Im Morgenlicht - Téa Obreht - E-Book

Im Morgenlicht E-Book

Téa Obreht

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Beschreibung

Sil und ihre Mutter sind in der versinkenden Inselstadt Island City angekommen, nach der Flucht aus ihrer einst schönen, kriegsversehrten Heimat – über die die Mutter so wenig spricht wie über den verschwundenen Vater. Der Neuanfang ist hart. Die Mutter schlägt sich als Bergungstaucherin durch, und die beiden kommen bei Tante Ena unter, die als Hausmeisterin den glanzvoll-maroden Wohnturm «Morgenlicht» versorgt. Sie sind hier nicht die Einzigen aus der alten Heimat: Im Penthouse residiert die mysteriöse Bezi Duras – eine exzentrische Malerin, politische Aktivistin oder vielleicht doch eine Hexe aus der alten Welt? Sil will mehr erfahren, über die eigene Herkunft, Bezi Duras und die Geheimnisse im «Morgenlicht». Dann zieht eine seltsame Familie ein, in der Sil eine Freundin findet, doch mit ihr bricht auch die totgeschwiegene Vergangenheit auf. Als die Mutter bei einem Tauchgang verschollen geht, steht Sil kurz davor, die ganze Wahrheit herauszufinden. Téa Obreht nimmt uns mit in ein Übermorgen mit steigenden Meeren, gesellschaftlichem Zerfall. Zugleich erzählt sie von der Suche nach Wahrheit, der Hoffnung und einer Mutter-Tochter-Beziehung – tief, poetisch, in unvergleichlichen Bildern.

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Téa Obreht

Im Morgenlicht

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

 

Über dieses Buch

Sil und ihre Mutter sind in der versinkenden Inselstadt Island City angekommen, nach der Flucht aus ihrer einst schönen, kriegsversehrten Heimat – über die die Mutter so wenig spricht wie über den verschwundenen Vater. Der Neuanfang ist hart. Die Mutter schlägt sich als Bergungstaucherin durch, und die beiden kommen bei Tante Ena unter, die als Hausmeisterin den glanzvoll-maroden Wohnturm «Morgenlicht» versorgt. Sie sind hier nicht die Einzigen aus der alten Heimat: Im Penthouse residiert die mysteriöse Bezi Duras – eine exzentrische Malerin, politische Aktivistin oder vielleicht doch eine Hexe aus der alten Welt? Sil will mehr erfahren, über die eigene Herkunft, Bezi Duras und die Geheimnisse im «Morgenlicht». Dann zieht eine seltsame Familie ein, in der Sil eine Freundin findet, doch mit ihr bricht auch die totgeschwiegene Vergangenheit auf. Als die Mutter bei einem Tauchgang verschollen geht, steht Sil kurz davor, die ganze Wahrheit herauszufinden.

 

Téa Obreht nimmt uns mit in ein Übermorgen mit steigenden Meeren, gesellschaftlichem Zerfall. Zugleich erzählt sie von der Suche nach Wahrheit, der Hoffnung und einer Mutter-Tochter-Beziehung – tief, poetisch, in unvergleichlichen Bildern.

Vita

Téa Obreht gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der internationalen Literatur. Geboren 1985 in Belgrad, lebt sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Ihr Debütroman «Die Tigerfrau» (2011), für den National Book Award nominiert, erschien in mehr als dreißig Sprachen und wurde in zahlreichen Ländern zum Bestseller. 2011 erhielt Téa Obreht den Orange Prize for Fiction.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «The Morningside» bei Random House, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

«The Morningside» Copyright © 2024 by Téa Obreht

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Tang Yau Hoong

ISBN 978-3-644-02093-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Dan und Nela

Eine altvertraute Furcht erwartete mich an diesem Morgen. Woher sie kam, wusste ich nicht. Sie war mir aus keinem Traum gefolgt – jedenfalls, soweit ich mich erinnern konnte –, doch als ich aufstand, verbarg sie sich in allem. In der reglosen Hitze des Motelzimmers. Im Glorienschein aus Sonnenlicht rund um die geschlossenen Fensterläden. Im leeren Lächeln der jungen Frau an der Rezeption, als sie meinen Schlüssel entgegennahm.

Ich dachte, wenn ich das Motel verließe, würde sie vielleicht hinter mir zurückbleiben, aber sie fuhr per Anhalter mit mir durch die Wüste. Hockte einfach nur da, verengte die Welt. Sie kannte mich so gut.

Erst als ich zum Bahnhof kam, gab ich schließlich nach und tat, wozu mich mein Gefühl drängte: Ich gab Mutters Namen ein. Ich hatte das lange nicht mehr getan, denn die Anspannung machte mich krank, auch wenn das, was ich mir ausmalte, meist schlimmer war als das, was gepostet wurde. Doch der Vormittag schien mir keiner für schlechte Nachrichten zu sein: ruhig, blau, windstill und nirgendwo Buschfeuer, was ungewöhnlich war. Der Zug hatte Verspätung, der Bahnsteig war fast leer. Einige Passagiere schlenderten aus dem Gebäude, standen in der Sonne und blickten die Schienen entlang. Eine weitere Handvoll, darunter ich, war offensichtlich gekommen, um jemanden abzuholen. So ruhig wie heute hatte ich mich die ganze Woche nicht gefühlt, also tippte ich den Namen meiner Mutter in die Suchleiste. Kurz flackerte jene Nervosität auf, die mir immer den Atem verschlug, während die Foren geladen wurden. Die Angst, es könnte sich etwas verändert haben, etwas Neues könnte hinzugekommen sein, ein giftiges Durcheinander. Meist aber war da nichts. Schon seit Jahren nicht mehr.

Heute war es anders. Die Seite im Fall Belen war um ein neues Bild ergänzt worden, allerdings nicht, wie ich befürchtet hatte, um ein Polizeifoto von Milas Leiche, sondern vielmehr um ein Polaroid, aufgenommen vor fast sechzehn Jahren, nämlich an jenem Tag, an dem wir nach Island City gekommen waren. Das Bild zeigt meine Mutter und mich auf der Straße im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Unsere Koffer kaum im Blickfeld. Wir lächeln verlegen, stehen gerade so weit voneinander entfernt, dass ein bequemes Umarmen unmöglich ist. Meine Mutter wirkt fahrig und abgekämpft, wie sie da in einem meiner alten Kleider steht, sichtlich zu lang für sie. Ich bin die größte Elfjährige, die man sich nur vorstellen kann: schlaksig, keine Form, ich habe ihr andeutungsweise einen Arm über die Schultern gelegt und bemühe mich zu lächeln, wohl der Person hinter der Kamera zuliebe: meiner Tante Ena, die ich zur Begrüßung noch nicht umarmt habe.

Ich erinnerte mich an den Moment, in dem die Aufnahme gemacht worden war, und erinnerte mich auch vage daran, dass das fertige Resultat an unseren Kühlschrank gepinnt hing, bis es unter den vielen Flugblättern zum Wiederansiedlungsprogramm verschwand. Seit unserer Flucht hatte ich es nicht mehr gesehen und seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Aber nun war es hier, nach all der Zeit. Wer hatte es hochgeladen? Wie zum Teufel war es in dessen Hände gelangt? Und wann? Da lebte ich mein Leben, glaubte, diese Erinnerung und das dazugehörige Bild ruhten irgendwo weit zurück in der Vergangenheit, unverwundbar selbst von dem, wovor ich mich fürchtete – dabei starrten Fremde es seit einer unbekannten Weile auf ihren beiläufigen Wegen durch jene Handvoll Foren an, die sich noch immer der Kriminalität meiner Mutter widmeten.

Es dauerte nicht lang, bis mir so schwindlig wurde, dass ich fast ohnmächtig geworden wäre. Als der Händler vorbeikam, holte ich mir eine Flasche Wasser und trank sie in einem Zug leer.

Es kam noch schlimmer. Im Hintergrund der Aufnahme, ein Stück weit die ansteigende Straße hoch, konnte ich die unverwechselbare Gestalt von Bezi Duras ausmachen. Sie ging gerade den Hügel hinauf, und ihre drei Hunde – langgliedrige Silhouetten, schwarz wie der Raum zwischen den Sternen – liefen ihr voraus. Woran auch immer ich mich bei diesem Foto erinnerte, Bezi Duras gehörte auf keinen Fall dazu. Auch nicht die Hunde. Schon komisch, dachte ich. Da hatte ich ein ganz anderes, sehr präzises Bild von unserer ersten Begegnung im Gedächtnis, doch war längst dieses Foto im Umlauf und bewies eine mit meiner Erinnerung völlig unvereinbare Wahrheit. Irgendein Fremder, dessen Namen ich nie erfahren und dessen Gesicht ich nie sehen würde, hatte uns alle in der Hand: Bezi, meine Mutter und mich. Sogar Ena, außerhalb des Bildes. Die Einzige, die in dieser Szene fehlte, war Mila, natürlich.

Und ebenso natürlich war sie die Einzige, für die sich alle, die dieses Bild kommentierten, überhaupt nur interessierten. Bloß passte für sie nichts darauf zusammen. Sie brachten höchstens «Ist das nicht die Frau vom Fall Belen?» vor, worauf sie allenfalls einige unzureichende Antworten von Fremden erhielten.

Zum ersten Mal seit Jahren dachte ich daran, meinen eigenen Senf dazuzugeben. Was konnte es schon schaden, wenn ich in den Chor einstimmte? Wenn ich etwas schrieb wie: «Ihr habt ja nicht den geringsten Schimmer.» Anonyme Kommentare gab es zuhauf. Meiner würde sich von ihnen in nichts unterscheiden. Nichts würde auf mich zurückverweisen.

Dann aber erwachte mit einem Knacken der Lautsprecher zum Leben, und der einfahrende Zug wurde angesagt. Ich ixte mich aus dem Forum und trat mit meinem kleinen Schild vor.

Buch IEna

Vor langer Zeit, noch vor der Wüste, damals, als meine Mutter und ich zum ersten Mal nach Island City kamen, zogen wir in ein turmartiges Hochhaus, das «Morgenlicht» hieß und in dem meine Tante schon seit zehn Jahren als Hausmeisterin arbeitete.

Vor mehr als einem Jahrhundert war das Morgenlicht das Juwel eines vornehmen Viertels namens Battle Hill gewesen. Bis auf eine Handvoll seiner ursprünglichen Bewohner war der Turm jedoch verlassen und sah auch so aus. Mit nur wenigen erhellten Fenstern, die an dem schwarzen Gebäude hinaufhuschten wie die Noten eines unfertigen Songs, ragte der Bau über dem Park und die umgebenden Wohnhäuser auf, hier und da ein Licht bis hoch zum dreiunddreißigsten Stock, wo die Fenster von Bezi Duras’ Penthouse Tag und Nacht in alle Richtungen leuchteten.

Als wir eintrafen, waren die meisten Menschen, vor allem jene, für die solche Wohntürme eigentlich gedacht gewesen waren, vor Not, Fäulnis und ansteigender Flut weggezogen, weiter flussaufwärts in kleine, verstreut liegende Frischwasserstädte. Die in der City Verbliebenen gehörten einer von zwei Gruppen an: Das eine waren Leute wie meine Tante, meine Mutter und ich, dank des Wiederansiedlungsprogramms aus dem Ausland rekrutierte Schutzsuchende, die hier einziehen und eine Gegenkraft zur umfassenden Stadtflucht bilden sollten; oder sie waren Teil jener Handvoll standhafter Ortsansässiger, die in ihren schrumpfenden Vierteln ausharrten, weil sie davon überzeugt waren, dass, wenn nur die richtige Person ins Bürgermeisteramt gewählt wurde und die Flutpumpen wieder funktionierten, die Dinge sich zumindest so entwickeln würden, wie alles früher immer gewesen war.

Das Morgenlicht hatte mehrmals den Besitzer gewechselt und gehörte nun einem Mann namens Popowitsch. Er stammte aus der Alten Heimat, dem alten Land, und das war auch der Grund dafür, dass meine Tante eine Stelle bei ihm bekommen hatte.

Ena war meine einzige lebende Verwandte – zumindest nahm ich das an, da sie die einzige war, die meine Mutter je erwähnte, jene, in deren Richtung wir uns stets bewegt hatten, während wir durch die Welt zogen. Was dazu führte, dass sie große Räume meiner Fantasie bewohnte, erst recht, weil meine Mutter, die nie freiwillig mit irgendwelchen Informationen rausrückte, mir nur wenig gegeben hatte, womit ich einen mentalen Prototyp meiner Tante erstellen konnte. Es gab keine Bilder von Ena, keine Geschichten über sie. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie die Tante meiner Mutter war oder meine Tante oder nur ganz allgemein Tante hieß, ohne jede Blutsbande zu irgendwem. Ich hatte nur ein einziges Mal mit ihr gesprochen, damals, als wir aus Paraiso anriefen, um ihr die gute Neuigkeit mitzuteilen, dass unser Wiederansiedlungsantrag endlich durchgekommen war, und meine Mutter gewartet hatte, bis sie den Rufton hörte, ehe sie mir zuflüsterte: «Denk dran, ihre Frau ist gerade gestorben, also vergiss nicht, Beanie zu erwähnen», um mir dann den Hörer in die Hand zu drücken. Bis zu diesem Moment hatte ich noch nie zuvor von dieser Frau, dieser «Beanie», gehört.

Acht lange Jahre hatte ich Ena aus dem Nichts heraufbeschworen und eine Version von ihr geschaffen, die mir gefiel: eine hochgewachsene, kluge und souveräne Frau, großzügig, kichernd, stets in Wohlwollen gehüllt. Man stelle sich meine Enttäuschung vor, als sie sich als kleine, laute Person erwies, die unfassbar ungeübt darin war, mit elfjährigen Nichten zu kommunizieren.

«Mein Gott, Silvia», war das Erste, was sie mir von Angesicht zu Angesicht sagte, als sie mit ihrer Kamera vorm Tor zum Morgenlicht stand und meine Mutter und ich unsere Koffer den Hügel hinaufschleppten, «haben wir auch genug Rationen für dich?»

Es ließ sich unmöglich sagen, ob sie meinte, ich müsste viel mehr oder viel weniger bekommen, als mir zugeteilt worden war. Irgendwas in ihrem Ton deutete an, dass sie mir womöglich ein besseres Frühstück als das, was ich gewohnt war, besorgen konnte, eines, von dem ich bislang nur gelesen hatte – Brötchen und Marmelade, vielleicht sogar Eier. Aber natürlich galt auch für Island City eine Version der Nachweltmaßnahmen; und das Frühstück blieb Glückssache, wie überall, wo wir bislang gelebt hatten: manchmal Regierungstee und Dosenbrei, manchmal einen Laib Brot und ein dubioses Ei, das man sich mit zwei, drei oder vier Leuten teilen musste. Was immer die Lebensmittelkarte auch anzeigte, wenn sie morgens geladen wurde – vorausgesetzt, das Geschäft hatte das Gewünschte überhaupt vorrätig.

Ena lebte im zehnten Stock des Morgenlicht in einer schäbigen Drei-Zimmer-Hausmeisterwohnung, die vollgestopft war mit angesammelten Dingen: einem lieblos bezogenen Sofa, einem kleinen Esstisch, umstellt von Stühlen in unterschiedlichen Stadien der Restaurierung, einem Farn- und Efeudschungel, Pflanzen, die auf irgendeinem Gehweg abgestellt gewesen, von Ena gefunden und zu neuer, üppiger Pracht herangezogen worden waren. Die Bucht, grau und brackig, erfüllte den Blick aus unserem Fenster. Bei Ebbe konnte man den alten Freeway erkennen, der westlich am Turm vorbeigeführt hatte. Immer mal wieder blieb ein Lastkahn im überfluteten Geländer hängen, und dann lief das ganze Viertel runter zum Wasser, um bei der Bergung zuzusehen, was einen daran erinnerte, dass die Stadt nicht so leer war, wie sie aussah.

Meine Mutter und ich teilten uns eine Liege in dem Zimmer, das Beanie als Arbeitsraum gedient hatte. In unserer ersten Nacht unterm begrünten Dach lag ich wach und sah ungewohnte Lichter über die Decken wandern. Unsere gesamte Wohnung in Paraiso hätte man in diesem Zimmer unterbringen können, aber so klein sie auch gewesen war, sie hatte sich viel sicherer angefühlt. Über uns, unter uns, um uns herum hatten Nachbarn gelacht und sich gestritten, lief Musik oder trampelte jemand die alten, widerhallenden Treppen rauf oder runter. Das einzige Geräusch aber, das sich hier gelegentlich vernehmen ließ, war das Nebelhorn des Leuchtturms oder ein seltsames Klappern und Kreischen, das zeitweise durchs Fenster drang. Meine Mutter schien das nicht zu hören, was es nur noch schlimmer machte.

Ich hatte schon lang nicht mehr den Drang gespürt, einen Zauber für uns zu wirken. Darauf war ich stolz – nicht nur weil ich mich an meine Entscheidung gehalten hatte, derlei mit Paraiso hinter mir zu lassen, sondern auch, weil es bedeutete, dass es mir gelungen war, meine Angewohnheit vor meiner Mutter geheim zu halten. Jahrelang hatte ich in der Angst gelebt, sie könnte die in unserer Wohnung versteckten Talismane entdecken, könnte sie fälschlich für Müll halten und sie ohne mein Wissen entsorgen und ihre Wirkung so zunichtemachen. Oder, schlimmer noch, sie könnte mich deswegen zur Rede stellen.

«Was zur Hölle ist das denn?», würde sie fragen.

Ich, innerlich auf ebendiesen Moment vorbereitet, würde sagen: «Sieht aus wie dein altes Parfümfläschchen.»

«Und was macht das hinterm Herd?»

«Keine Ahnung.»

«Ich könnte schwören, dass ich das schon vor Jahren weggeworfen habe.»

«Tja.»

Das sollte meine unschuldige, vorgeblich unwissende Schlussbemerkung sein – denn was hätte ich sonst auch sagen sollen? – «Du hast das Fläschchen tatsächlich weggeworfen, Mama, aber ich habe es wieder aus dem Müll gefischt, weil du es so geliebt hast, und Signora Tesseretti meinte, für einen wirksamen Schutzzauber brauche ich mindestens drei bedeutungsvolle Gegenstände.»

Aber was soll’s, das lag jetzt alles hinter mir. Leer und widerhallend von ungewohnten Geräuschen, konnte das Morgenlicht so hoch aufragen, wie es nur wollte. Für einen Schutzzauber besaß ich keine drei Gegenstände mehr. Den Fotoschnipsel, der jemanden zeigte, den ich für meinen Vater hielt, hatte ich wohlweislich fortgeworfen, weshalb die notwendige Triade nicht mehr zustande kam. Geblieben waren mir nur eine Schere und jenes Parfümfläschchen, mit dem sich meine Mutter auch dann noch in Richtung Hals besprüht hatte, als es längst nichts mehr enthielt. Zudem hatte ich mir fest vorgenommen, dass mich nichts zwingen konnte, diese beiden Dinge noch einmal zu benutzen.

Ena selbst war an und für sich bereits eine Art Schutzzauber, und es gab nichts, was sie nicht erklären oder dem sie nicht alle Macht nehmen konnte. Als ich sie am nächsten Morgen nach dem Klappern und Kreischen fragte, deutete sie nur auf ein riesiges Nest auf dem Dach des nächsten Reihenhauses.

Erst seit etwa zehn Jahren gab es Graukraniche in der Stadt, weshalb man sie noch für Zugezogene hielt, für Neuankömmlinge – auch wenn sie für uns, die wir noch neuer waren, so sehr zu den Dächern der Stadt gehörten wie die Wassertürme, auf denen sie ihre Nester bauten. Wir hatten im Norden der Insel einige Brutpaare gesehen, ihre eigentliche Nistgegend aber war sechzig Blocks südwärts in der sogenannten Marsch, diesem unpassierbaren Mittelstreifen der Insel, der die obere von der unteren Hälfte trennte und der seit Kurzem vom Fluss auf der einen und der Bucht auf der anderen Seite bedrängt wurde. Die Ansicht der Anrufer bei Drowned City Dispatch, unserem Funkradiosender, war gleichermaßen geteilt zwischen der Auffassung, Island City könne sich glücklich schätzen, dass diese Stadt auf der Flugroute der Zugvögel lag, sowie jener Meinung, der zufolge der gesamte Schwarm vernichtet gehörte. Ena neigte zu Letzterem – allerdings würde sie vermutlich anders darüber denken, wenn die Vögel jene Flächen, für deren Sauberkeit sie zuständig war, einfach ignoriert hätten.

Ena litt unter allem, was ihr die Arbeit erschwerte. Für die Stelle als Hausmeisterin wurde sie allmählich zu alt, was sie selbst nur zu gut wusste. Dabei war sie stolz auf ihr Durchhaltevermögen und rekapitulierte in Gedanken ständig, was sie getan hatte, gerade tat oder noch tun musste. Gegenüber allem, was mit dem Morgenlicht nichts zu tun hatte, legte sie jedoch eine gelassene Neutralität an den Tag. Hatte sie vielleicht die letzten Jahre inbrünstig darum gebetet, dass meine Mutter und ich zu jenen wenigen Glücklichen gehörten, die ins Wiederansiedlungsprogramm aufgenommen wurden? Eigentlich nicht – trotzdem war sie froh, dass wir es geschafft hatten. War sie optimistisch, was die Nachweltinitiative anging? Glaubte sie, dass Lebensmittelkarten, ein sinkender Wasserpegel und das gemeinsame An-einem-Strang-Ziehen tatsächlich funktionieren könnte und wir, wie versprochen, zum Dank dafür, dass wir unseren Teil zur Wiederbevölkerung der Stadt beitrugen, ein Haus auf South Falls Island zugewiesen bekamen? Vielleicht. Glauben würde sie es sicher erst, wenn sie es mit eigenen Augen sah. Bis dahin aber frühstückte sie im Dämmerlicht um fünf Uhr früh und führte ein angeregtes, wenn auch einseitiges Gespräch mit jenen Anrufern beim Radiosender Drowned City Dispatch, über deren Ansichten sie sich am meisten ärgerte. Um unsere Rationen aufzubessern, durchstreifte sie den Park am Ende unserer Straße und kehrte mit Tüten voll namenlosem Grünzeug heim, das sie kochte, in flache Teigtaschen füllte und hinten im Gefrierfach stapelte. Sie roch nach Metall und Seife. Ihr rechter Daumen stand in einem ungewöhnlichen Winkel von der Hand ab, und wenn ihr danach war, sich mit mir anzulegen, tat sie, als hätte sie sich den Daumen gerade wieder aufs Neue gebrochen.

Das ganze Morgenlicht bot jedenfalls vielfältige Gelegenheiten, sich den Daumen oder sonst ein Körperglied zu brechen. Zu seiner Zeit hatte das Gebäude als architektonisches Wunder gegolten. Dreiunddreißig Stockwerke aus hellem Malteser Kalkstein. Sechs opulent eingerichtete Wohneinheiten pro Stockwerk. Eine Bücherei. Im Keller ein vom großen Mosaikkünstler Flynn Vethers entworfener Pool. Ein überwältigendes Penthouse mit eigenem Fahrstuhl. Hatte man den Hof durchquert, öffnete sich die Lobbytür zu einer riesigen, glasumschlossenen Eingangshalle, aus der eine schwarze Spiraltreppe in die Lounge führte, die sich in früheren Tagen einer glitzernden Bar rühmte, Ort glamouröser Partys, die auf alten Fotos rund um die Tür festgehalten wurden.

Das Gebäude war mehr als hundert Jahre alt. Und mächtige Kräfte waren am Werk. Einmal im Jahr traf sich der Vorstand der Hausbewohner mit der Ingenieursfirma Mischkin & Mischkin, und das Resultat lautete stets gleich: Die Lage sei stabil, nur war das Morgenlicht nicht errichtet worden, um Wirbelstürmen zu trotzen, auch nicht einem Untergrund, der durchlässig wurde und langsam, aber stetig zur Bucht abglitt. Noch war die Situation nicht so schlimm wie in der Exchequer Street; unmittelbar bestand keine Einsturzgefahr, aber es zeigten sich erste Risse. Seit einiger Zeit blieb der Fahrstuhl mindestens einmal die Woche stecken. Und wenn das passiert, meinte Ena, als sie uns am ersten Tag auf einen Rundgang durchs Haus mitnahm, willst du nicht im Fahrstuhl sein. Man könnte dann leicht den Verstand verlieren. Finger auch – weniger im Fahrstuhl als bei dem schlecht beratenen Versuch, durch die Notluke aussteigen zu wollen. Ein Junge im Teenageralter war vor zwanzig Jahren bei so einer Aktion zerquetscht worden. Jetzt wohnte er im achten Stock und geisterte manchmal durch den Flur in denselben Sachen, die er am Tag seines Ablebens getragen hatte.

«Red keinen Unsinn», sagte meine Mutter und deutete mit heftiger Kopfbewegung in meine Richtung.

«Warum? Ist doch harmlos!» Ena packte mich an der Schulter und starrte mir beschwichtigend ins Gesicht. «Harmlos!»

Gleiches konnte man über die anderen Tücken des Gebäudes nicht sagen. Die Fenster ließen sich nur mühsam öffnen und konnten, wenn beleidigt, wie eine Guillotine auf deine Hände niederkrachen. Der Teppich im Zwischengeschoss, rot wie eine Zunge, besaß die Angewohnheit, sich in Falten aufzuwerfen. Und manchmal, wenn man in den Schalterraum ging, spürte man einen elektrischen Schlag und wusste nicht, was das bedeutete – unmöglich zu sagen, ob sich ein Draht gelöst hatte oder das Gebäude nur einen Moment brauchte, um sich zurechtzuruckeln. In solchen Fällen wartete man lieber, ehe man etwas anfasste, und lauschte auf das Ausatmen der kompakten, rostverschmierten Kellerwände.

«Notier das», sagte Ena, was meine Mutter – mit einem Augenrollen in meine Richtung – auch tat.

Es gab genau drei Dinge im Morgenlicht, auf die man sich verlassen konnte. Das Erste war die Müllentsorgung. Wie schlimm auch immer es stand, die Müllabfuhr kam stets nach Plan. Auseinandersetzungen mit der Stadt konnten jedoch gelegentlich für Verzögerungen sorgen, und wenn mehr als eine Woche zwischen zwei Terminen verging, wurde es nötig, Enas verrosteten kleinen, in der Tiefgarage geparkten Wagen hochzuholen und den Müll zur Deponie zu bringen, je sechs Tüten auf einmal, bis der Bürgersteig vor dem Gebäude wieder frei war.

Bezi Duras war das Zweite, worauf man sich verlassen konnte. Sie stammte wie wir aus der Alten Heimat, war aber schon vor uns nach Island City gezogen, lang vor dem Krieg, weshalb sie kaum noch fünf Worte auf Unser zusammenbrachte, und wenn, dann mit grauenhaftem Akzent. Sie wohnte im Penthouse, der Wohnung mit dem privaten Aufzug. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie stets pünktlich und höflich war und nie und nimmer um Hilfe bat. «In zehn Jahren bin ich nicht ein einziges Mal da oben gewesen», sagte Ena. «Wenn sie was braucht, hat sie dafür ihre eigenen Leute.»

Das Dritte waren die Gaffer. In den Blumenbeeten im Hof wucherten heute nur noch Disteln in wenigen Varianten, dabei war das Morgenlicht für seinen Garten berühmt. Er musste so beeindruckend gewesen sein, dass er die Neugier von Passanten geweckt hatte, die den Kopf durchs Haupttor steckten, sooft ein Wagen passierte. Die Leute wünschten sich weiterhin diese Art Zugang. Studenten der alten Universität am Ende der Straße baten immer wieder darum, Fotos von den Wasserspeiern machen, sich die Büchersammlungen in der Bibliothek ansehen oder eine Skizze von der Lobby zeichnen zu dürfen. Ena hatte die Geduld mit ihnen verloren. Sie hing unscharfe Printouts der Hartnäckigsten von ihnen an die schwarzen Bildschirme im Wachhäuschen: eine schmächtige, gelehrt dreinblickende junge Weiße mit Nasenpiercing; ein breitschultriger, sanftgesichtiger Schwarzer mit Brille und beginnender Stirnglatze. Wir sollten uns ihre Gesichter merken und ihnen ohne Erklärung jeden Zutritt verweigern. «Dieser da», sagte sie und tippte auf das Bild des Mannes, «der ist gnadenlos. Versucht es mindestens einmal im Monat.»

«Was denn?», fragte ich.

«Na, hier reinzukommen. Rumzustöbern.»

«Und warum darf er das nicht?»

«Das hier ist nicht Paraiso, Sil. Hier musst du vor Leuten auf der Hut sein. Diebe und Versager.»

«Ist er denn ein Dieb?»

«Sind sie doch alle.»

Und die, die keine Diebe oder Versager waren, waren Klunkerer, ein Ausdruck, den Ena und meine Mutter für jene Bewohner benutzten, die stets ihren gesamten Schmuck am Leib trugen. Davon gab es im Morgenlicht so einige. Nach Enas Meinung ging dieser Charakterfehler auf eine fatale Kombination von Reichtum und Alter zurück. Man ließ sich von ein paar Wirbelstürmen und einem überschwemmten Industriegebiet doch nicht davon abhalten, jenen Wohlstand zur Schau zu stellen, den sich ihre Großeltern so mühselig erworben hatten. «Deshalb tun sie, als wäre alles noch wie vor vierzig Jahren, und leisten sich weiter ihre kleinen Marotten. Stellen den Müll einfach vor die Tür, lassen ihre Köter in die Flure kacken und beschweren sich über das Wasser, die Hitze und den Lärm.»

Wer zu dieser Spezies gehörte, sprach einen meist ohne Augenkontakt an und oft, ohne sich die Mühe zu machen, ganze Sätze zu bilden. Wie etwa Mrs. Gaspard, die skelettöse Vorstandspräsidentin, die, als wir ihr in der Lobby vorgestellt wurden, nur eine Frage hatte: «Und? Wie viel musste der Vorstand rausrücken, um euch herzuholen?»

«Nicht einen Cent, Mrs. Gaspard!», erwiderte Ena vergnügt. «Wiederansiedlungsprogramm! Bonuspunkte!»

«So, so», sagte Mrs. Gaspard. «Gott segne die Bonuspunkte.»

«Und sie ist die Schlimmste», erzählte uns Ena.

Erwartungsgemäß hätte das eigentlich Bezi Duras sein müssen, die in ihrem Penthouse den dreiunddreißigsten Stock für sich allein bewohnte. Ena hatte sich noch immer keine abschließende Meinung über sie gebildet, doch wenn eine Person sich zehn Jahre lang nicht die mindeste Mühe gemacht hatte, auch nur im Ansatz zu beweisen, dass sie keine Klunkerin war, dann durfte man getrost davon ausgehen, dass sie genau dies war. Viele Anzeichen deuteten darauf hin. So Bezi Duras’ Reichtum. Auch ihr beharrliches Alleinsein. Und dann noch diese Hunde. Bezi Duras besaß drei kolossale Vierbeiner, die sie verwöhnte; ihr Futter war besser als alles, was wir seit Langem zu essen bekommen hatten, und sie durften den ganzen Tag oben in der Sonne dösen.

«Aber ich möchte nicht, dass du einen falschen Eindruck von unseren Hausbewohnern bekommst. Es gibt hier auch anständige Leute.» Mrs. Sayez in 16A zum Beispiel, die war ein Schatz; und sie war Koordinatorin des Wiederansiedlungsprogramms für die Oberstadt – eine Tatsache, die sie mehrfach wiederholte, während sie im Flur vor ihrer Wohnung meiner Mutter die Hände drückte.

«Wie gefällt es Ihnen hier?», fragte sie.

«Sehr gut», brachte meine Mutter heraus. «Danke.»

«Ein bisschen überwältigend, ich weiß, aber es ist auch wirklich eines der prächtigsten alten Gebäude in der ganzen Stadt, und ich bin so froh, dass Sie noch einen Eindruck davon bekommen, wie es einmal gewesen war.»

«Schön», sagte meine Mutter. «Sehr schön.»

«Haben Sie alles, was Sie brauchen?»

«Wir sind ja so froh. Danke.»

«Das freut mich zu hören.» Mrs. Sayez tätschelte meiner Mutter die Hand. «Ach ja, ich hab da noch was.» Ihr kurzer Abstecher in ihre Wohnung gestattete einen Blick auf den in leuchtendem Butterblumengelb tapezierten Flur. «Kannst du Englisch lesen?», fragte sie mich. Das konnte ich und sagte es ihr. «Und deine Mutter, sie auch?»

«Natürlich», log ich.

«Das ist ja ganz wunderbar, nicht? Du kennst schon die Sprache, und du hast eine Tante, die dafür sorgt, dass du dich bei uns zu Hause fühlst. Hier.» Sie drückte mir einen Stapel Karten in die Hand. «Wir vom Wiederansiedlungsprogramm freuen uns immer auf deine Meinung. Wie du dich fühlst. Wie du dich noch besser zu Hause fühlen könntest. Denk daran, alle paar Wochen eine von denen hier auszufüllen und in den Briefkasten zu werfen. Und wegen der Briefmarken mach dir keine Gedanken – sie sind bereits frankiert. Aber schreib uns deine ehrliche Meinung, und vergiss nicht, Spaß zu haben!» Sie drehte sich zu meiner Mutter um. «Es soll schließlich auch Spaß machen.»

Auf jeder Karte standen dieselben drei Fragen, ordentlich untereinander und in unaufdringlichen Großbuchstaben:

Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem neuen Zuhause?

Was gefällt Ihnen am besten an Ihrem neuen Zuhause?

Was könnte Ihr neues Zuhause noch besser machen?

«Was hast du da?», fragte meine Mutter, kaum waren wir einige Schritte den Flur hinuntergegangen.

«Spaßkarten», antwortete ich törichterweise. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, welche Wirkung diese Salven zudringlicher Neugier auf meine Mutter haben würden.

«Aber das sind Fragen – guck doch, da sind Fragezeichen.»

«Richtig.»

«Und was wird gefragt?»

«Wie wir uns einleben. Solche Sachen.» Ich versuchte zu lächeln. «Leicht und einfach.»

Ena musste gewusst haben, dass ich nicht ganz ehrlich war, doch ließ sie sich nichts anmerken. Vielleicht spürte sie selbst auch, dass es richtig war, meiner Mutter in diesem Punkt nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Die letzte Frage auf der Spaßkarte stellte mich allerdings vor ein Dilemma – eines, an das ich bereits bei Beginn unseres Rundgangs gedacht hatte.

«Gibt es in diesem Gebäude noch andere Kinder?», fragte ich Ena.

«Früher mal», sagte sie. «Aber weißt du, die Familien sind alle flussaufwärts gezogen.» Auf halbem Weg die Dienstbotentreppe hinunter kam ihr der Gedanke, dass dies wohl nicht gerade die von mir erhoffte Antwort war. Kaum hatte ich sie eingeholt, drückte sie meinen Arm. «Was aber nur heißt, dass du das ganze Haus für dich allein hast. Willst du einen Blick ins Spielzimmer werfen?»

Der letzte Stopp auf unserem Rundgang. Als ich das Zimmer sah, fragte ich mich, ob Ena auch nur das Geringste von Kindern verstand. Der Raum war für die Allerkleinsten gedacht und roch vage nach frühkindlichem Zeitvertreib – Wasserfarben, Kreide, Klebstoff –, war aber leer bis auf das Wandbild, eine rundum laufend gemalte Waldlandschaft mit Tieren, die eine Party feierten. Ein possierliches, besorgtes Reh kam zu spät, und der Klang seiner Hufe hatte die Aufmerksamkeit eines Dachses erregt, der auf dem Platz ganz links mit dem Rücken zum Betrachter saß. Als er den Kopf drehte, um nach dem Reh zu sehen, musste er ein Glas Wein umgekippt haben, dessen Inhalt sich jetzt über das weiße Tischtuch ergoss. Rund um den Tisch lagerten freundliche Waldbewohner, plauschten oder spielten einander Streiche, obwohl sie doch offenkundig dem Wildschwein zuhören sollten, das am Kopfende stand und gerade eine Rede hielt, die Hauer gereckt, ein Weinglas gefährlich schief in der haarigen Pfote. Mitten auf dem Tisch hatte man ein Festmahl ausgebreitet. Die einzelnen Speisen waren mir nur deshalb vertraut, weil die Bücher, mit denen ich aufgewachsen war, vorzugsweise opulente Mahlzeiten beschrieben hatten. Die glänzend gelben Kugeln waren gewiss Quitten. Das riesige, runde, geschichtete Etwas dürfte eine Art Kuchen sein. Das halbe, kreuzweise eingeschnittene Wagenrad an der Seite war fraglos ein Käse, orangerot und voller Löcher. Aus einem ragte der Kopf einer Maus, die aus irgendeinem Grund nicht zur Party eingeladen worden war – vielleicht weil sie als Einzige der dargestellten Figuren keine Kleider anhatte. Und direkt in der Mitte prangte ein glänzender rot-weißer Klumpen, oben mit einer Krone Knochen geschmückt.

«Was ist das?», fragte ich, glaubte die Antwort aber schon zu kennen.

Ena warf nur einen kurzen Blick darauf. «Das ist Fleisch.»

Der Lüftungsschacht der Waschküche im Keller führte direkt ins Spielzimmer, weshalb man sich unmöglich an das dekadente, dabei grauenerregende Wandbild erinnern konnte, ohne zugleich auch an den blütenseifigen Mief der uralten Waschmaschinen zu denken. Ihr Rumpeln war der Basslauf im angrenzenden Hausmeisterbüro, jenem Raum voller Schatten und Gebrumm, der bedrückend wirkte mit seiner niedrigen, rohrüberzogenen Decke und dem unsichtbaren Wasser, das gleich überm Kopf im flackernden Dämmer hin und her rauschte. Dort stand, verborgen unter einer Vielzahl von Briefen und Werkzeugkästen, Enas Schreibtisch, auf dem ihr kleines Radio dudelte, wie alle Empfänger der Stadt den ganzen Tag lang auf Drowned City Dispatch eingestellt.

In jenen Tagen war es üblich, aus jedem beliebigen Anlass beim Radio anzurufen. Der Dispatcher drängte die Zuhörer, vor allem Geschichten über Island City zu erzählen, wie es heute war oder wie sie es in Erinnerung hatten – aber waren die Anrufer erst einmal zugeschaltet, taten sie, wonach auch immer ihnen gerade der Sinn stand. Sie ließen sich über Ärger mit den Nachbarn aus, hingen sentimentalen Gedanken über verflossene Lieben nach oder spielten jenes Spiel, das wir liebevoll nur Rationen-Roulette nannten und bei dem man die nutzloseste Kombination von Dingen nannte, die für die Woche zugeteilt worden war: Rote Bete und Backpulver; Petroleum und Pastinaken; Alupapier, Streichhölzer und eine halbe Tüte Mandeln. Die meiste Zeit ließ der Dispatcher sie gewähren. Er hatte eine raue, abgehackte Stimme und eine flotte Art, redete aber nie über sich selbst und trug nur selten etwas zu jenen Erinnerungen bei, um die er seine Zuhörer bat. Manchmal riefen Leute an, weil sie glaubten, endlich seine wahre Identität herausgefunden zu haben – er sei ihr Nachbar, sagten sie, ihr Briefträger oder der Typ, der früher Bücher an der Ostseite des Parks verkauft hatte –, woraufhin er jedes Mal sagte: «Hey, Sie haben recht!», was aber nie stimmte.

In der Woche, in der wir bei Ena einzogen, wurde ein Meteorschauer über der äußeren Bucht gesichtet. Die Mannschaft eines Patrouillenbootes hatte ihn dem Dispatcher gemeldet, der dies fälschlich für ein einmaliges Ereignis hielt. Jemand rief an, um ihn zu korrigieren: Eigentlich sei es ein wiederkehrendes Himmelsphänomen, das alle hundertvierzig Jahre stattfinde. Am folgenden Abend wurde über nichts anderes geredet. Und aus dem Radio schwappte das Thema in die Eckläden und Förderstellen, wurde zu einem jener Gesprächsfetzen, die man im Vorübergehen auf der Straße aufschnappte. Die Titelblätter aller Zeitungen zeigten plötzlich das gleiche verschwommene Bild des Nachthimmels überm Horizont. Der Dispatcher forderte Experten auf, beim Radio anzurufen und mit ihm darüber zu diskutieren, ob solch feine Lichtfitzel vor zehn Jahren überhaupt sichtbar gewesen wären.

Nein, lautete die Ansicht der meisten, bestimmt nicht.

«Vielleicht also», sagte der Dispatcher, «vielleicht bedeutet dies, dass die Lichtverschmutzung endlich ein wenig abnimmt?»

Ja, wurde ihm bestätigt. Der Meteorschauer könnte tatsächlich das lang erwartete Signal sein – das große, wahrhaftige Zeichen, ein klarer Hinweis darauf, dass die Nachweltmaßnahmen griffen und die Dinge sich endlich zum Besseren wandelten.

Dann aber vergingen mehrere Wochen ohne regierungsamtliche Bestätigung. Die Leute hörten auf, deswegen anzurufen. Der Meteorschauer hatte die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt, und wir warteten erneut auf ein Omen.

An denen bestand damals kein Mangel. In jedem Winkel der Stadt ereigneten sich an Wunder grenzende Phänomene, die versprachen, die lang versprochene Wende zu besseren Tagen anzukündigen. Manche, wie der Meteorschauer, waren von großer Tragweite, andere dagegen einfach nur gespenstisch, etwa der fußballgroße Goldfisch, den ein Vater mit seinem Sohn im Abwasserkanal vor ihrem Haus entdeckte.

Früher oder später würde eines dieser Fast-Wunder das richtige sein, und wenn es so weit war, sagten die Leute, würden sie den größten Laib Brot oder die größte Flasche Champagner kaufen, die sie nur auftreiben konnten. Sie würden ihre alten Lebensmittelkarten zerreißen und den Himmel nicht länger nach Zeichen absuchen. Sie würden auf den Kais und Brücken tanzen, auf Schiffsdecks und Hausdächern, im Kreis geliebter Menschen und umgeben vom Lärm wetteifernder Partys. Und über den Köpfen Feuerwerk. Immer ein Feuerwerk.

«Ich habe jede Menge Bedenken, ob dies überhaupt je passieren kann, ob es passieren wird», sagte der Dispatcher dann. «Aber wenn? Wenn, meine Freunde, dann werden wir die glücklichsten Menschen auf Erden sein.»

Dann würden wir es in unseren überfluteten Straßen ausstehen, würden die Panikmache der Schwarzmaler ignorieren und mithelfen, Island City den Wassermassen wieder abzuringen. Wir würden uns in der Stadt von ehedem wiederfinden. In der Stadt, wie sie gewesen ist und immer noch war, unter wie über Wasser: die Stadt der Fanfaren und elektrisierenden Herbstabende, der Musik, laternenhellen Straßen und funkelnden Markisen, der sich hinter Fenstern verstohlen umschlingenden Verliebten, der sattgrünen Parkanlagen, der in mondloser Nacht heimelig leuchtenden Häuser. Und wer daran zweifelte, brauchte zur Vergewisserung nur zur Plakatwand mit der Tanzenden aufzuschauen. In jedem Viertel gab es so ein Plakat. Das von Battle Hill hing an der Kreuzung Moritz und Pine, wenige Straßen südlich vom Morgenlicht, und zeigte eine wohlgestalte, dunkelhaarige Frau in flammend gelbem Kleid. Sie war im Profil zu sehen, wie sie im Schein einer Laterne Walzer tanzte vor gesichtslosen, nur als Silhouetten zu erkennenden Nachtschwärmern, allesamt in eines dieser Wohnzimmer gepfercht, wie man sie aus den Stadthäusern der Jahrhundertwende kannte. Irgendwas an dem Plakat vermittelte den Eindruck, die Wohnung gehöre der Tanzenden, vielleicht gerade erst gekauft, vielleicht eine von jenen auf South Falls Island, wie sie auch unsereins versprochen worden war. Die Tische im Zimmer bogen sich unter ihrer farbenfrohen Last. Man musste direkt unterm Plakat stehen, um die Details erkennen zu können: vereinzelte Fischgräten, ein regelrechtes Feuerwerk an Bonbons, bis an den Rand gefüllte Sektschalen. Am Rand der Tanzfläche ein riesiges Fenster, durch das man die ferne, doch unverkennbare Skyline der Inselstadt im Süden und einen schmalen, fröhlichen Streifen der anbrechenden Dämmerung erkennen konnte. Unbeachtet in der einzigen freien Ecke dieser seligen Szene lag ein zusammengerollter Regenschirm, doch nicht irgendeiner, sondern einer mit dem unverwechselbaren Logo der Nachweltinitiative. Der Schirm, unter dem wir alle gelebt hatten: zusammengerollt und nicht länger nötig, nun, da das Feuer überstanden war. Und es war kein Zufall, dass der Schirm und das Kleid der Tanzenden dieselbe Farbe hatten. Ihr habt euch standhaft unter unserem Schutz abgemüht, schien das Plakat zu sagen, nun tragt zur Feier dieselbe Farbe.

Rechts der Frau prangten geschmackvoll arrangiert die Namen der Plakatsponsoren: das Wiederansiedlungsprogramm von Island City und das Landesbüro für Nachwelt. Links davon, gleichsam alles betonend, das vorherrschende Mantra unserer Zeit: Wir haben es fast geschafft.

Der Glaube an Plakat und Party war der Lebenssaft der Stadt. Beim Blick auf die Tanzende bröckelte unser Zweifel. Und niemand war gegen ihre Faszination immun – nicht einmal meine Mutter.

Vielleicht haben Sie noch nie von meiner Mutter gehört. Vielleicht aber haben Sie den Fall Belen auch verfolgt und sich schon vor Jahren Ihre Meinung gebildet. Vielleicht haben Sie ihr Gesicht gesehen, dieses nicht besonders schmeichelhafte Foto aus ihrer Wiederbevölkerungsakte, das überall in den Nachrichten gezeigt wurde. Wie unheimlich sie gewirkt haben muss, mit dem wilden, die Stirn umwölkenden Haar, den blutunterlaufenen Augen, die meine Mutter auf diesem Bild wirklich ein wenig verrückt aussehen ließen.

Sie war eine drahtige, kleine, dunkelhaarige Frau. In einem anderen Leben hätte sie Jockey sein können, in diesem aber war sie Handwerkerin, Tischlerin und einen unseligen Sommer lang auch Hufauskratzerin.

Eine agile, geistesgegenwärtige Person, die sich vor nichts fürchtete, was ihren Körper befallen könnte, und die ausgesprochen begabt für Sprachen war, nur nicht für Englisch, das fand sie chaotisch. Sie hasste Chaos. Sie hasste außerdem Unwissenheit – oder vielmehr hasste sie es, Unwissenheit bei sich selbst in Situationen feststellen zu müssen, in denen sie längst Bescheid wissen sollte. Sie hasste außerdem Ungereimtheiten in Geschichten und bei Menschen. Sie hasste Unhöflichkeit, und sie hasste Fremde, die sich zu sehr anbiederten, aber auch Freunde, bei denen sich erwies, dass ihnen weniger an ihr als ihr an ihnen lag. Aber sie liebte Tiere. Und Fleiß. Und sie liebte mich.

Regeln bestimmten ihre Welt und meine. Regeln wie: Stelle Fragen niemals schriftlich, wenn du sie persönlich stellen kannst – geschriebene Worte können einen ewig verfolgen. Bewahre keine Bilder oder Unterlagen länger als ein Jahr auf. Wenn du schon darüber nachdenken musst, ob die Information, die du preisgeben willst, jemandem schaden könnte, halte auf jeden Fall den Mund. Sprich Unser nur zu Hause, nur mit Familie – was bis zu dem Tag, an dem wir bei Ena einzogen, bedeutete, dass ich Unser nur allein mit meiner Mutter sprechen konnte. Verrate nie, woher du kommst. Wenn man dich fragt, gib bloß den Ort an, den du zuletzt dein Zuhause genannt hast – was, bis wir nach Island City zogen, Paraiso gewesen war. Kommen Nachfragen, bleib bei dieser Antwort. Und sag, du könntest dich an nichts erinnern, was vorher gewesen war.

Ich hatte Jahre damit zugebracht, einen Knoten von Theorien aufzudröseln, die erklären sollten, warum meiner Mutter so sehr daran gelegen war, unsere Herkunft zu verschleiern. Anfangs schien mir die plausibelste Erklärung eine sinistre Familiengeschichte zu bieten: ein militanter Großvater. Eine in Ungnade gefallene Tante. Als ich älter wurde, redete ich mir ein, wir gehörten irgendwie der königlichen Familie an und versteckten uns auf unserer Flucht von Stadt zu Stadt vor gesichtslosen Thronräubern. Ließ ich das Geschick meiner Mutter für handwerkliche Arbeit sowie die Tatsache außer Acht, dass sie gelegentlich eine Veterinärschule erwähnte, erschien mir meine Annahme durchaus einen Sinn zu ergeben. Jedenfalls würde sie erklären, warum wir keine Bilder und keine Unterlagen über meine oder ihre Kindheit hatten, auch keine Verwandten, ob lebend oder tot, wozu auch mein unerwähnter und unerwähnbarer Vater gehörte.

Ena dagegen bot ihre Vergangenheit überreichlich allen Blicken dar. Bilder, Postkarten, Flugblätter. Noch nie hatte ich eine Wohnung gesehen, die derart von Informationen überquoll. Meist ging es dabei um Beanie. Selbst ihre Bestrahlungstermine hingen noch an der Wand, ihr Shampoo stand noch im Bad, ihre Aquarelle lagen auf dem Konsolentisch im Flur. Schaute man sich hier um, könnte man glauben, sie sei gerade nur nach draußen gegangen und kehrte jeden Moment zurück. Ena redete sogar in der Gegenwartsform über sie. Ich wusste nicht viel über die Liebe, aber das hier kam mir wie Liebe vor. Ein unablässiges Sichumgeben mit dem, den man liebte. Eine Umhüllung des Ichs durch den anderen.

Zahllose Fotos, die an der Kühlschranktür hingen, zeigten Beanie als eine kleine, hellwache Frau, die offenbar schnell einen Sonnenbrand bekam. Es war nicht zu übersehen, dass sie und Ena in der Vorher-Zeit viele Vergnügungsreisen gemacht hatten. Hier standen sie vor einem alten, sonnengebleichten Tempel, dort vor einer heißen Quelle.

«Wo ist das hier?», fragte ich Ena etwa eine Woche nach unserem Einzug und zeigte auf Beanie, die, hitzeversengte Hügel im Hintergrund, ein selbstzufriedenes Ferkel im Arm hielt.

«Das weißt du nicht mehr?» Sie klang verletzt. «Auf Babas Farm.»

Während ich noch mit der Offenbarung zu kämpfen hatte, dass wir vom Land kamen – nicht nur keine königliche Familie, nein, nicht mal Stadtleute! –, beschrieb Ena Wacholderbüsche, eine Garage mit einer kleinen roten Tür, bekränzt von einem umlaufenden Balkon. Dieser war ganzjährig von Wein überwuchert, erzählte sie, sodass man, wenn man aufstand, nur die Hand auszustrecken brauchte, um sich die staubigen grünen Kugeln aus den Trauben zu pflücken und sie sich eine nach der anderen in den Mund zu stopfen. «Weißt du nicht mehr?», fragte sie erneut, aber ich konnte mich kaum an Paraiso erinnern, geschweige denn an einen Ort, der jener Kette von Heimstätten voranging, die uns bis zu diesem Moment schmerzlicher Einsichten geführt hatte. «Im vorderen Hof stand ein riesiger Olivenbaum», fuhr Ena fort. «Als du noch klein warst, haben wir eine Schaukel aufgehängt. Ich glaube, irgendwo habe ich noch ein Bild – wir sitzen alle am Tisch, und du schaukelst. Kannst du dich wirklich nicht erinnern?»

Als sie das Foto nicht finden konnte, fühlte ich mich betrogen. Wie seltsam, sie von Erinnerungen erzählen zu hören, in denen ich vorkam, die es in mir aber nicht gab. Da lief ich allem Anschein nach über sonnenbeschienene Wiesen, schaukelte an Olivenästen, aß Weintrauben, umarmte vielleicht Ferkel, aber allein in ihrem Gedächtnis, nicht in meinem. Wie ungerecht.

«Können wir dahin zurück?», fragte ich.

«Ich wünschte, wir könnten, Sil», erwiderte Ena. «Aber diesen Hof gibt es nicht mehr.»

In dieser Endgültigkeit stimmte ihre Sicht der Vergangenheit mit der meiner Mutter überein. Solange ich mich erinnern konnte, war mir eingetrichtert worden, dass es zu Hause nicht mehr gab. Doch da ich nie Bilder davon gesehen hatte, war dieses Gibt’s-nicht-mehr stets ziemlich abstrakt geblieben. Gewiss, die Tatsache, dass es eines Tages ein Zuhause gegeben hatte, am nächsten Tag nicht mehr, war im Grunde tragisch, aber da ich es nie gesehen hatte, konnte ich mir diese Leerstelle und das, was ihr vorausgegangen war, bloß vorstellen. Fotografien vom echten Zuhause tilgten nun diesen imaginären Raum.

Von dem wenigen, was ich meiner Mutter entlocken konnte, wusste ich, dass es dort, wo einmal unser Zuhause gewesen war, nur noch zerfallende Palisaden gab. Staubwirbel und verbrannte Felder, Küstenabschnitte gespickt mit den Ruinen alter Häuser, so weit das Auge reichte. Der Bergrutsch, der Erdabgang, der seit Jahren gedroht hatte, führte zum Fortzug der Menschen, Abertausende Familien, wie meine Mutter andeutete, darunter unsere eigene. Er hatte Etwas in Nichts verwandelt. Hatte aus Freunden Unbekannte gemacht. Hatte Mutter zu jenem Menschen werden lassen, der alles im Stich ließ, ihr einjähriges Kind an die Hand nahm und zu Fuß aufbrach, ohne jeden Plan.

Damit will ich nur sagen, wie wenig ich, als mir der Hof so deutlich vor Augen gebracht wurde, die Grundrisse der Vergangenheit tatsächlich kannte. Nach einem Leben in verhaltener Neugier und voll nebulöser Projektionen wollte ich nun mehr wissen. Und dieser Wunsch wurde gleich zum Hauptstreitpunkt zwischen Ena, die sich nur allzu gern erinnerte, und meiner Mutter, die das nicht wollte.

«Erinnerst du dich denn an den Hof?», fragte ich meine Mutter eines Abends nicht lange danach. Wir lagen Gesicht zu Gesicht auf unserer schlichten schmalen Liege in Beanies Arbeitszimmer. Ich hatte gehofft, unsere körperliche Nähe und die Anwesenheit von Ena im Nachbarzimmer sowie die Tatsache, endlich, nach all der Zeit, hier, in Island City, zu sein, dass all dies zusammen sie vielleicht zu einem Gespräch über ein Thema verleitete, über das sie sich bislang immer nur ein, zwei Augenblicke lang ausgelassen hatte.

«Ich kann mich an dies und das erinnern», sagte Mutter.

«War es so, wie Ena es beschreibt?»

«Nun ja, manchmal.»

«Und …?»

«Ach, ich weiß nicht, Sil. Wir haben viel Zeit damit verbracht, auf Regen zu warten. Und wenn er kam, haben die Wassermassen Menschen mit sich gerissen. Auch Häuser.»

«Aber es gab Weintrauben und Ferkel?»

«Verlass dich nicht allzu sehr auf die Version der Dinge, die deine Tante dir erzählt.» Meine Mutter strich mir das Haar aus dem Gesicht. «Sie kann von Glück sagen, dass sie von zu Hause fortging, ehe sie gehen musste. Als es noch grün war.»

«Wie meinst du das?»

«Bevor alles zum Teufel ging.»

«Und wie ist es zum Teufel gegangen?»

«Das weißt du doch. Die Dürre. Der Erdrutsch.»

«Aber es war nicht nur das, oder?»

«Na ja, dann kam der Krieg, aber das weißt du auch.»

«Aber was ist mit dem Vorher? Was mit den guten Dingen?»

Meine Mutter gab sich nur selten Mühe, mir zu verheimlichen, wann die Grenzen ihrer Geduld erreicht waren. «Ich bin sehr müde, Sil.» Sie drehte sich auf die andere Seite und blickte zur Decke. «Egal, was deine Tante dir darüber erzählt, es war kein schöner Ort, um dort aufzuwachsen. Ich wollte das nicht für dich. Und es hatte schon seinen Grund, warum ich froh war, gehen zu können.»

 

Dies aber war laut Ena eine ungeheuerliche Verdrehung der Tatsachen.

«Sie hat den Hof geliebt! Was glaubst du denn, wo sie so viel über Tiere gelernt hat? Immer die Hand im Maul irgendeiner Kreatur. Immer ein halbtotes Etwas unterm Arm, und: Können wir das nicht behalten? Mein Gott, was glaubst du denn, wer den Hof geführt hat, nachdem ich gegangen bin?» Sie schob mich zum Kühlschrank und ließ mich warten, während sie ein Bild suchte, das die Unaufrichtigkeit meiner Mutter belegte. «Siehst du hier? Das ist deine Mutter mit dem Hund.» Jedenfalls sah es ganz danach aus. «Und hier ist sie noch mal. Schwanger mit dir. Und siehst du, wo sie steht? Komm mit.» Einer Schachtel im Flur entnahm Ena einen Stapel kleiner Polaroids und blätterte sie durch, bis sie das vergilbte Bild eines Mädchens mit einem Baby im Arm fand. «Das hier bin ich mit deiner Mutter im Arm, direkt vor demselben Tor. Siehst du? Das war, zwei Monate nachdem meine Schwester deine Mutter im Stich gelassen hat. Hat sie einfach dagelassen, hat es uns überlassen, sie aufzuziehen, deiner Großmutter und mir. Damals dürfte die Kleine kaum älter als zwei Monate gewesen sein, deine Mutter, ein rosiges winziges Ding; im Vergleich mit normal großen Babys so klein, wie sie heute im Vergleich zu normal großen Menschen ist. Meine Schwester hat sie mir übergeben und gesagt: Hier, halt mal, bin gleich wieder da. Und dann hat sie sich umgedreht, ist über die Auffahrt runter, durchs Tor und die Straße hinab, als wollte sie zum Laden, aber wir haben sie nie wiedergesehen.»

«Das ist ja irre», sagte ich, schwindlig von so viel freiwillig herausgerückten Familiengeschichten.

«Aber wahr. Frag deine Mutter.»

Eine Woche brauchte ich, um den nötigen Mut aufzubringen. «Hat deine Mutter dich bei Ena und Baba zurückgelassen, als du ein Baby warst?»

«Natürlich nicht», erwiderte meine Mutter. «Was habe ich dir über deine Tante gesagt?»

Aufgrund dieser Geschichte flogen Worte hin und her. Meine Mutter und Ena stritten sich lauthals, aber stets hinter verschlossenen Türen, weshalb ich nicht herausfand, ob Ena nun vorgeworfen wurde, mir Lügen aufzutischen oder etwa mir die Wahrheit zu erzählen. Unbeabsichtigtes Ergebnis dieses Patts war, dass Ena entschlossener denn je schien, mich mit Informationen zu versorgen, die mir ungerechtfertigterweise vorenthalten worden waren. Wie meine listige Baba damals im Dorf ein hohes Tier dazu gebracht hatte, das Fundament für unser Haus zu legen. Oder dass unser Stück von der Küste Nadelbucht hieß, weil ein Nachbar jahrzehntelang jeden Seeigel, der im Netz hängenblieb, zurück ins Meer geworfen hatte, weshalb der Meeresboden mit ihnen, ihren Nachkommen sowie deren Nachkommen geradezu übersät war, Abermillionen wogende schwarze Stacheln.

«Um Himmels willen», sagte meine Mutter, «hör auf, ihr den Kopf mit solchem Unsinn vollzustopfen.»

Aber es war kein Unsinn – und jede entsprechende Andeutung führte unmittelbar dazu, dass Gegenbeweise vorgelegt wurden. In diesem Fall ein Zeitungsausschnitt – auf Unser – mit dem erschütternden Bericht eines Schwimmers, der versucht hatte, dieses stachelige Minenfeld zu durchqueren, was ihn fast das Leben gekostet hätte.

Je heftiger meine Mutter protestierte, desto eifriger legte Ena nach. Hatte sich die Vergangenheit bislang wie ein verbotenes Zimmer angefühlt, in das ich nur manchmal einen flüchtigen Blick erhaschte, wenn meine Mutter gerade die Tür zuzog, hielt Ena diese Tür nun weit auf. Ich konnte alles sehen, jedes einzelne Detail, konnte bleiben, solange ich wollte. Kaum hatte meine Mutter irgendetwas im Gebäude zu erledigen, wurde Enas Sammelalbum