Die Tigerfrau - Téa Obreht - E-Book
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Die Tigerfrau E-Book

Téa Obreht

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Beschreibung

Natalia arbeitet in einem Waisenhaus irgendwo in Südosteuropa, als sie vom rätselhaften Tod ihres geliebten Großvaters erfährt. Nach Erklärungen suchend, erinnert sich die junge Ärztin an jene Geschichten aus seinem Leben, die sich um zwei seltsame, fatale Gestalten drehen – die Tigerfrau, eine schöne Taubstumme in seinem Heimatdorf, die einen geflüchteten Tiger pflegte; und einen charmanten, obskuren Mann, der nicht sterben kann. Während Natalia auf den Spuren des Großvaters durch idyllische und kriegsverwüstete Landschaften reist, werden ihr diese Figuren immer gegenwärtiger. Bald entspinnt sich ein ganzer Kosmos an Mythen und Gestalten, und Natalia begreift, welche Wahrheit über die Lebensrätsel ihrer Familie und ihre versehrte Heimat in ihnen steckt … Sprachgewaltig, mit unvergesslichen Figuren und einer erzählerischen Virtuosität, die an Gabriel García Márquez erinnert, entwirft Téa Obreht das schmerzlich-schöne Bild einer zwischen gestern und heute gefangenen, mythengläubigen Welt. «Time» schrieb über «Die Tigerfrau»: «Liebe, Legende und Tod werden hier so wundervoll geschildert, dass jeder andere Roman in diesem Jahr Gefahr läuft, an der unheimlichen Schönheit dieses Buches gemessen zu werden. Seit Zadie Smith debütierte kein junger Autor mit solcher Kraft und Eleganz.»

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Seitenzahl: 526

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Téa Obreht

Die Tigerfrau

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

 

Über dieses Buch

Natalia arbeitet in einem Waisenhaus irgendwo in Südosteuropa, als sie vom rätselhaften Tod ihres geliebten Großvaters erfährt. Nach Erklärungen suchend, erinnert sich die junge Ärztin an jene Geschichten aus seinem Leben, die sich um zwei seltsame, fatale Gestalten drehen – die Tigerfrau, eine schöne Taubstumme in seinem Heimatdorf, die einen geflüchteten Tiger pflegte; und einen charmanten, obskuren Mann, der nicht sterben kann. Während Natalia auf den Spuren des Großvaters durch idyllische und kriegsverwüstete Landschaften reist, werden ihr diese Figuren immer gegenwärtiger. Bald entspinnt sich ein ganzer Kosmos an Mythen und Gestalten, und Natalia begreift, welche Wahrheit über die Lebensrätsel ihrer Familie und ihre versehrte Heimat in ihnen steckt …

Sprachgewaltig, mit unvergesslichen Figuren und einer erzählerischen Virtuosität, die an Gabriel García Márquez erinnert, entwirft Téa Obreht das schmerzlich-schöne Bild einer zwischen gestern und heute gefangenen, mythengläubigen Welt. «Time» schrieb über «Die Tigerfrau»: «Liebe, Legende und Tod werden hier so wundervoll geschildert, dass jeder andere Roman in diesem Jahr Gefahr läuft, an der unheimlichen Schönheit dieses Buches gemessen zu werden. Seit Zadie Smith debütierte kein junger Autor mit solcher Kraft und Eleganz.»

Vita

Téa Obreht, geboren 1985 in Belgrad, lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Dort veröffentlichte sie erste Erzählungen u.a. im «New Yorker», in «Harper’s» und der «New York Times». Ihr Debütroman «Die Tigerfrau» (2011), der in den USA und England zu einem sensationellen Überraschungserfolg wurde, war für den National Book Award nominiert und erscheint in mehr als dreißig Sprachen. Im Sommer 2011 erhielt Téa Obreht den angesehenen «Orange Prize for Fiction».

Für Štefan Obreht

In meiner frühesten Erinnerung ist mein Großvater kahl wie ein Stein und nimmt mich mit zu den Tigern. Er setzt seinen Hut auf und zieht den Regenmantel mit den großen Knöpfen an, und ich trage meine Lackschuhe und das Samtkleid. Es ist Herbst, und ich bin vier Jahre alt. Das Verlässliche daran: Großvaters Hand, das helle Zischen der Straßenbahn, die feuchte Morgenluft, das Gedränge den Hügel hinauf zum Zitadellenpark. Immer in Großvaters Brusttasche: Das Dschungelbuch mit dem Blattgoldeinband und den alten gelben Seiten. Ich darf es nicht in die Hand nehmen, aber es bleibt den ganzen Nachmittag aufgeschlagen auf seinem Knie liegen, und er liest mir Passagen daraus vor. Obwohl mein Großvater weder sein Stethoskop um den Hals hat noch den weißen Kittel trägt, nennt die Dame an der Kasse ihn «Herr Doktor».

Dann sind da der Popcornwagen, der Stand mit dem Sonnenschirm, ein kleiner Kiosk mit Postkarten und Bildern. Die Treppe hinunter und an der Voliere vorbei, wo die spitzohrigen Eulen schlafen, durch den von Käfigen gesäumten Park, der sich die gesamte Zitadellenmauer entlang erstreckt. Einst gab es hier einen König, einen Sultan, seine Janitscharen. Jetzt sind in die Kanonenfenster zur Straße hin Tröge eingemauert, in denen laues Wasser steht. Die Käfigstangen, rostorange, biegen sich nach außen. In der freien Hand trägt mein Großvater den blauen Beutel, den meine Großmutter für uns vorbereitet hat. Darin: sechs Tage alte Kohlköpfe für die Flusspferde, Karotten und Sellerie für die Schafe, das Rotwild und den Elchbullen, der wie eine Erscheinung ist. In der Hosentasche hat Großvater ein paar Zuckerstückchen für das Pony versteckt, das die Parkkutsche zieht. Ich werde das nicht als sentimentale Geste in Erinnerung behalten, sondern als Großzügigkeit.

Die Tiger leben im äußeren Festungsgraben. Wir steigen die Schlosstreppe hinauf, wo die Wasservögel und die schwitzenden Scheiben des Affenhauses sind, der Wolf, dem das Winterfell wächst. Wir gehen an den Bartgeiern vorbei und an den Bären, sie schlafen den ganzen Tag und riechen nach feuchter Erde und dem Tod von irgendetwas. Großvater hebt mich hoch, damit ich hinabschauen und die Tiger im Graben sehen kann.

Großvater nennt die Tigerfrau nie beim Namen. Er hält mich umfasst, meine Füße sind auf dem Geländer, und er sagt zum Beispiel: «Ich kannte einmal ein Mädchen, das liebte die Tiger so sehr, dass es beinahe selbst zu einem wurde.» Weil ich klein bin und meine Liebe zu Tigern von ihm habe, glaube ich, dass er von mir spricht, mir ein Märchen erzählt, in das ich mich hineinversetzen kann – und das werde ich noch viele Jahre lang tun.

Die Käfige liegen an einem Innenhof, und wir steigen die Treppe hinunter und gehen langsam von einem zum anderen. Es gibt hier auch einen Panther, Geisterflecken bleichen sein ölglattes Fell, und einen schläfrigen, aufgedunsenen Löwen aus Afrika. Die Tiger dagegen sind wach und wütend, sie glühen vor Zorn. Mit rollenden Schultern, peitschenhiebgestreift, laufen sie aneinander vorbei den schmalen Felsweg auf und ab, ihr Geruch ist sauer, warm und durchdringend. Er bleibt mir den ganzen Tag in der Nase, auch nachdem ich gebadet habe und ins Bett gegangen bin, und manchmal ist er völlig unerwartet wieder da: in der Schule, auf der Geburtstagsfeier einer Freundin und auch Jahre später noch, im pathologischen Labor oder auf der Fahrt von Galina nach Hause.

Auch hieran erinnere ich mich: einen Zwischenfall. Eine kleine Schar Menschen hat sich vor dem Tigerkäfig versammelt. Unter ihnen: ein Junge mit einem Luftballonpapagei, eine Frau im purpurnen Mantel und ein bärtiger Mann in der braunen Uniform eines Zoowärters. Der Mann hat einen Besen und ein Kehrblech mit langem Griff dabei und fegt den Boden zwischen Käfig und Besuchergeländer. Er geht hin und her, kehrt Safttüten und Bonbonpapier zusammen sowie die Popcornstückchen, die Zoobesucher den Tigern hingeworfen haben. Die Tiger laufen mit ihm auf und ab. Die Frau in Purpur sagt etwas und lächelt, und er lächelt zurück. Sie hat braunes Haar. Der Kehrblechwärter bleibt stehen und stützt sich auf den Besenstiel, und im selben Moment streicht der große Tiger vorbei, reibt sich rumpelnd an den Käfigstangen, und der Wärter streckt die Hand durchs Gitter und berührt ihn an der Flanke. Eine Sekunde lang: nichts. Dann die Hölle.

Der Tiger fährt herum, die Frau kreischt, und plötzlich steckt die Schulter des Kehrblechwärters zwischen den Stangen, er windet sich, dreht den Kopf weg und greift nach dem Geländer, um sich festzuhalten. Der Tiger hat den Arm des Kehrblechwärters zwischen den Pranken wie ein Hund einen großen Knochen und nagt daran. Zwei Männer, die mit ihren Kindern vor dem Käfig gestanden haben, springen übers Geländer, packen den Wärter an der Hüfte und dem rudernden Arm, wollen ihn wegziehen. Ein dritter Mann stößt seinen Schirm durch das Gitter, treibt ihn dem Tiger wieder und wieder in die Rippen. Ein aufgebrachtes Fauchen des Tigers, dann bäumt er sich halb auf, den Arm des Kehrblechwärters an sich gedrückt, und schüttelt den Kopf immer hin und her, als zerre er an einem Seil. Er hat die Ohren angelegt und macht ein Geräusch wie eine Lokomotive. Der Wärter ist weiß im Gesicht; er hat die ganze Zeit noch keinen Ton von sich gegeben.

Plötzlich lohnt es sich nicht mehr, und der Tiger lässt los. Die drei Männer fallen hin, Blut spritzt. Der Tiger schlägt mit dem Schwanz, und der Wärter kriecht unter dem Geländer durch und richtet sich auf. Die Frau in Purpur ist verschwunden. Großvater hat sich bis jetzt nicht abgewandt. Ich bin vier Jahre alt, aber auch mich hat er nicht weggedreht. Ich sehe alles mit an, und später wird mir klar, dass er es mich sehen lassen wollte.

Dann eilt der Wärter auf dem Weg zur Krankenstation in unsere Richtung, im Laufen wickelt er sich einen Fetzen Hemd um den Arm. Er ist wütend und knallrot im Gesicht. Vor Angst, wie ich in dem Moment glaube, doch später werde ich verstehen, dass es Verlegenheit war, Scham. Die Tiger sind aufgeregt, sie springen auf dem Bodenrost wild hin und her. Der Wärter hinterlässt eine dunkle Spur auf dem Kies. Als er an uns vorbeikommt, sagt Großvater: «Mein Gott, Sie sind aber auch ein Idiot», und der Mann gibt eine Antwort, die ich lieber nicht nachplappere.

Stattdessen sage ich, schrill und selbstgerecht in meinen Lackstiefelchen, mutig, weil mein Großvater mich an der Hand hält: «Das ist aber auch ein Idiot, stimmt’s, Großvater?»

Doch er zieht mich schon hinter sich her und ruft dem Kehrblechwärter nach, er solle stehen bleiben, damit er ihm helfen könne.

1Die Küste

Die vierzig Tage der Seele beginnen am Morgen nach dem Tod. In der ersten Nacht vor den vierzig Tagen liegt die Seele still auf verschwitzten Kissen und sieht zu, wie die Lebenden die Hände falten und die Augen schließen und das Zimmer mit Weihrauch und Schweigen vernebeln, damit die neue Seele von den Türen und Fenstern und Rissen im Fußboden fernbleibt und nicht aus dem Haus rinnt wie ein Bach. Die Lebenden wissen, dass die Seele sie bei Tagesanbruch verlassen und sich auf den Weg zu den Orten ihrer Vergangenheit machen wird – zu den Schulen und Schlafsälen ihrer Jugend, Militärbaracken und Kasernen, Häusern, die dem Erdboden gleichgemacht und wieder aufgebaut wurden, Orten, die sie an Liebe und Schuld erinnern, an Mühsal und unbändiges Glück, an Zuversicht, Ekstase und Momente der Gnade, die für jeden anderen bedeutungslos sind – und manchmal wird diese Reise sie für so lange Zeit in so weite Ferne führen, dass sie zurückzukehren vergisst. Aus diesem Grund lassen die Lebenden ihre Rituale vorerst ruhen: Damit der eben befreite Geist sich zu Hause stets willkommen fühlt, geloben sie, sein Hab und Gut vierzig Tage lang nicht zu waschen, zu säubern, auf- oder gar wegzuräumen. Denn sie hoffen, Sentimentalität und Sehnsucht werde die Seele wieder nach Hause bringen, sie ermuntern, mit einer Botschaft, einem Zeichen oder mit Vergebung zurückzukommen.

Auf die rechte Weise angelockt, wird die Seele sich im Lauf der Tage also wieder einfinden, wird in Schubladen kramen, in Schränke spähen und den greifbaren Trost ihrer Identität als Lebende suchen, indem sie Geschirrständer, Türglocke, Telefon inspiziert und sich ihren Zweck vergegenwärtigt, dabei unentwegt Dinge berühren, die Geräusche machen, und so den Bewohnern des Hauses ihre Anwesenheit kundtun.

Das rief mir meine Großmutter, mit schwacher Stimme in den Hörer sprechend, ins Gedächtnis, nachdem sie mir gesagt hatte, dass Großvater gestorben sei. Für sie waren diese vierzig Tage eine Tatsache, gesunder Menschenverstand; das Wissen darum war ihr von den Begräbnissen ihrer Eltern, einer älteren Schwester sowie etlicher Verwandter und Fremder aus ihrer Heimatstadt geblieben, war eine Formel, die sie Großvater vorgebetet hatte, wann immer er einen Patienten verlor, für den er besonders viel getan hatte – Aberglaube, wenn man ihn fragte, allerdings einer, den er ihr mit leiser werdendem Protest gelassen hatte, je mehr das Alter ihre Überzeugungen zementierte.

Großmutter war entsetzt, ja böse, weil wir seiner vierzig Tage beraubt worden seien, von denen uns aufgrund der Todesumstände jetzt nur noch siebenunddreißig oder achtunddreißig blieben. Großvater war allein gestorben, auf Reisen, fern von zu Hause; sie hatte nicht gewusst, dass er schon tot war, als sie am Tag zuvor seine Sachen gebügelt oder am Morgen das Geschirr gespült hatte, und sie konnte die spirituellen Folgen ihrer Ahnungslosigkeit nicht absehen. Er war in der Klinik einer ominösen Stadt namens Zdrevkov auf der anderen Seite der Grenze gestorben; niemand, mit dem Großmutter bisher gesprochen hatte, wusste, wo dieses Zdrevkov lag, und als sie mich fragte, sagte ich ihr die Wahrheit: Ich hätte keinen Schimmer, was er dort gewollt habe.

«Du lügst», sagte sie.

«Nein, Bako, ich lüge nicht.»

«Er hat uns gesagt, er wollte zu dir.»

«Das kann nicht sein», sagte ich.

Er hatte sie belogen, das wurde mir jetzt klar, und mich auch. Meine Reise quer durchs Land hatte ihm als Vorwand gedient, sich aus irgendeinem Grund, den wir beide nicht kannten, aus dem Staub zu machen – vor einer Woche, sagte sie, mit dem Bus, kurz nachdem ich aufgebrochen sei. Die Leute in der Klinik von Zdrevkov hatten nach seinem Tod volle drei Tage gebraucht, um Großmutter ausfindig zu machen, sie und meine Mutter zu benachrichtigen und den Leichnam zu überführen. An diesem Morgen war er im städtischen Leichenschauhaus eingetroffen, doch da befand ich mich schon gut sechshundert Kilometer von zu Hause entfernt und stand in der Toilettenanlage der letzten Tankstelle vor der Grenze, barfuß auf rutschigen grünen Kacheln vor einem kaputten Waschbecken, den Hörer des Münztelefons am Ohr, Hosenbeine hochgekrempelt, Sandalen in der Hand.

Irgendwer hatte einen Schlauch am Wasserhahn festgeschraubt, der mit der Düse nach unten von den Boilerrohren hing und dünne Rinnsale auf den Boden hustete, offenbar schon seit Stunden: Überall stand Wasser, es hatte die Kachelrillen überflutet, sich um das Hock-Klosett gesammelt und rieselte über die Türschwelle in den vertrockneten Garten hinter der Baracke. Nichts von alledem störte die Toilettenfrau, eine mittelalte Person mit einem orangefarbenen Tuch ums Haar, die ich auf einem Stuhl in der Ecke dösend angetroffen und mit einem Packen kleiner Scheine hinausgeschickt hatte, bevor ich den Hörer abnahm – voller Angst, weil mein Pager sieben verpasste Anrufe von meiner Großmutter anzeigte.

Ich war wütend auf sie, weil sie mir nicht erzählt hatte, dass Großvater zu einer Reise aufgebrochen war. Ihr und meiner Mutter hatte er gesagt, er mache sich Sorgen wegen meines humanitären Einsatzes, der Schutzimpfungen im Waisenhaus von Brejevina, und wolle nachkommen, um zu helfen. Aber ich konnte nun nicht gut mit meiner Großmutter schimpfen, ohne mich selbst zu verraten, denn sie hätte mir bestimmt alles gesagt – hätte sie von seiner Krankheit gewusst, die Großvater und ich ihr verheimlicht hatten. Also ließ ich sie reden und erzählte ihr nicht, dass ich drei Monate zuvor dabei gewesen war, als er in der Militärakademie für Medizin die Diagnose erhalten hatte, und wie der Onkologe, ein alter Kollege von ihm, den er allwöchentlich beim Ärztestammtisch sah, ihm die Aufnahmen gezeigt und Großvater seinen Hut auf ein Knie gelegt und gesagt hatte: «Scheiße. Da sucht man nach einer Mücke und sticht in ein Hornissennest.»

Ich steckte noch zwei Münzen in den Schlitz, und das Telefon surrte. Spatzen vollführten Sturzflüge von den Steinsimsen der Toilettenwände in die Pfützen zu meinen Füßen und schüttelten sich im Wasser. Draußen hatte die Sonne den frühen Nachmittag totenstill gebacken, die heiße, feuchte Luft stand mit mir im Raum und flimmerte in der Tür zur Straße, wo die Autos an der Grenze dicht an dicht hintereinander auf dem glasigen Asphalt warteten. Ich konnte unseren Wagen sehen, den ein kleiner Zusammenstoß mit einem Traktor links eingedellt hatte, und Zóra, die bei offener Tür auf dem Fahrersitz saß, eins ihrer langen Beine auf dem Boden, und den Blick immer häufiger zur Toilette schnellen ließ, je weiter sie in der Schlange vorrückte.

«Der Anruf kam gestern Abend», sagte Großmutter etwas lauter. «Und ich dachte, sie haben sich geirrt. Ich wollte dich nicht anrufen, bevor wir nicht sicher waren, ich wollte dich nicht beunruhigen, falls er es gar nicht ist. Aber deine Mutter ist heute Morgen im Leichenschauhaus gewesen.» Sie schwieg einen Moment und sagte dann: «Ich verstehe das nicht, ich verstehe das alles überhaupt nicht.»

«Ich auch nicht, Bako», sagte ich.

«Er war auf dem Weg zu dir.»

«Davon wusste ich nichts.»

Dann änderte sich ihr Ton. Sie war misstrauisch, meine Großmutter, weil ich nicht weinte, nicht hysterisch wurde. In den ersten zehn Minuten des Gesprächs hatte sie sich wahrscheinlich noch zu glauben gestattet, dass ich so ruhig blieb, weil ich in einem fremden Krankenhaus war, im Dienst, womöglich von Kollegen umgeben. Sie wäre viel früher argwöhnisch geworden, hätte sie gewusst, dass ich mich in einem Toilettenhäuschen an der Grenze versteckte, damit Zóra nicht mithörte.

Sie setzte nach: «Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?»

«Ich weiß nicht, Bako. Warum sollte er dich anlügen und dir sagen, dass er zu mir wollte?»

«Du hast nicht gefragt, ob es vielleicht ein Unfall war», sagte sie. «Warum hast du das nicht gefragt? Warum fragst du nicht, wie er gestorben ist?»

«Ich wusste ja nicht mal, dass er von zu Hause weggefahren ist», sagte ich. «Ich wusste nichts von alldem.»

«Du weinst gar nicht», sagte sie.

«Du auch nicht.»

«Deine Mutter ist verzweifelt», antwortete sie. «Er muss es gewusst haben. Sie sagen, er sei sehr krank gewesen – also hat er es gewusst und bestimmt auch jemandem erzählt. Hat er es dir erzählt?»

«Wenn er es gewusst hätte, wäre er doch nirgendwo mehr hingefahren», sagte ich und hoffte, es klang überzeugend. «So unvernünftig wäre er nicht gewesen.» Auf einem Metallregal über dem Spiegel lagen weiße Handtücher, ordentlich gestapelt. Ich nahm eins, um mir Gesicht und Hals abzuwischen, dann noch eins, und meine Haut hinterließ graue Schmierflecken auf einem Handtuch nach dem anderen, bis ich fünf benutzt hatte. Da es keinen Wäschekorb gab, warf ich sie ins Becken. «Wo ist das, wo sie ihn gefunden haben?», fragte ich. «Wie weit ist er gefahren?»

«Ich weiß es nicht», antwortete sie. «Das haben sie uns nicht gesagt. Irgendwo hinter der Grenze.»

«Vielleicht ist es eine Spezialklinik», sagte ich.

«Er war auf dem Weg zu dir.»

«Hat er einen Brief hinterlassen?»

Das hatte er nicht. Mutter und Großmutter hatten seinen Aufbruch anscheinend als weiteres Zeichen genommen, dass er für den Ruhestand noch nicht bereit war, genauso wie die Betreuung jenes neuen, ans Haus gefesselten Patienten außerhalb der Stadt – eines Patienten, den wir als Tarnung der Besuche bei seinem Onkologen-Freund erfunden hatten, welcher ihm Spritzen mit verschiedenen Rezepturen gegen die Schmerzen verabreichte. Farbenfrohe Mixturen, sagte Großvater, wenn er zurückkam, als ginge er davon aus, dass es sich bloß um Wasser mit Lebensmittelfarbe handelte; als spielte es keine Rolle mehr. Zuerst hatte er sich sein gesundes Äußeres noch mehr oder weniger bewahrt, was es einfacher machte, die Krankheit zu verbergen; doch als ich ihn ein einziges Mal direkt von einer dieser Behandlungen hatte kommen sehen, drohte ich ihm, es Mutter zu sagen. «Untersteh dich», hatte er entgegnet, und damit war der Fall erledigt.

Großmutter fragte mich jetzt: «Seid ihr schon in Brejevina?»

«Wir sind an der Grenze», sagte ich. «Wir kommen gerade von der Fähre.»

Draußen setzte sich die Autoschlange wieder in Bewegung. Ich sah, wie Zóra ihre Zigarette austrat, das Bein einzog und die Tür zuknallte. Ein Gewusel von Leuten. Viele hatten sich auf dem Seitenstreifen versammelt, um sich die Füße zu vertreten und zu rauchen, um ihre Reifen zu prüfen und Wasserflaschen zu füllen, Gebäck und belegte Brote wegzuwerfen, die sie hatten hinüberschmuggeln wollen, oder an die Außenwand der Toilette zu pinkeln, zwischendurch immer wieder gereizt zur Schlange blickend. Nun eilten sie zu ihren Wagen zurück.

Großmutter schwieg einige Sekunden lang. Ich hörte es in der Leitung klicken. Dann sagte sie: «Deine Mutter möchte, dass die Beerdigung innerhalb der nächsten paar Tage stattfindet. Könnte Zóra nicht allein weiter nach Brejevina fahren?»

Wenn ich Zóra eingeweiht hätte, wäre genau das passiert. Sie hätte mich zum Umkehren gezwungen, hätte mir das Auto überlassen, die Kühlboxen genommen und wäre über die Grenze getrampt, um den Impfstoff zum Waisenhaus in Brejevina oben an der Küste zu bringen, denn das war der Auftrag, mit dem uns die Universität betraut hatte. Aber ich sagte: «Wir sind schon fast da, Bako, und viele Kinder warten auf diese Spritzen.»

Sie fragte nicht noch einmal. Großmutter nannte mir nur Datum, Zeit und Ort der Beerdigung, obwohl ich schon wusste, wo sie stattfinden würde, auf dem Strmina, dem Hügel über der Stadt, wo Mutter Vera, meine Ururgroßmutter, begraben war. Nachdem sie aufgelegt hatte, stellte ich mit dem Ellbogen den Wasserhahn an und füllte die Flaschen, die mir als Vorwand zum Aussteigen gedient hatten. Draußen auf dem Schotter spülte ich mir die Füße ab, bevor ich die Schuhe wieder anzog; Zóra sprang bei laufendem Motor aus dem Auto, um auch auf die Toilette zu gehen, also stieg ich auf der Fahrerseite ein, rutschte, weil ich kleiner bin als sie, mit dem Sitz nach vorn und sah nach, ob unsere Berechtigungsscheine und Arzneimittel-Importpapiere in der richtigen Reihenfolge auf dem Armaturenbrett lagen. Zwei Wagen vor uns öffnete ein behandschuhter Zollbeamter, dem sein grünes Hemd an der Brust klebte, den Kofferraum eines älteren Paares, beugte sich vorsichtig darüber und zog die Reißverschlüsse mehrerer Gepäckstücke auf.

Als Zóra zurückkam, erzählte ich ihr nichts von Großvater. Wir hatten beide ein trostloses Jahr hinter uns. Ich hatte den Fehler gemacht, bei dem Streik im Januar mit den Krankenschwestern auf die Straße zu gehen, und war zum Lohn dafür auf unbestimmte Zeit von der Klinik in Vojvodja suspendiert und monatelang nach Hause verbannt worden – in gewisser Weise ein Segen, denn so war ich da, als Großvater seine Diagnose bekam. Auch er war zunächst froh darüber gewesen, obgleich er keine Gelegenheit ausließ, mich wegen der Suspendierung als dumme Gans zu beschimpfen. Als seine Krankheit weiter voranschritt, verbrachte er immer weniger Zeit daheim und beschwor mich, es ihm gleichzutun; das sei allemal besser, als mit griesgrämiger Miene drinnen herumzulungern und ihm eine Höllenangst einzujagen, wenn er nachts aufwachte und mich ohne seine Brille als verschwommene Gestalt über seinem Bett aufragen sähe. Mein Verhalten mache Großmutter argwöhnisch, es lenke ihre Aufmerksamkeit auf unser Schweigen, unsere stille Verständigung, dazu auf die Tatsache, dass wir jetzt, im Ruhestand beziehungsweise suspendiert, so seltsam beschäftigt schienen. Ich solle mir Gedanken über meine Facharztrichtung machen, darüber, was ich nach meiner Suspendierung anfangen wolle – es überrasche ihn nicht, dass Srdjan, ein Professor der Biochemietechnik, mit dem ich mich «in die Wolle gekriegt» hätte, wie er sich ausdrückte, vor dem Suspendierungskomitee nicht für mich eingetreten sei. Schließlich hatte ich auf Großvaters Vorschlag wieder angefangen, als Freiwillige für das «Vereinigte-Kliniken-Programm» der Universität zu arbeiten, was ich seit Kriegsende nicht mehr getan hatte.

Zóra nahm den Einsatz als Vorwand, um einem Schlamassel an der Militärakademie für Medizin zu entfliehen. Vier Jahre nach ihrem Examen war sie noch immer am Zentrum für Unfallchirurgie und hoffte, die Bandbreite an Behandlungsmethoden dort würde ihr bei der Entscheidung für eine Facharztrichtung helfen. Unglücklicherweise arbeitete sie die meiste Zeit unter einem Chefarzt, der als «Eisenhandschuh» stadtbekannt war – ein Name, den er sich einst als Chef der Geburtshilfe erworben hatte, weil er die vielen Silberarmreife an seinem Handgelenk auch bei gynäkologischen Untersuchungen nicht abnahm. Zóra war eine Frau mit Prinzipien, eine erklärte Atheistin. Als sie dreizehn war, hatte ein Priester behauptet, Tiere hätten keine Seele, worauf sie «Na dann, scheiß auf dich, Pope» erwidert hatte und aus der Kirche marschiert war. Vier Jahre Kräftemessen mit Eisenhandschuh hatten in einem Vorfall gegipfelt, über den Zóra auf Geheiß des Staatsanwalts unter allen Umständen zu schweigen hatte, ein Verbot, an das sie sich sogar mir gegenüber hielt. Nach allem, was ich auf den Krankenhausfluren aufgeschnappt hatte, ging es um einen Eisenbahnarbeiter, einen Unfall und eine Fingeramputation, in deren Verlauf Eisenhandschuh, möglicherweise alkoholisiert, so etwas gesagt hatte wie: «Keine Sorge, mein Lieber – beim zweiten Finger sehen Sie viel leichter zu, da können Sie nämlich auf den ersten beißen.»

Natürlich wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet, und Zóra war vorgeladen worden, um gegen Eisenhandschuh auszusagen. Trotz seines Rufs verfügte er in Medizinerkreisen noch immer über gute Beziehungen, und Zóra war hin- und hergerissen zwischen der Versuchung, einen Mann, den sie seit Jahren verabscheute, ans Messer zu liefern, und der Sorge, damit ihre erst beginnende Laufbahn und ihren eigenen Ruf aufs Spiel zu setzen; zum ersten Mal konnte ihr niemand – weder ich noch ihr Vater noch ihr damaliger Freund – sagen, was besser wäre. Nach unserem Aufbruch hatten wir zunächst eine Woche im Hauptquartier der Vereinigten Kliniken verbracht, um auf den Einsatz vorbereitet zu werden, und die ganze Zeit hatte sie sich meiner Neugier mit demselben hartnäckigen Schweigen verweigert wie den permanenten Anrufen des Staatsanwalts. Tags zuvor hatte sie dann unerwartet erklärt, sie würde doch gern meinen Großvater um Rat fragen, sobald wir wieder in der Stadt wären. Sie hatte ihn im vergangenen Monat nicht gesehen, hatte nicht mitbekommen, wie sein Gesicht immer grauer und die Haut um seine Knochen allmählich lockerer wurde.

Wir beobachteten, wie der Zollbeamte zwei Einweckgläser voller Kiesel konfiszierte, die das ältere Paar wohl am Strand gesammelt hatte, und den nächsten Wagen durchwinkte. Als wir an der Reihe waren, nahm er sich zwanzig Minuten Zeit, unsere Reisepässe, Personalausweise und Bestätigungsschreiben der Universität zu prüfen. Er öffnete die Medikamentenkühler und stellte sie in einer Reihe auf den Asphalt, während Zóra, die Arme vor der Brust verschränkt, sich neben ihm aufbaute und schließlich sagte: «Ihnen ist ja sicher klar, dass wir die Sachen in einem Kühler aufbewahren, weil sie temperaturempfindlich sind – oder kriegt man in der Dorfschule nichts über Kühlschränke beigebracht?» Sie wusste genau, dass alles seine Ordnung hatte und dass er uns nichts anhaben konnte. Ihre Dreistigkeit veranlasste ihn freilich dazu, das Auto eine weitere halbe Stunde lang nach Waffen, blinden Passagieren, Meeresfrüchten und illegal mitgeführten Haustieren zu durchsuchen.

Zwölf Jahre früher, vor dem Krieg, hatten die Leute von Brejevina zu uns gehört. Die Grenze war ein Witz gewesen, eine bloße Formalität, man überquerte sie fahrend, fliegend oder zu Fuß, ganz wie man wollte, durch Wälder, zu Wasser, über offenes Land. Man brachte den Zollbeamten belegte Brote oder eingemachte Paprika mit, und niemand fragte einen nach dem Namen – obwohl sich, wie jetzt ans Licht kam, anscheinend alle immer schon sehr dafür interessiert hatten, wie ein Name begann und endete. Unser Einsatz in Brejevina sollte dem Wiederaufbau dienen. Zusammen mit der städtischen Verwaltung wollte unsere Universität mehrere Waisenhäuser einrichten und junge Leute von der anderen Seite der Grenze wieder in die Stadt locken. Das war das langfristige diplomatische Ziel unserer Reise – einfach gesagt, sollten Zóra und ich dort Kinder, die von unseren eigenen Soldaten zu Waisen gemacht worden waren, medizinisch versorgen. Wir sollten sie auf Lungenentzündung, Tuberkulose und Läuse untersuchen und gegen Masern, Mumps, Röteln und diverse andere Krankheiten impfen, denen sie im Krieg und den darauf folgenden Jahren der Not schutzlos ausgeliefert gewesen waren. Unser Verbindungsmann in Brejevina, ein enthusiastischer, gastfreundlicher Franziskanermönch namens Fra Antun, kontaktierte uns, während wir unterwegs waren, mehrfach über den Pager, um sicherzugehen, dass wir überall ungehindert durchkamen, und uns mitzuteilen, dass seine Eltern sich freuten, uns als Gäste bei sich aufzunehmen, was denkbar praktisch für uns war. Er klang immer fröhlich, besonders für einen Mann, der in den vergangenen drei Jahren darum gekämpft hatte, die Gründung und den Bau des ersten staatlichen Waisenhauses an der Küste finanziert zu bekommen, und der unterdessen sechzig Waisenkinder in einem für zwanzig Mönche errichteten Kloster beherbergte.

Zóra und ich hatten dieses karitative Unternehmen zusammen angepackt, bevor sich unsere Wege zum ersten Mal, seit wir uns kannten, seit mehr als zwanzig Jahren also, trennen würden. Wir nahmen uns vor, unsere weißen Kittel auch außerhalb des Dienstes zu tragen, um zugleich vertrauenswürdig und einschüchternd zu wirken. Wir machten ja durchaus etwas her mit unseren vier Kühlern voller MMR-II- und IPV-Ampullen und den Kisten mit Süßigkeiten, die das unvermeidliche Geheul und Geschrei der Kinder eindämmen sollten. Wir hatten eine alte Landkarte dabei, die wir noch jahrelang, auch als sie längst nicht mehr stimmte, im Wagen ließen. Immerhin hatten wir sie bei all unseren gemeinsamen Fahrten benutzt, die vielen Filzstiftmarkierungen kündeten davon: die gestrichelten Gebiete, die wir auf dem Weg zu irgendeiner Ärztetagung hatten meiden sollen, das Strichmännchen mit den Skiern in der Hand, an unserem Lieblingsort in den Bergen, der nun nicht mehr zu unserem Land gehörte.

Dieses Zdrevkov, wo mein Großvater gestorben war, konnte ich auf der Karte nicht finden. Brejevina war auch nicht darauf, aber das hatten wir vorher gewusst und es selbst eingezeichnet. Es war eine kleine Stadt am Meer, vierzig Kilometer östlich der neuen Grenze. Wir fuhren durch rot gedeckte Dörfer, die sich an die Küste drängten, vorbei an Kirchen und Pferdekoppeln und abschüssigen, vor violetten Glockenblumen leuchtenden Feldern und sonnenglänzenden Wasserfällen, die oberhalb der Straße aus der blanken Felswand hervorgeschossen kamen. Ab und zu tauchten wir in hohe Kiefernwälder ein, mit Olivenbäumen und Zypressen dazwischen, und wenn der Wald zum Tal hin abfiel, blitzte das Meer auf wie ein Messer. Teils war die Straße gut asphaltiert, aber es gab auch kaputte Abschnitte voller Schlaglöcher und Schotter, die seit Jahren nicht ausgebessert worden waren.

Der Wagen holperte über die Rillen des Seitenstreifens, und ich konnte die Glasampullen in den Kühlern zittern hören. Etwa dreißig Kilometer hinter Brejevina mehrten sich Schilder, die auf Pensionen und Restaurants hinwiesen, Touristenstätten, die allmählich wieder auf die Reize der Inseln vor der Küste zu zählen begannen. Wir sahen Stände mit Obst und Spezialitäten, Reklameschildchen für hausgemachte Pfefferkekse und Weinblatt-Rakija, Honig aus der Gegend, Sauerkirschen- und Feigenkonfitüre. Der Pager zeigte drei verpasste Anrufe meiner Großmutter, aber Zóra hatte das Handy, und solange sie neben mir im Auto saß, konnte ich sowieso nicht mit Großmutter sprechen. Wir hielten an der nächsten Rastmöglichkeit mit Telefon – einem Straßengrill mit blauer Markise und einem Plumpsklo auf dem angrenzenden Feld.

Neben dem Grill parkte ein LKW, und eine lange Schlange Soldaten drängte sich vor der Theke. Die Männer trugen Tarnanzüge. Sie fächelten sich mit ihren Mützen Luft zu und winkten, als ich aus dem Auto stieg und zur Telefonzelle ging. Ein paar jugendliche Zigeuner aus dem Ort, die Handzettel für einen neuen Nachtclub in Brac verteilten, lachten mich an. Dann rannten sie zum Auto, um von Zóra Zigaretten zu schnorren.

Von der Zelle aus konnte ich den Militär-LKW mit seiner staubigen, gefalteten Plane und den Grillrost von Boros Buletten sehen, an dem ein großer Mann, Boro vermutlich, mit der Klinge eines riesigen Messers flache Buletten, Kalbssteaks und Würstchen wendete. Hinter seinem Stand, auf dem Feld, war eine komische braune Kuh angepflockt – und ich dachte plötzlich, dass Boro sein Messer bestimmt routinemäßig sowohl für solche Kühe zum Schlachten als auch für die Burger und zum Brotschneiden benutzte, und der Soldat, der gerade bei den Gewürzen stand und mit dem Löffel kleingewürfelte Zwiebeln auf seinem Burger verteilte, tat mir ein bisschen leid.

Während der Fahrt hatte ich meine Kopfschmerzen nicht bemerkt, doch als meine Großmutter nach dem sechsten Klingeln abnahm und auf ihre Stimme der schrille Ton ihres Hörgeräts folgte und sich mir durch die Leitung hindurch in die Schädelbasis spießte, schlugen sie zu. Es piepte zart, als meine Großmutter den Apparat leiser stellte. Im Hintergrund hörte ich meine Mutter, die ruhig, aber bestimmt mit jemandem sprach, der vermutlich einen Beileidsbesuch abstattete.

Meine Großmutter war vollkommen aufgelöst. «Seine Sachen sind weg.»

Ich sagte ihr, sie solle sich beruhigen und mir erklären, was sie meinte.

«Seine Sachen!», sagte sie. «Die Sachen deines Großvaters sind … Deine Mutter war im Leichenschauhaus, und sie hatten seinen Anzug und seinen Mantel und seine Schuhe da, aber seine Sachen, Natalia – alle weg, sie sind nicht bei ihm.»

«Was für Sachen?»

«Ach, Herrgott – ‹was für Sachen›!» Ich hörte es klatschen, als hätte sie sich mit der Hand auf den Schenkel geschlagen. «Verstehst du mich nicht? Ich sage dir, seine Sachen sind weg – diese Dreckskerle in der Klinik haben sie ihm gestohlen, seinen Hut und seinen Schirm, sein Portemonnaie. Denk doch nur – kannst du dir das vorstellen? Einen Toten zu bestehlen.»

Ich konnte es mir vorstellen, ich hatte an unserem eigenen Krankenhaus von solchen Vorkommnissen gehört. Es passierte immer wieder, meistens bei den Toten, um die sich keiner kümmerte, und oft hatte es kaum Konsequenzen. Aber ich sagte: «Manchmal gibt es auch Verwechslungen. Es kann ja keine große Klinik gewesen sein, Bako. Vielleicht kommen die Sachen später nach. Oder sie haben vergessen, sie euch zu schicken.»

«Seine Uhr, Natalia.»

«Bitte, Bako.» Ich dachte an seine Manteltasche und das Dschungelbuch und wollte sie schon fragen, ob es ebenfalls fehlte; aber bislang hatte Großmutter noch nicht geweint, und mir graute davor, etwas zu sagen, was sie zum Weinen bringen würde. In diesem Moment muss mich auch der Gedanke an den Mann gestreift haben, der nicht sterben konnte; doch das kam mir erst später wieder zu Bewusstsein.

«Seine Uhr.»

«Hast du die Nummer der Klinik?», fragte ich. «Hast du die Leute mal angerufen?»

«Andauernd», sagte sie. «Aber es nimmt nie einer ab. Da ist keiner. Sie haben seine Sachen genommen. Gott, Natalia, seine Brille ist weg.»

Seine Brille, dachte ich – die Art, wie er sie putzte, wie er fast das ganze Glas in den Mund steckte, um es anzuhauchen, bevor er es mit dem kleinen Seidenläppchen, das er immer in der Tasche hatte, sauber wischte– , und eine kalte Starre kroch in meine Rippen und blieb dort.

«Was ist das für ein Ort, wo er gestorben ist?», fragte Großmutter gerade. Ihre Stimme, heiser vom lauten Reden, begann zu brechen.

«Ich weiß es nicht, Bako», sagte ich. «Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass er fortgegangen ist.»

«Nichts von alledem wäre passiert – aber ihr beide musstet ja lügen, ihr hattet ja ständig was miteinander zu flüstern. Er lügt, du lügst.» Ich hörte, dass Mutter ihr den Hörer wegzunehmen versuchte und Großmutter «nein» sagte. Währenddessen sah ich Zóra aus dem Wagen steigen. Sie streckte sich langsam und schloss die Tür ab; die Kühlboxen ließ sie im Fußraum des Beifahrersitzes stehen. Die Zigeuner lehnten sich hinten gegen die Stoßstange und ließen eine Zigarette herumwandern. «Bist du sicher, dass er keine Nachricht hinterlassen hat?» Was denn für eine Nachricht?, fragte Großmutter, und ich sagte: «Irgendwas. Irgendeine Botschaft.»

«Wenn ich’s dir doch sage, ich weiß es nicht», antwortete sie.

«Was hat er gesagt, als er aufgebrochen ist?»

«Dass er zu dir wollte.»

Jetzt war es an mir, misstrauisch zu werden, mir zu überlegen, wer was gewusst hatte und ob es nicht auch Dinge gab, von denen wir beide nichts ahnten. Er hatte sich auf die Regeln verlassen, die sich über die Jahre in unserer Familie eingeschliffen hatten – die Neigung, uns gegenseitig anzulügen, was unsere Gesundheit oder unseren Aufenthaltsort betraf, um die Gefühle der anderen zu schonen und ihnen Ängste zu ersparen; wie damals, als Mutter sich bei einem Sturz vom Garagendach unseres Seehäuschens in Verimovo das Bein gebrochen hatte und wir meinen Großeltern erzählten, wir müssten länger bleiben, weil es im Haus eine Überschwemmung gegeben habe; oder als Großmutter in einer Klinik in Strekovac am offenen Herzen operiert worden war, während Mutter und ich in seliger Ahnungslosigkeit Urlaub in Venedig machten und Großvater durch eine knisternde und knackende Telefonleitung, die nur unsere eigene sein konnte, behauptet hatte, er habe Großmutter zu einer spontanen Kurzreise nach Luzern entführt.

«Gib mir mal die Nummer von dieser Klinik», sagte ich.

«Wozu?», fragte Großmutter, noch immer argwöhnisch.

«Gib sie mir einfach.» Ich holte ein zerknittertes Rezept aus der Manteltasche und drückte es gegen die Scheibe. Der einzige Stift, den ich dabeihatte, war ein winziger Bleistiftstummel; Großvaters Einfluss, diese Angewohnheit, jeden Bleistift so lange zu benutzen, bis man ihn kaum noch zwischen den Fingern halten konnte. Ich schrieb die Nummer auf.

Zóra winkte mir zu, deutete auf Boro und seine Buletten und auf das Gedränge an der Theke, und ich schüttelte den Kopf und beobachtete in meiner Verzweiflung, wie sie über die Schlammfurchen auf dem Seitenstreifen ging und sich hinter einem Soldaten mit blauen Augen, nicht älter als neunzehn, in die Schlange stellte. Ich sah, wie er sie ziemlich unverhohlen von oben bis unten musterte und Zóra etwas sagte, das ich nicht verstehen konnte. Aber das brüllende Gelächter, in das die Soldaten rund um den blauäugigen Jungen ausbrachen, war selbst in der Telefonzelle zu hören, und der Knabe bekam rote Ohren. Zóra warf mir einen zufriedenen Blick zu und schaute dann mit vor der Brust verschränkten Armen auf die Angebotstafel; darunter hatte jemand eine Kuh mit violettem Hut gezeichnet, die starke Ähnlichkeit mit dem hinter dem Grill angepflockten Exemplar aufwies.

«Wo seid ihr denn jetzt?», fragte Großmutter.

«Wir werden gegen Abend in Brejevina sein», sagte ich. «Wir machen die Impfungen und kommen danach direkt nach Hause. Ich verspreche dir, dass ich übermorgen zurück bin.» Sie sagte nichts. «Ich rufe in der Klinik in Zdrevkov an», fuhr ich fort, «und wenn sie auf dem Weg liegt, fahre ich da vorbei und hole seine Sachen, Bako.»

«Ich verstehe immer noch nicht», sagte sie schließlich, «warum keiner von uns Bescheid gewusst hat.» Sie wollte, dass ich zugab, etwas gewusst zu haben. «Du lügst mich an», sagte sie.

«Ich wusste nichts, Bako.»

Sie wollte von mir hören, ich hätte die Symptome gesehen, aber ignoriert, oder sogar mit ihm darüber gesprochen; irgendetwas, das ihr die Angst nehmen würde, er könnte mit dem Wissen um seinen drohenden Tod allein gewesen sein, obwohl wir alle um ihn waren.

«Dann schwör’s mir», sagte sie. «Schwör mir bei meinem Leben, dass du nichts davon wusstest.»

Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Sie wartete auf meinen Schwur, und als er ausblieb, sagte sie: «Es muss heiß da unten sein. Habt ihr auch genug Wasser dabei?»

«Ja, danke.»

Pause.

«Wenn ihr Fleisch esst, passt auf, dass es innen nicht rosa ist.»

Ich sagte ihr, ich hätte sie lieb, und sie legte ohne ein weiteres Wort auf. Ich hielt den toten Hörer noch eine Weile ans Ohr gedrückt und wählte dann die Nummer der Klinik in Zdrevkov. Die Provinznester erkannte man daran, dass es ewig dauerte, bis man durchkam, und wenn die Verbindung dann stand, klang alles weit weg und dumpf.

Ich ließ es zweimal lange klingeln und versuchte es noch ein drittes Mal, bevor ich einhängte und mich zu Zóra gesellte, die sich bereits mit Boro in den Haaren lag, weil sie einen «verschärften Burger» bestellt hatte, worunter man an unseren Imbissbuden in der Stadt einen Burger mit einer Extraportion Zwiebeln verstand. Das hier sei aber Brejevina, erklärte ihr Boro, sie könne gern einen doppelten Burger haben, aber von einem verschärften Burger habe er noch nie etwas gehört, was das denn, bitte schön, sein solle? Hinter der Theke herrschte ein Durcheinander von Kühlbehältern für das rohe Fleisch und schmiedeeisernen Suppentöpfen, randvoll mit etwas Braunem, Öligem. Boro war kurz angebunden und wollte das Geld passend, wahrscheinlich, um sich wegen des verschärften Burgers zu rächen. Zóra hielt ihren Burger in einer Hand und meinen in der anderen, während ich in ihren Manteltaschen nach dem Portemonnaie kramte.

«Kennen Sie einen Ort namens Zdrevkov?», fragte ich Boro und lehnte mich, die rosa und blauen Scheine in der Hand, über die Theke. «Wissen Sie, wo das ist?»

Er wusste es nicht.

Um halb acht, als die tiefstehende Sonne in eine ferne Decke aus blauen Wolken sank, sahen wir Brejevina und bogen von der Autobahn ab, um auf der Hauptstraße weiter bis zum Meer zu fahren. Brejevina war kleiner, als wir erwartet hatten, es gab eine von Palmen gesäumte Promenade, die zwischen dem Ufer und den Läden und Restaurants eingezwängt war, sodass Postkartenständer und Stühle zum Teil mitten auf der Straße standen und Kinder auf Fahrrädern mit der flachen Hand auf unser Wagenheck schlugen. Die Touristensaison war noch nicht in vollem Schwung, aber ich hörte Polnisch und Italienisch, als wir mit heruntergekurbelten Fenstern langsam am Mini-Markt, an der Post und am Klosterplatz vorbeifuhren, wo wir die kostenlose Krankenstation für das Waisenhaus einrichten würden.

Fra Antun hatte uns den Weg zum Haus seiner Eltern beschrieben. Es war in einem weißen Oleanderhain am äußersten Rand der Stadt verborgen und stand auf einem natürlichen Knick im Berghang, ein bescheidenes Häuschen mit blauen Fensterläden und einem Dach aus verblichenen Schindeln, vielleicht fünfzig Meter vom Meer entfernt. Davor wuchs ein großer Olivenbaum, in dem eine Autoreifenschaukel hing. Ein Hühnerstall, der aussah, als ob er in den vergangenen Jahren mindestens einmal zusammengebrochen und mehr schlecht als recht wieder zusammengezimmert worden sei, fand Halt an der niedrigen Steinmauer, die das Grundstück südlich begrenzte. Ein paar Hühner liefen vor der Tür herum, in einem der Blumenkästen im Erdgeschoss hockte ein Hahn. Das Haus wirkte wie übrig geblieben, aber unbesiegt. Die blaue Farbe schien geradezu entschlossen an den Fensterläden, der Tür und der kaputten Holzkiste zu haften, die, mit Lavendel bepflanzt, an einer Außenmauer lehnte. Fra Antuns Vater, Barba Ivan, war Fischer. Wir waren noch auf der Treppe, die von der Straße zum Haus führte, da eilte er uns schon durch den Garten entgegen. Er trug braune Hosenträger, Sandalen und eine leuchtend rote Weste, für deren Garn seine Frau ein kleines Vermögen ausgegeben haben musste. Bei ihm war ein weißer Hund mit einem quadratischen schwarzen Kopf – ein Vorstehhund, aber seine aufgerissenen Augen und das freudige Hecheln ließen ihn etwa so nützlich wirken wie einen Pandabären.

Barba Ivan rief: «Hallo, liebe Doktorinnen! Willkommen, willkommen!», und hätte uns am liebsten all unsere Sachen auf einmal abgenommen. Mit Mühe konnten wir ihn überreden, sich auf Zóras Koffer zu beschränken, den er den Steinpflasterweg zwischen dem Gebüsch und den Rosen entlangrollte. Barba Ivans Frau Nada wartete, eine Zigarette rauchend, in der Tür. Sie hatte dünnes weißes Haar und Adern, die wie grüne Bäche an ihrem Hals und ihren bloßen Armen hinunterrannen. Sie küsste uns sachlich auf die Wangen und entschuldigte sich für den Zustand des Gartens, bevor sie ihre Zigarette ausdrückte und uns ins Haus scheuchte.

Drinnen war es ruhig und warm und trotz der abendlichen Stunde hell. Der Flur, wo wir unsere Schuhe stehen ließen, ging in ein kleines Wohnzimmer über, mit blauen Kissen auf den Stühlen, einem Sofa und einem Lehnsessel, die offenbar lange nicht mehr neu gepolstert worden waren. Irgendwer im Haus malte: Eine Staffelei stand am Fenster, darauf ein unfertiges Bild, das wohl einen Hund darstellen sollte, und ringsherum auf dem Boden lagen mit Farbe bekleckerte Zeitungsblätter. Gerahmte Aquarelle hingen in sorgfältig bemessenen Abständen an den Wänden, und ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass auf allen derselbe Hund abgebildet war, jenes wunderschön dumme, schwarzköpfige Tier von draußen nämlich. Die Fenster waren offen und ließen mit der Hitze den elektrischen Gesang der Zikaden herein. Nada, die sich noch einmal für die Unordnung entschuldigte, führte uns weiter zur Küche, und Barba Ivan nutzte die Gelegenheit, nun doch unser ganzes Gepäck zu ergreifen – Zóras Koffer, meinen Seesack, unsere Rucksäcke – und damit die Treppe am Ende des Flurs hinaufzuhuschen. In der Küche zeigte uns Nada, wo sie Teller und Gläser aufbewahrte und wo der Brotkasten war, öffnete den Kühlschrank und sagte, hier seien Milch, Saft, Birnen und Speck und wir dürften uns nehmen, was wir wollten, wann immer wir wollten, auch von der Cola.

Ein rot-gelber Papagei saß in einem Blechkäfig zwischen dem Küchenfenster und einem weiteren, schief hängenden Bild des schwarzköpfigen Hundes. Seit wir die Küche betreten hatten, beäugte der Papagei Zóra argwöhnisch; jetzt kreischte er auf einmal los: «Oh! Mein Gott! Gewahrt das Wunder!» – ein Ausbruch, den wir zunächst als erstaunlich lüsterne Reaktion auf Zóras nackte Arme und ihr Dekolleté auffassten. Doch Nada entschuldigte sich wortreich und warf ein Geschirrhandtuch über den Papageienkäfig.

«Er rezitiert gern Gedichte», sagte sie, und da wurde uns klar, dass der Papagei sich am Prolog einer alten Ballade versucht hatte. «Dabei bemühe ich mich immer, ihm Dinge wie ‹Guten Morgen› und ‹Brot und Butter ess ich gern› beizubringen.»

Sie führte uns nach oben. Zóra und ich würden uns ein Zimmer teilen, in dem sie zwei Feldbetten mit blauer Paisleywäsche bezogen hatte. Außerdem gab es eine glänzende Holzkommode mit kaputten Schubladen und ein kleines Bad mit einer altmodischen Wanne und einem Klo, dessen Kettenspülung, wie Nada uns warnte, mal funktionierte und mal nicht, je nach Tageszeit. Dazu weitere Skizzen vom Hund unter einem Feigenbaum und eine, die ihn auf dem Wohnzimmersofa schlafend zeigte. Von unserem Fenster aus blickte man in den hinteren Teil des Grundstücks, wo zitternde Orangen- und Zitronenbäume standen, und jenseits davon, am Fuß des Berges, lag ein leicht ansteigender Rebgarten mit Reihen niedriger, windzerzauster Weinstöcke. Männer gruben zwischen ihnen herum; wir hörten das Knirschen ihrer Spaten und ihre Stimmen, wenn sie einander etwas zuriefen.

«Unser Weinberg», sagte Nada. «Beachten Sie diese Leute nicht weiter», fügte sie hinzu, auf die grabenden Männer weisend, und schloss einen der Fensterläden.

Als wir die Kühlboxen und Kisten aus dem Wagen hereingetragen und in einer Ecke unseres Zimmers aufgestapelt hatten, war das Abendessen fertig. Uns blieb nichts anderes zu tun, als Nadas Gastfreundschaft anzunehmen und uns an den quadratischen Tisch in der Küche zu setzen, während Barba Ivan uns zwei Becher seines Rotweins einschenkte und der Papagei, noch immer unter dem Geschirrtuch verborgen, vor sich hin plapperte. Ab und zu kreischte er: «Oh! Höret ihr’s donnern? Bebet die Erde?», um sich dann selbst Antwort zu geben: «Nein! Es ist kein Donner! Und auch die Erde bebet nicht!»

Nada servierte uns Schwarzbrot, gehackte grüne Paprika, gekochte Kartoffeln mit Mangold und Knoblauch. Sie hatte großen Aufwand getrieben und alles sorgfältig auf blauem Porzellan angerichtet, das hier und da angestoßen, aber liebevoll abgestaubt worden war, nachdem es vermutlich jahrelang, vor Plünderern versteckt, in einem Keller gelagert hatte. Durch die untere Balkontür drang kühle Abendluft vom Meer herein; es gab Berge von Sardinen in Salzkruste und zwei Barsche, auf Holzkohle gegrillt und vor Olivenöl glänzend – «von unseren eigenen Oliven», sagte Barba Ivan und hielt mir die Flasche hin, damit ich an der Öffnung roch. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er früher am Tag in einem kleinen Boot draußen auf dem kabbeligen Wasser der Bucht gesessen und das dünne Netz an seinen Händen gezerrt hatte und was für eine Anstrengung es ihn gekostet haben musste, mit diesen grobgelenkigen braunen Händen die Fische aus dem Netz zu holen.

Barba Ivan und Nada erkundigten sich nicht nach unserer Fahrt, unserer Arbeit, unseren Familien. Um ja nichts Politisches oder Religiöses zu berühren, redeten wir über die diesjährige Ernte. Der Frühling war furchtbar gewesen: sintflutartige Regenfälle, über die Ufer tretende Flüsse, Fluten, die in Küstennähe landauf, landab den Boden ausgeschwemmt und Salat und Zwiebeln vernichtet hatten. Tomaten wurden erst spät reif, Spinat gab es nirgends – ich erinnerte mich, wie mein Großvater mit Löwenzahnblättern vom Markt zurückgekommen war, die ihm ein Bauer als Spinat angedreht hatte; meine Großmutter, die gerade den dünnen Teig für Zeljanica butterte, hatte den grobblättrigen Haufen aus der Einkaufstüte gezogen und gerufen: «Was zum Teufel ist das denn?» Es war seit mehreren Stunden der erste Gedanke an meinen Großvater, und er kam so plötzlich, dass ich in Schweigen verfiel. Ich saß da und hörte mit halbem Ohr zu, als Barba Ivan behauptete, der Sommer sei entgegen seinen Erwartungen unglaublich gewesen: jede Menge Orangen und Zitronen, viele Erdbeeren, die Feigen dick und reif. Zóra sagte bei uns auch, obwohl ich sie noch nie in ihrem Leben eine Feige hatte essen sehen.

Wir hatten das meiste Fleisch von unseren Fischen geschabt, unklugerweise die Rotweinbecher geleert, den Papagei beim Aufsagen seiner Verse unterstützt – die er seinem Gedächtnis allerdings besser eingeprägt hatte, als es uns je gelungen wäre– , als das kleine Mädchen auftauchte. Es war so winzig, dass es uns wohl gar nicht aufgefallen wäre, wenn wir es nicht hätten husten hören – ein dickes, ergiebiges Husten, das die Kleine schon draußen vor der Tür fast zerriss, und dann stand sie, winzig und rundbäuchig, auf der Schwelle, mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen und einem Schopf aus dichten bräunlichen Locken.

Sie konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre sein und hielt sich, eine Hand in der Tasche ihres gelben Sommerkleidchens, am Türrahmen fest. Sie war ein bisschen staubig, ihr Blick etwas müde; da unser Gespräch ihretwegen verstummt war, schauten wir beim zweiten Husten alle schon zu ihr hin. Sie steckte sich einen Finger ins Ohr.

«Hallo», sagte ich zu ihr, «wer bist du denn?»

«Weiß der Himmel», meinte Nada und stand auf, um den Tisch abzuräumen. «Sie gehört zu denen – den Leuten im Weinberg.» Bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar gewesen, dass sie auch hier wohnten. Zu dem kleinen Mädchen sagte Nada: «Wo ist deine Mutter?», wobei sie sich zu ihr hinunterbeugte und sehr laut sprach. Als das Kind nicht antwortete, fügte Nada hinzu: «Komm rein, du darfst einen Keks haben.»

Barba Ivan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und griff in den Schrank hinter sich. Er holte eine Blechdose mit Pfefferkeksen heraus, machte den Deckel auf und hielt sie der Kleinen hin. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Nada kam von der Spüle zurück und versuchte, sie mit einem Glas Limonade zu ködern, aber sie wollte nicht hereinkommen. Sie trug einen lilafarbenen Beutel an einem ausgefransten Band um den Hals gebunden und schwang ihn mit der freien Hand von einer Schulter zur anderen, wobei sie sich ab und zu am Kinn traf und immer wieder den grünen Rotz hochzog, der ihr aus der Nase lief. Draußen hörten wir die Leute vom Weinberg zurückkehren, staubraue Stimmen und das Klirren von Schaufeln und Spaten, die auf den Boden geworfen wurden, Schritte auf dem Hof vorm Haus. Offenbar bereiteten sie ein Essen am Tisch unter dem großen Olivenbaum vor, und Nada sagte: «Wir räumen hier besser mal ab», und begann, unser Besteck einzusammeln. Zóra wollte aufstehen und ihr helfen, aber Nada drückte sie wieder auf den Stuhl. Der Lärm draußen hatte die Aufmerksamkeit von Bis, dem Hund, geweckt, der jetzt in seiner lächerlichen Art losgaloppierte, mit schwingenden Ohren, kurz mit mäßigem Interesse das Kind beschnupperte und sich dann von irgendetwas im Garten ablenken ließ.

Barba Ivan hielt die Keksdose noch in der Hand, als eine dünne junge Frau draußen vorbeihuschte und rasch das Kind hochnahm. Nada ging zur Tür und sah hinaus. Als sie sich wieder umdrehte, sagte sie: «Sie sollten nicht hier sein.»

«Süßigkeiten sind nicht gut für Kinder», vertraute Barba Ivan Zóra an. «Schlechte Angewohnheit vor dem Essen, lässt die Zähne faulen und so weiter. Aber was sollen wir machen? Wir können ja nicht alles alleine essen.»

«Es war dumm von uns, sie hier wohnen zu lassen», sagte Nada, während sie die schmutzigen Teller am Tischrand stapelte.

Barba Ivan hielt mir die Keksdose hin. «Früher konnte ich einen ganzen Nusskuchen allein verputzen, wenn ich den Nachmittag über so herumsaß. Aber jetzt sagt mein Arzt: Vorsicht! Er meint, ich werde alt und muss aufpassen.»

«Ich hab’s doch vorausgesagt, oder?», fuhr Nada fort, während sie die Kartoffel- und Mangoldreste auf einen Teller schob und ihn auf den Boden stellte. «Von wegen zwei oder drei Tage – eine Woche sind sie schon hier. Spazieren die ganze Nacht ein und aus und husten meine Bettwäsche voll.»

«Jetzt gibt es all diese Ratschläge», sagte Barba Ivan. «Iss keine Butter, trink kein Bier. So und so viel Obst am Tag.» Er hielt die Hände ein Stück auseinander, um die Menge anzudeuten. «Iss Gemüse.»

«Einer kränker als der andere.» Nada sprach jetzt absichtlich laut und lehnte sich dabei zur Tür vor. «Diese Kinder sollten in der Schule sein oder im Krankenhaus oder bei Leuten, die es sich leisten können, sie in die Schule oder ins Krankenhaus zu schicken.»

«Und ich sag ihm, hören Sie mal. Ich esse ja Gemüse. Erzählen Sie mir nichts von Gemüse: Sie kaufen es auf dem Markt, aber ich baue es in meinem eigenen Garten an.» Barba Ivan zählte es an den Händen auf, Tomaten, Paprika, Salat, Frühlingszwiebeln, Lauch. «Mit Gemüse kenn ich mich aus – aber ich hab auch mein Leben lang jeden Tag Brot gegessen. Genau wie mein Vater, und der hat noch zu jeder Mahlzeit Rotwein getrunken. Wissen Sie, was mein Arzt sagt?» Ich schüttelte den Kopf und lächelte höflich weiter.

«Ich habe dir gesagt und ich habe Antun gesagt, dass ich sie hier nicht haben will – und jetzt sind die Ärztinnen gekommen, und die Leute sind immer noch nicht weg und machen da oben Gott weiß was, die graben den ganzen Weinberg um. Es ist eine Schande.»

«Es würde mir helfen, länger am Leben zu bleiben, meint er. Also wirklich – warum sollte ich das wollen?»

«Sagen Sie mir, dass das nicht gefährlich ist.» Nada berührte Zóra an der Schulter. «Sagen Sie mir das, Frau Doktor. Zu zehnt in einem Zimmer – fünf pro Bett, und alle krank wie die Hunde, jeder Einzelne von ihnen.»

«Warum sollte ich länger leben wollen, wenn ich Reis und diese – wie heißen die? – Dörrpflaumen essen muss.»

«Womit ich nicht andeuten will, dass es bei Ihnen da oben überall so zugeht – zu fünft in einem Bett. Das will ich damit wirklich nicht sagen, Frau Doktor.»

«Zur Hölle mit Ihren Dörrpflaumen.»

«Haben Sie so was schon mal gehört?», fragte Nada uns beide, während sie sich die Hände an ihrer Schürze abwischte.

«Nein», sagte Zóra beschwichtigend.

«Es ist nicht recht», sagte Nada. «Und dann diese zum Himmel stinkenden Beutel. Wer hat denn so was je gesehen – wir Katholiken haben nichts dergleichen, und die Muslime auch nicht.»

«Aber diese Leute eben, und es geht uns nichts an.» Barba Ivan, der sich auf seinem Stuhl zu ihr umgedreht hatte, war plötzlich ganz ernst. «Sie wohnen hier – alles andere ist nicht meine Sache.»

«Es ist mein Haus», sagte Nada. «Und mein Weinberg.»

«Das eigentliche Problem sind die Kinder», sagte Barba Ivan zu mir. «Sie sind sehr krank. Wird immer schlimmer.» Er machte die Keksdose zu und stellte sie wieder ins Schrankregal. «Angeblich waren sie bisher nicht beim Arzt – ich weiß es natürlich nicht genau.» Er verzog das Gesicht, schlug sich mit der Faust leicht gegen den Hals. «Und diese Beutel machen es auch nicht besser, außerdem sind sie widerlich.»

«Widerlich», sagte Nada.

Sie hätten wohl so weitergeredet, wenn nicht ein dunkelhaariger, sonnengebräunter Junge von vielleicht dreizehn Jahren hereingekommen wäre und um Milch gebeten hätte. Er war sehr schüchtern, und er nahm Nadas Empörung allen Wind aus den Segeln, sodass sie, als er gegangen war, nicht noch einmal loslegte.

Nach dem Essen holte Barba Ivan sein Akkordeon heraus, er wollte uns ein paar alte Lieder vorsingen, die er von seinem Großvater gelernt hatte. Wir konnten es verhindern, indem wir ihn nach seiner letzten Vorsorgeuntersuchung fragten und ihm anboten, jetzt gleich damit anzufangen – ihn noch vor dem Schlafengehen abzuhören, seine Temperatur und den Blutdruck zu messen.

Später, oben, gab es größere Probleme: Die Toilettenspülung funktionierte nicht, und aus dem Hahn am Waschbecken kam nur kaltes Wasser. Der Boiler war wohl kaputt. Zóra, die sich nicht so leicht vom Duschen abhalten ließ, riskierte es trotzdem. Während sie jaulend unter dem Wasserstrahl stand, schaute ich aus dem Fenster; ich konnte den Weinberg nicht mehr sehen, hörte aber erneut die Spaten klirren und dazu hohe Stimmen, die nach Kindern klangen. Die Zikaden zirpten im Oleanderbusch unter dem Fenster, und Mauersegler flogen in hohen Bögen eben außerhalb der Reichweite der Lichter. Draußen am Moskitonetz saß ein gefleckter grauer Falter in einer Ecke. Zóra kam aus dem Bad und verkündete leicht triumphierend, die rostige Zange in der Badewanne sei dazu da, den Stift hochzuziehen, mit dem man die Dusche anstellte. Sie band sich die nassen Haare zum Pferdeschwanz und trat zu mir ans Fenster. «Graben die da die ganze Nacht?», fragte sie.

Ich hatte keine Ahnung. «Wahrscheinlich sind es Arbeiter», sagte ich. «Und Barba Ivan lässt sie aus Barmherzigkeit noch hier wohnen, obwohl die Saison zu Ende ist.»

Während sie duschen war, hatte der Staatsanwalt zweimal auf dem Pager angerufen.

«Du solltest ihn mal zurückrufen», sagte ich.

Sie rauchte eine Abendzigarette, den Aschenbecher in der anderen Hand, und rührte mit dem glühenden Stumpen in der Asche herum. «Ich für mein Teil habe ihm nichts zu sagen, bevor ich nicht mit deinem Großvater geredet habe», erwiderte sie. Sie lächelte mich an, blies den Rauch achtsam aus dem Fenster, wedelte ihn mir aus dem Gesicht.

Sie schien kurz davor, zu fragen, was eigentlich mit mir los sei, deshalb sagte ich schnell: «Wir sorgen dafür, dass sie morgen zu uns in die Krankenstation kommen», und stieg ins Bett. Zóra drückte die Zigarette aus, blieb aber noch am Fenster stehen und spähte in die Dunkelheit. Dann sah sie zur Zimmertür.

«Glaubst du, sie schließen unten ab?»

«Wahrscheinlich nicht», sagte ich. «Die Türen stehen bestimmt sperrangelweit offen, damit eine frische Brise paramilitärischer Vergewaltiger reinkommt.»

Sie löschte zögernd das Licht, und lange Zeit herrschte Stille. Sie war wach und sah mich an, während ich darauf wartete, dass sie endlich einschlafen würde, damit ich nicht mehr darüber nachdenken musste, was ich sagen sollte.

Unten, gedämpft vom Handtuch, das über seinem Käfig hing, sagte der Papagei: «Wascht die Knochen, bringt den Leichnam, lasst das Herz zurück.»

2Der Krieg

Alles, was nötig ist, um meinen Großvater zu verstehen, liegt zwischen zwei Geschichten: der von der Tigerfrau und der von dem Mann, der nicht sterben konnte. Diese beiden Geschichten fließen wie geheime Ströme durch all die anderen Erzählungen seines Lebens – von seinen Tagen beim Militär; seiner großen Liebe zu meiner Großmutter; seinen Jahren als Chirurg und an der Universität gefürchteter Tyrann. Die eine, die ich erst nach seinem Tod zu hören bekam, handelt davon, wie mein Großvater zum Mann wurde; in der anderen, die er mir selbst erzählt hat, wurde er wieder zum Kind.

 

Der Krieg begann leise, fast unmerklich, nachdem wir ein Jahrzehnt lang am Abgrund gelebt und darauf gewartet hatten, dass er anfing. Die Kinder in der Schule sagten, «es kann jeden Tag losgehen», aber sie wussten gar nicht, wovon sie sprachen, sondern wiederholten nur, was sie jahrelang zu Hause gehört hatten. Zuerst kamen die Wahlen, danach die Aufstände, das Attentat auf einen Minister, das Massaker am Delta, und dann kam Sarobor – und nach Sarobor war es, als würde sich etwas lösen; es war eine Befreiung.

Vor dem Krieg, seit meinem fünften Lebensjahr, war Großvater jede Woche mit mir zum Zitadellenpark gegangen, um die Tiger anzuschauen. Wir erklommen den Strmina-Hügel von seiner Rückseite, nahmen den alten Karrenweg durch das flache Tal des Parks westlich der Stadt und überquerten die vielen schmalen, klaren, durch das Gebüsch rieselnden Bäche, wo ich als kleines Mädchen mit einem Stock in der Hand ungezählte Stunden zubrachte und auf meiner zwecklosen Suche nach Kröten nasse Herbstblätter von den bemoosten Steinen sammelte. Mein Großvater machte lange Schritte, mit krummen Schultern und schwingenden Armen – du ruderst, rief Großmutter ihm vom Balkon aus hinterher, wenn wir aufbrachen, du ruderst wieder, Doktor –, den Beutel mit unseren Einkäufen vom Bauernmarkt in der Hand. Selbst wenn er mitten im Sommer auf einen Berg wanderte, trug er seine Weste und die langen Hosen, das langärmelige weiße Hemd, die blank geputzten Krankenhausschuhe. Ich rannte mit meinen ausgetretenen Turnschuhen hinter ihm her, einen halben Meter kleiner als er, und bemühte mich eifrig, mit ihm Schritt zu halten. Nachdem wir die Eisenbahnschienen überquert und die Stelle passiert hatten, wo ich mit sieben Jahren vom Fahrrad gestürzt war und während der gesamten halbstündigen Behandlung meines aufgeschürften Knies mit einem in Rakija getränkten Lappen gebrüllt hatte, stieg der Pfad steil an.

Wenn er mich zurückfallen sah, blieb Großvater stehen, wischte sich die Stirn und sagte: «Was ist, was ist? Ich bin bloß ein alter Mann – komm schon, ist dein Herz ein Schwamm oder eine Faust?»

Dann lief ich schneller, den ganzen Weg den Hügel hinauf keuchend, während er mit einem Vergnügen, das mich rasend machte, vor sich hin schimpfte: wie heiser ich denn klinge und dass er mich nicht mehr mitnehmen werde, wenn ich unbedingt wie ein Wiesel im Kartoffelsack pfeifen und ihm die schöne Zeit draußen verderben wolle. Vom Gipfel des Strmina aus führte der Pfad durch eine lange, blumengesprenkelte Wiese wieder abwärts, und im Osten kamen die zerfallene römische Mauer in Sicht, von längst verstummtem Kanonenfeuer verstreute Steine, und der kopfsteingepflasterte Boulevard der Altstadt mit seinen staubigen, verschmierten Fenstern, den blassorangenen Dächern und dem Grillrauch, der zwischen den leuchtenden Markisen der Kaffeehäuser und Souvenirläden aufstieg. Tauben, so dicht zusammengedrängt, dass sie vom Hügel aus gut zu erkennen waren, bewegten sich wie behaubte Frauen auf der Straße hin und her, die im Bogen bis zum Hafenbecken an der Spitze der Halbinsel führte, wo Tag und Nacht die Flüsse ineinanderrauschten. Dann wurde der Ausblick abgeschnitten, denn wir erreichten den Innenhof der Zitadelle. Wir zahlten den Eintritt – wochentags, wenn die ganze Stadt die Mittagspause genoss, waren wir immer die einzigen Besucher, und immer ließen wir die grünmäuligen Kamele und das Flusspferdgehege mit den bunten Reihern links liegen und eilten schnurstracks dorthin, wo die Tiger unermüdlich hinter dem alten Gitter patrouillierten.

Als ich dreizehn wurde, begann das Tiger-Ritual mir lästig zu werden. Auf unserem Heimweg vom Zoo trafen wir andauernd Leute, die ich kannte: Freunde, Jugendliche in meinem Alter, die ihre Zeit schon lange nicht mehr in der Gesellschaft ihrer Eltern oder Großeltern verbrachten. Ich sah sie in Cafés sitzen oder am Straßenrand vor dem Parlament rauchen. Und sie sahen mich und machten sich am nächsten Tag in der Schule über mich lustig. Freundlicher Spott, bloße Neckerei, die mir jedoch vor Augen führte, dass ich in einem Ritual gefangen war, das mir nicht mehr notwendig schien. Dass es keineswegs nur mir zuliebe gepflegt wurde, wusste ich damals nicht.