht weniger. Die physische Degeneration hat bereits begonnen und lässt sich nicht aufhalten. Das ist mein Preis, den ich für die vielen Kinder zahlen muss.«

Prizilla sah sie erschrocken an. »Unsere Mediker …«, begann sie. »Es muss doch möglich sein …«

»Nein. Die besten Mediker haben bereits alles versucht. Ich werde sterben, in spätestens zwei Jahren. Andere Mütter werden sechs- oder siebenhundert Jahre alt, aber ich muss mich mit etwas mehr als vier Jahrhunderten begnügen.« Ewora richtete einen strengen Blick auf Prizilla. »Dies bleibt unter uns.«

»Ja, natürlich. Ich … habe gehört und verstanden.« Prizillas Gedanken wirbelten durcheinander wie welkes Laub im Herbstwind.

»Ich möchte, dass Sie meine Nachfolgerin werden.«

»Was?«, entfuhr es Prizilla.

Ewora setzte sich und legte die Hände auf den Tisch. Hinter ihr, graubraun und wolkenverhangen, drehte sich Nimmwa auf dem Wandschirm.

»Ich bin nur eine einfache Mutter«, sagte Prizilla leise. »Ich …«

»Sie sind die beste Strategin, die ich kenne«, sagte Ewora. »Sie haben Weitblick, Maß und die überaus kostbare Fähigkeit, zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Beides brauchen wir für die Zukunft. Ich habe das Recht, meine Nachfolgerin selbst zu bestimmen. Das Gremium der Großen Mütter muss meine Wahl akzeptieren, ob es ihm passt oder nicht.« Ein Schatten schien auf Ewora zu fallen. Plötzlich wirkte sie sehr müde. Die Falten in ihrem Gesicht schienen tiefer und länger zu werden.

Ewora, in der Blüte ihrer Jahre und doch dem Tod geweiht, atmete durch und bewegte die Hand. Das Gesteninterface reagierte, und die Darstellung der dreihundert Millionen Kilometer entfernten Transitstation über der Ekliptik des Sonnensystems schwoll an. Einzelheiten wurden erkennbar: der Trichter des Fulkrums, das der Speerspitze und ihrer Eskorte einen Sprung über fast siebzig Lichtjahre ermöglicht hatte, und darunter, dem System mit Nimmwa um dreihunderttausend Kilometer näher, die Anomalie – sie ermöglichte es dem Fulkrum, einen Tunnel durch Raum und Zeit zu schaffen.

Ewora hob die rechte Hand ein wenig, und grafische Einblendungen erschienen.

»Die Transitstation ist gesichert, das Tor geschlossen, aber die Anomalie bleibt aktiv. Ich vermute, dass der Feind von dort kam, nicht durch das Fulkrum, sondern über eine der Zeitstraßen der Anomalie. Ein sehr gewagtes Unterfangen, denn die Straßen sind alles andere als stabil, sie unterliegen energetischen Schwankungen.«

Prizilla erkannte sofort die Bedeutung hinter Eworas Worten. »Der Feind kam aus der Vergangenheit?«

»Die Zeitstraßen führen nur in eine Richtung: in die relative Zukunft ihrer Benutzer. Monate und Jahre oder auch Jahrhunderte, Jahrtausende. Der Angriff hier, an diesem Ort, an unserer Peripherie, kam jedoch aus der Vergangenheit.«

Prizilla versuchte zu verarbeiten, was Ewora die Große ihr da eröffnete, doch die Strategin in ihr zog bereits erste Schlussfolgerungen. »Sie denken an Planung über Raum und Zeit hinweg.«

»Wir haben gelernt zu überleben«, sagte Ewora langsam und mit rauer Stimme. »Wir haben gelernt, nicht zu vergessen. Nie. Nie. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch an Gefahr und Bedrohung. Dass wir bisher überlebt haben, bedeutet nicht, dass wir immer überleben werden. Wir müssen wachsam bleiben, ständig auf der Hut, immerzu bereit. So will es das Gesetz der Evolution. Wenn man die Milchstraße beobachtet, des Nachts an einem klaren Himmel oder von der Beobachtungsplattform eines Raumschiffs aus, sieht alles nach einem ruhigen, friedlichen Sternenmeer aus. In Wirklichkeit findet darin seit Jahrmilliarden ein wilder Überlebenskampf statt, in dem sich nur der Starke durchsetzt. Wir dürfen nicht schwach werden. Nicht einen Tag, nicht eine Stunde. Das haben wir damals gelernt, als wir am Rand der Auslöschung standen. Von den Generationen vor uns haben wir nicht nur den Feind geerbt, sondern auch den festen Willen, stark zu sein. Wir dürfen nicht schwach werden.«

»Niemals«, sagte Prizilla.

»Evolution«, wiederholte Ewora. »Nur die Starken überleben, im Kleinen wie im Großen, auf einem Planeten und in der Galaxis. Das Universum ist unerbittlich. Es bestraft die Schwachen mit dem Tod.« Bei diesen Worten verzog sie das Gesicht. »Ich bin mir sicher, dass der Feind einen Plan verfolgt, der Jahrhunderte oder vielleicht sogar Jahrtausende überspannt. Der Angriff auf Nimmwa, über eine Zeitstraße aus der Vergangenheit, ist Teil dieses Plans. Ihre Aufgabe wird es sein, diesen Plan aufzudecken, ihn zu verstehen und alle notwendigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das Schicksal der Menschheit könnte davon abhängen.«

Es waren schwere Worte, und das Gewicht, das plötzlich auf Prizillas Schultern lag, schien noch schwerer zu sein, so schwer, dass sie leise ächzte.

»Sie sind am besten geeignet, den Plan zu erkennen«, schloss Ewora. »Es ist eine große Verantwortung, aber ich weiß, dass Sie ihr gerecht werden können, denn Sie sind stark.«

Wir lassen niemanden im Stich

2Sechs Jahre späterJarl

Aus der Hand des Knaben rann Blut, gelb wie Schwefel – Soldatenblut. Jarl hatte nie Soldat werden wollen, aber in diesem Moment wünschte er sich Geschick und Kraft eines Kriegers.

Er lag zwischen den Steinen des Übungsplatzes, schmeckte Staub und Niederlage. Direkt über ihm gleißte Grotenthals Sonne am Himmel, er blinzelte in ihrem Schein.

»Steh auf!«, rief der Lehrer. »Du lebst noch. Kämpfe!«

Dies ist dumm, dachte Jarl.

Ruk stand vor ihm: mit acht Jahren zwei Jahre älter, einen Kopf größer und in den Schultern fast doppelt so breit. Jarl blickte zu ihm hoch. Wie sollte man einen solchen Gegner besiegen, jemanden, der viel stärker war?

Ein Summen lag in der Luft. Es stammte nicht von Insekten, sondern von den elektrischen Bäumen am Rand des Übungsplatzes. Vielleicht fühlten sie ein heranziehendes Unwetter, obwohl noch keine Wolke am Himmel zu sehen war.

»Du sollst aufstehen!«, rief der Lehrer. Er hieß Dotas, ein erfahrener Offizier, der sich die zweite Silbe seines Namens vor vielen Jahren verdient hatte. Angeblich durfte er damit rechnen, bald eine dritte zu erhalten: eine Beförderung in den Kommandostab, vielleicht zum militärischen Kommandeur von Grotenthal.

Jarl stand auf und ballte die rechte Hand zur Faust. Er ballte sie nicht, um damit zuzuschlagen, sondern damit man das gelbe Blut nicht sah.

Die anderen Kinder, nicht eins von ihnen mutterlos wie er, standen am Rand des Platzes und beobachteten das Geschehen. Ihre Gesichter blieben, mit einer Ausnahme, maskenhaft starr. Sie hatten gelernt, ihre Gedanken und Gefühle zu verbergen, während sie bei anderen nach Schwächen Ausschau hielten, um als Sieger aus den Duellen hervorzugehen. Nur Sotias Augen blieben nicht distanziert und berechnend; Mitgefühl zeigte sich in ihnen.

»Der Kampf ist noch nicht entschieden!«, verkündete Dotas. »Noch hast du eine Chance, Jarl!«

»Schwächling«, brummte Ruk leise.

Jarl sprach seinen Gedanken laut aus. »Das ist dumm.«

»Dumm?«, wiederholte der Lehrer und griff nach seinem Strafstab. »Du nennst das hier dumm?«

»Warum kämpfen wir gegeneinander?« Jarl wusste, dass er die Worte besser für sich behalten hätte, aber sie drängten aus ihm hinaus. »Warum verletzen wir uns gegenseitig? Wir sind keine Feinde. Dies ist sinnlos.«

»Sinnlos?«, donnerte Dotas. »Zeig ihm, wie ›sinnlos‹ dies ist, Ruk!«

Der größere Junge trat einen Schritt näher. Jarl blieb reglos stehen. Er erinnerte sich an die Lektionen, er wusste, wie man sich schützte und wie man angriff, aber seine Arme blieben schlaff, die Hände unten. Es ist dumm, dachte er erneut. Ich möchte woanders sein.

Ruk schmetterte ihm die Faust an den Kopf, gegen die linke Schläfe. Das Gleißen der Sonne verschwand, Nacht legte sich über Jarl, viel zu schnell, viel zu früh.

Schmerz zerriss die Dunkelheit und brachte Licht zurück. Erneut lag er auf dem Boden, das Gesicht nass von gelbem Blut – beim Fallen war er mit dem Kopf gegen einen scharfkantigen Stein gestoßen. Ruk stand dort, mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht.

»Ach, du wirst nie Soldat«, sagte er. »Du bist zu schwach.«

Der Junge, der Sieger, ging, und jemand anders kam, eine noch größere Gestalt, mit einem dritten Bein, in dem zahlreiche biomechanische Adapter steckten. Jarl hatte erst zwei Adapter, seit einigen Monaten, und möglicherweise waren sie beschädigt worden, denn seine Sinne spielten verrückt. Sie präsentierten ihm das Summen der elektrischen Bäume als lautes Tosen, wie von einem nahen Wasserfall, und verwandelten das Gesicht des Lehrers in die Fratze eines dämonischen Wesens, wie man es vielleicht auf einer Gespensterwelt erwarten durfte.

»Du bist dumm«, sagte Dotas. »Der Schwache leidet, der Schwache stirbt. Der Starke triumphiert und überlebt. Du bist sechs Jahre alt. Es ist höchste Zeit, dass du das verstehst.«

Mit einem Schnauben wandte sich der Lehrer ab und ging. Jarl blieb zwischen den Steinen liegen, mit Blut auf Stirn und Wangen. Er wagte nicht aufzustehen, aus Furcht, dass die Beine unter ihm versagten und seine Schwäche noch deutlicher machten.

Etwas später, als die heiße Sonne das Blut in seinem Gesicht zu einer Kruste getrocknet hatte, berührte ihn etwas Kühles und Feuchtes an Stirn und Schläfe. Wassertropfen trafen seine Lippen, und er öffnete instinktiv den Mund.

»Es war nicht fair.« Sotia, das zusammengebundene Haar schwarz wie die Nacht, gab ihm zu trinken. »Ich meine, gegen Ruk konntest du gar nicht gewinnen, weil er viel stärker ist. Und … wir lassen niemanden im Stich. Wir lassen niemanden zurück.« Die Worte stammten nicht von ihr, sondern von den Lehrern. »Niemand bleibt einfach im Staub liegen, von den anderen vergessen.«

»Danke«, wollte Jarl antworten, aber es wurde nur ein Krächzen daraus.

»Komm.« Sotia half ihm auf die Beine. »Komm, ich bringe dich zum Lazarett.«

3

Jarls Bett befand sich direkt am Fenster, und als er nach draußen blickte, sah er einen Schwarm Inniwori, die hoch genug flogen, um von den Verteidigungssensoren des Lagers nicht als Bedrohung eingestuft zu werden. Sie kamen aus dem Tiefland im Süden und wollten vermutlich zu ihren Siedlungen im nördlichen Bergland zurückkehren. Für einen Moment stellte sich Jarl vor, mit ihnen zu fliegen und die Welt mit ihren Augen zu sehen: tief unten ausgebreitet, die Berge und Täler klein, die Ebenen ein Fleckenmuster aus violetten Elektrowäldern, weißem Kalkstein und ockerbraunem Blutdorn.

Durch die offene Tür erreichten ihn die Stimmen der Mediker aus dem Nebenzimmer.

»Er erholt sich schnell«, sagte jemand. »Die Nanobots in seinem Blut beschleunigen die Heilung.«

»Seine Adapter wurden beschädigt«, fügte jemand anders hinzu und bestätigte Jarls Befürchtung. »Einen müssen wir vielleicht neu im Rückenmark implantieren.«

»Warten wir ein oder zwei Tage. Vielleicht kümmern sich die Nanobots auch darum.«

Die Stimmen verwendeten eine langsame Sprache – L17 oder L18, nahm Jarl an, eine der wissenschaftlichen Sprachen voller Fachausdrücke, die er nicht kannte –, und er lauschte vor allem dem Klang, nicht unbedingt den Worten. Nach einer Weile schloss er die Augen und entspannte sich. Im Lazarett fühlte er sich gut aufgehoben. Zwar gab es auch hier Schmerz und Schwäche, aber mit Aussicht auf Heilung und Erholung.

Schließlich hörte er Schritte, und als er die Lider hob, stand Zejala neben seinem Bett. Die Erste Medikerin des Lazaretts war so dürr, als würde sie nur aus Haut und Knochen bestehen, und wenn sie sich bewegte, knackte und knisterte es leise. Mehr als achthundert Jahre sollte sie alt sein, mit so vielen Verdiensten, dass ihr vollständiger Name angeblich zwölf Silben hatte. Ihre großen Augen – grün wie Smaragd von zahlreichen medizinischen Mikroimplantaten – wirkten jung und sehr lebendig.

Zejala lächelte, als sie sich über Jarl beugte und ihm eine ledrige Hand mit sieben dünnen Fingern auf die Wange legte. »Wie geht es uns?«, fragte sie freundlich. Stets sprach sie von wir, als nähme sie an allem selbst Anteil.

»Besser«, antwortete Jarl. Es hörte sich an wie »Grl«.

»Der Stimmapparat gehorcht dir noch nicht«, sagte Zejala. »Das ist Teil einer Störung deiner motorischen Funktionen.« Sie zog die Hand zurück, lächelte und benutzte die L1-Allgemeinsprache. »Du hast einen sehr heftigen Schlag abbekommen. Ruk hätte auch weniger fest zuschlagen können, um den Sieg davonzutragen. Aber wir bringen dich wieder auf die Beine, keine Sorge.«

Jemand erschien in der Tür, ein Mann mit drei Beinen, gekleidet in eine schlichte graue Uniform.

»Wie geht es ihm?« Dotas verzichtete auf die Kampfsprache und benutzte ebenfalls L1. Die erste Allgemeinsprache veränderte den Klang seiner Stimme.

»Er lebt noch, und er wird weiterleben«, antwortete Zejala.

»Gut«, brummte Dotas. Es klang nicht sehr erfreut, fand Jarl. »Gut. Was ist mit morgen? Kann er an dem Marsch teilnehmen?«

»Ich denke schon. Allerdings sollten Sie ein wenig Rücksicht auf ihn nehmen.«

Dotas kam näher. Schweiß glänzte auf seinem kahlen Schädel. Draußen war es noch immer heiß.

»Was ist nur los mit ihm?«, fragte er. »Er hat die Gene eines Soldaten, sein Blut ist der Beweis, aber er bleibt schwach.«

»Es steckt Kraft in ihm«, erwiderte Zejala.

»Diese Kraft sollte bald erwachen«, brummte Dotas. »Wenn nicht … Vielleicht gehört er nicht zu uns. Morgen, Jarl, hast du gehört? Morgen kannst du mir etwas von der Kraft zeigen, die angeblich in dir steckt.«

Ich bin krank, wollte Jarl erwidern. Ich bin verletzt. Doch mehr als ein leises Krächzen brachte er nicht hervor. Am liebsten hätte er sich die Bettdecke über den Kopf gezogen.

Dotas nickte ihm einen wortlosen Gruß zu und verließ das Genesungszimmer.

»Er ist ein guter Soldat«, sagte Zejala. Ihre Fingerkuppen strichen Jarl über Stirn und Kinn. »Er hat an vielen Kämpfen gegen den Feind teilgenommen. Aber manchmal …« Die Hand mit den sieben Fingern wich zurück. »Erhol dich gut, Jarl! Sammle Kraft! Wir helfen dir. Wir geben dir etwas, das die Schwäche aus dir vertreibt, damit du morgen stark bist.«

Jarl war müde. Er wollte schlafen, lange schlafen, und als anderer Mensch erwachen.

»Brauchst du etwas, Junge? Hast du einen Wunsch?«

Er wünschte sich viele Dinge, vor allem ein anderes Leben. Aber in diesem Augenblick dachte er an seinen Talisman, den einzigen Beweis, dass er nicht mutterlos war, wie die anderen behaupteten. Jedes Kind bekam bei der Geburt einen Talisman, auch er hatte einen bekommen, obwohl er nicht wusste, wer seine Mutter war.

»Ich möchte meinen Talisman«, wollte er sagen, doch sein Mund machte »Krlkgrt« daraus.

4

Am Abend, es war bereits dunkel geworden, kam Sotia, wie Ruk zwei Jahre älter als Jarl, aber klein und drahtig. Sie trug weder Uniform noch Kampfanzug, sondern einen gelben Overall, geschmückt mit bunten Bildern von Planeten, Sonnen und galaktischen Feuerrädern. Vor Jarls Bett drehte sie sich um die eigene Achse.

»Gefällt es dir? Sag, dass es dir gefällt!«

»Es ist hübsch«, erwiderte Jarl, der wieder sprechen konnte. Seine Zunge war noch immer schwer und taub, aber sie gehorchte ihm wieder.

»Ich habe die Bilder selbst gestickt«, sagte Sotia stolz. Ihr schwarzes Haar war noch immer zusammengesteckt und wirkte wie eine dunkle Wolke, die sich auf ihrem Kopf niedergelassen hatte. »Mit Mikrohologrammen, die selbst hier funktionieren, trotz der Inhibition.« Sie drehte sich erneut, um es zu zeigen, und die Planeten und Sterne umkreisten einander.

»Vielleicht …« Sotia blieb stehen und hob die Arme. »Vielleicht werde ich einmal Pilotin eines Kundschafters. Dann kann ich dies alles mit eigenen Augen sehen.«

Jarl lächelte unwillkürlich. Es verging kaum ein Tag, an dem Sotia nicht etwas anderes werden wollte, aber alle glaubten, dass sie eines Tages eine Mutter sein würde, vielleicht sogar eine Große Mutter. Deshalb begegneten ihr die anderen mit Respekt, selbst Ruk.

Sie kam näher. »Wie geht es dir?«

Es erstaunte Jarl, wie sehr er sich freute, sie zu sehen. »Gut. Es geht mir gut.«

Sotia musterte ihn skeptisch im Licht der Lampe, das von der Seite auf ihn fiel. »Dein Gesicht sieht schrecklich aus.«

»Danke!«

Das Mädchen, das vielleicht einmal eine Mutter sein würde, gluckste leise. »So habe ich das nicht gemeint. Ich meine …«

»Ich weiß.«

Sotia kam noch etwas näher. Als sie direkt neben dem Bett stand, nahm Jarl ihren Geruch wahr. Er erinnerte ihn an Aromazucker – ab und zu bekam er etwas von den freundlichen Köchen – und an den Duft von Stachelblumen, die manchmal, nach einem schweren Gewitter, zwischen den Elektrobäumen wuchsen. Doch bei ihr gab es keine Stacheln.

»Ruk wird nicht aufhören, Jarl. Er wird die nächste Gelegenheit nutzen, dich erneut zu schlagen, noch fester und noch gemeiner. Er ist stark, und du gibst ihm das Gefühl, noch stärker zu sein.«

»Ja«, räumte Jarl niedergeschlagen ein.

»Irgendwann bleibt es vielleicht nicht bei einem zerschundenen Gesicht, Jarl. Irgendwann verletzt er dich vielleicht so schwer, dass man dir hier auf Grotenthal nicht helfen kann. Die Inhibitoren sind noch immer aktiv. Nicht nur die Technik der Inniwori ist davon betroffen, auch unsere. Wenn dir die Mediker nicht mehr helfen können …«

»Die Schwachen sterben«, sagte Jarl.

»Ich möchte, dass du lebst«, erwiderte Sotia. »Du musst es lernen. Du musst lernen, dich zu wehren.«

»Ruk ist viel stärker als ich.«

»Kraft ist nicht alles«, sagte Sotia. »Du bist der beste Schütze von uns. Nicht, weil du die besten Augen hast, sondern weil du es am besten kannst.«

Atmung, dachte Jarl. Das Gefühl, mit der Waffe eins zu werden. Man verwandle ihren Lauf in einen Finger, der auf das Ziel deutet. Das Schießen war leicht, erst recht, wenn das Ziel nicht aus lebendem Fleisch bestand.

»Vergiss nicht, was Lehrer Torold sagt«, fügte Sotia hinzu. »Es ist nicht immer die Kraft des Körpers, die den Ausschlag gibt. Es kommt nicht nur auf die Muskeln an, auch auf den Kopf. Die Kraft des Geistes kann die des Körpers besiegen, wenn man sie richtig einsetzt. Du musst schlau sein.«

»Lehrer Torold hatte dreihundert Jahre Zeit, die Macht des Geistes zu erlernen«, gab Jarl zu bedenken. »Ich bin erst sechs.«

»Lern schnell«, riet ihm Sotia. »Ruk wird dich weiterhin drangsalieren. Kommst du morgen mit?«

»Ja.«

Etwas in diesem Wort verriet ihn.

»Du würdest lieber hierbleiben, nicht wahr? Hier im Lazarett, im Bett.«

»Oder in der Baracke. Oder in der Bibliothek.«

»Jarl …«, sagte Sotia. Es klang traurig. »Du musst dich zusammenreißen. Du musst wachsen. Was soll sonst aus dir werden?«

»Kein Soldat.« Plötzlich hatte Jarl Tränen in den Augen. So erging es ihm manchmal bei Sotia. Ihre Stimme und ihr Blick erreichten etwas in ihm, das sich in einer dunklen Ecke versteckte und verzweifelt nach einem Ausweg suchte. »Ich möchte weg von hier.« Er hasste den weinerlichen Klang seiner Stimme. »Ich möchte jemand anders sein.«

»Wie könntest du jemand anders sein? Du bist Jarl. Wir sind Soldaten, unsere Mütter haben uns dazu gemacht. Wir müssen unseren Weg gehen. Wie alle anderen.«

»Dies ist nicht mein Weg!«

»Es gibt keinen anderen für dich, Jarl. Du wirst nicht immer sechs Jahre alt sein. Du wirst wachsen und stärker werden, und wenn du klug bist, wenn du lernst und aufpasst, kannst du Ruk eines Tages besiegen.«

Jarl wischte die Tränen fort.

»Morgen soll es ein Unwetter geben«, fügte Sotia hinzu. »Die Bäume fühlen es bereits und summen. Der Marsch könnte sehr anstrengend werden, sogar gefährlich. Ruh dich gut aus!«

Sie beugte sich vor und berührte ihn an der Wange wie zuvor Medikerin Zejala, aber diese Berührung fühlte sich anders an. Sie hinterließ ein sonderbares Prickeln auf der Haut und half ihm dabei, Tränen und Verzweiflung zu vergessen.

»Oh, und bevor ich es vergesse.« Sotia lächelte. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Sie holte einen kleinen Gegenstand hervor, eine halb transparente Kugel mit einem Durchmesser von zweieinhalb Zentimetern.

»Mein Talisman!«

»Ich dachte mir, dass du ihn vielleicht vermisst.« Sotia gab ihm die kleine Kugel. »Bis morgen!« Sie huschte davon.

Jedes Kind bekam einen Talisman von seiner Mutter, so wollte es die Tradition. Meistens waren es kleine Figuren mit symbolischer Bedeutung, die vielleicht Hinweise darauf boten, was aus dem Jungen oder dem Mädchen einmal werden sollte – wer wusste besser als die Mutter, welche Straße des Lebens die Gene vorsahen? In vielen Fällen enthielten die Talismane auch aufgezeichnete Botschaften, einige wenige Worte, die die Mutter an ihren Sohn oder die Tochter richtete – gute Wünsche und der eine oder andere Rat. Manchmal war der Talisman sogar noch mehr, eine Geste der Liebe.

Jarls Talisman bewies nicht nur, dass er tatsächlich eine Mutter hatte – er enthielt Geschichten.

Oder vielleicht waren es Träume, die ihm Geschichten erzählten, denn er begegnete den Erzählern immer nur, wenn er tief und fest schlief. Nicht ein einziges Mal in seinem sechs Jahre jungen Leben hatte er die Stimmen im wachen Zustand gehört.

Später am Abend, nachdem er nahrhaften Brei gegessen und eine halbe Stunde in der stählernen Umarmung von Zejalas Heilkapsel verbracht hatte, kroch er wieder unter die dünne Bettdecke, lauschte einige Minuten lang dem Summen der elektrischen Bäume am Rand des Lagers, schaltete dann die Lampe aus und holte die kleine Kugel hervor. Zuerst blieb sie dunkel, aber als er sie mehrmals gedreht hatte, erschien in ihrem Innern ein winziges Licht, wie der eingefangene Funke eines Feuers.

Jarl schloss die Hand um die Kugel und das kleine Licht darin – die Hand, aus der am Nachmittag gelbes Soldatenblut getropft war –, senkte dann die Lider und wünschte sich den Schlaf herbei.

M wie Mutation

5Prizilla

Dies war Memoria, siebte der zweiundneunzig Kernwelten und vielleicht die wichtigste, denn hier ruhte das Gedächtnis des Pakts. Hier lebte die Vergangenheit – oder Teile von ihr – und flüsterte in den Sälen der Erinnerung. Hier schlief das Orakel, dessen Stimme seit Dutzenden von Generationen niemand mehr gehört hatte. Hier waren die Großen Mütter beigesetzt, als letzte von ihnen Ewora vor vier Jahren. Und hier sprach die Gemeinsame Stimme des Pakts: der Kongress, der alle fünf Jahre tagte, um wichtige Entscheidungen zu treffen und den Weg in die Zukunft zu wählen. Als Eworas Strategin hatte Prizilla Memoria mehrmals besucht und auch vor dem Kongress gesprochen, aber diesmal kam sie nicht als Beraterin, sondern als Nachfolgerin Eworas der Großen. Nicht alle Kongressmitglieder würden sie mit Wohlwollen empfangen, denn mit ihren gut fünfzig Jahren war sie jung, und außerdem konnte sie nur wenige Hundert Kinder vorweisen. Als Prizilla den Orbiter verließ und ihren Fuß auf den Boden von Memoria setzte, fragte sie sich kurz, ob jemand im Kongress eine Abstimmung verlangen würde. Es hätte Eworas Willen widersprochen, aber das Gesetz sah eine solche Möglichkeit vor.

Die Eskorte schwärmte aus: zwölf bewaffnete Soldaten in leichten Körperpanzern. Sie bildeten einen Kordon, mit Prizilla und ihrem Adjutanten Coridian in der Mitte.

»Dort kommt Nadala«, sagte Coridian. Er benutzte einen Akustikschild, damit nur Prizilla ihn hörte. »Ihre Einstellung hat sich in den vergangenen Monaten nicht geändert.«

»Noch immer Neid?«, erwiderte Prizilla und schritt erst durch weiches Gras und dann über schneeweißen Kies. Direkt vor ihnen ragte einer der Lebenstürme auf. Glas und Kristall glitzerten im Schein der fast im Zenit stehenden weißgelben Sonne. Vertikale Gärten durchzogen den Turm wie mit grünen Adern.

»Ich glaube nicht, dass sie neidisch ist«, brummte Coridian. Er zögerte nicht, ihr zu widersprechen, wenn er das für erforderlich hielt. Es war eine seiner Eigenschaften, die Prizilla besonders schätzte, denn sie fühlte sich von zu vielen Personen umgeben, die allem zustimmten, was sie sagte. Coridian nannte die Dinge beim Namen, selbst den Feind. »Sie ist vor allem enttäuscht. Weil sie fest damit gerechnet hat, dass Ewora die Große sie zu ihrer Nachfolgerin bestimmen würde.«

Prizilla beobachtete Nadala mit der Zoomlinse im linken Auge und sah ein weißes, maskenhaft starres Gesicht.

»Sie wird ebenfalls vor dem Kongress sprechen«, sagte Coridian. »Nicht als Taktikerin, sondern als Oberhaupt der Abteilung Acht.«

»Hat sie vor, einen Wahlantrag zu stellen?« Das passierte ihr manchmal bei Coridian. Sie sprach ihre Gedanken aus, ohne die Worte vorher zu prüfen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ihr Adjutant. »Es wäre eine offene Konfrontation, und dazu ist sie vielleicht noch nicht bereit.«

Ein Windstoß erfasste Nadalas rotes Haar, und für einen Moment sah es aus wie die flackernde Flamme eines Feuers. Der Sicherheitskordon öffnete sich vor ihr und der Fürsorgerin aus dem Lebensturm.

Nadala neigte kurz den Kopf. »Strategin …«

Prizillas offizieller Titel lautete »Suprema«, aber Nadala verwendete noch immer den alten. Als Taktikerin und Leiterin der Abteilung Acht konnte sie sich solche Freiheiten erlauben.

»Freut mich, Sie wiederzusehen, Nadala«, sagte Prizilla freundlich. »Allerdings erstaunt es mich ein wenig, Sie hier beim Lebensturm anzutreffen. Ich hatte Sie beim Kongress erwartet.«

Im starren weißen Gesicht veränderte sich etwas; ein Schatten schien darüber hinwegzuziehen.

»Es zeichnet sich ein weiteres Problem ab«, erwiderte Nadala. »Sie sollten davon erfahren, bevor der Kongress beginnt.«

Der vollständige Name der Fürsorgerin hatte einundzwanzig verdienstvolle Silben, aber alle nannten sie »Megra«, was in ihrer Sprache, einem L32-Dialekt, »liebevolle Mutter« bedeutete. Sie war sechshunderteinunddreißig Jahre alt und einen ganzen Kopf kleiner als Prizilla, wirkte wie geschrumpft in einer Hülle aus lehmbrauner, faltiger Haut. Ihren Bewegungen fehlte die agile Mühelosigkeit der Jugend, doch in den Augen lag ein wacher Glanz, und die Stimme klang fest.

»Für wie alt halten Sie die Kinder, Suprema?«, fragte Megra, als sie, Prizilla und Nadala im vierundfünfzigsten Stock des Lebensturms vor einem breiten Fenster standen. Dahinter sah man Jungen und Mädchen, die einem holografischen Lehrer durch einen der vertikalen Gärten folgten, vorbei an Kristallblumen von Anbar, Prismabüschen von Gallimon und Moosbäumen von Donntwar.

»Drei oder vier Jahre«, antwortete Prizilla und überlegte für einen Moment, ob sich auch Kinder von ihr in diesem Lebensturm befanden.

»Und hier, auf der anderen Seite …« Megra drehte sich um und ging mit langsamen Schritten zum Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Es gewährte Einblick in einen Hort mit schlafenden Kleinkindern, die in gepolsterten Sensormulden lagen und im Schlaf Stimmen empfingen, die ihnen Wissen vermittelten.

»Acht, neun Monate, nehme ich an«, sagte Prizilla.

»Sie irren sich.« Megra winkte mit einer schmalen, faltigen Hand. »Diese Kinder hier sind sechs Wochen alt und die anderen dort im Garten sieben Monate. Sie sind das Ergebnis unseres neuen Programms. Nadala hat bereits empfohlen, es auf alle Welten mit Lebenstürmen und Geburtsstätten auszuweiten.«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Strategin«, warf Nadala ein.

»Bitte erklären Sie mir die Hintergründe.«

Megra öffnete den Mund, aber Nadala kam ihr zuvor. »Wir brauchen mehr Menschen, und wir brauchen sie schneller. Der Kampf gegen den Feind kostet uns Soldaten. Und wir benötigen mehr Menschen für unsere Kolonieschiffe. Wir können uns die Jahre der Kindheit nicht mehr leisten. Die Neugeborenen müssen so schnell wie möglich die erste Reife erreichen.«

Megra winkte erneut. »Kommen Sie. Sprechen wir in meinem Meditationszimmer darüber.« Mit einem schiefen Lächeln fügte sie hinzu: »Meine Beine tragen mich nicht mehr gern.«

6

»Die Abteilung Acht hat das neue Programm kurz nach Eworas Tod initiiert«, sagte Nadala ohne Einleitung, als sie in weichen Sesseln saßen, vor einer breiten, nach Norden gerichteten Fensterfront. In dunstiger Ferne zeigten sich blaugrau die Umrisse der Kathedrale, wie die Konturen eines mehrere Kilometer weit aufragenden Berges. Dort würden sich die Mitglieder des Kongresses versammeln, um an einem der Vergangenheit gewidmeten Ort über die Zukunft zu beraten.

»Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«, fragte Prizilla mit einer Andeutung von Schärfe.

»Weil die Testphase vorüber ist und das Programm jetzt strategische Bedeutung erlangt«, antwortete Nadala unbeeindruckt. »Unsere Kinder müssen noch schneller als bisher erwachsen werden, wenn wir überleben wollen. Wir können uns keine unproduktive Kindheit leisten.«

Der neben Prizilla sitzende Coridian brummte leise, verzichtete ansonsten aber auf einen Kommentar. Einige Meter hinter ihm standen zwei Soldaten der Eskorte an der Tür Wache.

»Es ist der M-Faktor«, sagte Megra. Die alte Fürsorgerin hatte sich einer Medo-Liege anvertraut, die ihren Körper entlastete. An der einen Seite war der lindgrüne Kittel nach oben gerutscht und zeigte eine leere, schlaffe Fertilitätsblase, die seit vielen Jahren keine Eizellen mehr enthalten hatte. »Er wird immer stärker. Er wird so stark, dass er sich unserer Kontrolle zu entziehen beginnt.«

»Bitte erklären Sie mir das.« Prizilla mochte derartige Überraschungen nicht, was Nadala inzwischen hätte wissen sollen. Sie erwartete Berichte, Meldungen mit ausreichend Details, damit sie sich vorbereiten konnte.

Megra holte tief Luft und begann damit, Einzelheiten zu nennen. Sie benutzte die allgemeine wissenschaftliche Sprache L31 und die medizinischen Fachtermini von L17 und L18. Prizilla folgte den Ausführungen mithilfe ihrer linguistischen Adapter, doch nach wenigen Minuten verlor sie die Geduld.

»Eine Zusammenfassung«, sagte sie. »Der Kern dieser Angelegenheit. Was bedeutet dies alles?«

Nadala kam Megra erneut zuvor. »Es bedeutet, dass unsere Fruchtbarkeit abnimmt«, antwortete sie. »Und auch unsere Lebenserwartung. Der M-Faktor, den wir über all die Jahrtausende hinweg kontrollierten, entzieht sich nun unserer Kontrolle.«

»Verwenden Sie mehr von unseren wissenschaftlichen Ressourcen, um das Problem zu lösen«, sagte Prizilla.

Die alte Megra seufzte. »Unser Blut bestimmt, wer und was wir sind. So ist es seit Anbeginn der Zeit – oder seit Anbeginn unserer Zeit. Wir kennen unseren genetischen Code, wir sind mit seinen Stimmen vertraut, die für jeden Einzelnen von uns das Lied des Lebens singen. Aber in diesem Chor gibt es einen Missklang, es hat ihn immer gegeben, seit Atalea der Größten, deren Name vierundsechzig Silben hatte. Früher war er leise, dieser kleine falsche Ton, aber in den letzten Generationen ist er lauter geworden, und jetzt droht er alles andere zu übertönen. Sie selbst, Suprema, sind ein Beispiel für die neue Entwicklung. Wenn Sie gestatten … Wie viele Kinder haben Sie?«

Prizilla zögerte, denn plötzlich ging es um sehr persönliche Dinge.

»Dreihundertsechsundsechzig«, sagte sie schließlich.

»Sie sind jung.« Megra sprach langsam, in der Stimme eine Heiserkeit, die in Prizilla den Wunsch weckte, sich zu räuspern. »Sie sind nicht einmal sechzig Jahre alt. Dies müsste die fruchtbarste Phase Ihres Lebens sein. Wie ist es um Ihre Eizellen bestellt? Wie schnell wachsen sie, und eignen sie sich alle für die Menschwerdung?«

Es wurde sogar noch persönlicher. Prizilla schwankte innerlich zwischen Verlegenheit und Empörung.

Megra schien das zu spüren. »Können wir ganz offen sprechen?«

»Natürlich«, sagte Nadala. Ein Lächeln kroch hinter der starren Maske hervor und erschien kurz auf den Lippen.

Dies gefällt ihr, dachte Prizilla. Es konnte nicht nur Neid sein, nicht nur Enttäuschung. Schadenfreude? Vielleicht.

Prizilla beantwortete Megras Frage mit einem Nicken.

»Ihr Körper braucht einunddreißig Tage, um eine Eizelle zu produzieren«, erklärte die alte Fürsorgerin. »Vor vier Jahren, als Ewora die Große starb, waren es noch neunundzwanzig Tage. Ich kenne die Ergebnisse Ihrer letzten Untersuchungen …«

»Woher?«, brummte Coridian.

»Ich habe sie ihr zur Verfügung gestellt«, sagte Nadala. Es klang wie: Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nichts angehen! »Als Vorbereitung für dieses Treffen.«

»Die Fruchtbarkeit Ihres Körpers lässt nach«, fuhr Megra fort. »Die Abstände von Eizelle zu Eizelle wachsen, wahrscheinlich auf einige Monate, wenn Sie hundert Jahre alt sind. Mit hundertzwanzig oder hundertdreißig könnten Sie sogar ganz unfruchtbar sein. So wie Nadala hier, die nur drei Kinder hatte und sie auf Anbar verlor, als dort der Feind angriff.«

Einige Sekunden lang herrschte Stille. Prizilla glaubte, in der Ferne die Stimmen von Kindern zu hören, aber vielleicht spielten ihre Sinne ihr einen Streich.

»Bei den zukünftigen Müttern, die jetzt zehn oder fünfzehn Jahre alt sind, ist die Fruchtbarkeit noch geringer, und sie wird sich über einen noch kürzeren Zeitraum erstrecken«, sagte Megra. Sie benutzte noch immer die langsame medizinische Sprache L17. »Es läuft darauf hinaus, dass der Pakt immer weniger Kinder bekommen wird. Weniger Wissenschaftler, weniger Techniker, weniger Architekten der Zukunft. Und vor allem: weniger Soldaten und Kolonisten. Wir haben den Zenit erreicht, Suprema. Seit vier Jahren, seit Eworas Tod, wird der Pakt schwächer.«

Die Strategin in Prizilla begann zu rechnen.

»Unsere Lebenserwartung verringert sich«, betonte Megra. Eine faltige Hand kam nach oben, wie auf der Suche nach etwas, und sank dann wieder in den Schoß. »Wie Sie wissen, wurden Frauen einst tausend Jahre alt. Und das, obwohl ihre Körper mit der ständigen Produktion von Eizellen schwere Arbeit leisteten. Ewora die Große starb mit vierhundertdreizehn Jahren, dahingerafft von einer physischen Degeneration, gegen die wir nichts unternehmen konnten.«

Megra sprach jetzt schneller.

»Mit mehr als siebenhundert Lebensjahren darf keins der Mädchen rechnen, die in diesem Turm und den anderen heranwachsen. Bei den Männern sieht es noch schlechter aus. Früher erreichten sie fünfhundert, manchmal sogar sechshundert Jahre, aber inzwischen sind dreieinhalb Jahrhunderte die Obergrenze. Nehmen Sie Coridian.« Die faltige Hand bewegte sich wieder und zeigte kurz auf ihn. »Mit seinen etwas mehr als dreihundert Jahren steht er dicht vor dem männlichen Greisenalter.«

»Und dafür ist allein der M-Faktor verantwortlich?«, fragte Prizilla. »Es gibt keine andere Erklärung? Vielleicht ein besonders perfider Angriff des Feindes? Eine Art … genetische Zeitbombe?«

»Ausgeschlossen«, sagte Nadala sofort. »Davon hätte die Abteilung Acht längst erfahren. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Feind hinter dem M-Faktor steckt.«

Coridian wiederholte sein wortloses Brummen.

»Haben Sie andere Informationen?«, fuhr Nadala ihn scharf an.

»Ich bin Soldat«, erklang Coridians tiefe Stimme. »Ich bin als Soldat geboren und werde als Soldat sterben. Ich habe bei den Neun Sonnen gekämpft, bei der letzten großen Inkursion der Crul.« Einmal mehr nannte er den Feind beim Namen. »Ich habe das Gemetzel von Karlinton gesehen und es zusammen mit nur vier anderen Soldaten überlebt – vier von fünfhundert, Ehrenwerte. Ich gehörte zur Dritten Kompanie, der es im Eis von Talon gelang, die Crul am Vorstoß nach Nebbek zu hindern. Ich war auf Currucca, wo meine Gruppe beinahe einen lebenden Crul gefasst hätte, den ersten des ganzen Krieges. Ich gehörte zu den Soldaten der Lanze, die den Feind bis zur Gespensterwelt Quim verfolgte, und dort habe ich fast ein ganzes Jahr lang dem Wahnsinn widerstanden. Ich habe auch auf Anbar gekämpft, wo Ihre Kinder starben. Hundert Schlachten, tausend Gefechte – ich war dabei. Ich habe gehört, gesehen und verstanden, und deshalb weiß ich: Es gibt nichts, wozu die Crul nicht fähig sind. Vielleicht haben sie irgendwo einen Nanoschwarm abgesetzt, etwas, das unser Blut vergiftet.«

»Nein«, erwiderte Nadala kategorisch.

»Ich bin geneigt, Nadala zuzustimmen«, sagte Megra. »Ich glaube nicht, dass der Feind etwas mit dem M-Faktor zu tun hat.«

»Mutationen?« Prizilla benutzte weiterhin die Allgemeinsprache L1. »Veränderungen in unserer genetischen Struktur, die wir nicht kontrollieren können? Wie ist das möglich? Unser Genom ist etwas, das wir genau kennen. Wir haben es immer wieder verändert und angepasst, um möglichst viele Welten zu besiedeln. Wir verstehen den Code, der unser Blut bestimmt. Wie kann es in ihm etwas geben, das sich gegen uns wendet?«

»Unsere Spezialisten arbeiten daran«, antwortete Nadala erneut anstelle der alten Fürsorgerin. »Vielleicht finden sie irgendwann eine Lösung des Problems. Bis dahin brauchen wir das neue Entwicklungsprogramm der Abteilung Acht. Ich werde es morgen dem Kongress vorstellen.«

Prizilla stand auf. »Ich möchte einen detaillierten Bericht von Ihnen. Noch heute.«

Nadala erhob sich ebenfalls, aber etwas langsamer. Ihr feuerrotes Haar wogte. »Sie werden ihn bekommen, Strategin.«

7

In einer Höhe von achthundert Metern und damit noch immer im unteren Drittel der Kathedrale saß Prizilla auf der großen Terrasse ihres Gästequartiers und beobachtete, wie die Nacht den Tag verdrängte. Die Dunkelheit bildete erst einen Streifen am Horizont, wurde dann zu einer Mauer und schließlich zu einer Flutwelle, die lautlos übers Land rollte, an den Lebenstürmen hochschwappte, die sich mit tausend und mehr Lichtern gegen sie wehrten, und dann auch die Kathedrale erreichte. Der Strom der Finsternis umarmte das gewaltige Bauwerk, kletterte an zehntausend Jahre alten Mauern empor, sprang von Terrasse zu Terrasse. Prizilla wartete, das summende Vibromesser in der rechten Hand. Der richtige Zeitpunkt, darauf kam es immer an; man musste den richtigen Zeitpunkt wählen.

Hinter ihr öffnete sich die Tür, und etwas Licht vom Salon fiel auf die Terrasse.

»Suprema?«, fragte Coridian behutsam. Er hatte das Messer gesehen. »Prizilla?«

»Keine Sorge«, sagte Prizilla und hielt das summende Vibromesser an die linke Hand. Eine dunkle Linie bildete sich in der Mitte.

Coridian schloss die Tür und kam näher.

Prizilla schaltete das Vibromesser aus und betrachtete die Wunde. Blut rann aus dem kleinen Schnitt, violett wie Amethyst.

»Das Blut einer Mutter.« Coridian setzte sich. »Das Blut einer Suprema.«

Prizilla atmete tief. »Ich werde nicht mehr lange Mutter sein. Und wer weiß, wie viel Zeit mir als Suprema bleibt.« Sie blickte in die Nacht, ohne die Zoomlinse im linken Auge zu benutzen. Die Lebenstürme leuchteten wie Fanale, doch abseits von ihnen verdichtete sich die Finsternis. »Wie viele Kongressmitglieder denken ähnlich wie Nadala?«

Ein leichter Wind nahm die Frage und trug sie fort. Prizilla betrachtete erneut die Hand. Die kleine Wunde hatte sich bereits wieder geschlossen – Nanobots reparierten den von der Vibroklinge angerichteten Schaden. Sie legte das silberne Messer auf den Tisch aus schneeweißem Granit.

»Unser Blut macht uns zu dem, was wir sind«, sagte Prizilla nachdenklich. »Aber was, wenn uns das Blut verrät? Wenn ein Feind darin lauert, ein innerer Feind, mächtiger vielleicht als der, der uns seit Jahrtausenden von außen bedroht?«

»Wir haben dem äußeren Feind standgehalten«, erklang Coridians tiefe Stimme. »Ebenso wenig werden wir uns von dem inneren besiegen lassen.«

Prizilla deutete zu den Lebenstürmen. »Nadalas Initiative nimmt uns die Kindheit. Sie nimmt uns einen wichtigen Teil unseres Lebens.«

Coridian ließ wieder ein Brummen vernehmen. »Vielleicht ist das der Preis, den wir für unser Überleben bezahlen müssen.«

»Könnte es sein …« Prizilla zögerte. Der Gedanke war heiß, er glühte in ihrem Geist, er schien einen Teil davon zu verbrennen. »Könnte es sein, dass der Preis für das Überleben zu hoch wird?«

Coridian, ein Mann wie ein Fels, bewegte sich neben ihr, und plötzlich fühlte sie seine Hand auf der Schulter, leicht wie ein welkes Blatt. »Zweifle nicht! Lass dich von Nadala nicht schwächen!«

Das geschah manchmal, wenn sie allein waren, in besonderen Momenten. Dann wurde aus dem distanzierten Sie ein nahes Du, wie zwischen zwei alten Freunden.

»Glaubst du, dass sie Zweifel in mir säen, dass sie mich schwächen will? Ist das ihre Absicht?«

»Es ist die Taktik der Taktikerin«, entgegnete Coridian. Die Hand blieb noch einige Sekunden länger auf Prizillas Schulter, bevor sie zurückwich. »Sie hätte dir vor Wochen oder Tagen einen Bericht übermitteln können. Stattdessen hat sie bis heute damit gewartet, bis einen Tag vor dem Kongress. Sie will dich verunsichern. Aber du bist stark. Du bist stärker als sie. Du wirst dich durchsetzen.«

»Bist du da so sicher, Coridian?«, fragte Prizilla leise.

»Ja.«

Eine Zeit lang sprach niemand. Sie teilten ihr Schweigen und kamen sich in der Stille vielleicht noch etwas näher.

Prizilla blickte zum dunklen Nachthimmel empor, der fast leer blieb. Es zeigten sich nur die Lichter der Orbitalstationen und im Süden die gelbbraune Scheibe eines kleinen Monds, aber es erschienen keine Sterne, nicht ein einziger. Das lag an der Absorptionssphäre, die das ganze Sonnensystem umgab und hundert Millionen Jahre alt war: eine gewaltige Schale, die das Licht der Sonne empfangen und in nutzbare Energie verwandelt hatte, nicht für Menschen, sondern für ein Volk, zu dessen Erben die Menschen geworden waren.

»Warum sind sie verschwunden, was meinst du, Coridian?«, fragte Prizilla, den Blick noch immer in den Himmel gerichtet, wie auf der Suche nach den Sternen.

»Die X?«

»Ist es nicht seltsam, dass wir sie immer noch so nennen? Nach all den Jahrtausenden? Hätte nicht längst jemandem ein besserer Name einfallen müssen?«

»Ein Provisorium, das zu einem Namen geworden ist«, sagte der alte Soldat. »Manche Dinge schlagen schnell Wurzeln, und dann ist es schwer, sie zu entfernen.«

»Du meinst, man gewöhnt sich an gewisse Dinge.«

»Ja.«

»Sie setzen sich fest, sie schlagen Wurzeln, wie du es nennst, und schließlich halten wir die Provisorien für etwas, das schon immer da war und immer da sein wird.«

»Wir gewöhnen uns daran«, sagte Coridian.

»Und wenn wir uns an etwas gewöhnt haben, stellen wir es nicht mehr infrage. So wie den Krieg gegen den Feind. Hast du jemals daran gedacht, wie viele Ressourcen ein Ende des Krieges freisetzen würde?«

Coridian überlegte einige Sekunden, bevor er antwortete: »Ich habe oft daran gedacht, welches Leben die Soldaten gelebt hätten, die bei den Kämpfen gegen die Crul gestorben sind.«

»Die Crul«, wiederholte Prizilla langsam. »Ich habe die Archive konsultiert. Es ist ein Wort aus einer der toten Sprachen und bedeutet ›grausam‹. Sind die Crul grausam, Coridian?«

Diesmal antwortete er sofort. »Sie kämpfen. Sie zerstören und töten. Sie sind unerbittlich, auch sich selbst gegenüber – wenn sie in eine ausweglose Situation geraten, desintegrieren sie sich, damit niemand von ihnen in Gefangenschaft gerät, damit wir nichts über sie erfahren. Aber sie quälen niemanden, also sind sie nicht grausam.«

»Und doch hat man sie so genannt, damals, als alles begann«, sagte Prizilla. »Eine tote Sprache … Wie kann eine Sprache sterben, Coridian, und was stirbt mit ihr, welche Ideen und Konzepte?«

»Du stellst seltsame Fragen.«

»Warum sind die Fragen seltsam?«, erwiderte sie. »Warum stellt sie heute niemand mehr?«

Als Coridian schwieg, deutete Prizilla nach oben. »Warum sind die X vor hundert Millionen Jahren verschwunden?«

»Wir wissen es nicht.«

»Was glaubst du?«, beharrte Prizilla. »Wie lautet deine Theorie?«

»Vielleicht verschwanden sie, weil sie schwach waren.«

Prizilla schüttelte den Kopf. »Sie waren stark, viel stärker als wir. Sie bauten die Absorptionssphären, groß wie Sonnensysteme; unsere Ingenieure wären zu nichts Vergleichbarem fähig. Sie bauten die Fulkren, Brücken über die Abgründe von Lichtjahren. Wir haben gelernt, etwa ein Prozent der Sphären-Anlagen zu verstehen und zu nutzen, nur ein Prozent, mehr nicht, und die Portale der Fulkren erlauben es uns, Kolonieschiffe und Soldaten selbst zu den fernsten Welten zu schicken – ohne sie hätten wir den Krieg längst verloren. Und doch verschwanden die X. In der Blüte ihrer Zivilisation verschwanden sie einfach, noch dazu innerhalb sehr kurzer Zeit. Was geschah mit ihnen, Coridian?«

»Vielleicht trafen sie auf jemanden, der stärker war als sie.«

»Es gab keine Bedrohung von außen, soweit wir wissen«, sagte Prizilla.

»Glaubst du, sie könnten einem inneren Feind erlegen sein, ihrer Version eines M-Faktors?«, fragte Coridian.

»Was auch immer damals geschehen ist: Es zeigt uns, dass nichts auf Dauer Bestand hat.«

»Du bist … beunruhigt«, sagte Coridian sanft.

»Ich habe mir Nadalas Bericht genau angesehen. Er passt zu den letzten Entwicklungsmustern, die sich bei meinen strategischen Berechnungen ergaben.« Prizilla betrachtete erneut ihre linke Hand. Nichts deutete mehr auf den Schnitt hin, aber sie glaubte, erneut das aus der kleinen Wunde quellende Blut zu sehen. Coridian irrte sich. Es war nicht in erster Linie das Blut einer Mutter und der Suprema, sondern das Blut der Strategin. Ihre Gedanken galten der Zukunft – oder den möglichen Zukünften –, so verlangte es das violette Blut. Die Mutter stand an zweiter Stelle, und die Suprema war vielleicht gar nicht vorgesehen.

»Der Pakt steuert auf eine schwere Krise zu«, sagte sie.

»Ewora die Große hat das gewusst. Deshalb hat sie dich zu ihrer Nachfolgerin ernannt. Weil sie dich für fähig hielt, einen Ausweg zu finden.«

»Ihre Entscheidung könnte die Krise noch verschärft haben«, befürchtete Prizilla. »Nadala ist gegen mich, das gibt sie offen genug zu verstehen. Und zweifellos würde sie zahlreiche Unterstützer im Kongress finden.«

»Wenn sie es darauf ankommen ließe«, warf Coridian ein. »Auf eine offene Konfrontation. Ich glaube nicht, dass sie dazu schon bereit ist.«

»Das Gesetz erlaubt ihr einen Wahlantrag. Sie könnte ihn morgen stellen.«

»Es gibt keine Garantie für sie, die Wahl zur Suprema zu gewinnen. Eine Niederlage bei der Abstimmung würde bedeuten, dass sie den nächsten Antrag erst in dreißig Jahren stellen kann. Ich vermute, dass sich Nadala gedulden wird. Sie verfolgt einen längerfristigen Plan.«

»Zusammen mit der Abteilung Acht.«

»Die Abteilung weitet ihren Einfluss aus, schon seit einer ganzen Weile«, sagte Coridian, und Prizilla hörte eine leise Warnung in seinem Tonfall. »Sie tat es bereits zu Eworas Amtszeit.«

»Ich besuche sie morgen, vor der Versammlung.« Prizilla wandte den Kopf und sah den alten Soldaten an. Die Dunkelheit der Nacht umgab sein Gesicht. In den Augen lag ein kleines Glitzern von den Lichtern der Lebenstürme. »Ich besuche das Mausoleum. Und ich habe vor, mit dem Orakel zu sprechen.«

Coridian wölbte die Brauen. »Es schweigt seit vielen Generationen. Niemand hat die Stimme des Orakels gehört seit …«

»Seit Asrine der Weisen vor fast fünftausend Jahren.«

»Das Orakel schläft. Vielleicht ist es tot – wie die Mütter im Mausoleum.«

»Wir werden sehen. Ich bin zum ersten Mal auf Memoria. Es ist mein erster Versuch.«

Drei oder vier Minuten lang teilten sie ein weiteres Schweigen. Dann fühlte Prizilla, wie Coridian ihre Hand ergriff, kurz zudrückte und sie wieder losließ. »Hab Vertrauen zu dir selbst! Zweifel kann Gift sein. Was wir brauchen, ist Entschlossenheit.«

»Zweifel schützt vor Selbstüberschätzung. Er schärft den Blick.«

»Du bist stark. Nutze deine Kraft!« Förmlich fügte Coridian hinzu: »Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich jetzt zurück.«

Prizilla nickte. Sie hörte seine Schritte auf der Terrasse und wie sich die Tür öffnete.

»Coridian?«

Er blieb in der offenen Tür stehen. »Ja?«

»Finde mehr heraus! Über Nadalas Pläne und die Abteilung Acht.«

Coridian neigte den Kopf. »Gehört und verstanden.«

Die letzten Menschen

8Jarl

Schließlich kam der Schlaf und mit ihm ein Traum.

Diesmal saßen sie nicht am Lagerfeuer und blickten in Flammen, die Holz fraßen und die Finsternis der Nacht auf Distanz hielten. Sie schritten durch ein stilles Felsental, einer dunklen Öffnung in der Flanke des Berges entgegen, der weiter vorn das Tal begrenzte und so weit aufragte, dass sein Gipfel in den Wolken verschwand. Nicht der Greis begleitete ihn, sondern eine Frau, die einen lehmbraunen Mantel trug, so lang, dass der Saum gelegentlich über den Boden strich. Schlangenbilder schmückten ihre Wangen und schienen lebendig zu werden, wenn sie lächelte.

»Bist du meine Mutter?«, fragte Jarl hoffnungsvoll.

»Nein«, antwortete sie sanft. »Nein, das bin ich nicht. Aber ich kenne sie, ich bin ihr einmal begegnet, vor vielen Jahren.«

»Ich würde sie gern kennenlernen.«

Die Frau – Jarl glaubte sich an ihren Namen zu erinnern: Jamelinda – legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vielleicht bekommst du irgendwann einmal Gelegenheit dazu.«

»Wie sieht sie aus? Wo ist sie?«

Die Hand wich von der Schulter und berührte ihn am Mund. »Nicht jetzt, Jarl. Nicht hier. An diesem Ort erwartet dich eine andere Geschichte.«

Sie blieb stehen, neben einem Felsen, der fast wie ein Mann mit erhobener Hand aussah, wie ein Wächter, der Wanderer anhielt, bevor sie in den dunklen Höhlenzugang traten. Jarl betrachtete ihn, und für einen Moment schien der Fels lebendig zu werden. Es war ein Moment seltsamer Intensität, wie er sie manchmal erlebte, wenn seine beiden Adapter die Sinne stimulierten und ihm Dinge zeigten, die Augen und Ohren sonst verborgen blieben. Er hörte die flüsternde Stimme des Windes, er fühlte Staub auf den Lippen, und er schien jedes einzelne Sandkorn auf dem Boden zu sehen, klar abgegrenzt von den anderen.

Die Schlangen auf Jamelindas Wangen bewegten sich, als sie sagte: »Du hast mich nach dem Krieg gefragt. Du hast mich gefragt, wie alles begann, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind.«

Habe ich das?, dachte Jarl. Er konnte sich nicht daran erinnern, solche Fragen an Jamelinda gerichtet zu haben.

»Es ist eine traurige Geschichte«, sagte die Frau in dem langen Mantel. »Bist du bereit dafür?«

Jarl nickte, und der nächste Schritt brachte ihn zum Höhleneingang – ein Schritt über mehr als zwanzig Meter. Jamelinda trat vor ihm in die Dunkelheit.

»Komm, Junge. Ich zeige dir, wie es begann.«

Ihre Stimme klang anders bei diesen Worten, düsterer, vielleicht wie ein Teil der Dunkelheit, die im Berg auf Jarl wartete. Er schauderte plötzlich. »Ist dies eine Gespensterwelt?«