Herzland - Téa Obreht - E-Book

Herzland E-Book

Téa Obreht

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Beschreibung

Arizona, um 1890. Ein neuer Morgen eines zu heißen Sommers bricht an für Nora Lark. Ihre Farm ist bedroht von Dürre und mächtigen Viehzüchtern, neuerdings auch, so glaubt ihr kleiner Sohn Toby, von einem monströsen Tier, das draußen umherstreift. Seit Tagen ist Noras Mann verschwunden, nachts sind die beiden älteren Söhne im Streit davongeritten, und irgendwer ist ins Brunnenhaus eingebrochen. Doch Nora stehen noch ganz andere Prüfungen bevor – die über das Schicksal ihrer Familie entscheiden werden. Das liegt auch an Lurie, Waise eines Einwanderers aus dem Osmanischen Reich, der vom kleinen Ganoven zum verfolgten Outlaw wurde, schließlich einen unerwarteten Gefährten findet und in einem Trupp der U.S. Army untertaucht. In Luries abenteuerlichem Leben verdichten sich das Heldentum und die Niedertracht der Epoche zu einem schrecklichen, prächtigen, epischen Bogen – mit immer überraschenden Wendungen. Téa Obreht erzählt in ihrer bildhaft leuchtenden, einzigartigen Sprache den amerikanischen Gründungsmythos neu. «Herzland» zeigt die Siedlerzeit mit all ihrer Härte und zugleich einen schillernden, unbekannten Wilden Westen – in dem die Konflikte des heutigen Amerika schon aufscheinen.

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Téa Obreht

Herzland

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

 

Über dieses Buch

Arizona, um 1890. Ein neuer Morgen eines zu heißen Sommers bricht an für Nora Lark. Ihre Farm ist bedroht von Dürre und mächtigen Viehzüchtern, neuerdings auch, so glaubt ihr kleiner Sohn Toby, von einem monströsen Tier, das draußen umherstreift. Seit Tagen ist Noras Mann verschwunden, nachts sind die beiden älteren Söhne im Streit davongeritten, und irgendwer ist ins Brunnenhaus eingebrochen. Doch Nora stehen noch ganz andere Prüfungen bevor – die über das Schicksal ihrer Familie entscheiden werden.

Das liegt auch an Lurie, Waise eines türkischen Einwanderers, der vom kleinen Ganoven zum verfolgten Outlaw wurde, schließlich einen unerwarteten Gefährten findet und in einem Trupp der U.S. Army untertaucht. In Luries abenteuerlichem Leben verdichten sich das Heldentum und die Niedertracht der Epoche zu einem schrecklichen, prächtigen, epischen Bogen – mit immer überraschenden Wendungen.

Téa Obreht erzählt in ihrer bildhaft leuchtenden, einzigartigen Sprache den amerikanischen Gründungsmythos neu. «Herzland» zeigt die Siedlerzeit mit all ihrer Härte und zugleich einen schillernden, unbekannten Wilden Westen – in dem die Konflikte der heutigen USA schon aufscheinen.

Vita

Téa Obreht gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der internationalen Literatur. Geboren 1985 in Belgrad, lebt sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Ihr Debütroman «Die Tigerfrau» (2011), für den National Book Award nominiert, erschien in mehr als dreißig Sprachen und wurde in zahlreichen Ländern zum Bestseller. 2011 erhielt Téa Obreht den Orange Prize for Fiction. «Herzland» erschien 2019 auf der «Summer Reading List 2019» von Barack Obama.

 

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Ian McEwan, Philip Roth und Patricia Highsmith. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Für meine Mutter, Maja,

und für ihre Mutter, Zahida

Zeit ändert sich nicht,

noch ändern sich die Zeiten,

nur etwas innerhalb der Zeit ändert sich,

etwas, das man glaubt, und etwas, das man nicht glaubt.

JAMES GALVIN, Glaube

Der Missouri

Als diese Kerle gestern Nacht runter zur Furt ritten, dachte ich, wir wären erledigt. Selbst dir muss klar gewesen sein, wie nah sie waren: ihr Geruch, der Gesang des Zaumzeugs, das Weiß im Auge der Pferde. Und du, wie nicht anders zu erwarten, du wolltest aufstehen, dich ihnen stellen, dabei bist du blind, und im Schenkel steckt noch die Kugel, die sich nicht rausholen lässt. Hätte ich dich mal gelassen. Hätte vielleicht verhindert, was heute Nacht passiert ist, und dem Mädchen wäre nichts geschehen. Aber woher hätte ich das wissen sollen? Ich war noch nicht bereit, zweifelte an unserem Schicksal, weshalb ich letzten Endes nur zusehen konnte, wie sie rüber und im Mondlicht durch die Flussniederung davongeritten sind. Und war es denn nicht richtig, dass ich abgewartet habe – wenn auch nur aus Gewohnheit? Ich wusste, du warst zur Flucht bereit. Bist es immer noch, genau wie ich, bin es mein Leben lang gewesen – seit wir zusammen sind, nein, lange vorher schon, seit ich denken kann, sechs Jahre alt, und auch da bereits auf der Flucht, wellengeschaukelt, mein Vater in der Koje neben mir, um uns herum das gegen den Rumpf zischende Wasser. Damals war es mein Vater, der fortlief, nur vor was, das habe ich nie erfahren. Er war mager, glaub ich. Jung, vielleicht. Ein Schmied, womöglich, jedenfalls ein schwer schuftender Mann, der sich in seinem Leben noch nie so ausruhen konnte wie in jenem schwankenden Monat, kein Unterschied zwischen Tag und Nacht und im Dunkeln nichts als das Ächzen von Seil und Talje. Er nannte mich Sine und noch irgendwie, ein Name, an den ich mich seit einer Ewigkeit zu erinnern versuche. Von der Überfahrt selbst habe ich vor allem die Gischtfächer in Erinnerung, den Geruch nach Salz. Und natürlich die Toten, achtern, unter ihren weißen Tüchern, Seite an Seite gebettet.

 

Unweit vom Hafen fanden wir eine Unterkunft. Ein Zimmer mit Blick auf Wäscheleinen, die kreuz und quer von Fenster zu Fenster hingen, bis sie weiter unten im Dampf der Wäscherei verschwanden. Wir teilten uns eine Matratze, kehrten dem Verrückten in der anderen Zimmerecke den Rücken zu und taten, als würden wir nicht merken, dass er jeden Tag noch ein bisschen verrückter wurde. Ständig kreischte jemand auf den Fluren, ein zwischen den Welten gefangener Jemand. Ich lag auf meiner Hälfte, klammerte mich ans Mantelrevers meines Vaters und spürte die Läuse durchs Haar streunen.

Ich kannte sonst keinen Menschen, der so fest schlief wie mein Vater. Schätze, das bringt die Arbeit im Hafen so mit sich. Tag für Tag astete er wie eine Ameise unter irgendeiner Kiste oder einem Bündel Tauwerk. Hinterher nahm er mich an die Hand, und dann ließen wir uns im Strom der von Bord gehenden Leiber über die Kais bis zur Durchfahrt treiben, die zu den aufstrebenden Stahlgerüsten führte. Für ihn, interessiert am Getriebe der Welt, waren sie das reinste Wunder. Er besaß ein gutes Gedächtnis, hatte ständig Zahnschmerzen und hegte einen tiefsitzenden Hass auf die Türken, der gern entflammte, wenn er Tee mit Gleichgesinnten trank. Immer aber, wenn ein Serbe oder Magyar von Stambuls eiserner Faust anfing, passierte was Merkwürdiges: Mein Vater, so besessen er von seiner Feindseligkeit auch war, wurde plötzlich ganz rührselig. Nun, Effendi?, fragte er dann. Seid Ihr jetzt vielleicht besser dran? Geht’s Euch hier besser? Ali-Pascha Rizvanbegović war ein Tyrann – aber beileibe nicht der schlimmste! Immerhin haben wir in einem schönen Land gelebt. Immerhin haben unsere Häuser uns gehört.

Meist folgten dann wehmütige Erinnerungen ans Dorf seiner Kindheit: ein Häuflein Steinbauten, durchschnitten von einem Fluss, der so grün war, dass mein Vater in seiner neuen Sprache dafür kein Wort fand und es in der alten sagen musste, wodurch er es auf immer als Geheimnis unter uns gefangen setzte. Was gäbe ich dafür, fiele mir dieses Wort wieder ein. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum er sein Dorf gegen solch einen stinkenden Hafen hatte tauschen wollen, einen Ort, an dem jemand, der beim Beten die Hände himmelwärts drehte und einen Namen wie Hadziosman Djurić trug, für einen Türken gehalten wurde, egal, wie oft er es abstritt. Wenn ich mich recht erinnere, nannte er sich eine Zeitlang Hodgeman Drury – beerdigt aber wurde er als ‹Hodge Lurie›, besser wusste unsere Zimmerwirtin den Konsonantenverhau seines Namens nicht zu entwirren, als der Bestatter kam, um seine Leiche abzuholen.

Fleckig war unsere Matratze, das weiß ich noch. Ich stand auf der Treppe und sah zu, wie der Kutscher meinen Vater auf seinen Karren lud. Als er mit ihm fortfuhr, legte mir die Zimmerwirtin eine Hand auf den Kopf und ließ mich bleiben. Der Abendregen hatte sich verzogen, die untergehende Sonne färbte die Straße rot, und die Pferde schienen zu lodern. Mein Vater ist danach nie zu mir zurückgekommen, im Wasser nicht und auch nicht in meinen Träumen.

 

Besagte Zimmerwirtin betete Abend für Abend vor einem Kreuz an der Wand. Ihrer Barmherzigkeit verdankte ich hartes Brot und eine noch härtere Matratze. Im Gegenzug begann ich, mit gefalteten Händen zu beten und im Haus zu helfen. Rannte die Treppe mit Seifenlauge rauf und runter, jagte Ratten, zwängte mich in Kaminschlote. Glubschäugige Männer, die im Schatten hockten, langten manchmal nach mir. Ich war ein spindeldürres Kind, hatte aber so wenig Angst vor den Treppenpennern, dass ich sie trat, wenn sie schliefen, was sie lehrte, mich in Ruhe zu lassen.

Noch ein Sommer, noch eine Seuche, noch ein Besuch vom Kutscher und seinen schwarzen Pferden. Und noch einer und noch einer. Eines Tages hing ein Gekritzel an unserem Randsteinpfosten. Kannst du das lesen?, fragte mich die Zimmerwirtin. Da steht ‹Pesthaus› – und weißt du, was Pesthaus bedeutet? Wie sich herausstellte, bedeutete es leere Zimmer, leere Geldbeutel und für uns beide leere Bäuche. Als der Kutscher das nächste Mal kam, gab sie mich ihm mit. Stand einfach da und starrte auf die Münze, die er ihr in die Hand gedrückt hatte.

Ein Jahr lang ratzte ich im Stall des Kutschers. Er war der ordentlichste Mensch, den ich je gekannt habe. Konnte nicht schlafen, wenn im Haus nicht alles wie gewohnt war, die Pantoffeln unterm Bett nicht exakt nebeneinanderstanden. Das einzig Unordentliche an ihm war ein zum Hauer ausgewachsener Zahn, der dem Mann das Aussehen einer feschen Ratte verlieh. Gemeinsam klapperten wir alle Absteigen und Bordelle in der Bleecker Street ab, um die Toten einzusammeln: Mieter, die im Schlaf gestorben waren oder denen Mitschläfer die Kehle durchgeschnitten hatten. Wenn wir kamen, lagen sie manchmal noch in ihren Betten, mit Laken zugedeckt. Ebenso oft aber fanden wir sie in einen Koffer gestaucht oder unter Dielen gestopft. Die mit Geld und Angehörigen brachten wir zum Totengräber. Die Namenlosen fuhren wir zu den Krankenhäusern der Stadt, lieferten sie an der Hintertür ab, wo sie auf Tische gelegt wurden und über sie gebeugte junge Männer ihre Totenwache hielten. Die Eingeweide säuberlich sortiert, die Knochen weißgekocht.

Lief das Geschäft schlecht, zogen wir welche aus ihren Gräbern. Zwei Dollar für den Friedhofswärter, damit der ein Auge zudrückte, wenn wir zwischen den Kreuzen nach frisch aufgeworfenen Erdhaufen suchten. Der Kutscher grub ein Loch in die Richtung, in der seiner Meinung nach der Kopf lag, und ich keilte mich mit Armen und Schultern voran in die kalte Erde und stocherte mit dem Kuhfuß, bis ich die Sargbretter aufgebrochen hatte. Dann tastete ich mit den Fingern, bis ich Haare oder Zähne griff, und legte eine Schlinge um den Hals. Zu zweit schafften wir es, sie rauszuziehen.

«Immer noch einfacher, als sie ganz auszubuddeln», argumentierte der Kutscher.

Manchmal sackte die Erde nach, und manchmal blieb die Leiche stecken, und wir mussten sie halb rausgezogen zurücklassen; manchmal waren es Frauen oder sogar Kinder, und die Friedhofserde wollte einfach nicht mehr raus aus meinen Kleidern, wie heiß der Waschkessel auch wurde.

Einmal fanden wir zwei Leute, die sich einen Sarg teilten, Gesicht an Gesicht, als wären sie zusammen eingeschlafen. Einmal suchte ich mit der Hand und fühlte nur lose Erde und feuchten Kissensamt. «Hier war wer schneller als wir», sagte ich. «Ist leer.»

Einmal durchbrach ich die Sargbretter, fuhr mit der Hand über Haar und grobe Haut und wollte gerade die Schlinge übers Riff des Kieferknochens ziehen, da schnappten irgendwo aus dem Dunkel Finger nach meinem Handgelenk, trockne, hartkuppige Finger. Ich erschrak, Erde flog mir in den Rachen, drang in meine Poren. Ich strampelte, aber die Finger hielten mich fest, bis ich glaubte, selber im Loch zu verschwinden.

«Bitte, ich kann das nicht mehr», schluchzte ich hinterher – konnte ich aber doch, wie sich rausstellte, sogar mit gebrochener Hand und verrenkter Schulter.

Einmal blieb ein großer, dicker Kerl stecken, halb noch im Sarg. Ich saß da im Dreck, seinen blassen Arm auf den Knien, bis der Kutscher mir eine Säge gab. Eingewickelt in seinen eigenen Juteärmel trug ich den Arm in die Stadt, trug ihn wie einen Schinken über der Schulter. Einige Abende später sah ich denselben abgetrennten Ärmel an einem einarmigen Riesen, der reglos in der Menge am Fischmarkt stand. Der Mann war blass und dick und lächelte mich so schüchtern an, als wären wir alte Freunde. Langsam kam er näher, den leeren Ärmel an sich gedrückt, bis er neben mir stand. Klingt jetzt vielleicht komisch, aber eine kleine Pfütze breitete sich unter mir aus, weil ich wusste, er würde mir gleich seinen Geisterarm auf die Schulter legen. Das war das allererste Mal, dass ich dieses seltsame Gefühl am äußeren Rand meiner selbst spürte – dieses Wollen. Er stieß einen wehmütigen Seufzer aus und sagte, gerade so, als hätten wir uns schon eine ganze Weile unterhalten: «Gott, Gott, habe ich einen schrecklichen Hunger. Jetzt einen leckeren Dorsch-Pie. Wär das nicht auch was für dich, kleiner Boss?»

«Fick dich», sagte ich und floh.

Irgendwann hörte ich auf, mich nach ihm umzusehen, das seltsame Gefühl des Wollens an meinen Rändern und Ecken aber, das blieb. Noch tagelang wachte ich morgens mit nagendem Hunger auf und lag mit pochenden Ohren und sabberndem Mund im Dunkeln. Als würde mich irgendwas von innen aufgraben. Gewöhnliche Rationen genügten nicht. Der Kutscher saß beim Essen vor mir und zählte jeden meiner Bissen. «Genug jetzt, verdammt», sagte er. Aber genug gab es nie – dabei war das, was er mir vorrechnete, nicht mal die Hälfte: Er sah nicht, wie ich vom Obstkarren gefallene Äpfel stibitzte oder wartete, bis mir der Krämer den Rücken zukehrte, sodass ich ihm Wecken klauen konnte. Er war auch nicht da, wenn das Bäckermädchen die Straße langkam, im Arm einen Korb, so riesig, dass sie ganz schief ging, während sie Fisch-Pie rief, Fisch-Pie. Hielt jemand sie an, schlug sie das karierte Tuch zurück, um ihm einen Berg von Teigknödeln zu zeigen. Fisch-Pie?, fragte sie mich, als wüsste sie, dass sich das Wollen in mir regte. In einer Gasse, in der über meinen Kopf hinweg Wäscherinnen miteinander tratschten, verdrückte ich fünf Stück, und während ich aß, wuchs das Wollen und wuchs, bis es überlief und verschwand.

Erst Jahre später, als man uns geschnappt hatte, sollte ich es wieder fühlen. Nach dem Zuchthaus, als der Richter das Urteil gefällt, den Kutscher flussaufwärts und mich mit sechs, sieben anderen Jungen bis zur Bahn geschickt hatte, westwärts, in der Hand ein Papier, auf dem nur Lurie stand.

 

Eine Woche saßen wir im Zug, fuhren an Höfen, gelben Feldern und rauchenden Hütten auf grauen Hängen vorbei, den weiten Weg bis dahin, wo der Missouri im Schlamm verlandet. Stadt, das hieß eine Reihe Viehhöfe und Häuser. Die umliegenden Hügel waren mit Baumstumpfborsten bestoppelt; mit massigen Stämmen beladene Wagen durchfurchten die Straßen.

Man brachte uns zu einem Rathaus, das stank nach Vieh und Sägemehl, und da wurden wir auf eine Kistenbühne gestellt. Einen nach dem anderen rief man die Jungen die Treppe runter ins Dunkel. Der alte Mann, der für mich die Hand hob, hieß Saurelle. Er hatte Strubbelohren, ein Hinkebein und einen Laden, in dem er Kurzwaren anbot und Whiskey. Die Zimmer oben waren ständig von Leuten belegt, die alle in den Westen wollten. Bei den beiden anderen Tagelöhnern handelte es sich um Brüder: Hobb und Donovan Michael Mattie. Hobb war noch ein Kind, vier, vielleicht fünf, mit einem Temperament, das erwachsene Männer bis in ihre Stiefel erzittern ließ. Und er war ein Langfinger, konnte einfach alles klauen und sah einem dabei auch noch dreist in die Augen. Saurelle wagte es nicht, Hand an ihn zu legen, weil er Angst vor Donovan hatte, gut zwölf Jahre älter, schon ein Mann, hochaufgeschossen und rothaarig wie ein Fuchs. Und stolzer Träger eines frischgewachsenen Bärtchens, womit Hobb und ich ihn gnadenlos aufzogen. An den Sonntagnachmittagen verdrückte er sich, um seine bloßen Fäuste auf die Nasen von Herausforderern aus jedem Winkel des Landes zu schmettern. Aber wie sehr er dabei auch sein eigenes Gesicht ramponierte, am nächsten Morgen war er wieder da: brühte Kaffee auf, lächelte steif. Als der Alte mich einmal verprügelte, weil ich falsch herausgegeben hatte, war es Donovan, der auf sein Fleisch verzichtete, um mein blaues Auge zu kühlen; Donovan nähte mich zusammen, wenn Hinterhofkämpfe ausarteten, und es war Donovan, der sagte: «Lass dich nie unterkriegen, Lurie, was auch passiert.»

Zwei Jahre lang teilten wir uns eine Dachkammer, schrubbten Fußböden und spielten Faro Layout, lieferten Ware aus und kochten Tee, um Saurelles Wasser zu Whiskey zu färben. Wir lachten uns durch die grauen Winter und suchten nach klogängigen Mietern, die sich im Schnee verirrt hatten. Bekam einer von uns Fieber, folgten ihm die beiden anderen in die Krankheit und wieder raus, als liefen wir treppauf, treppab. Im Sommer 53 kraxelten Donovan und ich aus dem Typhus heraus, Hobb nicht. Der alte Saurelle war so anständig, für seine Kiste zu zahlen, damit wir sie nicht selbst zimmern mussten.

Erst Monate später kehrte Hobb wieder. Er kam lautlos und ohne jede Vorwarnung. Mit dem Tod hatte er offenbar seine Stimme verloren, nicht aber seine Lust auf Langfingerei. Ich wälzte mich aus unruhigen Träumen wach, als ich seine kleine Hand schon auf meiner Schulter spürte, und auf dem Kissen lagen irgendwelche Kinkerlitzchen: Nadel, Fingerhut oder Fernglas. Wenn mich sein Wollen überkam, zog es mich zu ähnlichem Krimskrams. So stand ich am Tresen, als eine Durchreisende ihre Brille zurechtrückte, um unsere Waren besser in Augenschein zu nehmen, und mir juckten die Finger. Donovan boxte derweil, als hätte eine endlose, irrsinnige Wut ihn gepackt. Wie ich ihm da hätte erklären sollen, dass sein kleiner Bruder im Dunkeln am Fuße meiner Matratze stand, war mir schleierhaft. Oder warum sich unter meinem Bett Ringe, Brillen, Fingerhüte und Gewehrkugeln häuften.

«Ich habe das gestohlen», log ich, als Donovan das Kästchen fand. «Für Hobb.» Er schlug mich, dann hielt er mir den Kopf, bis mir die Ohren nicht länger klingelten. Wir brachten das Kästchen zu Hobbs Grab und schaufelten ein flaches Loch, in das wir das Diebesgut schütteten – woraufhin Hobb stinksauer war; nächtelang hielt mich sein Wollen wach. Was mich nicht besonders störte. Ich hoffte nur, wenn Hobbs Tod mich schon zu seinem älteren Bruder machte, dass Donovan dadurch dann auch zu meinem älteren Bruder wurde.

Ich fing ein neues Kästchen an. Das Wollen schien kein Ende zu finden. Manchmal gab ich ihm nach und griff mir eine Uhr, ein Buch, was Hobb einen Heidenspaß machte. Später fragte ich mich, ob sein Wollen genauso in Donovan gefahren war wie in mich. Vielleicht war es das ja, was uns Mut genug für unsere Überfälle gab.

Anfangs geschahen unsere Missetaten nur aus Langweile, es waren Raubüberfälle allein dem Namen nach. Straßenhinterhalte, bei denen wir Reisenden auflauerten, die zufällig über die Lichtung kamen, auf der wir um Mitternacht unseren Whiskey tranken. Zusammen hatten wir gerade mal einen Revolver, aus dem seit dem Krieg kein Schuss mehr abgefeuert worden war, aber das wussten unsere Opfer ja nicht. Ich folgte Donovan aus dem Gebüsch und stand hinter ihm, während er den Lauf auf fette Pfeffersäcke oder brabbelnde Besoffene richtete, hin und wieder auch auf einen Pfaffen, der versuchte, uns gottwärts zu kehren. Schon bald sammelte sich unter den Dielen unserer Absteige ein ansehnlicher Fang: Uhren, Geldbörsen, Papiere, die irgendwem sicher irgendwas bedeuteten. Hobb glitt von meinem Bettrand und machte sich daran, den Plunder zu durchwühlen. Es war schon in Ordnung, auf diese Weise wieder zusammen zu sein.

Ungefähr um dieselbe Zeit erwischte Donovan einen Preisboxer ein bisschen zu heftig über der Braue. Als der Junge sich wieder aufrappelte, klang er ganz wollig und konnte seinen Blick nicht auf einen Punkt konzentrieren. Der Sheriff kam, wollte wissen, ob der Kampf fair gewesen sei oder ob Donovan was in seine Handschuhe stopfte. Donovans Aussage, er trage gar keine Handschuhe, brachte ihm als Antwort einen Hieb auf die Rippen ein und die Frage, was wir bieten könnten, damit das Vorgefallene vergessen werde. Ich opferte eine silberne Uhr aus unserer Beute; Tage später kam der Sheriff zurück und fragte: «Wie kommt’s bloß, dass auf der Rückseite von meinem neuen Prachtstück ‹Robert Jenkins› eingraviert steht? Heißt so nicht der Kerl, der letzte Woche draußen auf der Landing Road ausgeraubt wurde?»

Diesmal brach Donovan ihm den Kiefer.

Wir waren schon den ganzen Sommer auf der Flucht, ehe Fahndungsplakate unsere Konterfeis zeigten. In Breton, in Wallis, in den Bayou-Camps stierten uns Kohlezeichnungen mit unseren Namen drunter an, und wir lachten darüber, weil sie uns kein bisschen ähnlich sahen. «Dann können wir das Ganze auch gleich richtig angehen», sagte Donovan. Also überfielen wir beim nächsten Mal eine Postkutsche und machten den Leuten klar, dass wir die Mattie-Gang waren. «Sag’s», forderte er den Peitscher auf, der ‹Mattie-Gang› um den Lauf in seinem Maul nuschelte.

Auf dem nächsten Plakat hatte sich die Belohnung verdoppelt.

Wir versteckten uns auf dem Heuboden einer Wäscherin, die ein bisschen in Donovan verliebt war und uns in Gesellschaft stets Gentlemen nannte, bis ihre Nachbarn sich daran gewöhnt hatten, uns in ihrer Nähe zu wissen. Das brachte uns ein paar Einladungen zum Abendessen ein. Ohne Hut und reichlich verblüfft hockten wir in fremden Küchen. Hielten Händchen unterm Tisch mit neugierig lächelnden, weiß bespitzten Töchtern und murmelten unseren Dank an Gott für Gaben und Gnade. Irgendwie verriet uns keiner. «Wer hätte gedacht», sagten sie alle, «dass Peyton County sich so glücklich schätzen darf, zwei Jungs zu verstecken, die bereit sind, den Federals zu zeigen, was wir in Arkansas von den Gesetzen des Nordens halten.»

Danach taten wir uns mit zwei entfernten Vettern von Mattie zusammen, Avery und Mathers Bennett: stumpfsinnige Landeier aus Oklahoma mit mehr Muskeln als Verstand. Zu viert waren wir in der Lage, eine Poststation auszurauben oder einen Zug zu überfallen – und taten es auch, trabten im Dunkeln zwischen die Waggons; und um uns blitzten die Schreie auf wie Kerzenlichter.

Eines Abends knöpften wir uns in Fordham eine Kutsche vor und mussten die Köpfe einziehen, als ein übereifriger Bursche aus New York einen Schuss ins Blaue feuerte. Seine zweite Kugel streifte Donovans Schulter. Dann weiß ich nur noch, wie ich den Kerl bei den Haaren packte und halb aus der Kutsche schleifte; die anderen hielten mich nicht zurück. Zeitungen in zwei Countys nannten es eine ‹bestialische Tat›. Muss es wohl gewesen sein, auch wenn ich mich nur noch daran erinnern kann, wie ich hinterher meine Stiefel abwischte und mich fragte, wann das mit dem Treten angefangen hatte.

Auf dem nächsten Plakat stand:

Gesucht:

Die Mattie-Gang

Auf Befehl von

Marshal John Berger,

Peyton County

«Gottverdammt», sagte Donovan. «Jetzt hast du uns die Marshals auf den Hals gehetzt. Das muss gefeiert werden.»

Mir war schwer ums Herz, aber gefeiert haben wir trotzdem. Ich fing den Blick eines dunkelhaarigen Mädchens auf, dessen Name mir entfallen ist – falls ich ihn je gewusst habe.

Meinen kannte sie allerdings, und fuhr aus meinen Armen auf, als sie ihn später in der Scheune hörte. «Bist du der Türke, der mit Donovan Mattie reitet?»

«Bin kein Türke.»

«Es heißt, der Junge, den du zusammengeschlagen hast, der schafft es vielleicht nicht.»

«Junge?», sagte ich. «Das war ein Mann. Trug ’nen Anzug.»

Dass Donovan mein Bruder war und mir fast jeden Tag das Leben gerettet hatte, seit er mir damals den Hut in den Nacken schob, um sich die traurige Gestalt anzusehen, die da durch seine Tür hereingeschneit war, schien für sie keinen Unterschied zu machen. Sie stieg vom Dachboden, und ich kämpfte die halbe Nacht gegen eine Woge panischer Angst; ich vermisste Hobb stärker, als ich ertragen konnte.

Einige Tage später hat Donovan uns dann alle mit nach Goshead genommen, um sich die Posse anzugucken, die Marshal Berger für die Jagd auf uns zusammenstellte. Schon damals sah der Marshal älter aus, als er war, seine Stirn ein frisch gepflügtes Feld. Seine Oberlippe war kahl und deutlich heller als der Rest des Gesichts, und an der Art, wie er sich immer wieder die Hand vor den Mund hielt, merkten wir, wie leid es ihm tat, sich den Schnäuzer abrasiert zu haben. Donovan, ich und die Bennett-Brüder reihten uns hinten in die Menge ein und klatschten nach seiner Rede, in der es darum ging, wie verwerflich es doch sei, Gesetzlose zu beherbergen.

«Das sind keine guten Jungs», sagte er. «Das sind üble Kerle. Brutale Hunde. Wer sie versteckt, tut unrecht. Fragt euch doch selbst, ob ihr ihnen wirklich Brot und Unterschlupf geben würdet, wenn es eurem Kind ginge wie diesem New Yorker Jungen: alle Rippen gebrochen, ein Auge verloren, die Zähne in den Hals gerammt.»

Ich fragte mich, wie wohl das Wollen des New Yorkers aussähe, sollte er sterben und mich finden. Würde er mir seinen Kummer wegen all dem aufhalsen, was er nicht mehr erleben konnte? Würde er auf mich einreden, bis ich mich dem Marshal ergab? Oder würde er den eigenen Tod rächen, indem er für meinen sorgte?

Marshal Berger stand oben und starrte in unsere sonnenverbrannten Gesichter. Wenigstens die Hälfte der Menge kannte uns vom Sehen, aber es war Lewis Riffles, der blöde Müllersohn, der das Schweigen brach: «Wissen Sie eigentlich, ob Sie gute Bilder von der Mattie-Gang haben? Sind Sie sich sicher, was ihre Größe angeht? Ihr Gewicht? Könnten sie nicht sonst wer sein? Könnten sie nicht mitten unter uns stehen?»

Lewis lächelte dabei unentwegt und wurde mit jeder Silbe dreister, bis von einem Ende zum anderen Gekicher über den Platz flatterte.

Der Marshal starrte in seinen eigenen Schatten auf dem Sand und antwortete müde: «Ja, wir haben gute Bilder. Und ja, ich schätze, sie könnten mitten unter uns sein.» Als er genug von dem Unsinn hatte, kam er die Stufen runter, packte Lewis Riffles am Ohr und zwang ihn in die Knie. «Ist ja gut, ist ja gut», sagte Lewis, aber jeder hätte ihm sagen können, dass es zu spät war, sein Ohr eine weiß anlaufende Knospe in der Fingerzwinge des Marshals. Plötzlich begann Lewis Riffles zu quieken und zu strampeln, und direkt vor unseren Augen riss ihm der Marshal in einem langen Streifen das Ohrläppchen mitsamt einem bisschen rote Kotelette vom Kopf. Er stand über den armen Lewis gebeugt, der im Sand lag und das Stück von seinem Ohr anstierte, staubpaniert, als sollte es in der Pfanne brutzeln. Berger sagte: «Jedem, der sich zwischen mich und diese Mattie-Tiere stellt, tu ich Gleiches oder Schlimmeres an.»

Das ganze Jahr über gab er sich große Mühe, uns in einem Hinterhalt nach dem anderen aufzulauern, als wüsste er nicht, dass jedermann in der Gegend sauer auf ihn war wegen des armen ohrlosen Riffles. Sie versteckten uns in ihren Hühnerställen und Kellern, reichten uns an Freunde und Nachbarn weiter. Und wenn uns wieder mal eine Flucht gelang, dachte ich, irgendwie müsse es Hobb sein, der auf uns aufpasste, wenn er nicht gerade dafür sorgte, dass mir die Finger juckten. Jeder Tag ein Wunder, gesandt von unserem kleinen Bruder, der nur wollte, dass wir heim- und zur Ruhe fanden.

Aber dann kam schließlich der Abend, an dem Donovans Temperament mit ihm durchging. Beim Überfall auf eine Butterfield-Kutsche blitzte das blaue Licht seines Revolvers durch die Kabine, gefolgt von einem lauten Donner, und ein Schrei stieg auf, der uns den ganzen Weg bis in die Stadt folgte.

Ist schon komisch, wie man sich an eine gewisse Grenze herantanzt, hinüberhuscht und wieder zurück, jahrelang – bis man irgendwann zu weit geht und ein für alle Mal auf der anderen Seite steht. In Arkansas wird einem vieles verziehen, nicht aber, dass man einem Friedensrichter das Hirn in den Schoß seiner kleinen Tochter bläst. Dieser Fehltritt brachte uns ein neues Plakat an den Scheunentoren ein:

Gesucht wegen Mordes an

James Pearson aus New York

&

an dem ehrenwerten

Friedensrichter Colin Phillips

aus Arkansas werden:

Donovan Michael Mattie

aus Missouri

&

sein kleiner,

stark behaarter

Levantiner

«Scheiße», sagte Donovan. «Hat dieser New Yorker doch noch ins Gras gebissen!»

Mich packte eine Angst wie seit meinen Grabräubertagen nicht mehr. «Wieso machen die eigentlich so ein Trara darum, wie ich aussehe?»

«Weil so ein seltsames kleines Äffchen wie du leicht zu erkennen ist.» Sagte ausgerechnet Mathers Bennett, der schon von Geburt an wie eine schielende Karotte aussah. «Ich finde, wir liefern dich aus, Lurie. Sind ein verdammt leichtes Ziel, solange du in der Nähe bist.»

Donovan sagte ihm, das käme überhaupt nicht in Frage. Am nächsten Abend rasierte er mir den Schädel, bis ich kahl wie eine Waldklapperschlange war. Ich sah wie einer der Bekloppten aus, die von Jesuiten rumgeführt werden.

«Aber wenigstens nicht mehr wie ein stark behaarter Levantiner», sagte Donovan.

Wir ritten in die Hügel. Teilten uns auf, um unsere Spuren zu verwischen, und schliefen unruhig in irgendwelchen Gräben. Über uns ächzten und stöhnten die schwarzen Bäume. Manchmal vergingen Tage, ohne dass wir Berger sahen. Manchmal kamen uns seine Männer so nahe, dass der Wald im roten Dämmerlicht ihrer Fackeln erglühte.

Tja, und dann holte Mathers sich in einem Bordell in Greybank den Typhus. Wir leerten unsere Taschen, bestachen die Puffmutter, damit sie ihn versteckte, bis es ihm wieder besser ging, aber sie wartete nicht mal zwei Tage, bis sie ihn an den Marshal verpfiff. Mathers wurde ohne Prozess gehängt, gleich an Ort und Stelle in Greybank baumelte er an einem Balken. Ein Zeitungsmann in Drury City erzählte uns davon, sagte auch, was Mathers’ letzte Worte waren – ein passendes Gebet und die standhafte Weigerung, die Namen seiner Kumpane zu verraten. «Ich halte zu den Jungs», darauf lief letztlich hinaus, was er sagte. «Und mit Mattie bin ich blutsverwandt. Aber, so wahr mir Gott helfe, mit ihm reitet dieser kleine Killer-Türke, der sich gerade den Kopf rasiert hat, um dem Arm des Gesetzes zu entgehen. Hört auf den Namen Lurie, und auch wenn er wohl nie was Besseres nicht gemacht hat, als den New Yorker Jungen zu Tode zu treten, kann er Mattie definitiv nicht das Wasser reichen. Amen.»

Als Donovan das hörte, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er bat mich als Erstes, meinen Hut aufzusetzen. «Weißt du, so ganz unrecht hat er nicht.»

«Was soll das heißen?», fragte ich bestürzt und dachte, er würde mir jetzt sagen, warum ich kein Mattie war.

«Tja, bist wirklich ein kleiner Killer-Türke. Und dein Kopf ist rasiert.»

In den grünen Hügeln oberhalb von Texarkana kam Berger uns ziemlich nahe. Er hatte Hunde dabei und einen Scharfschützen oben in einem Baum, der mich fast aus dem Sattel holte. Donovan wusch mir so gut wie möglich den Dreck aus der Schulter und nähte mich im Dunkeln zusammen, aber Fieber kriegte ich trotzdem. Er bettete mich in einen Graben, deckte mich mit einer Satteldecke zu und legte glutheiße Steine drauf. «Verdammt», sagte er immer wieder mit diesem seltsam entrückten Lächeln, «kannst doch nicht krepieren, ohne je das Meer gesehen zu haben.»

Eine eigentümliche Bemerkung. Waren wir denn dahin die ganze Zeit unterwegs gewesen? Und war das mein Wollen – das Meer sehen? Ich hätte es nicht sagen können. Und ginge mein Wollen auf Donovan über, wenn ich es nicht bis zum Morgen schaffte? Allein mit solchen Überlegungen hielt ich mich fast die ganze Nacht wach, aber eben nur fast. Als ich aufwachte, war Donovan weg. Erst dachte ich, ich hätte schon rübergemacht, auf die andere Seite – ich weiß noch, wie ich merkte, dass ich überhaupt kein Wollen nach irgendeinem verdammten Scheiß spürte, jedenfalls ganz bestimmt nicht nach dem Meer, und das war doch komisch, oder?

Aber dann fand ich Brot und Wasser, zurückgelassen für mich, und ich wusste, er war weitergeritten. Ich wünschte mir, ich hätte mich nicht getäuscht und wäre gestorben, bevor er mich verließ. Spuren im Sand zeigten, wohin er sich heimlich davongemacht hatte, Hobbs Bruder und meiner. Nichts mehr, was an ihn erinnerte, nur ein Kanten Brot, seine alte Feldflasche und meine Angst.

Erst füllte ich seine Feldflasche, jetzt meine, in Iron Springs, wo ich nach ihm suchte. Ich suchte ihn auch in Greenwood, aber vergebens, weil ich rumdruckste, wenn es um sein Aussehen ging, ihn hier so, dort anders beschrieb, damit mich keiner erkannte und mit ihm in Verbindung brachte. Ich schlief in den Gassen. Ich ließ mich in Kirchen durchfüttern, wo die Gemeindepfarrer mit allem Feuer ihres Glaubens hinter meiner Seele her waren, als wüssten sie, dass ich zusätzlich zu meinen eigenen Sünden den kleinen Dieb Hobb mit mir herumtrug, und vielleicht konnten sie uns ja für ihren Gott schnappen.

Ich saß in einer Absteige in Miza Ridge, als Marshal Berger mit acht Männern reinschlurfte und es sich auf einem Stuhl bequem machte, der ächzte, als gäbe er all meinem Kummer Laut. Der verschlagene alte Fuchs nahm jeden Anwesenden unter die Lupe und hielt meinem Blick so lange stand, dass ich wusste, er fragte sich, woher ich ihm nur so bekannt vorkam. Ich wartete, bis es auf der Tanzfläche voller wurde, dann schlich ich mich zur Hintertür raus und war am Morgen wieder unterwegs nach Süden.

Ich hatte vor, so lange weiterzuziehen, bis ich kein Gesicht auf den Fahndungsbildern mehr kannte. Entlang der Küste breitete ein Fischerdorf nach dem anderen seine fahlen Lichter vor mir aus. Ich übernachtete in Segeljollen, wellengebeutelt, und fragte mich, was schlimmer war: ruderlos jenseits der Wellenbrecher zu treiben oder beim Aufwachen Marshal John Berger über mich gebeugt zu sehen. Flusskähne südlich von Matagorda boten ruhigere Unterkunft. Die gesteckt vollen Lager im Schiffsbauch aber führten Hobb in Versuchung. Sein Wollen wuchs und wuchs. Er wollte Haken und Glocken und die Maskottchen der Matrosen. Er schloss meine Hand um Münzen und Stiefelschnallen. Tauschte ich seinen Ramsch gegen Mahlzeiten ein, kochte er vor Wut. Trotz des schweren Geklimpers in meinen Manteltaschen befand er uns für zu leicht.

Ich zog weiter südwärts, immer die Buchten lang. Und so hätte Woche auf Woche folgen können, in denen zerlumpte Leute in flachen Gewässern angelten und Sturmböen schwarzen Regen brachten, wäre ich nicht, das muss im Frühjahr 1856 gewesen sein, im Licht eines flammenden Sonnenuntergangs die Strickleiter eines knarrenden, am Langdock in Indianola liegenden Vollschiffs mit Schwertfischbug hochgeklettert. Der Wind nahm zu, und ein letzter grüner Schimmer schwappte vom Himmel überm Land heran. Seither habe ich mich oft gefragt, ob ich mich so deutlich daran erinnere, weil ich irgendwie wusste, dass dieser Augenblick es wert war, im Gedächtnis zu bleiben, oder weil ich meine Erinnerungen in den nachfolgenden Jahren mit dem Glanz der Vorhersehung aufpoliert hatte.

Wie auch immer, kaum sah ich das Deck verlassen daliegen, hieb Hobb seine Klauen in mich. Damit er Ruhe gab, durchsuchte ich Biwaksäcke und Satteltaschen. Die seltsame Kaffeetasse, die mir zuerst in die Hände kam, wollte er nicht, auch kein silberbeschlagenes Zaumzeug. Nein: Was er wollte, das war eine Glasperle, tiefseeblau, bemalt mit einer schwindelerregenden Folge kleiner werdender Kreise, eine Kugel, die ich aus einem kleinen Bündel fischte und die ich gleich für ein Auge hielt, ähnlich dem Nazar, das mein Vater in seiner Tasche trug. Ich überließ sie Hobb, stromerte über Deck, füllte meine Feldflasche aus dem Wasserfass. Nahe beim Heck war ein grober Verschlag, und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand sah, ging ich rein, weil ich dachte, hier könnte ich mich bis zum Morgen verstecken.

Und wen – ohne irgendwas zu sehen, hineinstolpernd in einen Dunst aus Atemwolken und Gestank, vor Angst plötzlich wie von Sinnen –, wen sollte ich da finden, wenn nicht dich?

Morgen

Amargo

Arizona-Territorium, 1893

Mit leeren Händen kam Toby vom Fluss zurückgerannt, um ihr zu sagen, er hätte noch mehr Spuren gefunden – diesmal unten am Ufer.

«Na schön», sagte Nora. «Zeig sie mir.»

Sie zügelte das Pferd und folgte ihrem Jüngsten in die Schlucht. Der Pfad verengte sich zwischen hohen Felsen und lief auf die schwarzen Ablagerungen eines alten Flussbettes zu, ehe er sich dann eine Viertelmeile weit durch Cottonwoods hin zum Ufer schlängelte. Wenig war vom Strom geblieben außer schimmernder Septemberschlamm und die Wellenspuren der paar Molche, die Toby entkommen waren.

Er zeigte zu der Stelle, wo er den Eimer fallen gelassen hatte. «Da, die Spuren.»

«Aha», sagte Nora.

Es freute sie, dass sein Haar nachwuchs. Drei Söhne und siebzehn Jahre Mutterschaft hatten sie gelehrt, dass die Kahlrasur den einzig erfolgreichen Feldzug gegen Läuse versprach, auch wenn das Resultat sträflich aussah – bei Tobys Anblick könnte man meinen, er sei aus irgendeiner Rasselbandenmiliz desertiert und müsse jetzt das sichtbare Mal seiner Unehre tragen. Was aber, wenn die gute Tradition unter ihren Söhnen ihn im Stich ließ und er für immer kahl blieb? Er war doch so ein mickriges Kerlchen: für sieben viel zu dünn, sanft, golden und ganz verquer vor lauter Zweifeln. Sehr empfänglich für die wilden Ideen seines Vaters.

Diese Sache mit den Spuren wurzelte tief, verdrängte all seine übrigen Nöte und trug ihm die Verachtung seiner Brüder Rob und Dolan ein, die ihm keine seiner kindlichen Geistergeschichten mehr durchgehen ließen, seit sie sich so wildentschlossen für erwachsen hielten. Das einzige Entgegenkommen, das sie ihm großzügig anboten – «sag einfach Bescheid, Toby, und wir locken es für dich an!» –, entsprach so gar nicht dem, was Toby wollte. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, das Monster zu sehen; er wollte nur, dass man ihm glaubte, es existiere wirklich. Letzte Woche hatten ihn die Jungs zum aufgegebenen Hof der Floreses mitgenommen, Ort der allerersten Sichtung dieser Spuren, um ihm dort den Unsinn auszutreiben. (Auf welche Weise genau, konnte Nora nur vermuten, immerhin gelang es ihr, sie nicht zu ermahnen, auf sein schlimmes Auge Rücksicht zu nehmen. Sie waren doch ihre Jungen. Emmetts Söhne. Und bis auf einige wenige Situationen in letzter Zeit waren sie stets brav und wachsam gewesen, im Allgemeinen auch sorgsam im Umgang mit anderen, insbesondere mit Toby.) Dennoch hatte Nora auf der Veranda gewartet, bis sie aus den roten Schwären des Dämmerlichts wiederauftauchten, zwei Pferde, die lange Schatten nach sich zogen. Dolan wippte beherzt hinterdrein, ein paar Schritte voraus Rob, der mit seinen sechzehn Jahren so abgemergelt aussah, dass sie sich wunderte, wie er es schaffte, Toby mit nur einem Arm vor sich im Sattel zu halten.

«Und?», rief sie. «Habt ihr’s ihm gezeigt, also, was immer ihr da draußen gefunden habt?»

Rob setzte Toby ab. «War nichts weiter draußen, nur ein paar Gebirgshühner und ein alter Schildkrötenpanzer. Und wir sind uns jetzt einig, dass nix von dem je wieder zu Toby kommt und hier herumspukt.»

Ein winziges Lächeln zupfte an Tobys Mundwinkeln. Damit schien die Sache beendet. Dann aber, Morgen für Morgen, saß Toby beim Frühstück mit kleinen, durchwachten, rot geäderten Augen. Das Kinn glitt ihm aus der Hand. Verunglückte Eier fleckten seine Spur über den Hühnerhof. Nachts – Emmett über die Zeitungsarbeit gebeugt, Rob und Dolan oben im Tiefschlaf – legte Nora ihr Ohr an Tobys Tür und hörte das rastlose Rascheln, wenn sein Leib sich unter der Decke wälzte.

Wie zu erwarten, schrieb Emmett den Kummer des Sohnes dem zu, was sie nur noch sein ‹Missgeschick im letzten Jahr› nannten. Alles, was mit Toby schieflief, konnte so wegerklärt werden: sein Sturz vom Pferd letzten März, auf den ersten Blick kaum anders als das übrige Dutzend Stürze, die Toby im Laufe der Jahre erlitten hatte – im Ablauf dermaßen vertraut, dass Nora sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, gleich zu ihm zu gehen, als er auf dem Boden lag.

«Sie hätten sowieso nichts tun können», versicherte ihr Doc Almenara später, nachdem er erklärt hatte, es sei das reinste Wunder, das Toby nicht auf der Stelle erblindet war. Seither hofften sie, dass Toby bald wieder auf dem linken Auge sehen konnte, und warteten ebenso ungeduldig auf eine Linderung der anderen Unglücksfolgen: Blitze, die durch sein Blickfeld zuckten, oder seine Unfähigkeit, zwischen Wachen und Träumen zu unterscheiden.

Er hatte gelernt, die Dunkelheit zu fürchten, auch die Schemen, die aus dem elektrischen Schlund gestörten Schlafs hervortosten. Dass er Noras Zärtlichkeit für Mitleid hielt, machte alles nur noch schlimmer. Sie fand es unfair, konnte sie doch einfach gar nicht anders, als bei den vielen Gelegenheiten, wenn er gegen eine Mauer lief oder den Griff eines Bechers verfehlte, seinen kleinen Kopf in beide Hände nehmen zu wollen. Wäre Toby noch zu klein gewesen, um an ihr zu zweifeln, oder alt genug, um zu verstehen, hätte er ihre Aufmerksamkeiten gewiss einfach über sich ergehen lassen, aber er war genau in dem Alter, in dem er sie nur unerträglich finden konnte.

Zum Glück kam er nicht auf die Idee, sie zu fragen, warum sie jetzt neben ihm am Flussufer hockte und sich solche Mühe gab, ihm zuzuhören.

«Da», sagte er. «Siehste?»

Sie sah. Ein vertrautes Wirrwarr schraffierte das Ufer: kreuz und quer die Fährten von Skunk und Stachelschwein, auch die geschmeidige Wellenspur, die eine Schlange auf ihrem Weg aus dem Wasser hinterlassen hatte.

«Und da», sagte Toby, «und da! Siehst du, wie eingesunken die oben ist?»

Er deutete auf einen Abdruck, der ungefähr so groß wie ein kleiner Teller war. Sein Nachzeichnen mit dem Finger im Sand bewirkte nur, dass die Fährte jetzt aussah wie ein Bilderbuchherz.

«Sonst noch was?»

Er zeigte dahin, wo er meinte, noch ein paar in den Salbei geschurrte Schleifspuren zu sehen, die den alten, von sonnenverdorrtem Gras gesäumten Wildpfad hinauf verschwanden.

«Muss wohl da lang sein», sagte Toby. «Hat das Geröll hier losgetreten.»

«Und hast du eine Idee, was das sein könnte?»

«Tja, klein ist’s nicht.» Um ihr das zu beweisen, winkte er sie näher zu einem wildwuchernden Nesselbaum direkt am Ufer. Rundum waren die Zweige kahl gefressen, und die wenigen verbliebenen Beeren, ein Planetarium vertrockneter, orangefarbener Globen, hingen weitab vom dornigen Stamm.

«Siehst du?»

«Keine Kreatur würde bei dieser Dürre nicht kurzen Prozess mit den Beeren machen, Tobe», sagte sie leicht genervt: «Bis auf Josie offenbar. Hab ich ihr nicht gesagt, dass sie herkommen und die letzten pflücken soll, bevor es die Vögel tun?»

Schulter voran drängte sie sich zu einer Frucht vor und hielt sie Toby hin, der aber quetschte sie nur zusammen, bis die Haut platzte und ihm das Mus zwischen den Fingern zerrann. Dann wischte er die Hand am Hosenbein ab. Er schmollte.

«Was ist?»

«Du denkst, ich bind dir ’nen Bären auf», sagte er. «Du siehst ja gar nicht richtig hin.»

«Guck ich vielleicht nicht?»

«Jedenfalls nicht so, als ob du wirklich glaubst, du würdest was finden.»

Sie raffte die Hosenbeine, schob sich ins Gebüsch und tat, als würde sie nach Spuren suchen. Die Jungs nannten diesen Hügel immer noch ‹Antilopenwechsel› – obwohl es hier längst keine Antilopen mehr gab, hatten die doch schnell genug spitzgekriegt, was es mit dem morschen kleinen Unterstand auf sich hatte, den Emmett damals, als sie hier noch Neuankömmlinge waren, oben am Rand der Schlucht gebaut hatte. Dieser Tage war der Hang nur noch eine Brandfläche verdorrter Gräser, nichts als Distelspelz und abgestreifte Schlangenhaut; eine Spitzkehre nach der anderen zickzackte hinauf zur roten Kuppe des Felsvorsprungs. Wenn in dieser Gegend ein lebendiges Herz schlug, gehörte es sicher einem von Schatten zu Schatten huschenden Rennkuckuck. Und da war auch schon einer, klar doch, und scharrte nach Würmern. Verschwand in dem Moment, da ihr Schatten ihn streifte.

Halb benommen stand sie zwischen den jungen Eisenholzbäumen und tat immer noch als ob. Die Sonne setzte ihr zu. Fast den ganzen verdammten Vormittag lang hatte sie es geschafft, nicht an ihren Durst zu denken. Als sie schlief, war was Wundersames geschehen: Seither fand sie den Durst so normal wie ’s Atmen. Sie fühlte sich träge, ihr war heiß, und sie war froh, dass Toby ihren Ritt in die Stadt hinausgezögert hatte.

So konnte sie sich ohne jede Hektik über die Lage klarwerden: Dass Emmett das Wasser mit drei Tagen Verspätung aus Cumberland brachte, war eigentlich nicht so ungewöhnlich. Heute Abend würde er bestimmt zurückkommen, bis dahin sollte das bisschen Wasser im Regenfass reichen. Und dass sie die Betten von Rob und Dolan leer vorgefunden hatte, war auch nicht weiter bemerkenswert. Irgendwie hatten es die Jungen geschafft, im Dunkeln leise zu packen und sich, wie so oft, auf den Weg in die Druckerei gemacht, ohne sie zu wecken. Sobald sie Toby beschwichtigt hätte, würde sie mit dem Mittagessen für seine Brüder in die Stadt reiten – den langen Weg, ruhig, ohne jede Eile. Wenn sie den Mut aufbrachte, würde sie vielleicht sogar bei Desma vorbeischauen und doch noch die falschen Hirschsteaks abholen. Und womöglich bei Harlan, mal nachsehen, ob der Sheriff einen ruhigen Tag hatte.

«Hier ist nichts, Tobe.»

«Bist ja keine zehn Meter weit gegangen.»

«Toby!» Er wollte sie nicht mal ansehen. «Wann kann ich denn deiner Meinung nach wieder umkehren? Wenn mich eine Schlange gebissen hat? Und was willst du dann machen? Ganz allein, deine Brüder weit weg in der Stadt?» Irgendwie wollte sie ihm plötzlich ein Lächeln entlocken. «Willst du dir denn deine Mama über die Schulter werfen und sie eigenhändig die Schlucht raufschleppen?»

Seine Stimme klang todtraurig. «Ist schon gut, Mama. Bitte, komm zurück.»

Ging sie also weiter. Wie blinde Passagiere noppten Kletten ihren Hosensaum. Nora stieg den immer schmaleren Pfad zur ersten Spitzkehre hinauf, wo das Gestrüpp flachgedrückt überm Weg lag. Ein riesiger brauner Grashüpfer segelte von Stängel zu Stängel, bis nur noch ein fernes Rascheln blieb. Knapp zwanzig Meter höher hingen Moosfetzen quer überm Gebüsch. So sonnenverbrannt und rot wie das tote Mädchen, das sie mit Emmett in ihrem ersten Sommer aus einem Spalt unten im Tal gezerrt hatte. Knuspertrocken wie ein Kienspan, die Haut steif und eingefallen, die Muskeln geschrumpft. Um den Kopf hatte sich ein Schopf orangefarbenes Moos geschmiegt, genau wie das hier. Kein Hinweis darauf, wie sie dorthin gekommen war, auch wenn Emmett meinte, sie sei da reingekrochen, um Zuflucht vor der Hitze zu suchen. Grinste schon hundert Jahre lang vor sich hin – vielleicht auch tausend, das wussten sie beide nicht zu sagen.

«Da ist nichts, Tobe.»

Unten starrte ihr Sohn stirnrunzelnd aufs Ufer. «Sieht das für dich nicht – na ja – wie ’n Abdruck von einem Paarhufer aus?»

«Nein.» Sie beobachtete ihn. «Sollte es?»

Er zuckte leicht die Achseln, aber endlich kamen seine wahren Ängste zum Vorschein, daran war nichts zu deuteln. Wie jede seiner abstrusen Spinnereien in letzter Zeit wies sein Interesse an Paarhufern auf Josie zurück, Emmetts Mündel und spiritistische Cousine.

«Schweine sind Paarhufer», sagte Nora. «Weißt du noch, wie deren Spuren aussehen?»

«Nicht so richtig.»

Nora hielt zwei Finger hoch. «Die hinterlassen Abdrücke wie Mottenflügel.» Sie ging wieder zu ihm runter. Zusammen schauten sie auf den roten Matsch. «Das ist kein Abdruck von einem Paarhufer, Tobe. Ganz egal, was Josie dir für Flausen in den Kopf gesetzt hat.»

«Nix hat die mir nicht in den Kopf gesetzt.»

«Tja, deiner Ausdrucksweise ist sie jedenfalls ganz bestimmt nicht förderlich.»

Den Weg zurück vom Flussbett schepperte der leere Eimer an seine Beine. Die freie Hand hatte er in die Hosentasche gestopft, außerhalb ihrer Reichweite.

* * *

Am oberen Rand der Schlucht blieb Toby stehen. «Wo sind die Hunde, Mama?»

Ihr war heiß, sie war außer Atem und hatte keine Antwort, aber diese Frage spülte endlich jenes seltsame Gefühl nach oben, das ihr schon den ganzen Morgen zugesetzt hatte – das Gefühl, das etwas fehlte. Nicht allein, dass ihre Jungen schon in aller Frühe aufgebrochen waren oder dass Emmetts Ausbleiben sie gezwungen hatte, sich für einen weiteren elend langen wasserlosen Tag zu wappnen. Nein, da war noch was anderes gewesen, etwas, das allem anderen zugrunde lag oder es umfing, und jetzt war es ihr klar: die Hunde. Die Hunde waren weg – vier, vielleicht fünf, falls der liebestolle alte Köter sein letztes Techtelmechtel mit jener Kojotenfähe überlebt hatte, von der ihm kürzlich der Kopf verdreht worden war. Ihren Lärm, wild und unbändig, konnte man in jedem Winkel der Farm zu jeder Stunde des Tages hören, was Emmett immer wieder die leere Drohung entlockte, die Köter eines Tages alle zu erschießen – der Hundelärm war ihr steter Begleiter gewesen, und ohne ihn breitete sich eine ungeheure Stille aus; die leise Musik der Gräser mochte noch so laut anschwellen, sie konnte sie nicht übertönen.

«Bestimmt haben die Jungs sie mitgenommen», sagte Nora.

«Wieso?»

Sie dachte nach. «Um zu jagen?»

Zum ersten Mal an diesem Tag lachte Toby. «Mama», sagte er. «Wie doof.»

Er ging ihr voraus zum Haus, das am Fels stand. Geschmolzene Sonne in den Fenstern, und durch jede Ritze der Tür suppte schwarzer Qualm – ein sicheres Zeichen dafür, dass Josie Spiegeleier briet. In letzter Zeit hatte Nora sich einige Male dabei ertappt, wie sie sich ausmalte, was draus werden würde, wenn auch die Larks noch das Feld räumten. Wenn Rob, mit seiner Geduld am Ende, sich doch noch einem Viehtrieb nach Montana anschloss und Dolan das Glück hatte, eine Lehrstelle zu finden – vielleicht, mit Gottes Gnade, unter der gütigen Obhut eines geduldigen Richters; dann würde Emmett zwangsläufig bekommen, was er wollte, würde die Zeitung aufgeben, Nora, Toby und seine alte Mutter auf den Wagen laden und Kurs aufs nächste Wagnis in einer anderen namenlosen Gegend nehmen, sollte es so was in dieser Welt denn noch geben.

Es würde still werden um das Haus. Mäuse würden nach den letzten Krumen suchen und in der Traufe ihre Nester bauen. Klapperschlangen würden folgen, Buscheichen mit ihren gierigen Wurzeln den Hang hinabwandern, nach und nach den Steckzaun und Evelyns kleinen Grabstein überwuchern und sich bis zu den Ställen ausbreiten. Der Hof würde verkommen, das mühsam gejätete Gras nachwachsen, eine stachlige Matte, die alle Nachkömmlinge von Noras Kohlköpfen erstickte. Ein später Sommersturm brächte irgendwann die Scheune zum Einsturz. Ein Feigenkaktus, klein und rund, wüchse in einem der unteren Zimmer langsam durch den Boden. Und eines stillen Abends im Herbst wäre die Farm dann bloß noch ein schiefer Holzhaufen, und die lichtlosen Fenster würden verzweifelte Nachbarn dazu verleiten, ihren Brunnen auszuloten, so wie Emmett und sie es getan hatten, als die Floreses – Rodrigo, Selma und Tobys kleine Freundin Valeria – ohne jede Vorwarnung ihre Zelte abgebrochen hatten. Waren ohne Lebwohl gegangen, wie es Brauch ist unter denen, die aufgeben.

Es war schlimm genug gewesen, Emmett dabei zuzusehen, wie er im staubigen Hof der Floreses stand und zu erraten versuchte, wie lange der Brunnen schon trocken war – dann aber machten sie den größeren Fehler und gingen ins Haus, wo sie jede Menge kleiner Wehmütigkeiten erwartete. Die Betten alle gemacht. In den Schubladen noch Schachteln mit alten Karten und Briefen. Bei der Tür lehnten zurückgelassene Bilder, offensichtlich in die engere Wahl genommen, dann aber doch für zu belanglos oder zu schwer befunden, sodass man sich auf der Veranda von ihnen verabschiedet hatte. Die Stille, die Nora und Emmett in diesem Haus anfiel, hatte noch während ihrer abendlichen Arbeit fortgedauert und war ihnen ins Bett gefolgt, wo sie in ungewohnter Gier übereinander herfielen. Einige Stunden später, schlaflos trotz aller Erschöpfung, hatte Nora gesehen, wie Emmett aus den zerwühlten Laken aufstand und auf dem Fensterbrett balancierte, um an den Sims hoch überm Kopfende ihres Bettes zu langen.

«Was ist denn in dich gefahren?»

«Wirst schon sehen», sagte Emmett. Noch nackt und ein wenig außer Atem, friemelte er einen Nagel locker und begann, etwas ins Holz zu ritzen.

«Was schreibst du?»

Er überraschte sie mit einem Lächeln, das zehn Jahre aus seinem Gesicht wischte. «Emmett, Nora und ihre Jungen wohnten hier und waren glücklich.»

Und was ist mit Evelyn?, wollte sie fragen – und wie zu erwarten, meldete sich Evelyn auch schon in ihrem Ohr und murmelte: Ja! Was ist mit mir? Sie klang eher ungläubig als verletzt, wie es einer Siebzehnjährigen anstand – so alt wäre sie jetzt nämlich, und so alt stellte Nora sie sich vor. Siebzehn, ungläubig und mit einer keineswegs unangemessenen Frage: Was war mit ihr? Hatte sie einst nicht auch in diesem Haus gelebt? Lebte sie nicht weiterhin dort, dauerte fort in Noras Phantasie? Und falls sie ein echter Geist war, nicht bloß die eingebildete Manifestation ihres lang schon toten Kindes, würde der Fortzug, den Emmett offenbar plante, sie dann nicht als Gespenst in diesem Haus zurücklassen, schrecklich, ja unvorstellbar einsam?

Im Laufe des letzten Jahres war diese Vorstellung in Nora herangewachsen, und was da wuchs, breitete sich zwischen ihnen aus wie Eis, das Planken aufsprengte. Hätte sie Emmett in jener Nacht davon erzählt, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, aber Emmett hatte so selig entrückt gewirkt, so zufrieden und beschäftigt mit seiner Kritzelei, dass Nora es nicht über sich brachte, ihn mit ihren Fragen zu löchern. Stattdessen hatte sie sich das Laken bis ans Kinn hochgezogen. «Mister Lark, du redest ziemlichen Unsinn.»

«Ich finde, es ist eine gottverdammt wunderbare Wahrheit», sagte er. «Wir sollten uns öfter dran erinnern.»

Diese übertriebene Wehmut passte so gar nicht zu ihm. Ihr blieb keine andere Wahl, als ihn auf den Arm zu nehmen. «Mister Lark, du schreibst doch garantiert kein einziges verfluchtes Wort.»

«Natürlich tu ich das.»

«Tja, also wenn doch, möcht ich wetten, du schreibst eher: ‹In diesem Haus hat Emmett Lark seiner Frau ziemlichen Stuss erzählt›.»

«Hier, sieh doch selber, wenn du mir nicht glaubst.» Sie ließ sich von ihm aufhelfen, aber selbst wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, war der Sims zu weit über ihrer Augenhöhe. Also stichelte sie weiter. Und sooft in den vergangenen Monaten ein Streit zwischen ihnen aufgeflammt war oder Emmett, wie jetzt, für längere Zeit verschwand, festigte sich in ihr die Überzeugung, dass er überhaupt nichts hingeschrieben hatte.

Wie konnte er das nur behaupten? «Emmett, Nora und ihre Jungen wohnten hier und waren glücklich.» Nun, das mit dem ‹wohnten› ließ sich kaum leugnen, aber Nora bezweifelte sehr, dass irgendeiner von ihnen jemals vor dem himmlischen Gericht stehen und wahrhaftig das mit dem Glücklichsein beschwören könnte.

Toby ausgenommen, natürlich. Je gespenstiger und menschenfeindlicher ein Ort, desto glücklicher wirkte der Junge. Jetzt gerade stand er im Hof und winkte sie fröhlich zu sich.

«Siehste!», rief er. «Gramma ist schon wieder ausgebüxt.»

Emmetts Mutter, Missus Harriet, saß auf der vorderen Veranda, das Gesicht der Sonne zugewandt. Ihr Rollstuhl – älter als die Republik und von Doc Almenara schon vor so langer Zeit ausgeliehen, dass Nora fand, er gehöre inzwischen ihnen – war in seiner fortschreitenden Ramponiertheit zu etwas wahrhaft Monströsem geworden. Von der Rattanlehne fächerten sich Locken aus Peddigrohr in alle Richtungen. Hände, die den Stuhl schoben und sie berührten, schnitten sie blutig. Die riesigen, rostigen Vorderräder verliehen dem Fuhrwerk die Anmutung eines maroden Überbleibsels aus der Armee der Pharaonen. Die momentane Wagenlenkerin – sechzig, vielleicht auch ein bisschen älter, aber immer noch dieselbe Streitaxt, die sie gewesen war, als sie aus Kansas zu ihnen kam – konnte sich seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren nicht mehr bewegen. Zwar hatte sie noch dieselben Vorlieben und Abneigungen, doch fehlte ihr jetzt die Stimme, ihnen Ausdruck zu verleihen.

Toby schob die alte Frau vorsichtig zurück in die Küche, wo Josie mitten im üblichen Durcheinander eine Pfanne mit zerkrümelten Maisfladen schwenkte: schwarz gebratene Spiegeleier und Rauch; der weit offene Herd rülpste zusätzlich Hitze in die Küche. Zwei Brote, die über Nacht aufgehen sollten, quollen aus ihren Töpfen wie leichte Tanzmädchen, die sich übers Geländer beugen. Bei ihrem Anblick durchzuckte Nora helle Panik. In einem Anfall von Optimismus hatte sie spätabends den Teig angesetzt – als sie noch damit rechnete, jeden Moment die Räder von Emmetts Wagen über die Auffahrt knirschen zu hören, und noch auf all das hoffte, was frisches Wasser ihnen gestattete, nämlich ausgiebig trinken, Wäsche waschen, vielleicht sogar ein Bad nehmen –, aber da standen sie nun: zwei aufgequollene Fehler, die den gesamten Haushalt nicht um eine, sondern gleich um zwei Tassen näher an den Grund des Wassereimers gebracht hatten.

Noch nicht mal sieben Uhr früh, und sie schrie Josie schon an.

«Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das Brot backen?»

Mit einer hastigen Bewegung warf das Mädchen die Töpfe in den Ofen und trat die Tür zu.

«Und hab ich dir nicht gesagt, du sollst Missus Harriet niemals auf die Veranda lassen? An Hitzschlag kann man sterben, ist dir das klar?»

Josie sah sie entsetzt an. «Aber ich habe sie nicht rausgelassen, Ma’am – sie muss mir wieder entwischt sein.»

«Jetzt lüg nicht, verdammt.»

«Macht Gramma immer, Mama», mischte Toby sich ein. «Irgendwie schafft sie das, wenn keiner hinsieht.»

«Lügen reißen Löcher ins Himmelszelt, Toby, und lassen die kleinen Engel rausfallen.»

«Passiert auch, wenn man ‹verdammt› sagt.»

«Seht doch.» Rund um die Runzeln begann das Gesicht ihrer Schwiegermutter zu glühen. «Sie hat zu viel Sonne abgekriegt.»

Eifrig wischte Josie der alten Dame über die Stirn. «Soll ich ihr ein bisschen Wasser geben?»

«Fürchte, das musst du wohl.»

«Sie dürfen mir nicht immer wieder entwischen, Missus Harriet.» Ihr besorgtes kleines Gesicht schaute noch ernster drein. «Sie bringen mich sonst in Teufels Küche.»

Das bisschen Wasser, das sie ihr gnädig zuteilte, machte den Eimer kaum leerer – es blieb noch genug, um die Kelle einzutunken, genug für einen Schluck, vielleicht für jeden, vielleicht sogar für Nora selbst.

«Wie viel ist denn noch im Brunnenhaus?»

«Woher soll ich das wissen, Ma’am?»

«Na, dann gib ihr nichts mehr, bis du’s nicht rausgefunden hast.»

Rasch setzte sich Josie ihren Hut auf. Es tat ihr ‹so schrecklich leid, Ma’am› – immer tat ihr alles ‹so schrecklich leid›, und es gab immer wieder zahllose Gründe, dass ihr etwas ‹so schrecklich leid› tun musste. Josie hatte die haselnussbraunen Augen und die breite Stirn von Emmetts weit verzweigter schottischer Verwandtschaft. Wangen und Hals waren über und über mit Sommersprossen bedeckt, die nach höchstens einer halben Sekunde in der Sonne aufflammten. Josie war so launisch, wie Nora es von einem bei New Yorker Mesmerianern aufgewachsenen Mädchen erwartet hatte, außerdem aber noch auf nervenaufreibende Weise unfähig. Ein Dreiergrüppchen Furchen kräuselte ihren Nasenrücken, sobald sie unter Stress stand, und Nora taten diese hart werkelnden Falten schon fast leid. Bei den wenigen Ruhepausen, die sie zwischen den einzelnen Strafpredigten fanden, könnten sie ebenso gut auch auf Dauer bleiben.

Im Vorbeigehen strich das Mädchen Toby über den borstigen Kopf. Er griff nach ihr und sagte in einem Ton, den er für Flüstern hielt: «Mama glaubt nicht, dass die Spuren von einem Paarhufer sind. Sie hält sie überhaupt nicht für Spuren.»

Josie beugte sich zu ihm hinab. Dunkle Streifen rippten den Rücken ihres Kleides – Josie schwitzte, ein seltenes Zeichen ihrer Sterblichkeit. War also doch ein normaler Mensch.

«Und wofür hältst du sie?», fragte sie, wobei sie ebenfalls zu flüstern meinte und nicht annahm, Nora könnte Tobys kurzes Achselzucken sehen oder auch nur, wie Josies Haar seinen stoppligen kleinen Kopf streifte.

«Das sind Spuren», sagte Toby.

«Tja, dann wird es wohl auch so sein. Was wir mit unserem Herzen sehen, ist oft wahrer als das, was wir mit unseren Augen sehen.»

Nachdem Josie diese tiefgründige Bemerkung zum Besten gegeben hatte, machte sie sich auf den Weg. Als dann kurz darauf ihr lächerlicher, mit bombastischen Jutesonnenblumen gekrönter Hut am Fenster vorbeiwippte, war die Versuchung fast zu groß, ihn ihr vom Kopf zu stupsen, dazu brauchte sie nur die Läden aufzuschwingen. Dann aber schlüge sie vielleicht auch gleich die Trägerin zu Boden, schlüge sie, bei dem Glück, das Nora hatte, womöglich gar k.o., und der Tag wäre gänzlich vergeudet: Verwirrung, Vorwürfe, vergeudetes Wasser, um die Wunde zu reinigen, vergeudete Stunden, um den Arzt zu rufen, vergeudete Tränen, wenn die blasse Stirn genäht wurde. Und hatten sie gestern Abend nicht schon mehr als genug Stiche zu verkraften gehabt?

Nora nahm ihre Berechnungen wieder auf. Es waren noch zwei, vielleicht zweieinhalb Tassen Wasser übrig. Füllte sie in der Stadt nur eine Schweinsblase und kochte was aus dem Regenfass ab, wäre der Eimer wieder fast halbvoll. Bislang waren sie heute mit weniger ausgekommen. Sie durfte nur dem eigenen Durst nicht nachgeben – was ihr leichter fiel, wenn sie den anderen nicht beim Trinken zusah.

Und natürlich kam da Toby mit gerunzelter Stirn herein: «Ich habe Durst.»

«Willst einen Schluck Wasser?»

«Nein, Mama, ich weiß doch, du machst dir furchtbare Sorgen.»

«Ist noch ein bisschen Kaffee übrig.»

Er verzog das Gesicht. «Der ist zwei Tage alt!»

Trotzdem stellte er sich auf Zehenspitzen und lugte in die Kanne.

«Sind wir uns einig, Tobe, was die Spuren angeht?»

«Sicher, Ma’am.»

«Toby?»

«Na ja, Papa würde mir glauben.»

Daran zweifelte sie keine Sekunde. «Warum zeigst du sie ihm nicht, sobald er wieder da ist?»

«Dolan sagt, er kommt nicht mehr zurück.»

Er klappte den Kannendeckel zu und brach mit dem Daumen Stückchen vom Maisfladen ab, eines für sich, eines für Gramma. Der zarte Funke der Vergebung, der seit dem gestrigen Abend in Nora geschlummert haben mochte, erlosch im selben Augenblick. Sooft sie auch flehte oder mahnte, nichts konnte ihren beiden Älteren begreiflich machen, dass man sich besser nicht gedankenlos unterhielt, wenn der Jüngste in der Nähe war. Er bekam alles mit, hörte zu, grübelte nach – vor allem dann, wenn es gar nicht so aussah. Ein scharfsinniges Kind, erklärte sie ihnen auf ihre diplomatische Art – scharfsinnig. Ja, scharfsinniger als sie alle: scharfsinniger als Papa, als Josie, sogar als Dolan, der sich nach eigener Einschätzung für einen Ausbund an Scharfsinnigkeit hielt, sich für so scharfsinnig erklärte wie die griechischen Poeten, ehrlich, so scharfsinnig, dass er immer wusste, was das Beste fürs County war und es der Welt nur zu gern kundtat. Tja, die andauernde Unterschätzung ihres kleinen Bruders hatte ihnen jetzt jedenfalls das hier eingebrockt: Der Lärm am gestrigen Abend war ihm nicht entgangen. Er hatte Angst bekommen, und diese Angst beschwor natürlich herauf, was er außerdem noch so alles fürchtete, allen voran Paarhufer und die mannigfachen Teufeleien, derer sie fähig waren.

«Missus Lark!» Sie hatte sich so in Rage gedacht, dass ihr fast Josies Hut entgangen wäre, der vorschnell erneut am Fenster vorbeischoss und Momente später in der Tür auftauchte – drunter eine verdatterte Josie. «Missus Lark! Ins Brunnenhaus wurde eingebrochen.»

* * *

«Da». Josie zupfte an ihrem Arm. «Sehen Sie?»